Читать книгу Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 2 - Matthias Rathmer - Страница 7
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ОглавлениеEr hatte sich entschieden. Endlich. Seine Strafe und ihr Maß standen fest. Volle zwei Tage hatten sie ihn unbehelligt in seiner dunklen Zelle schmoren lassen. Nach Lage der Dinge rechnete Ron mit der Höchststrafe, mit dem Eissee, die Bestrafung, die sein Verrat vorsah. Seit mehreren Minuten saß er seinem Henker schweigend gegenüber. Ron scheute Blickkontakt. Noch immer blendete ihn Helligkeit. In gesenkter Kopfhaltung hielt er Luzifers Hände im Blick, die eine Kladde hielten. Sein Siegelring glänzte ihm mehrfach in prächtigem Gold entgegen.
Aufmerksam las Luzifer Auszüge in verschiedenen Berichten. Er legte die Akte ab und nahm mit einer auffallend wohlwollenden Geste die Lesebrille von der Nasenspitze. „Nun, wie geht es Dir?”
Ron dachte, sich verhört zu haben. Der Fürst der Finsternis begann ihre Unterredung in der Art eines Sozialarbeiters. Luzifer fragte ihn allen Ernstes nach seinem Befinden. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
„Ich habe Deine Geschichte gelesen, und ich frage mich, warum Du sie mitgenommen hast? Ja! Warum hast Du sie mitgenommen? Die Aussicht auf ein amouröses Abenteuer war es wohl nicht, oder doch?” Luzifer verdrehte so lustvoll seinen Kopf und nickte gleichzeitig so heftig, als sei dies die einzige Erklärung für Rons Hilfe, die er akzeptieren konnte.
Ron versuchte, nüchtern zu wirken. „Sie war mir gefolgt. Ich wollte nicht, dass sie durch die Untergrundbahn der Erdlinge den Tod findet. Sie ist noch so jung.”
„Stimmt, das ist sie wohl.” Luzifer setzte seine Sehhilfe wieder auf und beäugte ihn genauer. Mit schwungvollen Armgestiken forderte er Ron auf, sich weiter mitzuteilen. „Aber dann hattest Du ein noch viel größeres Problem.”
„Stimmt, das hatte ich wohl.”
Luzifer missfiel Rons Antwort und belegte ihn mit einem bösen Blick. Er erhob sich und schritt würdevoll auf und ab. „Jetzt ist sie weg. Wohin auch immer. Einfach weg. Hat er eine Erklärung, wie sie das geschafft hat?”
Ron verfolgte seinen Peiniger sorgsam genau. Auch auf diese Frage wusste er nicht sofort zu antworten. Luzifer selbst hatte schließlich Emmas Flucht ermöglicht.
„Nur allzu gern wüsste ich, wie sie das geschafft hat? Das Warum ist mir gleichgültig.” Luzifer trat näher an Ron heran, griff sein Kinn und zog es vor sein Gesicht. „Ich habe gefragt, ob er eine Vorstellung hat, wie sie das geschafft hat.”
„Nein.”
Luzifer ließ wieder von ihm ab. „Ja, ich dachte mir, dass er so antworten würdest.” Er stolzierte neuerlich auf und ab und gab sich wie ein Lehrer, der damit rang, wie er einen seiner Schüler auf den richtigen Pfad der Lösung führen konnte. „Nun, ich will zu ihm ehrlich sein. Je länger ich über Deinen Fehler nachdenke, und dieses Menschenkind in unser Reich zu bringen war ein unverzeihlicher Fehler, weil es gegen die Grundsätze unserer Ordnung verstößt, desto... wie soll ich mich ausdrücken... desto nachdenklicher werde ich.” Luzifer hielt inne und trat näher an ihn heran. Er versuchte an Ron, der es weiterhin vermied, seinen Blick aufzunehmen, eine Reaktion auf seine Worte auszumachen. „Schaue er mich gefälligst an, wenn ich mit ihm rede!”
Ron nahm langsam den Kopf hoch und erwiderte Luzifers Blick. Ein feistes Grinsen erwartete ihn, das zu imitieren niemand in der Lage war.
„Ich will Dir sagen, wie sie das geschafft hat. Durch mich. Ich selbst habe ihr geholfen. Durch meine Hilfe konnte sie aus der Arena fliehen.” Luzifer setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Aber das weißt Du sicherlich, oder?”
Ron schwieg weiter. Er hatte sich, als man ihn aus seiner Zelle geholt hatte, vorgenommen, kein Wort zu sagen, nicht um Milde zu bitten und jede Bestrafung ehrenhaft zu erdulden. Emma war im Fegefeuer. Das war das Ziel ihrer Unternehmung gewesen, und das war erreicht.
Luzifer knallte plötzlich harsch mit der Faust auf den Tisch und fauchte Ron an. „Ich habe Dich etwas gefragt.”
„Unser Plan sah vor, sie mit Hilfe der Austauschkommission ins Fegefeuer zu bringen. Unser Plan ist gescheitert. Das wissen Sie doch.” Ron war trotziger geworden. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
Luzifer massierte seine Schläfen und versah Ron mit prüfenden Blicken. „Weißt Du! Ich frage mich, warum Du mit Deinem Problem nicht zu mir gekommen bist. Ich meine, es wäre eine Geste des Vertrauens gewesen, wenn Du, als einer meiner Diener den Weg hierher gesucht hättest und mir verdammt noch mal gesagt hättest – Chef! Ich habe ein Problem.” Luzifers Tonfall war nahezu freundschaftlich geworden. „Stattdessen wird Dein Problem zu einer Belastung für uns alle.” Er stand auf, stützte seine Arme und Hände auf dem Schreibtisch ab und baute sich vor Ron auf. „Ein Ereignis von diesem Rang hätte ihn niemals anders handeln lassen dürfen. Hört er? Niemals anders!”
War Ron bereits mit dem Beginn ihrer Unterredung gehörig irritiert, so konnte er ihren Verlauf und die Intention Luzifers noch weniger begreifen. His Infernal Majesty bot sich ihm als unberechenbarer Wirrkopf dar.
„Aber. Es könnte ja sein, dass Du aufgrund Deiner persönlichen Geschichte, damals, aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen damals, ein Urteil gefällt hast, dessen Folgen Dir gar nicht bewusst waren. Das kennen wir doch alle. Das Unterbewusstsein hat längst schon geurteilt, bevor das Bewusstsein etwas entscheidet.” Luzifer musterte ihn eindringlich. „Das könnte doch sein, oder?”
Ron hatte auch auf diese Frage keine Antwort, die ihm gefiel, während Luzifer wie ein Kater um ihn herumschlich und ihn mehrfach grinsend aufforderte, dazu endlich etwas von Belang zu äußern.
„Verdammt noch mal, Ron Gellag...”
„Gallagher. Ron Gallagher. Und ja! Das könnte so sein.”
Fast erleichtert schloss Luzifer die Augen. „Sehr schön. Sehr schön. Hätten wir das also geklärt.” Luzifer nahm beruhigt wieder Platz. „Kommen wir zu den Folgen Deines Handelns.” Einem Oberlehrer gleich verschränkte er seine Arme und Hände auf der Brust. „Der Tod dieses Begleiters war der Beginn einer Reihe von Boykottmaßnahmen gegen unser Reich seitens der Himmelsleitung. Das Destino und mehrere andere Kommissionen haben erst nach ihrer Freilassung ihre Arbeit wieder aufgenommen. Deswegen, ich betone deswegen, habe ich dafür gesorgt, dass sie uns verlassen konnte.” Luzifer schob seinen Kopf vor. „Nun! Ich möchte, dass Du ihr folgst, dass Du sie begleitest. Ich traue diesen Brüdern nicht. Ich möchte sichergehen, dass sie unbeschadet ins ewige Licht tritt. Ich möchte, dass sie zügig und vor allem unversehrt auf die Erde zurückkehrt.”
Ron verharrte abermals. Hatte er tatsächlich richtig gehört? Er sollte Emma ins Fegefeuer folgen, um die Interessen des Teufels zu wahren.
Luzifer vernahm seine Skepsis. „Ja, doch! Die können mir doch sonst etwas erzählen. Ich muss Gewissheit haben, dass dieses Menschenkind gerettet wird.”
Er schaute ihn erneut lange an, und so, wie er das tat, wusste Ron, dass es ihm ernst war. Nur aus welchem Grund lag Luzifer wirklich an Emmas Wohl? So viel dämmerte ihm. Emmas sichere Rückkehr war zweifelsfrei ein Vorwand für ein anderes, höherrangiges Motiv.
„Du bist jung und unerfahren. Ich gehe davon aus, dass diese Bande von Verrätern einen schlechten Einfluss auf Dich gehabt haben, dem Du Dich aus Mangel an Erfahrung nur schwerlich widersetzen konntest.” Luzifer wurde nachdenklicher und seufzte auf. „Sarah, meine geliebte Sarah. Was für ein Verlust.” Seine Augen blitzten plötzlich bösartig funkelnd hervor. „Die ewige Eva! Eine Frau eben. Sollte sie mir je wieder unter meine Augen treten, ich werde sie persönlich vierteilen und zwar mit einem Genuss...”
Ron dachte angestrengt nach. Die Aussicht, Emma zu folgen und von hier wegzukommen, gefiel ihm. Gleichzeitig besaß diese unerwartete Milde einen gehörigen Haken. „Darf ich fragen, wie Sie sich diese Begleitung vorstellen?”
Luzifer griff ein Schreiben und versiegelte es mit einem Wachsring zu einer seiner berüchtigten Urkunden. Sein Gemüt hatte erneut anfallartig gewechselt. Mit nahezu gönnerhaftem Benimm schmunzelte er auf. „Das darfst Du, das darfst Du!”
Es entsprach der Natur und Zweckmäßigkeit der Sache, dass seine Ernennung im kleinsten Kreis vollzogen wurde. Ron wurde für seine Mission in den Null-Null-Agentenstatus erhoben. Süffisant hatte Luzifer bemerkt, dass sich mit Sarahs Verrat eine freie Planstelle eröffnet hatte. Er hoffte, dass Ron seine Sache besser machen würde, wie er kurz nur betonte. Über Sarahs Verbleib indes hatte er geschwiegen und nur müde gelächelt.
Ein päpstlicher Zeremonienmeister der mittelalterlichen Kurie ließ Ron in einer Krypta auf das Satanische Manifest schwören. Danach erhielt er eine zweistündige Kopfwäsche über die Organisation des Himmels und des Fegefeuers samt Analyse des Personals und ihrer Aufgaben. Was die Hölle über ihren Gegenspieler diesbezüglich wusste, Ron kannte es nach dieser Infiltrierung ebenfalls. Mit seiner Ernennung zu einem Topagenten übersprang er nicht weniger als sechs Ausbildungsjahre. In seine Mission eingewiesen und einsatzbereit, war er sich dennoch darüber klar, dass er nicht mehr als eine Marionette Luzifers in einem Spiel war, über dessen Dramaturgie er nur mutmaßen konnte.
Luzifer selbst betrachtete sich nach Rons Abgang lange in einem Spiegel. Er war mit sich hoch zufrieden. Er wiederholte einige seiner Aussagen, die er Ron gegenüber gemacht hatte. Er imitierte seinen Benimm, mit der er ihm gegenüber getreten war, und er lobte seine schauspielerischen Leistungen. Alle seine Täuschungsmanöver waren gesetzt. Amüsiert begann er, lauter und lauter zu lachen.
Durch den riesigen, kreisförmigen Treppenaufgang waren sie weitere sieben Mal siebenhundertsiebenundsiebzig Stufen einen Kreis höher aufgestiegen. Entlang der Wände waren wie üblich Bilder mit biblischen Motiven aufgehängt. Immer, wenn sie eine kurze Rast eingelegt hatten, um auf die zu warten, die sich die Stufen hinaufquälten, war ein Engelshelfer vorbeigehuscht und hatte ihnen erklärt, welche Passagen des Alten oder Neuen Testaments auf diese Weise verewigt worden waren. Ein Vaterunser-Gebet hatte das christliche Sendungsbedürfnis stets beendet. Während des Aufstiegs mühte sich Emma nach Kräften zu verstehen, warum ausgerechnet Silvy die Neidprüfung nicht bestanden hatte. Sie schlich als eine der letzten die Stufen hoch, um den allgemeinen Belehrungen zu entgehen, als sie Ottokar erreichte, der auf sie gewartet hatte.
„Kennst Du den? Treffen sich zwei Bundestagsabgeordnete im Zug. Der eine kommt direkt aus einer Debatte im Reichstag. Fragt ihn der andere, was er gesagt hat. Sagt der eine, dass er wie immer gar nichts gesagt hat, worauf der andere entgegnet, dass ihm das klar war und nur wissen wollte, wie er es formuliert hat.”
Emma konnte nicht wirklich lachen.
„Komm! So schlecht ist er nicht.”
„Stimmt! Aber mit Witzen ist das immer so eine Sache. Es kommt nicht nur darauf an, wer und wie ihn erzählt, sondern auch, wann und vor allem warum.”
„Du solltest nicht so viel grübeln.”
„Ach ja?”
„Macht Dich unnötig älter!” Ottokar hielt ihren Schritt. „Silvy wird etwas anderes falsch gemacht haben.”
„Genau darüber denke ich ja nach.” Emma stutzte, weil Ottokar zu wissen schien, was sie beschäftigte. „Nehmen wir mal an, dass das so ist, wie Du sagst. Dann bedeutet das, dass es völlig schnuppe ist, was wir zu diesen angeblichen Prüfungen sagen oder machen.”
„Und was wir nicht sagen oder nicht machen.”
„Was wieder soviel bedeutet, dass alles vorherbestimmt ist.”
„Und das bedeutet, dass wir begleitet werden.”
„Warte! Ich erzähle Dir was. Aber Du musst schwören, dass Du es für Dich behältst.”
Ottokar sicherte ihr seine Verschwiegenheit mit der Geste beider erhobenen Hände zu.
„In der Nacht vor diesem Gesprächskreis hatte ich einen Traum. Und jetzt rate, was ich geträumt habe?”
„Neid! Du hast von Neid geträumt. Wie wir alle.”
Emma war augenblicklich starr vor Verwunderung.
„Ich habe sie alle gefragt. Alle haben wie Du und ich wenige Stunden vor der Prüfung über Neid geträumt.”
Emma hielt inne. „Fragt sich jetzt nur noch, warum Silvy diesen Traum nicht gehabt hat.”
„Sie hat nicht geträumt?”
„Nein! Hab sie danach gefragt.”
„Dann hat sie vielleicht gelogen,” versuchte Ottokar, Emmas Fragen zuvorzukommen. „Fest jedenfalls steht, dass sie nicht mehr dabei ist.
„Ja, wie Amber auch.”
„Wie wer auch?”
„Nichts! Schon gut!”
Eine Weile sprach keiner ein Wort. Ottokar nämlich beschäftigte ein anderer Gedanke. Nach mehreren, kurzen Blicken auf Emma fasste er den Mut, sich zu offenbaren. „Sag mal! Du hast nicht zufälligerweise auch... Du hast..., äh...“
„Muss schlimm sein.”
„Im Gegenteil!”
„Na, dann mal raus damit! Was habe ich nicht zufälligerweise auch?”
„Na ja! Von Deinem ersten Kuss geträumt?”
Emma verharrte augenblicklich ein zweites Mal verschreckt, verdrehte ihren Kopf und beäugte ihn abschätzend.
Ottokar schließlich kicherte verstohlen.
„Du?” fragte Emma unverzüglich nach.
„Ja, ich! Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege. Das heißt. Ich bin mir sicher, mich nicht zu irren.”
„Das glaub ich jetzt nicht.”
Ottokar berichtete so detailliert über seinen Traum, dass es keinen Zweifel gab. Er war der Junge aus der Mülltonne, Ottokar verdankte sie ihr erstes Schreckerlebnis mit dem anderen Geschlecht. „Na super! Vielen Dank nachträglich!”
„Wie meinst Du das?”
„Dieser Kuss war widerlich. Du hättest Deine Zunge bei Dir behalten sollen. Pah! Richtig ekelig war das!”
„Mir hat es gefallen, soweit ich mich erinnere,” antwortete Ottokar und grinste über beide Wangen.
Sie stampften weiter die Treppen hoch und bespitzelten sich fortan skeptischer, sobald der eine vom anderen abließ.
„Ich war danach so erschrocken, dass ich, immer wenn mich mein Vater in den Arm genommen hat, dachte, dass auch er mir gleich seinen feuchten Rüsselstumpen auf den Mund drückt.”
„Ich hab danach noch Jahre später immer versucht, meine Schwester so zu küssen.”
„Und? Wollte sie?”
„Nie! Sie lief stets schreiend davon.”
„Ach! Und das wundert Dich?”
„Es wurde so schlimm, bis alle dachten, ich sei gestört. Sie haben mich von einem Arzt zum anderen geschickt. Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr, ihre dämlichen Fragen zu beantworten.”
„Ich hoffe, Du hast diese Krise überwunden.”
„Ist lange her!” Plötzlich blieb Ottokar in nachdenklicher Pose stehen. „Warum? Ich frage mich, warum sie uns ausgerechnet hier wieder zusammenbringen?”
Emma schreckte augenblicklich ein weiteres Mal auf. Wenn es eins gab, was sie sicher nicht wollte, dann wieder mit Ottokar zusammengebracht zu werden. Dem anfänglichen Gedanken ihrer tiefen Abneigung dieses möglichen Kuppelungsversuches folgte das Bedürfnis unbedingter Klarheit. „Sicher nicht, um dieses Zeichen der Zuneigung zu wiederholen.”
„Ja, das denke ich auch. Aber warum dann?”
Emma las in seinen Augen etwas, was sie weiter beunruhigte. „Weiß man’s?”
Ottokar wurde in seinen Worten analytischer. „Was immer ursächlich ist für unsere Begegnung – sie ist gewollt.”
Mit seiner Äußerung hatte sie endgültig ein Gefühl tiefer Abneigung entwickelt. Sie wollte einfach nicht, dass ein Junge mit dem Profilbild einer Ratte auch nur im Entferntesten daran dachte, ihr neuerlich so nahe zu kommen wie damals in der Mülltonne. Vermutlich würde Ottokar nach jeder noch so kleinen Berührung mit ihr beseelt auf und davon fliegen, so groß wie seine Ohren waren. Daheim, unter den ihren, hätten sie ihn als Querschläger der Natur beschimpft, sich zumindest darauf verständigt, dass Gott mit seiner Einnistung eine Wette verloren haben musste. Hier und jetzt aber war Besonnenheit gefordert.
Beide schritten die Stufen weiter aufwärts.
„Es ist jedenfalls schön, dass Du hier bist.” Er unterstrich seine Freude mit einem zaghaften Griff auf ihre Schulter.
Emma riss sogleich erschrocken ihre Augen auf, befreite sich von seiner Körperlichkeit und hielt es, obgleich sie wusste, wie wenig Männer im Allgemeinen in der Lage waren, nonverbale Auseinandersetzungen richtig zu interpretieren, für besser, zu schweigen.
Im dritten Kreis angekommen, forderte Karim sie auf, sich wieder zu den Gruppen zusammenzufinden, die sie bereits während des Gesprächskreises über Neid gebildet hatten. Emma sackte enttäuscht durch. Insgeheim hatte sie gehofft, Ottokar und auch Kalle mit der Bildung neuer Gruppen bis in alle Ewigkeit nie wiedersehen zu müssen. Sie hatten vier Wände bezogen, die baugleich waren mit dem Saal, in dem der Gesprächszirkel des zweiten Kreises stattgefunden hatte. Architektonisch war das Fegefeuer also auch keine Offenbarung, dachte Emma, als sie die Symmetrie der Korridore und Zimmer entdeckte und beschloss, über die Regeln dieses himmlischen Systems in ruhiger Minute ausführlicher nachzudenken.
In einem Bücherregal reihten sich etwa drei Dutzend Bücher aneinander. Bei näherer Betrachtung stellte Emma fest, dass je eine Ausgabe von drei Buchtiteln entsprechend ihrer Personenzahl vorhanden war. Ein riesiger Videoscreen glänzte ihnen wie neu entgegen, zwölf Kopfhörer hingen an einem Brett. Tische und Stühle standen ungeordnet herum, ein paar Matratzen lagen, wie früher in Jugendzentren üblich, auf dem Boden. Die Tür öffnete sich. Karim brachte den Wiederholer zu ihnen, einen Rollstuhlfahrer, wie alle zunächst verwundert registrierten, dann aber unisono wohl wie Emma den gleichen Gedanken hatten, dass auch Behinderte ihren Platz im Fegefeuer haben mussten.
„Tachchen! Ich bin der Arno! Und eins sag ich gleich. Ich bin ein Guter!” Einen nach dem anderen rollte Arno mit gekonnten Schüben ab und stellte sich mit Handschlag vor. „Ah, eine Prinzessin! Süßes Gesicht, stramme Figur! Edler Hintern.” Er lachte Emma breitbackig an.
Ottokar sah Arno ob seiner peinlichen Vorstellung noch vorwurfsvoller an als Emma selbst.
„Emma. Emma Nielsen. Aber das mit der Prinzessin vergiss gleich mal wieder!”
Karim erläuterte ihnen das weitere Vorgehen. Das Prüfungsthema des dritten Kreises war Zorn. Bis zur Nachtruhe hatten sie Zeit, sich mittels der Bücher und einer audiovisuellen Dokumentation über Zorn zu informieren. Sie sollten die zentralen Inhalte in einem Theaterstück niederschreiben und am Morgen einer Kommission vortragen.
„Auch das noch!” maulte Emma leise. Die heimische Volkshochschule ließ grüßen.
Zwei Männer marschierten im Stechschritt voran. Zwei weitere Vasallen hatten ihn in ihre Mitte genommen. Er trug eine schwarze Kappe, die ihm Sicht und Gehör nahm. Sie hatten es eilig. Ihre Tritte hallten umso mehr, je weiter sie gingen. Die Luft wurde kühler. Sie betraten einen Fahrstuhl und fuhren tief hinab. Dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Was Ron vernahm, hatte er dem Inferno so wenig zugetraut. Er stand in der Kommandozentrale der teuflischen Marine. Hinter einer riesigen, zentimeterdicken Glasscheibe sah er sechs kleine Unterwasserboote, die an einer Stahlkonstruktion lagen. Ein Fischschwarm zog vor seinen Augen beruhigend seine Kreise. Mehrere Offiziere saßen vor allerlei technischen Geräten. Dann und wann fiepte es. Rotlicht färbte den Raum. Ein Soldat trat an Ron heran. „Wir sind gleich so weit. Hier!” Er öffnete einen Schrank und reichte Ron zielsicher einen der Taucheranzüge in dessen Größe.
Ein anderer Offizier wandte sich Ron zu, übergab ihm einen Seesack und führte ihn durch einen Tunnelgang in eines der Boote. „Mission Ikarus,” hatte er mehrfach gesprochen und damit jede Tür geöffnet.
„Kommen Sie! Kommen Sie! Immer hereinspaziert. Sieht nicht so aus, aber glauben Sie mir! Sicherer werden Sie nie wieder Unterseeboot fahren. Haifischklasse. Eigenumbau. Dieses Modell haben wir den Israelis geklaut. Warum brauchen die ein Unterseeboot, hä?” Der Steuermann begrüßte ihn und wies Ron den Platz an seiner Seite zu. „Die Aufklärungssonden des Himmelslagers senden nur oberhalb der Wasseroberfläche. Wir kommen also nahe genug heran.” Er reichte Ron eine Uhr. „Wenn Sie das Ding aufklappen, so, genau so, dann kriegen die in der Zentrale ein Signal. Das ist das Zeichen, wenn Sie Ihre Mission beendet haben. Die Uhr zeigt Ihnen und uns an, wann Sie eines unserer Boote wieder zurückholt. An der Stelle, wo ich Sie absetze. Noch Fragen?”
„Jede Menge. Aber keine von wirklicher Bedeutung.”
Etwa eine Viertelstunde dauerte die Fahrt. Der Steuermann manövrierte das Unterseeboot in die kleine Bucht, in der auch Emma an Land des Läuterungsbergs gegangen war. Durch eine Druckkammer gelangte Ron ins Wasser, tauchte ein paar Meter und betrat die Felsausläufer. Er tauschte den Anzug gegen ein Engelshelfergewand, stopfte die Ausrüstung samt ein paar Steinen in den Sack und warf ihn zurück ins Wasser. Auch die Uhr verschwand in der Tiefe. Dann machte er sich auf, den Zugang zum Berginnern zu erreichen.
Es war Abend und der Betrieb eingestellt worden, als Ron den zentralen Gang zu den Registrierungssälen erreichte. Er zog eine Kladde hervor, die die Fälscher im Inferno für seinen Auftrag vorbereitet hatten und machte sich auf den Weg. Unter dem Vorwand, Emma für ein Gespräch vor die Erzengelkommission holen zu müssen, hatte er die zentrale Meldestelle betreten. Es dauerte nur kurz, bis seine Dokumente geprüft waren. Niemand schöpfte Verdacht. Weil die Dienst habenden Engelshelfer aber angeblich nicht wussten, wo sich Emma aufhielt, wurde Ron zunächst in den zweiten Kreis geschickt. Die Angelegenheit war den drei Senioren ausgesprochen lästig, wie Ron urteilte. Er hatte ihr Kartenspiel gestört. Ron wunderte sich über ihren Leichtsinn, maß aber ihre Reaktion eher seinem schlechten Gewissen zu, sie getäuscht zu haben.
Den Aufgang nahm Ron in der Manier eines Treppenläufers. Kraftvoll und ohne jede Pause eilte er stets zwei Stufen gleichzeitig hoch. Im zweiten Ring angekommen, blickte er auf den langen Korridor. Das Büro eines gewissen Professor Bloomfield, in dem er weitere Hinweise über Emmas Verbleib erfahren sollte, war nicht sofort auszumachen. Nacheinander suchte er die Zimmer ab, die von diesem Flur abgingen. Immerzu bot sich ihm das gleiche Bild. Elf Stühle standen im Kreis zusammen, niemand war zu sehen. Dann endlich fand er das Sprechzimmer des Professors. Ron klopfte an, doch niemand antwortete. Auch in seinem Prüfungszimmer war der Prüfer nicht aufzufinden.
Ron vernahm Stimmen. Engelshelfer und Engel saßen in ihrem Aufenthaltsraum und spielten ebenfalls Karten. Sie warteten auf ihren Dienstschluss. Er trat durch die Tür. „Entschuldigt! Aber ich suche Professor Bloomfield.”
„Und wen genau?” Eine Engelshelferin sah auf. Als sie Ron erfasst hatte, lächelte sie entzückt.
„Professor Bloomfield eben.”
„Du bist neu in diesem Kreis, was?”
„Ja, bin ich. Also seid bitte nett zu mir!” Ron setzte eine Portion Charme auf und beschloss, dem zauberhaften Wesen lässiger gegenüberzutreten.
Die märchenhafte Schönheit erhob sich. „Den Gang entlang, rechts, das dritte Zimmer auf der linken Seite.”
„Danke!” Ron warf einen letzten, flüchtigen Blick auf ihre begehrenswerten Weiblichkeiten und war bereits aus der Tür getreten, da war ihm die Engelshelferin gefolgt.
„Warte doch mal! Du! Der Neue!”
Er verharrte. Hatte er etwas falsch gemacht, war sie ihm auf die Schliche gekommen? Die Engelshelferin stand vor ihm und musterte ihn noch intensiver. Sie deutete an, dass sie hier möglicherweise beobachtet werden konnten, nahm seine Hand und zog ihn in einen dunkleren Teil des Korridors. Sie standen sich gegenüber, schweigend, lächelnd, als sie unvermittelt ihre Handfläche auf Rons linke Brust legte. Mit der anderen Hand knöpfte sie sich die beiden obersten Knöpfe ihrer Robe auf. Ihr Brustansatz lag verführerisch im fahlen Licht. Ron wusste es nicht genau, aber so, wie die Dinge lagen, war zu vermuten, dass die süße Engelshelferin ihm soeben ein eindeutiges Angebot unterbreitet hatte. Er registrierte abermals ihre tadellose Figur. Vorsichtig hob er seine Hand, legte sie auf die ihre und gab sich alle Mühe, einen Hauch von Sanftheit in seine Stimme zu legen. „Wie ist Dein Name?”
Die Engelshelferin schwieg. Als seine Handfläche auf ihrer Haut lag, lächelte sie himmlisch auf. Sie war einen Schritt vorgetreten und hatte Rons Handfläche auf ihre Brust geführt. „Es muss wunderschön mit Dir sein,” flüsterte sie. „Um acht, Zimmer vierundzwanzig.” Sie strahlte ihn mit der freudigsten aller Erwartungen in ihren Augen an und entfernte sich langsam mit einem verheißungsvollen Lächeln in ihrem Gesicht, das nur wahre Götter schenken konnten.
Ron schluckte beeindruckt tief durch und schaute vergnügt auf ihren Hintern, mit dem sie lässig liegende Achten in die Luft zauberte. Sein vorfreudiges Grinsen kam ihm selbst reichlich albern vor.
Plötzlich drehte sich die Engelshelferin noch einmal zu ihm herum. „Es liegt in dieser Richtung. Gang rechts. Das zweite Zimmer auf der linken Seite. Ach übrigens! Mein Name ist Silvy. Ich heiße Silvy.” Dann schwebte sie elfenähnlich endgültig zurück in den Aufenthaltsraum.
Ron atmete tief durch. Er war nicht nur angetan von diesem bezaubernden Engelchen namens Silvy, mehr noch schätzte er die Offenheit, mit der hier im Fegefeuer scheinbar bestimmte Bedürfnisse geäußert und gezeigt wurden. Wenn er um acht die Zeit finden würde, wäre diese Frau sicher eine Herausforderung der besonderen Art. Bereits wenige Augenblicke später war er sich sicher. Er würde um acht Uhr Zeit finden müssen, schon allein, um sich nicht ihrem Zorn aussetzen zu müssen, wenn er sie enttäuschte.
Er machte sie auf den beschriebenen Weg und betrat wenig später eine Stube. Auch diesmal hatte niemand sein Klopfen wahrgenommen. Sofort übermannte ihn Erstaunen, als er durch die Tür lugte. Zu seiner großen Verblüffung nämlich saßen gleich zwei Dutzend Professoren beisammen. Alle sahen gleich aus. Alle trugen Tweedanzug, Halbglatze, Vollbart und Hornbrille. Professor Bloomfield war kein Einzelfall. Sie lasen, dösten, spielten Schach und Karten oder sangen in kleineren Gruppen. Etwa zwei Dutzend Kladden und Füllfeder lagen neben der Tür auf einem Tisch. Eine Herde geklonter Intellektueller hatte Ron so gar nicht erwartet. Er erinnerte sich an die Nachfrage der bezaubernden Engelshelferin, wen genau Ron zu sprechen wünschte. Jetzt erst verstand er richtig. Ron schätzte alle Anwesenden ein weiteres Mal ab, klopfte erneut an die Tür und trat in den Saal. „Entschuldigung! Ich suche einen gewissen Professor Bloomfield, der eine junge Frau namens Emma Nielsen im zweiten Kreis geprüft hat.”
Einige der Professoren sahen kurz auf, monierten seine Ruhestörung leise und gingen unbeirrt dem nach, was sie zuvor getan hatten.
Ron wiederholte seine Frage. „Emma Nielsen. Ich suche jenen Professor...”
„Ist ja gut. Ich komme schon. Nur Geduld!” Einer der Männer erhob sich aus seinem Bett und schlurfte zu ihm herüber. „Du meinst diese kleine, freche Göre. Dieses Menschenkind, nicht wahr?”
Ron bestätigte wortlos mit kurzer Geste und lachte innerlich. Emma hatte eindeutig Spuren hinterlassen.
„Was ist mit ihr? Gibt es Zweifel?”
„Nein! Keine Zweifel. Sie soll vor die Kommission. Wissen Sie, wo sie sich aufhält?”
„Heiliger Dreck, Junge! Deswegen bist Du hier? Dachte schon, dass die mich auf ihre Party eingeladen haben. Zwei heiße Weiber, sag ich Dir. Jung, knackig. Und trotzdem alles dran. Die andere, diese Modepuppe! Ich sag Dir. Die hat ein Fahrwerk. Bei der würde ich gern mal unter die Räder kommen. Von der Bettkante würde die keiner schubsen.”
„Erst mal draufkriegen, mein Alter!” Ron trat näher an ihn heran. „Und?”
„Was und?”
„Na, was wohl?”
„Nix und was wohl.” Der Professor schätzte Ron kritischer ab. „Die hatte ihren Einsatzbefehl von ganz oben. Meinst Du, dass ich mir an der die Finger verbrenne? Hab alles so gemacht, wie es in der Akte stand. Wenn es ein Problem gibt, liegt es nicht an mir.”
„Wo sie ist, wollte ich wissen.”
„Keine Ahnung.”
„Und diese Emma Nielsen?”
„Die? Was weiß ich. Im Dritten. Frag die Aufsicht!”
Ron wandte sich ab, um Momente später noch einmal nachzusetzen. „Ach! Wie haben Sie das gerade gemeint? Von ganz oben?”
„Von ziemlich weit ganz weit oben.” Der Professor musterte Ron noch interessierter. „Nimm einen Rat von einer einfachen Ortslehrkraft, Jüngelchen! Solche Weiber schlafen keine Nacht allein. Sie machen nur Ärger. Hol Dir einen runter und vergiss sie!”
Kopfschüttelnd ob seiner eigenartigen Aussagen ließ Ron den Mann stehen und machte sich daran, den Einlass für den Treppenaufgang aufzusuchen. Ohne jede Kontrolle konnte er passieren. Im dritten Kreis angekommen, fiel es ihm leicht, Emma ausfindig zu machen. Die himmlischen Mitarbeiter hatten die Namen aller Prüflinge, die sie in Gruppen eingeteilt hatten, auf einen Zettel geschrieben und an die Türen der Prüfungsräume geheftet. Schon mit dem dritten Anschlag fand Ron Emmas Namen vor. Er sammelte sich, sog tief Luft und trat in das Zimmer.
Emma sah auf, als sich die Tür öffnete, wandte ihren Blick aber wieder ab, weil sie zunächst nur die Gestalt eines Engelshelfers erkannt hatte. Sie lag mit einem Kopfhörer auf beiden Ohren auf dem Boden und verfolgte zum fünften Mal die Dokumentation über Zorn. Augenblicke später jedoch schaute sie abermals zurück. Sie hatte richtig gesehen. Ihrer Verblüffung folgte ein Lächeln, ihrem Lächeln folgte begeisterte Freude. Sie sprang auf. Sie eilte auf ihn zu und schloss ihn lange in ihre Arme. „Ron Gallagher! Was zum Teufel tust Du denn hier?”
Zwei Minuten brauchte Emma, um Ron unter den verwunderten Blicken der anderen aus der Gruppe zu begrüßen, um ihn herumzuschleichen, ihn zu herzen und um sicher zu sein, dass er es tatsächlich war. „Komm! Setz Dich! Erzähl! Was haben sie mit Dir gemacht? Wie bist Du hierher gekommen? Und überhaupt Ron Gallagher! Du darfst gar nicht hier sein!” hauchte sie ihm flüsternd ins Ohr.
„Pst!” Ron versuchte, Emmas Wiedersehensfreude zu zügeln, denn insbesondere Ottokar, Kalle und Arno warfen ihm bereits erste fragende bis missbilligende Blicke entgegen. Vor allem Ottokar belegte Ron mit Gesten und Zügen wachsenden Argwohns.
Zwei Stunden waren vergangen. Emma hatte berichtet, und Ron hatte berichtet, wobei sich Rons Ausführungen über das, was sich nach ihrer Festnahme und Trennung im Inferno ereignet hatte, auf wenige Minuten beschränkte.
„Er hat Dich ziehen lassen, um mich zu begleiten?” Emma blickte ihn verstört an. „Da stimmt doch was nicht?”
„Denke ich auch.” Ron sah Emma sorgenvoll an. „Gestorben wird auf der Erde.”
Emma verharrte. „Wie? Gestorben wird auf der Erde. Natürlich! Wo sonst?”
„Ich will damit sagen, dass er Dich deswegen hat ziehen lassen. Erst mal weg mit allen Problemen.”
„Und wenn ich wieder zurück bin...”
„... ist auch er wieder da.”
„Na super! Hört das denn nie auf?” Emma ließ enttäuscht den Kopf sinken.
Ron griff ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen. „Du hast es bis hierher geschafft. Hab weiter Vertrauen! Uns fällt auch dazu etwas ein. Ganz bestimmt. Jetzt gilt es, von hier so schnell wie möglich wegzukommen.”
Emma stimmte ihm wortlos und gedankenverloren zu. „Hast Du was von Oskar gehört?”
Ron schüttelte verneinend den Kopf. Er spürte, wie sich in Emma neuerlich Enttäuschung und Trauer breit zu machen begannen.
Sie hielten einen langen und vertrauten Blick, als Ottokar unvermittelt vor ihnen stand. „Ich will nicht stören, Emma! Aber Du solltest Dich lieber wieder auf die Prüfung konzentrieren und Dich der Gruppe widmen.” Ottokar sah auf ihre Hände, die sie immer noch verbanden.
„Emma?” Ron holte sie zusammen mit einem sanften Rütteln aus ihrer Trauer zurück in die Gegenwart.
Emma sah hoch zu Ottokar. „Ah, ja! Ottokar! Das ist Ron. Ron! Das ist Ottokar.”
„Freut mich. Du bist...?” Ottokar reichte seine Hand zur Begrüßung.
„Ein guter, alter Freund. Von der Erde,” bemerkte Emma kleinlaut, als Ron den Handschlag entgegnete.
„Ein sehr alter und sehr guter Freund, was?” Ottokar ließ mit stechendem Blick nicht mehr von ihm ab. „Und auf dem Weg, Karriere zu machen, wie?”
Ron haderte mit sich, weil er nicht sofort wusste, was er Ottokar antworten sollte.
„Du musst mir unbedingt mal erklären, wie sie hier das Personal auswählen. Ist bestimmt nicht einfach, in eine solche privilegierte Position zu kommen. Man muss bestimmt noch ’ne Ausbildung machen, was?”
Emma wollte, der Vorsicht wegen, die Fortsetzung ihres Gesprächs unterbinden. „Du hast Recht. Lernen wir, was wir noch nicht über Zorn wissen.”
Ron verstand Emmas Manöver, schwatzte für Ottokar noch daher, dass er es als intelligenter Bursche durchaus mit einer Bewerbung, in den Himmelsdienst aufzusteigen, versuchen sollte und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er sie, wenn sein Nachtdienst es zuließe, später noch einmal besuchen könnte. Emma und Ottokar sahen ihm gemeinsam nach, als er den Saal verließ.
„Ein sehr junger, alter Freund.”
„Es soll Menschen geben, Ottokar, die sind noch früher gestorben als Du.”
„Mag sein! Aber sagtest Du nicht, dass Du mit Jungs so viel am Hut hattest wie Kalle mit Verstand?
„Weiß man’s?” Emma versuchte, sich so kokett wie möglich zu geben. Ihr gefiel, Ottokar mit dem Auftauchen Rons zu zeigen, dass sie sich, wenn überhaupt, für eine so ganz andere Qualität eines männlichen Äußeren interessierte, als es Ottokar verkörperte.
Es war Viertel vor acht, als Ron vor der Tür mit der Nummer vierundzwanzig stand. Ein Engelchen schwebte nahezu lustvoll, auf dem Rücken liegend und wie ein Baby mit den Beinen strampelnd, auf einer Wolke am Türblatt. In geschwungenen Lettern stand Silvys Name darunter geschrieben. Ron klopfte zunächst zaghaft. Von Silvy war nichts zu hören. Er schlug kräftiger auf das Holz, doch Silvy meldete sich erneut nicht. Er drehte sich ab, um zu gehen, da stand sie in ihrer ganzen vollendet verführerischen Schönheit wie herbeigezaubert vor ihm.
„Du bist zu früh!” Silvys Blicke inspizierten ihn lüsternd von Kopf bis Fuß. „Ich will hoffen, dass das kein Grundsatz von Dir ist.” Sie stand vor ihm, nur verhüllt in einen Bademantel aus Seide, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie tänzelte nahezu graziös an ihm vorbei und bat Ron hinein.
„Ich kann später kommen.” Ron stand in der Tür und verfolgte, geblendet von ihrer Anmut, jeden ihrer Schritte.
Silvy wandte sich ihm zu. „Das nun wieder wäre ebenfalls sehr schade.” Sie nahm das Handtuch vom Kopf und strich sich durchs nasse Haar. Sie vernahm Rons Vorfreude, seine kleine Verlegenheit, lächelte, warf das Handtuch zur Seite, verharrte für einen Moment und ließ, mit dem laszivsten jeden erotischen Benimms, ihren Bademantel zu Boden gleiten. Sie trat vor ihn, nahm seine Hand, zog ihn langsam in das Zimmer und schob die Tür zu.
„Also schön, Kinder! Fassen wir zusammen, was wir Wichtiges über Zorn gelernt haben.” Pfarrer Friedrich war zur gleichen Zeit ganz in seinem didaktischen Sendungsbewusstsein aufgegangen. Er hatte sich aufgedrängt, für ihre Aufführung eine Art Regisseur zu spielen.
„Pfarrer Friedrich! Ich bin nicht Dein Kind!” Emma war seiner ständigen Bevormundungen und Belehrungen der Marke moralischer Zeigefinger überdrüssig geworden.
„Heißt es nicht, wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder.” Molly blickte fragend in die Runde.
„So ein Blödsinn! Dass wir wie Kinder werden, rein und fein, ist dummes Zeug von gestern. Wir können höchstens zu verhindern versuchen, dass die Kinder so werden wie wir.” Emma war genervt. Neuerlich drohte eine gruppeninterne Diskussion, die vor allem zwei Dinge kostete – Zeit und Nerven. Sie lehnte sich zurück und verschränkte genervt die Arme vor ihrer Brust.
Ottokar hatte sie aufmerksam beobachtet, schenkte ihr eine kleine Schelmerei, tat es Emma gleich und nahm die gleiche Position ein.
Emma durchzuckte schlagartig ein ungutes Gefühl. Ottokar wollte ihr einmal mehr zeigen, wie nahe er ihr war, wie sehr er sich mit ihr verbunden fühlte.
„Hier wird niemand zu irgendetwas gezwungen. Jeder hier handelt nach seinem freien Willen. Also bitte! Fangen wir an.” Pfarrer Friedrich ignorierte ihren Protest.
Eine Zeit lang äußerten sie, einer nach dem anderen, verwertbare Inhalte über Zorn, wobei alle ausnahmslos die Informationen vortrugen, die sie zuvor aus der Materialsammlung zum Thema vorgefunden hatten.
„Zorn ist ein ausgeprägter emotionaler Zustand, der denjenigen, der ihn in sich trägt, im schlimmsten aller Fälle ausgesprochen aggressiv und angriffslustig macht.”
„Zorn beherrscht dazu jede andere Gefühlsregung.”
„Zorn ist eine Art Ärger, die zu unkontrollierten Handlungen oder Aussagen führen kann.”
„Es gibt aber auch zum Beispiel den Zorn Gottes, eine Art gerechtes Erzürnen hinsichtlich der Missstände, die von Menschen verursacht worden sind.”
„Zorn ist immer gegen eine bestimmte Person gerichtet, die nicht das tut, was man sich vor ihr erhofft.”
„Zorn ist hirnlose Raserei. Nimm den ehemaligen amerikanischen Präsidenten George Bush. Der Idiot hat vor lauter Jähzorn über ein paar Dutzend fanatische Glaubenskrieger einen Religionskrieg angezettelt, der die Menschheit auf Jahrzehnte bedroht.” Emma schaute einen jeden prüfend an. „Ja, was denn? Ihr könnt ruhig mal was von Bedeutung sagen, statt ständig das zu wiederholen, was sie vorgegeben haben. Hallo? Habt Ihr alle Euren Verstand ausgehängt?”
„Wer seinen Zorn bezwingt, hat seinen Feind besiegt.”
„Eine Strafe im Zorn kennt weder Maß noch Ziel. Sobald der Mensch in Zorn gerät, ist er im Irrtum.”
„Der Gegensatz von Zorn ist Sanftmut.”
Fabiana kam mit der Niederschrift ihrer Aussagen nicht mehr nach und bat um eine kleine Unterbrechung.
Emmas Einwand hatte niemanden interessiert. „Ich kann nicht mehr. Ich knall gleich durch!” Sie verabreichte sich selbst eine Unterbrechung und suchte Abstand.
„Hey, Lady! Nur weil Du schlappmachst, müssen wir nicht darunter leiden. Ich sag Dir. Die Jungs, die uns morgen früh prüfen, sind unberechenbar. Man muss zocken können, um bei denen zu bestehen. Zocken, verstehst Du?”
„Arno, richtig? Arno Blecker, so heißt Du doch, richtig?”
„Jaman, Lady! Ich bin der Arno.”
„Also, Arno! Erstens. Wann und wie lange ich mich mit was oder wem beschäftige, ist allein meine Sache. Wie käme ich dazu, auf Dein Gequatsche auch nur mit einer Schwingung zu hören. Zweitens. Ich bin nicht Deine Lady!”
Kalle trat an Emma heran. „Lady! Bleib locker! Sitzen doch alle im selben Boot. Brauchst wohl mal wieder ’ne ordentliche Verbürstung, wie?” flüsterte er ihr hämisch zu.
Emma spürte, wie ungehaltener ihre Laune wurde. „Du hast mir gerade noch gefehlt. Lass mich doch einfach in Ruhe.” Sie stockte innerlich, als sie durch die Runde schaute. Setzte sie sich weiter mit denen aus der Gruppe auseinander, die sie nicht mochte, wurde sie noch wütender. Und nach Wut kam Zorn. Sie wandte sich ab, nahm einen Tee und ein Stück Trockenfleisch, das ihr eine Engelshelferin am Nachmittag gebracht hatte und setzte sich, den anderen ihren Rücken zukehrend, abseits an einen der Tische.
Emma wusste von sich selbst nur allzu gut, wann sie ungerecht wurde, meistens jedenfalls. Das war so ein Moment. Sie war mit sich selbst ausgesprochen unversöhnt. Ron hatte ihr gewissermaßen das alte Leben ins Bewusstsein gerückt. Oskar war tot. Ihre Reise durchs Jenseits gestaltete sich schwieriger, vor allem aber länger als angenommen. Zugegeben. Im Fegefeuer war es auszuhalten. Doch die Zeit rannte. Ihre Mutter machte sich sicher schon große Sorgen, und dass Luzifer ihr weiter nachstellte, vorausgesetzt, sie würde das ewige Licht tatsächlich erblicken, bedrückte ihr Gemüt in einem Maß, das sie zu überfordern drohte.
Sie verfolgte wieder den kleingeistigen Aktionismus um sie herum. Pfarrer Friedrich, Sophia, Molly und Holger waren auserkoren, das Theaterstück zu schreiben, das sie am nächsten Morgen zum Thema Zorn vortragen sollten. Kalle, Sergej, Ottokar, Fabiana und dieser Freak von Arno saßen, wie zu einer Quizshow bereit, nebeneinander und verfolgten zum wiederholten Male die Dokumentation. Alle trugen Kopfhörer. Emma malte sich aus, wer von ihnen wohl die Prüfung nicht bestehen würde. Mehr und mehr war eine Feststellung in ihr gereift. Das Prüfungsthema Zorn war nur ein Vorwand. Tatsächlich war längst schon entschieden, wer in die Warteschleife musste. Ottokar maß sie so viel Verstand zu, zu einer gleichen Einschätzung gekommen zu sein. Doch der verfolgte entweder aufmerksam die einstündige Zusammenfassung zum Stoff auf dem Screen oder las in einem der Bücher. Vermutlich konnte er bereits alle Beiträge auswendig. Dieser Arno konnte von der Zornprüfung am vergangenen Morgen nichts Wesentliches berichten. Alle hatten ihn sofort ausgiebig danach gefragt. Emma wertete diese Nullinformation als weiteres Indiz für ihre Einschätzung. Längere Zeit beobachtete sie ihn. Hatte er vielleicht etwas mit dem eigentlichen Test zu tun? Er war Rollstuhlfahrer, er war behindert und obendrein ein ziemlich schräger Vogel. Ein Großmaul eben, über das sie sich bereits nach wenigen Worten gehörig ärgern konnte. War Arno als Reizfigur eine Hürde für sie? Emma beschloss den Gedanken. Derart einfältig konnte Gottes Personal nun wirklich nicht sein. Oder doch?
Eine gute Stunde später, Emma hatte vor sich hin gedöst und war von Arno reichlich unsanft aus ihrem Zustand geweckt worden, saßen alle wieder beisammen. Pfarrer Friedrich verteilte die Rollen ihres entwickelten Werkes. Dazu gab er jedem eine Beschreibung der Figuren an die Hand. Fabiana hatte sich mit ihrer Schreibarbeit ein Fleißsternchen verdient. Auf eine Probe wurde verzichtet. Ihre Kreativität sollte weder bestimmt noch gebändigt werden, wie alle einstimmig festhielten. Die Stärke ihres Vortrags sollte die Improvisation sein. Jedenfalls waren sie alle der Legende nach Verschollene auf einer einsamen Insel. Sie alle trugen Zorn in sich, aus unterschiedlichen Gründen. Sie alle waren aufeinander angewiesen. Sie alle mussten sich arrangieren, ihren Zorn zügeln. Das war der Inhalt ihrer Vorführung. Brecht ließ grüßen, dachte Emma und erinnerte sich dunkel ebenso an den Deutschunterricht zum Thema Improvisationstheater wie auch an den anschließenden Theaterbesuch mit der Klasse, bei dem eine gewisse Mutter Courage bewies. Genaueres hatte sie vergessen.
Wer wollte, konnte die Nacht über in dem Raum bleiben, um sich weiter auf die Prüfung vorzubereiten. Emma wollte nicht. Auch, weil von Ron weit und breit nichts zu sehen und zu hören war. Ausgestattet mit zwei Wachsbällchen, die sie am Nachmittag aus einer Kerze geformt hatte, legte sie sich in der üblichen Gemeinschaftsunterkunft auf einer der Matratzen ab. Sie hatte geduscht und ein weiteres, allen anderen so artfremdes, Bedürfnis erledigt. Emma war müde. Ihr Körper holte sich zurück, was sie in den letzten Tagen an Kraft gelassen hatte. Gegen elf Uhr fiel Emma in einen festen Schlaf, der erst endete, als ein Hahn unerträglich laut durch die Lautsprecher krähte.
Um acht Uhr bereits saßen alle wieder in jenem Saal zusammen, ganze zwei Stunden vor der Prüfung. Einige lasen in den Büchern, andere verfolgten zum unzähligen Male die Dokumentation. Emma spürte die Nervosität aller. Es kam ihr so vor, als wenn die meisten befürchteten, über Nacht ihres Wissens vom gestrigen Tag verlustig geworden zu sein.
Ron betrat das Zimmer, und augenblicklich gehörte Emmas Aufmerksamkeit allein ihm.
Ottokar verfolgte, wie Emma aufsprang, auf ihn zueilte, ihn zur Seite nahm und herzlich umarmte.
„Das tut so gut, Dich zu sehen. Wo warst Du?” Emma genoss unverkrampft seine Nähe. Sie wollte sich endgültig fallenlassen, da verharrte sie für einen Moment. Ron roch anders, wie sie immer noch vernahm, doch sie konnte den Duft in ihrer Nase so gar nicht einordnen.
„In einer der Personalunterkünfte,” bemerkte Ron wie selbstverständlich und entzog sich Emmas Umarmung.
Emma spürte seine Verlegenheit. „Was ist los?”
„Nichts! Was soll sein?”
„Ron Gallagher! Was ist mit Dir los?”
„Ich hab mich umgehört. Eine Verkürzung kannst Du vergessen. Der Zugang zum Treppenhaus öffnet sich nur in festgelegten Zeitfenstern. Und auch nur von Kreis zu Kreis.”
„Das war doch irgendwie klar.” Emma musterte ihn strenger. „Aber das habe ich weder gefragt noch gemeint. Mit Dir stimmt doch was nicht. Jetzt sag schon! Haben sie Dich etwa enttarnt?”
„Nein!”
„Also dann! Was ist los?”
„Sagte schon – nichts!”
„Ron Gallagher! Ich glaube Dir kein Wort!” Je mehr er herumdruckste, desto beharrlicher drohte Emma nachzuhaken.
Ottokar gesellte sich plötzlich zu ihnen, was Ron als willkommene Störung empfand, die Emma davon abhielt, ihn weiter zu bedrängen. „Ron! Emma!” Er wandte sich Emma zu. „Kann ich mal mit Dir sprechen?”
Emma stutzte kurz und folgte ihm, als Ottokar bereits ein paar Meter abseits getreten war.
Sichtlich nervös ging er vor ihr auf und ab. „Also! Ich muss das jetzt mal loswerden. Ich habe damit schon lange genug gewartet. Was eigentlich bildest Du Dir ein?”
„Bitte? Ich verstehe nicht. Wieso bilde ich mir etwas ein?” entgegnete sie ihm überrascht.
„Ich frage Dich noch einmal, was Du Dir einbildest!”
„Ottokar! Was willst Du?”
„Die Wahrheit. Ich will nichts mehr als Wahrheit. Ja! Ich brauche Wahrheit. Das, was Du mir verschweigst.” Ottokar starrte auf Ron, der seinerseits fragend auf Emma blickte.
Allmählich beschlich Emma eine erste Ahnung, was Ottokar bedrückte. „Du meinst Ron? Du bist doch nicht etwa... eifersüchtig? Natürlich! Du meinst Ron! Und Du bist eifersüchtig.” Sie setzte sich vor ihm auf die Tischplatte. „Ich wüsste nicht, was Dich das angeht.”
„Und ob mich das was angeht. Wenn Du jemandem schöne Augen machst, dann solltest Du wissen, was das bewirkt. Dann solltest Du Dir auch Deiner Verantwortung bewusst sein. Oder hast Du es nicht so mit Wahrnehmung?”
„Was redest Du da? Ich habe Dir keine schönen Augen gemacht. Wie käme ich dazu?”
„Und was war das dann im Gesprächskreis?”
„Ich weiß nicht, was Du meinst. Hilf mir!”
„Das ist ja wohl...”
„Was ist das?” Emma suchte abermals Rons Blick, der ihr Gespräch interessiert verfolgte. Sie wandte sich Ottokar wieder zu. „Was soll das werden? Eine Szene etwa? Szenen sind etwas für Paare. Wir aber sind, wenn überhaupt, ein Team. Zwei mit einem gemeinsamen Interesse. Mehr nicht.”
Ottokar nahm seinen Kopf hoch. Er zitterte. Er klapperte mit den Augenbrauen, und sein Kopf wackelte leicht hin und her. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Ottokar glich einem Psychopathen, den das Pflegepersonal bei der morgendlichen Medikamentenvergabe vergessen hatte. „Du kleine Schlampe!” stieß er ihr schließlich entgegen.
„Bitte? Was hast Du gesagt?” Emma war zunächst verblüfft und Momente später entsetzt. Hatte sie tatsächlich richtig gehört? Sie hatte.
„Ich sagte, dass Du eine Schlampe bist.” Er erhob sich, sprang auf den Tisch, blickte hinunter auf Emma und schrie auf sie ein. „Schlampe! Du bist eine kleine Schlampe. Wie alle Frauen. Eine widerliche kleine Schlampe!”
Alle im Raum wurden sofort auf beide aufmerksam. Ron ging auf Emma zu, doch sie hielt ihn auf Abstand.
„Ottokar! Du hast schlecht geschlafen. Entspann Dich!”
Noch nervöser und aufgebrachter geworden rieb sich Ottokar beide Hände. „Ich bin entspannt,” raunzte er auf und war so entspannt wie ein Fisch, der an einer Angel zappelte. „Und sag mir nie wieder, was ich zu tun oder zu lassen habe!” Mit feuerrotem Kopf setzte er seine Wutrede fort. „Die Prüfung hättest Du ohne mich nie und nimmer geschafft. Ich habe Dir geholfen. Und Du? Was tust Du? Du wirfst Dich gleich sofort diesem Typen da an den Hals. Und warum tust Du das? Weil er besser aussieht als ich. Weil er besser fickt als ich. Du bist wie alle. Verblendet, blind und blöd. Von wahren Gefühlen hast Du doch keine Ahnung. Du spielst mit den Gefühlen anderer. Du bist berechnend. Ja! Du bist eine berechnende, kleine Schlampe!” Wütend kickte er mehrfach seinen rechten Fuß ins Leere. „Wahrscheinlich warst Du das Senftöpfchen in Deiner Straße. Jeder durfte mal sein Würstchen reinstecken. Und Du bist es immer noch. Vor Frauen wie Dir hat mich meine Mutter immer gewarnt. Du interessierst Dich doch allenfalls für die Cover von Büchern. Der Geist von Menschen ist Dir scheißegal. Du denkst, Du klimperst mit den Augen, und jeder liegt Dir zu Füßen.” Ottokar sprang vom Tisch und baute sich vor Emma auf. „Sieh mich an! Los! Sieh mich an!”
Emma setzte augenblicklich den strengsten Blick auf, den sie entwickeln konnte.
„Ich sage es noch einmal, vor allen anderen hier. Du bist das mieseste Aas von Frau, das mir je untergekommen ist.” Ottokar grinste sie hämisch an. „Heute Nacht. Fünf Mal! Fünf Mal, liebe kleine Emma! Und es war herrlich! Du kannst Dich als gefickt betrachten.”
Emma war tief getroffen. Instinktiv holte sie aus, um ihrem Ärger mit geballter Energie freien Lauf zu lassen.
Ottokars Tonfall wurde noch garstiger. „Na, los! Schlag zu! Schlag zu!”
Kurz bevor Emma ihm tatsächlich eine kräftige Ohrfeige versetzen konnte, stürzte Ron herbei und hielt ihren Arm zurück. „Nein! Emma, nicht!”
Ottokar grinste sie weiter gehässig an, als Emma kopfschüttelnd vor ihm stand.
Zwei Engel betraten sogleich den Raum und nahmen ihn in ihre Mitte. „Ottokar Wiegand. Komm doch bitte mit uns!” Die Engel führten ihn ab. Ottokar ließ sie willenlos gewähren. Er fing an zu lachen. Immer lauter lachte er, während alle anderen irritiert seinen Abgang verfolgten.
„Hey, Lady! War ’ne coole Show! Hast souverän reagiert. Jaman, das hast Du!” Arno war an Emma und Ron herangerollt und wollte seine Anerkennung weiterbekunden, da betrat Karim den Saal und verkündete eine weitere Überraschung an diesem Morgen.
„Hopp, hopp! Ihr Lieben! Der gute Ron und ich werden Euch jetzt einen Kreis höher führen. Im Zimmer nebenan löscht Euch ein Erzengel einen Eurer Buchstaben. Ihr habt die Prüfung bestanden.”
Alle tuschelten sogleich untereinander, einige sackten erleichtert durch, andere blickten immer noch ungläubig umher. Die Freude darüber, einen Kreis weiter aufsteigen zu dürfen, überwog schließlich. Allen war Ottokars Schicksal gleichgültig. Emma selbst war zur Prüfung geworden. Die Kommission hatte sie und Ottokar zusammengeführt, um Ottokar zu seinem Zornausbruch zu verführen.
„Dabei. Ich hätte ihm so gerne eine geknallt. Hab selten so ein starkes Gefühl gehabt, jemanden ordentlich zu verprügeln. Gar nicht auszudenken.”
Emma und Ron stiegen eine Viertelstunde später nebeneinander die Treppen zum vierten Kreis hinauf, während sie die Geschehnisse resümierten.
„Vergiss es einfach!”
Emma blieb stehen. „Ron Gallagher! So einfach ist das nicht. Nichts ist, wie es scheint. Schon vergessen?”
Ron blickte sie verwundert an.
Emma verharrte immer noch. Sie erinnerte sich an die Beiträge ihrer Mitstreiter, die sie über Zorn zusammengetragen hatten. Einer Anleitung gleich war Ottokar all diesen Regungen erlegen. Noch etwas beschäftigte sie. Genau so, wie Ron gerade neben ihr stand, hatte Ottokar neben ihr gestanden. Genau so, wie sie mit Ottokar die Stufen hochgegangen war, hatte Ron soeben an ihrer Seite den Aufstieg genommen. „Ich frage mich, was die hier wohl noch so alles anstellen.”
Karim hatte ihnen erklärt, dass an diesem Tag genug Zeit war, auch die vierte Prüfung anzugehen. Trägheit des Herzens also war zu büßen. Emma erinnerte sich an den alten Mann ohne Gesicht, der ihr das Boschbild von den sieben Hauptsünden erklärt hatte. Ein Priester hatte es sich in einem Stuhl bequem gemacht. Die Bibel lag geschlossen neben ihm. Der Ausschnitt des Gemäldes symbolisierte die Gleichgültigkeit gegenüber Gott und dem Glauben an ihn. Ging es jetzt um diese Ignoranz, befürchtete Emma, war diese Form von Trägheit durchaus ein echtes Thema für sie.
Sie hatten erneut einen Saal betreten. Einzeln wurde ein jeder von Engelshelfern aufgerufen und herausgeführt, ohne Vorbereitung, ohne jeden Hinweis. Verängstigte Nachfragen beantwortete Karim immer gleich, nämlich gar nicht.
„Sie wollen, dass man sich auf sie einlässt,” fasste Ron die wenigen Informationen zusammen, die einen Rückschluss zuließen, was die Prüfung parat halten konnte. Seine Befürchtung, dass sich ihre Wege neuerlich trennen würden, behielt er genauso für sich wie seine Unwissenheit, wo und wie sie sich im nächsten Kreis wieder treffen konnten.
„Sie wollen, dass man sich auf ihn einlässt,” entgegnete Emma ihm nüchtern.
„Auf wen?” fragte Ron eher beiläufig zurück.
„Ron Gallagher! Auf Gott natürlich!”
Ron atmete schwer durch.
„Schon klar, dass Du damit Stress hast. Gott sei Dank, was?”
„Ich verstehe nicht. Was meinst Du?”
„Dass sie mich prüfen wollen.” Emma rutschte näher an ihn heran und flüsterte ihm zu. „Du würdest auf immer und ewig ein kleiner Engelshelfer bleiben, Ron Gallagher!”
Gerade, als Ron auf ihre kleine Spitze antworten wollte, trat Karim vor sie. „So! Und nun Ihr beide! Bitte!”
„Wir?”
„Wir?” fragte auch Emma überrascht nach.
„Gewiss doch! Es ist Eure gemeinsame Prüfung.” Karim lächelte sie vielsagend an.
„Moment mal! Was genau soll das heißen. Was bitte...”
„Emma Nielsen, bitte! Keine Widerrede. Ach, und das sei Dir dazu mitgeteilt. Wir machen Dir nichts vor, und erwarten, dass Du uns nicht täuschst.”
Emma und Ron waren wie vor den Kopf geschlagen. Wusste Karim etwa, wer Ron tatsächlich war? Er wusste, dachte Emma. Zögerlich betraten sie nach wenigen Minuten einen Raum, der Emma neben ihrer Verblüffung zu allem Übel auch noch an das Behandlungszimmer ihres Zahnarztes erinnerte. Zwei Stühle standen in der Mitte des Zimmers. In der Decke darüber war ein großes Glasfenster eingelassen.
Ein Erzengelanwärter saß hinter mehreren Monitoren und begrüßte sie sogleich. „Ich habe alles vorbereitet. Wir können sofort beginnen.” Er deutete mit freundlicher Geste auf die beiden Stühle.
Emma suchte bei Ron nach Hilfe, ihrer wachsenden Verstörtheit mit einigermaßen tauglichen Erklärungen zu begegnen. Außer diesen beiden Stühlen und dem Arbeitsplatz des Erzengelanwärters, der den Benimm eines peniblen Buchhalters zu besitzen schien, war nichts auszumachen, das verriet, was sie hier erwartete. „Womit beginnen?”
„Bitte! Nehmt Platz!”
„Also! Ich weiß nicht. Nehmen Sie’s mir nicht übel. Aber ich werde mich erst ergeben, wenn Sie mir sagen, was hier wie und warum geschieht.”
Der Erzengelanwärter wiederholte mit gleicher Geste seine Aufforderung. „Ihr werdet hier mittels Transformation zehn Jahre in die Zukunft versetzt. Mehr kann ich nicht sagen. Bitte!” Er drängte Ron vorsichtig in einen der Stühle.
Der Engel schnallte ihn an Armen, Händen, Füßen und Beinen mit Schlaufen fest. „Die sind nur für Eure Sicherheit. Es kam vor, dass die Bilder bei einigen so heftige Reaktionen auslösten, dass sie aus dem Stuhl gefallen sind.”
„Die Bilder?” Emma verfolgte mit großen Augen jeden seiner Handgriffe.
„Die Transformation ist wie ein Traum. Wir löschen zunächst alle Informationen, die in Eurem Unterbewusstsein gespeichert sind. Dann versetzen wir Euch in die Zeit und in die Handlung, die für Euch bestimmt wurden. Aber keine Angst! Euch geschieht nichts! Und Euer Unterbewusstsein kriegt Ihr selbstverständlich auch wieder zurück.”
„Sie meinen, wir kriegen unseren eigenen Kinofilm vorgeführt?” Zaghaft setzte sich auch Emma.
„Das kann man so sagen, ja.” Der Engel fixierte sie ebenfalls und vernahm in seiner ganzen Routine ihr Befremden erstmals wirklich wahr. „Nur keine Angst! Dir passiert nichts!” Er schritt zurück zu seinem Pult. Nach wenigen Momenten surrten die Rückenlehnen nach hinten und die Fußstützen in die Höhe.
Emma und Ron sahen fragend zu dem jeweils anderen herüber. Immerhin, dachte Emma. Ron war bei ihr.
Der Engel überprüfte ihre Position. „Die Projektion dauert etwa zwei Stunden. Liegt Ihr bequem?”
Erneut schauten sich beide verblüfft an.
„In Eurem Fall hat die Kommission beschieden, dass Ihr die Zukunft zusammen erleben sollt. Jeder für sich, wie in einem Traum, aus seiner eigenen Perspektive also, aber eben zusätzlich auch aus der Sicht anderer Beteiligter.”
„Das heißt?” Emma verfolgte, wie der Engel ein Programm zu starten begann.
„Jeder von Euch ist in der Lage, auch das zu sehen, was der andere erlebt.”
„Können wir unterbrechen?” wollte Ron wissen.
„Nein! Das ist nicht möglich.”
Emma legte ihren Kopf ab. „Was ist mit Popcorn?”
Der Engel ignorierte ihre Frage und setzte eine Schutzbrille auf. „Also! Beginnen wir. Wir sind der Gegenwart auf der Erde zehn Jahre voraus. Ihr lebt in Hamburg und wohnt zusammen. Im Laufe der Jahre habt Ihr Euch entfremdet.”
Emma schreckte kurz noch auf, da tünchte sich der Raum auch schon in blaue Töne. Immer kräftiger geriet die Farbgebung. Die Stimme des Engels verstummte zunehmend. Plötzlich strömte Gleißlicht aus dem Glasfenster auf sie herab. Emma streckte ihren Arm nach Ron aus, doch die Schubwellen der Transformation machten jede weitere Bewegung unmöglich. Beide schlossen geblendet ihre Augen, beide wurden Momente später ohnmächtig. Die Reise in ihre Zukunft begann.
Emma lag ermattet auf dem Bett. Langsam hob sie ihren Kopf. Sie blickte ihren nackten Körper hinab. Ein leichter Schweißfilm überzog ihre Haut. Mehr und mehr ließ das beseelte Zittern in ihren Gliedern nach. Das Kribbeln unter ihren Fußsohlen verflog. Sie griff zwei Kissen, richtete sich am Kopfende auf und sah in einem Spiegel auf ein paar Schaufensterpuppen, die, wie sie urteilte, je länger sie darüber nachdachte, kopflos mit Idealmaßen auf ewig erstarrt waren, ihre Kleider trugen. Es waren tatsächlich ihre Kleider. Sie hatte Großes geschaffen. Stolz und Zufriedenheit machten sich in ihr breit. Ihr Blick fiel auf Ron, der auf dem Balkon stand und rauchte. Morgenliebe konnte so herrlich sein, wenn es ihr gelang, den Verstand auszuschalten. Die Vormittagssonne kündigte einen neuerlichen heißen Sommertag an. Emma zog Rons strahlend weißes Oberhemd über und trat ebenfalls hinaus. Sie umschlang seinen Oberkörper und drückte ihren Kopf an seinen Rücken. „Was ist? Lust auf ein ausgiebiges Frühstück?”
Ron drehte sich herum und schloss sie in die Arme. Er sprach zu ihr, doch sie konnte ihn nur verzerrt wahrnehmen. Sie versuchte, ihm nachzuschauen, aber ihre Augen sahen nur unscharfe Konturen davonziehen.
Am frühen Abend betrat Emma erschöpft das Loft. Ron saß an einem Flügel und arbeitete daran, einen Anschluss für seine neu komponierte Musik zu finden. Immerzu setzte er nach wenigen Tönen der Melodie ab. Wieder kam es Emma so vor, als schaute sie durch zentimeterdicke Glasbausteine.
„Und? Wie war dein Tag so?” Wie gewohnt schmiss sie Tasche und Jacke auf einen alten Sessel.
„Ging so. Und deiner?”
„Ging so!”
Emma betrat das Bad. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und beobachtete Ron mit kritischen Blicken, der vor dem Spiegel stand und sich rasierte.
„Was soll das jetzt wieder heißen? Wir reden nicht mehr über alles,” erwiderte er und hielt Emmas Blick prüfend durch das Spiegelglas.
„Wie? Was soll das jetzt wieder heißen? Das heißt, dass wir nicht mehr über alles reden. Was sollte es sonst heißen?”
„Versteh ich nicht! Ich habe doch nur gesagt, dass ich... Eigentlich habe ich gar nichts gesagt.”
„Das ist es ja. Genau das meine ich.”
„Was ist was, das Du meinst?”
„Schon gut!” Emma verließ enttäuscht das Bad.
In der Nacht schmiegte sich Ron an sie. Er roch penetrant nach Bar und Alkohol. Er streichelte sanft ihren Bauch. Behutsam knetete er ihre Brüste. Ron wusste, wie er sie anstecken konnte. Langsam zog er Emma aus, küsste ihren Hals und legte sich auf sie. „Komm her!”
„Hey, was machst du denn? Ich bin müde.” Emma spürte ihn Momente später in sich, geriet in Laune, doch sein Liebesakt dauerte nur kurz. Sie legte sich enttäuscht auf die Seite. „Na super! Und ich?” Sie konnte nicht mehr einschlafen, während Ron immer lauter zu schnarchen begann.
Am nächsten Morgen saßen beide am Frühstückstisch auf dem Balkon. Ron las in einer Zeitung. Emma gab sich alle Mühe, doch sie konnte nicht eine Zeile auf den Seiten erkennen, die er ihr entgegenhielt.
„Was meinst Du? Wir könnten doch zum Beispiel mal wieder was zusammen unternehmen... ich meine...”
„Emma! Ich verstehe Dich nicht.” Ron setzte die Zeitung ab, die sein Gesicht verborgen hatte. Doch statt sie anzublicken, suchte er gelangweilt den Frühstückstisch ab. „Gerade gestern noch wolltest Du genau heute für Dich allein sein. Haben wir keine Marmelade mehr?”
„Du warst mit Einkaufen dran. Wenn Du Dich bitte erinnern möchtest!”
„Mir doch egal. Im Krieg und in der Liebe sind schon seit Jahrtausenden alle Mittel erlaubt.”
Emma schloss genervt die Augen.
Eine Tür knallte laut zu. Ron blieb allein zurück.
„Was soll das jetzt wieder heißen? Flucht. Angst, geliebt zu werden?” Ron unterbrach seine Fingerübungen am Klavier, als Emma wenig später vor ihm stand und, zum Streit bereit, ihre Hände in die Hüften stemmte.
„Man kann einen anderen nur schwerlich lieben, wenn man sich selbst nicht mag. Wenigstens ein bisschen.”
„Ok. Ich liebe mich. Und Dich. Zufrieden?”
„Wie’s besser nicht geht.”
„Hey, was meinst Du jetzt schon wieder? Ich habe nur gesagt, dass Frauen so ziemlich das einzige Thema sind, über das ich, wie alle Männer, reden kann, ohne die geringste Ahnung davon zu haben.”
Am Abend hockte Emma vor ihrer Modepuppe George, steckte die Maße eines Kleides ab und telefonierte mit ihrer Mutter. „Der Job? Läuft prima, Mama. Und sonst? Was fragst Du? Wie das Wetter hier ist? Ich hoffe, Du hast gutes Wetter. – Nein. Ich bin Dir nicht böse. Nicht mehr.” Emma schloss verdrossen die Augen. Sie hielt den Hörer von ihrem Ohr fern und signalisierte der Puppe ihren Unmut.
Wieder kam sie tags darauf zur Tür herein und warf Tasche samt Jacke auf den Sessel. Ron saß wie gewohnt an seinem Flügel. Noch immer klangen seine Akkorde so wenig harmonisch.
„Und? Wie war dein Tag so?”
„Ging so. Und deiner?”
„Ging so.”
Am Abend lag Emma rücklings auf dem Bett, berührte sich selbst und telefonierte mit ihrer besten Freundin Anna. Sie zog ihre Hand aus ihrem Slip hervor und sprang plötzlich auf. „Na klar! Du kannst gerne vorbeikommen. Aber nicht böse sein, wenn ich keine Zeit für Dich habe.” Emma griff ein Kleid von einer der Puppen und hielt es an sich. „Erfolg ist vor allem eine Frage der Disziplin, Süße! – Ron? Ach Gott! Für ihn sind meine Titten gerade die einzige Doppelbelastung, die er noch bewältigen kann. Ich bin aber nicht auf die Welt gekommen um zu arbeiten. Na schön! Auch. Aber nicht nur.”
Vergnügt drehte sich Emma, mit sich und ihrem Werk sichtlich zufrieden, vor dem Spiegel im Kreis. Der Stoff des Kleides schwang umher, immer schneller drehte sich alles um sie herum, da plötzlich... mit lautem Gepolter war Emma aus dem Bett und aus allen Träumen gefallen. Ron schnarchte. Gott sei Dank, dachte Emma in erlöster Stimmung, der Traum war endlich vorbei. Schweißnass und immer noch mitgenommen von der eigenen, nächtlichen Ruhestörung saß sie im Dunkel der Küche auf einem der Unterschränke und trank ein Glas Milch. Sie war dort angekommen, wo sie niemals hatte enden wollen. Sie hatte wieder einmal von Szenen des Stillstands geträumt, von ihrer leidvollen Partnerschaft mit Ron, von ihrem tiefen Empfinden, bei allem persönlichen Erfolg in Wahrheit zu zweit allein zu sein, von der alltäglichen Routine, die jede einst so feurige Liebe nahm. Emma atmete tief durch. Sie schlich zurück ins Bett. Ron schnarchte immer noch. Erst als Emma ihm einen kräftigen Schubs versetzte und ihn zur Seite drehte, verstummten seine störenden Laute. War er wach, klagte sie, nervte er mit seinem Schweigen, mit dem, was er dachte, aber nicht sagte. Schlief er, nervte er ebenfalls. In beiden Fällen stahl er ihr Zeit.
Ein Donnern krachte gewaltig und unvermittelt ein, sphärische Klänge schlossen sich mystisch an. Glocken in den Tönen des Londoner Westminsters läuteten, das metallische Ticken eines Weckers folgte. Emma gab zielsicher Kommandos. Es war dunkel in der Kirche, als plötzlich eine langbeinige Schönheit, in blitzend helles Licht gehüllt, auf einem Laufsteg graziös hin und her wog. Sie trug ein Sommerkleidchen. Im Hintergrund blickte Emma auf ein riesiges Christuskreuz. Rote Rosen schmückten feierlich den Altarbereich, der unter altehrwürdigen Kachelfenstern lag. Biblische Motive symbolisierten darin die zehn Gebote Gottes. Sorgsam genau verfolgte Emma jeden Schritt der Laufstegschönheit, eilte durch die Reihen der Kirchenbänke und überprüfte Perspektiven. Sie schaute auf einen unfertig zum Teufel geschminkten Schauspieler, der auf der Kanzel stand, und gab seinen Einsatz frei.
„Lieben sollt Ihr Euch! In guten wie in schlechten Tagen. Den anderen ehren. Euch selbst aufgeben, damit Ihr wahrhaft lieben könnt. Treu sollt Ihr sein! Treu bis in den Tod.” In Gestik und Ton geriet er immer verächtlicher. „So steht es geschrieben.” Mit sonoriger Stimme und diabolischem Grinsen las der Teufel von einem Skript ab.
Augenblicklich wechselte das Gleißlicht. Rot erstrahlte nun den Laufsteg, und der Gang jener Schönheit geriet erotischer. Wieder gab Emma dem Teufel ein Zeichen.
„Ich aber sage Euch. Das wahre Wesen der Liebe ist Leid. Eure Lust ist größer als jedes Versprechen. Ihr begehrt, was Ihr nicht kennt. Ihr seid Gefangene Eurer Abgründe. Bis in den Tod. Und Ihr werdet ihr erliegen, der ständigen Versuchung. Meiner Versuchung.”
Lichtkegel schwirrten plötzlich ungeordnet umher. Ein Poltern ertönte, ein Aufschrei folgte. Das langbeinige Mädchen war vom Steg gefallen, stieg aber unversehrt wieder auf.
Sofort brach Emma die Probe ab und korrigierte ihren Gang und Ausdruck. „Yvonne! Der Anfang ist ok! Aber dann! Das ist eine Provokation, verstehst Du? Jeder Typ wünscht sich auch die rote Frau in uns. Also! Viel lasziver!” Emma wandte ihren Blick hoch in das Lichtgitter. Ein Beleuchter saß in einem Schlitten hinter einem Laserstrahler. „Und Dino! Dir gefällt, was Du siehst, wie? Das finde ich prima. Aber pass gefälligst besser auf!”
Am Rande des Laufsteges hatte sich eine Gruppe älterer Frauen und Männer versammelt. Die Mitglieder des Kirchenchors warteten ungeduldig auf den Beginn ihrer Probe. Einige tuschelten über das, was sie sahen, andere sangen bereits leise lateinische Lieder.
Oleg, Emmas Assistent, trat hervor. Er tippte auf seine Armbanduhr. „Non, non, non! Ma Cher! Wann willst du proben das Opening?”
Emma hielt inne. „Du hast Recht! Kommando zurück. Leute! Wir proben das Opening.” Sie klatschte in die Hände. „Kommt schon! Auf! First position!” Als sie zusammen mit Oleg an den Chormitgliedern vorbeilief, zeigten deren Gesichter tief fragende und skeptische Augenpaare. Die Unverschämtheit, in dieser Kirche tatsächlich eine Modenschau samt Teufel als Moderator zu zeigen, konnten diese Kleingeister nicht verstehen, fluchte Emma innerlich. „Wir haben noch dreißig Minuten. Bitte, meine Herrschaften! Dürfte ich Sie noch um etwas mehr Ruhe bitten.”
„Das werden geben Chaos! Wann willst Du proben gesamtes Ablauf?”
Emma legte ihren Arm um Olegs Schultern. Sie winkte ihrer Freundin Anna zu, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter abseits auf einer Kirchenbank saß. „Ich mag es, wenn Du Dich sorgst.” Sie wechselte in seinen tschechischen Akzent. „Du siehst dann richtig sexy aus!”
Draußen in der Stadt war Hochsommer. Die Hitze lockte müde Großstädter in Lokale, vor allem in die, die eigentlich, wie Emma stets geurteilt hatte, wenn sie an einem Ort wie diesem gewesen war, schlechten Filmkulissen nahe kamen, aber immerhin doch geeignet waren, sich selbstverliebt zu aalen und der öffentlichen Artbegaffung auszusetzen. Kaya saß auf einem nackten Männerbauch. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie lümmelte sich mit ihrem Begleiter auf einem der zahlreichen Holzbetten, die eine Beachbar am Elbstrand seinen Gästen anbot. Jeder Mann stolzierte mit Wonne an ihr vorbei, jede Frau senkte ihr Haupt. Kaya nämlich war an diesem Ort der eigentliche Hochgenuss. Sie trug einen reizvollen, weil vor allem reichlich knappen, Bikini. Ihre prallen Weiblichkeiten glänzten ölgeschmiert im Sonnenlicht. Eine Brille verbarg ihren lüsternen Blick. Lässig trug sie eine Schiebermütze über ihre zurückgelegten Haare. Sie beugte sich vor. „Was soll das werden? Eine Szene? Szenen sind etwas für Paare. Wir aber sind ein Team.” Kaya wollte ihren Begleiter küssen, doch der wandte sich ab.
„Nette Umschreibung für ein Verhältnis.” Ron sprang auf und setzte sich auf die Kante. „Emma! Sie ahnt Dich. Wir sollten damit aufhören.”
„Jede Frau ahnt, wenn ihr Typ etwas mit einer anderen hat. Vielleicht ist es das ja, was mir so gut gefällt.” Kaya setzte sich auf seinen Schoß und lächelte ihn an. „Ist doch aber eigentlich alles ganz einfach. Die Jungs in der Bar mögen Deine Musik. Und ich mag Dich.”
„Drei ist früher oder später immer einer zu viel.”
„Dann entscheide Dich! Oder bleib allein!”
Ron schielte gedankenverloren über ihre Schulter ins Leere. Kaya drückte ihren Körper näher an ihn heran. Er konnte ihren Herzschlag und mehr von ihr spüren. Nach einer Weile erwiderte er leidenschaftlich ihren Kuss.
Auch Emma schmatzte Küsse. Zum Abschied der Probe gab’s für jeden aus dem Team einen Knutscher auf beide Wangen und viele, liebe Worte. Sie stand in der Eingangstür der Kirche und blickte auf das prächtige Christuskreuz. Gottes Sohn war in weichen Zügen aus Stein gemeißelt und hing, die Arme genauso einladend wie beschützend zur Seite gestreckt, über dem Altar. Sie beobachtete Oleg, der letzte Korrekturen des Ablaufplanes schrieb, und sie verfolgte die zwar inbrünstigen aber auch ausgesprochen gewöhnungsbedürftigen Gesangsübungen des Chores.
Alle anderen aus dem Team hatten die Kirche bereits verlassen. Emma drehte sich ab und hielt sich das linke Ohr zu, während sie telefonierte. „Ja, Mama! Finde ich auch schade. – Nein. Wirklich nicht. Als Du die Reise gebucht hast, konntest Du ja nicht wissen, dass die Show ausgerechnet dann stattfindet. – Ja, ich dich auch, Mama. Und grüß Conny lieb von mir!” Emma beendete das Gespräch und fiel erschöpft in Olegs Arme. „Oh man! Was für ein Tag.” Sie studierte die Zeiten der Ablaufpläne, die Oleg ihr gereicht hatte. „Sieht doch gut aus.”
„Oui! Auf Papier! Wird geben große Schau. Wird geben gute Schau. Wird geben Superschau. Wird geben Chaos. Weil Gruppe von Gotteschor nicht geben Platz und Zeit.”
Emma bemerkte, wie sehr Oleg sie in Augenschein nahm, während sie sein korrigiertes Skript las.
„Was haben Ron, was ich nicht haben? In mich und an mich. Eigentlich.” Er deutete auf ihr Telefon.
Emma lächelte auf. „Erstens. Es heißt in und an mir. Zweitens. Das eben war meine Mutter. Und drittens. Willst Du das wirklich wissen?” Sie hakte sich bei ihm ein. „Verrat mir lieber, ab wann wir morgen weitermachen können.”
Als Emma am frühen Abend das Loft betrat, saß Ron, tief in seinen Kompositionen versunken, am Flügel. Sie ging zu ihm, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schritt in die Küche. „Und? Wie war Dein Tag so?”
„Ging so! Und Deiner?”
„Ging so! Der Kirchenchor bestand auf seine Probe. Aber sonst. Alles gut. Und bei Dir?”
Ron pflichtete ihr wortlos bei und spielte weiter. Noch immer hakte es in seiner Akkordfolge, wessen er genervt ein paar Tasten schlug. Zwei Stunden später stand er vor dem Spiegel im Badezimmer und rasierte sich. Emma trat ein, setzte sich auf die Toilette und verrichtete ein Bedürfnis.
Ron nahm ihren Blick durch den Spiegel an. „Ich hab einen Job angenommen. Für morgen.”
Emma war schlagartig tief enttäuscht. „Für morgen?”
„Ja! Für morgen.”
„Na prima. Danke!” Sie spülte ab.
Ron drehte sich zu ihr herum. „Tausend Euro Honorar. Muss ich noch mehr sagen?”
„Ich frage mich gerade, was ich davon habe, wenn ich reich und berühmt werde, aber Erfolge nicht teilen kann.”
Emma wollte das Bad verlassen, da griff Ron nach ihr und zog sie an ihrem Arm zu sich. „Tut mir Leid. Wirklich! Was sollte ich tun?”
Sie zögerte, überlegte und signalisierte schließlich Verständnis, weil sie wusste – zu ändern war seine Absage ohnehin nicht mehr.
Beide umarmten sich lange.
„Ich komme nach, so schnell ich kann. Versprochen!” Ron küsste ihre Stirn.
Erneut gab sich Emma einsichtig, dabei quälte sie die Enttäuschung seiner Abwesenheit während ihrer Modenschau in Wahrheit schon jetzt.
Ron streichelte ihre Wange. „Was ist? Lust mitzukommen?”
Sie hatten sich immer zu zweit zu diesem Ort aufgemacht, wenn ihnen nach Zerstreuung gewesen war. Das aber war lange her. In der Lounge-Bar, in der sich Ron verdingte, wie Emma schon seit längerem seine Auftritte dort abgetan hatte, saßen nur wenige Gäste in schweren Polstern. Zwei Männer, die Besitzer, die sie ebenfalls nicht mochte, arbeiteten hinter einem langen Tresen. Emma hockte verloren vor ihnen. Sie beobachtete Kaya, die Ron ein Glas Brandy brachte. Einzig Rons Klavierspiel gefiel ihr. Sie mochte seinen Ausdruck, seinen Anschlag. Dass er aber bei ihrer ersten Modenschau nicht da sein würde, betrübte sie umso mehr, je intensiver sie darüber nachdachte. Sie brauchten das Geld, das er verdiente, doch mittlerweile hasste sie die Orte, wo er das tat. Emma verfolgte ein weiteres Mal jeden ihrer Schritte und ihres Benimms. Allein schon mit ihrer gewagten Kleidung war diese kleine Schlampe Kaya dafür zuständig, die Gäste zu halten, demütigte Emma eine Frau, die größer war, schlanker, attraktiver und nach Lage aller Unterschiede auch beim Sex verruchter war als sie.
Ron suchte ihren Blick. Sie sollte das nächste Lied wählen. Emma erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie mit Ron in dieser Bar nach langem Vorspiel zusammen gekommen war, damals, in einem verrückten Sommer. Sie hatte ihren Lieblingssongs eine Zahl gegeben. Bis tief in die Nacht hatte er leidenschaftlich Nummer für Nummer gespielt.
Heute schüttelte Emma verneinend den Kopf. Sie war müde. Sie trank ihr Glas Wein aus, ging zu Ron, verabschiedete sich mit einem Kuss und verließ die Bar. Dass sie von Kaya beobachtet wurde, registrierte Emma sehr genau. Länger schon hegte sie einen Verdacht. Draußen vor der Bar hielt sie sich an der Fassade versteckt. Sie blickte durchs Fenster und sah, wie Kaya zwischen ihrem Gang von der Theke an einen der Tische dem Mann in ihrem Leben liebevoll durchs Haar strich. Betroffen wandte sie sich ab.
In der Nacht lag Emma wach neben ihm. Er schnarchte. Emma drehte ihn auf die Seite. Augenblicklich verstummte sein Sägen. Ihr Blick fiel auf ein paar Fotos, die unter der Decke hingen. Drei Bilder zeigten sie in Vergrößerungen verliebt und glücklich in die Kamera lächelnd. Erinnerungen schlichen ihr durch den Kopf. Die Fotos waren während ihres ersten gemeinsamen Urlaubes in Dänemark entstanden. Emma stand auf und ging in die Küche. Ein Strauß selbst gepflückter Blumen stand auf dem Tisch, daneben lag ein Zettel mit der Aufschrift „Toi! Toi! Toi!” Emma roch an den Blumen. Freuen konnte sie sich nicht. Den Zettel nahm sie an sich.
Im Zimmer nebenan, in ihrem Reich, musterte sie die Schaufensterpuppen. Ohne ihre Kleider sahen sie reichlich nackt aus, dachte sie, setzte sich auf das Podest und trank einen Schluck Rotwein. Sie betrachtete eine der Puppen genauer. „Ach, Gott, George! Sei bloß froh! Du musst auf niemanden Rücksicht nehmen.” Emma erhob sich und hielt ein Kleid an sich, das Kleid, ihr Kleid nämlich, das sie auf der Show tragen wollte. Sie sah durch einen riesigen Spiegel auf sich selbst. Emma gefiel sich ausgesprochen gut. „Jede Frau ist ein Geschenk Gottes. Und weißt Du? Ich darf es verpacken.” Ihr Blick auf die Puppe George wurde noch eindringlicher. George war über und über mit Schnittmustern, Essensbelegen und Fotos beklebt. Ihm fehlten die Arme, seine Gesichtszüge waren streng, und Haare aus Plastik zierten wild den Kopf. Sie heftete den Zettel mit Rons lapidarer Beistandsbekundung an die Puppe. „Und weißt Du noch was? Das Beste an Dir ist, dass Du keine dummen Fragen stellst. Und dass Du zuhören kannst. Einfach nur zuhören.” Sie setzte George eine Schiebermütze und Sonnenbrille auf. Dann legte sie sich rücklings auf das Podest und schloss die Augen.
Am Abend der wichtigsten Herausforderung ihres Lebens waren alle ihrer Einladung gefolgt. Gespannte Erwartungen knisterten ihr entgegen, Premierengäste tuschelten, Kritiker wetzten ihre Stifte. Nur ein Platz blieb leer. Emma verwarf ihren Frust über Rons Fernbleiben und rieb sich unruhig die Hände, als sie gespannt durch die Vorhänge blinzelte und ihren Blick vom Publikum abwandte.
Hinter den schweren Vorhängen herrschte hektisches Treiben. Models liefen aufgeregt wie kleine Kinder hin und her, suchten nach ihren Kleidern und zupften an sich selbst oder anderen herum. Maskenbildner und Hairstylisten eilten umher, die Beleuchter und Techniker gingen ein letztes Mal den Ablaufplan durch. Oleg, mit hautengen Klamotten bekleidet, bürstete zusammen mit Emma so penibel und kräftig letzte Fussel von jedem Kleid der hageren Mädchen, als ginge es darum, Pferde für eine Feiertagsparade zu striegeln.
„Was ist? Ist die erste Gruppe fertig?” Ein anderes Model präsentierte sich beiden. In all dem Durcheinander versuchte Emma, Ruhe und Souveränität zu bewahren, dabei durchströmte Adrenalin in nie zuvor gekannten Schüben ihre Adern. Beleuchter testete ihre Verfolger. Für einen Moment stand Emma selbst in gleißend hellem Rampenlicht.
Blitzlichter erhellten in der Lounge-Bar die Szenerie. Zahlreiche Fotografen bannten die kreativen Köpfe einer Werbeagentur in ihre Kameras, die im Auftrag der Stadt eine eigentlich ziemlich miese Imagekampagne entworfen hatten, wie Ron befand. Der Geschäftsführer wurde soeben vom Wirtschaftssenator geehrt, als er, tief gelangweilt von dem Geschehen, seichte Melodien anschlug. Er grinste Kaya zu, die die Gäste gleichfalls so gar nicht mochte, wie sie unverhohlen mit ihrem Fratzenspiel deutlich machte.
Kleinere Gruppen hatten sich gebildet, als die Ehrungen beendet waren. Es wurde getrunken und dumm palavert, urteilte Ron über ein paar Gesprächsfetzen, die er vernahm. Er betrachtete sein Publikum. Eine Frau mit praller Oberweite und dem faltenreichen Lächeln ihres sonnenstudiogebräunten Gesichts trat an sein Klavier. Sie flirtete mit ihm, zog aber wieder davon, als Ron ihr offensichtlich entgegnet hatte, dass er ihren Musikwunsch weder spielen wollte noch konnte. Kaya kam mit einem Glas Brandy zu ihm an den Flügel. Sie stellte das Glas ab und musterte ihn.
„Sie wollte, dass ich „My Way” spiele.” Sein Tonfall klang verächtlich, und doch blieb er smart, als er von weitem ihr breites Lächeln neuerlich vernahm.
„Wie ordinär. Ihr gehört die Agentur. Was hast Du ihr gesagt?” Kaya strich ihm werbespottauglich die Wange.
„Dass der Abend noch jung ist.”
„Interessiert sie Dich?”
Ron schüttelte verneinend den Kopf. „Zu mächtig!”
Kayas Gang zurück amüsierte ihn. Sein Blick fiel auf ihren engen Rock, auf ihre langen Beine und auf ihren Po, mit dem sie liegende Achten in die Luft zauberte.
Auch Emma blickte auf allerlei verführerische Weiblichkeiten, die barfuss in ihren Kleidern den Laufsteg auf- und abschritten. Moderne Eleganz, einfache Schnitte, flippige Stoffe und witzige, multifunktionale Kleider – die Gäste waren begeistert. Bis hierher, fieberte Emma, war ihre Schau ein großer Erfolg. Lief jetzt das Finale noch glatt, setzte sie ihrem Können die Krone auf.
Die Lichter erloschen. Meterlang wehten Stoffe, von verschiedenen Blautönen beleuchtet und von zwei riesigen Ventilatoren beströmt, am Steg seicht im Wind. Emma schaute aus dem Vorbereitungsraum gespannt auf ihr Publikum. Der Höhepunkt ihrer Show war erreicht, für den zu arbeiten es so viel an Zeit und Kraft und Liebe gebraucht hatte. Oleg stand abseits, die Stöpsel eines Quarzplayers in den Ohren. Er rauchte einen Joint und hielt eine Flasche Rotwein in den Händen. Die Glocken läuteten, das Ticken des Weckers ertönte. Oleg trat an Emma heran. Er griff ihre Hand. Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
In der Küche der Bar schien nur fahles Licht. Billige Tanzmusik ertönte von nebenan. Blitzblank glänzte die Edelstahlfläche einer Arbeitsplatte. Mit einem Messer legte Ron gekonnt zwei Linien Koks aus. Er zog ein Silberröhrchen hervor, saugte das Pulver in sich hinein und reichte das Röhrchen weiter. Auch Kaya genoss den kleinen Trip, als in ihr angekommen war, was das Leben sonst nicht schaffte. Sie leckte ihren Zeigefinger und begann, sich im allerkleinsten Kreis zu drehen. Sie glitt sich mit beiden Händen in ihren Schoss. Ron drehte sich ab und wollte gehen, da griff Kaya einen Stuhl, stellte die Rückenlehne vor die Tür, so dass die Klinke blockiert war und wandte sich ihm zu. Sie zog ihr Kleid aus. Sie war nackt und in diesem Licht so verführerisch schön. Ron hielt Augenblicke später nichts mehr.
In der Kirche loderten Fackeln. Karibische Trommelmusik setzte ein, und während Ron in der Küche immer heftigeres Verlangen durchzuckte, dirigierte Emma energisch ihre Kriegerinnen, während der Teufel auftrat, von einem Lichtkegel umrahmt. „Lieben sollt Ihr Euch! In guten wie in schlechten Tagen. Den anderen ehren. Euch selbst aufgeben, damit Ihr wahrhaft lieben könnt. Treu sollt Ihr sein. Treu bis in den Tod. So steht es geschrieben.” Er gestikulierte mehrfach diabolisch auf, grinste während seiner Redepausen und unterstrich seine Sätze mit gekonntem Zungenspiel. „Ich aber sage Euch. Das wahre Wesen der Liebe ist Leid. Eure Lust ist größer als jedes Versprechen. Ihr begehrt, was Ihr nicht kennt. Ihr seid Gefangene Eurer Abgründe. Eurer Ängste. Bis in den Tod. Und Ihr werdet ihr erliegen, der Versuchung. Meiner Versuchung.” Ein teuflischen Lachen hallte auf.
Emma war sichtlich zufrieden, alle hielten ihre Ordnung und gaben, was sie an Talenten besaßen, wie Kaya, die in ihrer Lust nicht mehr zu bändigen war. Junge, schöne Frauen liefen engelhaft durch farbige Lichtkegel, durch Weißlicht, durch Rotlicht, erotisch bewegten sie sich zum Takt der Musik, während Ron und Kaya ihrer zügellosen Gier erlagen. Elfen saßen auf dem Boden des Steges und räkelten sich den Gästen entgegen, Jubel brandete auf, als Emma alle Fabelwesen ein letztes Mal auf den Steg schickte. Mit dem finalen Takt der Trommeln fielen sie nieder, sich ergebend, in einen tosenden Applaus, erschöpft, beseelt, wie Ron und Kaya, die auf ihre Art abgeliebt langsam zu Boden glitten.
Seit zwei Stunden schon feierten alle ihren Erfolg, doch Freude wollte bei Emma immer noch nicht aufkommen. Sie stand abseits und blickte auf die Gäste ihrer Aftershow-Party. Zum wiederholten Male hatte sie vergeblich versucht, Ron zu erreichen. „Dieser Scheißkerl!” fluchte sie leise.
„Wirklich gelungen. Und so provokant.” Zwei Männer sprachen Emma unvermittelt an, als sie ihren Frust zu verdrängen suchte. „Wie Sie dann noch so ganz nebenbei das ewige Thema Liebe, ich meine... Schuld und Versuchung inszeniert haben. Großartig!”
„Ja! Also wirklich. Eine wunderbare Schau. Wirklich! Sehr geglückt! Und so... na ja... eben so allgemeingültig. So aussagekräftig.”
„Freut mich, wenn es Ihnen gefallen hat.” Emma schritt weiter. Allein. Überall erntete sie Lob und Anerkennung. Sie vernahm, wie einer der Gäste hastig zwei Gläser Sekt von einem Tablett griff, zielstrebig auf sie zueilte, und damit jede Gegenwehr zwecklos war.
„Mit der richtigen Bühnenerfahrung wären Dir auch die Wechsel perfekt gelungen. Daran solltest Du noch arbeiten. Aber! Du hast ohne Frage etwas geschafft. Die Szene der Stadt liegt dir zu Füßen. Heute Abend jedenfalls.”
„Kalle Buddenhagen! Es gibt Gäste, die man sich hier wünscht und welche, bei denen man nicht verhindern kann, dass sie hier sind. Rate, zu welchen Du gehörst!”
Ihr Gegenüber stutzte auf, versuchte aber, ihre spitze Bemerkung zu überspielen. „Ich sah Dich telefonieren. Allein hier, wie? Stress?”
Emma ignorierte seine Worte und prostete anderen Gästen gespielt lächelnd entgegen.
„Du siehst toll aus, heute Abend. Ich meine... Du siehst immer toll aus. Aber heute Abend siehst Du eben ganz besonders toll aus.”
Emma lächelte ihren Gästen erneut nur mit den Lippen zu, während sie ihm antwortete. „Du hattest vor langer Zeit vier noch längere Jahre Zeit, mir das zu sagen. Hast es aber nicht getan. Also komm mir jetzt nicht so!” Emma verspürte eine immer größere Gereiztheit. Sie drohte, ungerecht zu werden, und da kam ihr ihre Freundin Anna, die ein paar Meter weiter entfernt auf sie zuschritt, gerade recht.
Anna umarmte Emma herzlich. „Toll, Baby! Grandios! Du hast es allen gezeigt. Ich bin so stolz auf dich!”
„Am besten hat ihr aber ein Typ aus der ersten Reihe gefallen. Hab’s genau gesehen.”
Emma sah hinunter auf Annas Tochter, Sarah, die an der Hand ihrer Mutter hing und mit großen Kinderaugen ihren Blick hielt. „Den hab ich auch gesehen.” Sie erinnerte sich leidvoll. Sie hatte genau diesen Platz für Ron reservieren lassen, für ihren Beistand, den Platz der Plätze, auf dem dann jedoch ein Fremder gesessen hatte.
Kalle Buddenhagen prostete beiden Frauen aus der Ferne neuerlich zu.
„Da schon an! Dein Ex! Was will der denn hier?”
„Was wohl? Ihm gefällt mein Erfolg nicht. Deswegen ist er gekommen. Damit er weiß, worüber er lästern kann. Ich habe gelitten, als wir zusammen waren. Er leidet, seitdem wir uns getrennt haben.”
„Der Klassiker! Ziemlich blöde von ihm, Dich damals ziehen zu lassen.”
„Ach! Wenn ich’s recht überlege. Er war eigentlich auch schon vor unserer Zeit ziemlich dämlich. Und während. Und danach erst recht. Stimmt!” Emma umschlang ihre Schulter. „Also! Konzentrieren wir uns allein darauf, wer und was wir heute sind.”
„Wo ist Ron eigentlich?” wollte Anna wissen.
„Der? Der opfert sich gerade für uns auf,” gab Emma prompt zurück. „Und damit er das erträgt, zieht er sich wahrscheinlich wieder mal beide Nasenflügel bis zum Anschlag voll und vögelt mit irgendeiner seiner Tussis.”
Anna prustete gehörig auf. Mit so viel Wahrheit hatte sie nicht gerechnet. Mitleidig sah sie Emma an. „Was für ein Arsch! Der soll mir mal zwischen die Finger kommen. Du musst endlich mit ihm reden.”
„Reden? Mit Ron? Prost!” Emma ging ab und widmete sich wieder ihren Gästen.
Ron war verloren. Er spielte wieder Klavier, kraft- und gehaltvoller war sein Anschlag geworden, so schien es, wenn man nicht wusste, dass Chemie durch seine Adern floss, wessen er zu einem der Alleinunterhalter avancierte, dessen Maß an Peinlichkeit jeden Gast nervte, der keinen Alkohol getrunken hatte. Er betrachtete die Agenturchefin, die vor ihm ausgelassen zu tanzen begonnen hatte. Die Frau nahm ihn und seinen Blick mit, während sie zum Buffet ging. Sie griff ein Stück Weichkäse, führte es mit verruchter Vergnüglichkeit unter ihr Kleid und drückte einen ihrer erregten Brustnippel darin ab. Ron verharrte. Der Reiz war gesetzt. Er lächelte breit. Wenig später folgte er ihr in die Küche. Er schob ihr Kleid hoch und leckte ihren Schoss. Minutenlang versank seine Zunge in ihrer Weiblichkeit. Danach drückte sie ihn an die Wand, schnallte seinen Gürtel auf, kniete nieder und nahm ihn zwischen ihre Lippen in sich auf.
Neuerlich flog Ron davon, endgültig degeneriert, gedemütigt, ohne es zu wissen, während die Macher und Helfer Ausrüstung und Kleider aus der Kirche trugen. Oleg flirtete mit einem Gast. Emma blickte neidvoll auf ihn. Sie stand in der Kirchentür und telefonierte. Ihr Blick fiel auf die letzten Gäste, die den Vorplatz überquerten, in ihre Wagen und in Taxis stiegen und davon fuhren. „Was bitte bedeutet, Du kannst jetzt noch nicht weg?”
Ron stand immer noch in der Küche, und noch immer nagte jene Frau an ihm. „Viele wichtige Leute. Du weißt doch... Hey, Emma! Ich verstehe Dich nicht. Bitte? – Ja, doch!” Das Gespräch riss ab. Er blickte seinen Körper entlang. Gelangweilt ließ er die Frau weiter gewähren.
Emma trat gegen Mitternacht durch die beiden großen Flügeltüren aus der Kirche. Ein letztes Mal blickte sie zurück auf den Ort ihres Erfolgs. Gäste grüßten zum Abschied. Das Team feierte in einem anderen Lokal weiter, doch Emma wollte eine kleine Weile für sich sein. Gedankenverloren ging sie die Straße entlang. Sie schaute auf ihr Telefon. Ron hatte nicht noch einmal versucht, sie zu erreichen. Ein Wagen hielt neben ihr. Emma blickte durch das geöffnete Fenster der Beifahrertür. Kalle hielt ihr eine Flasche Sekt entgegen.
„Komm! Steig ein!” meinte er und grinste verheißungsvoll.
„Und dann?”
„Die Nacht ist noch jung.”
Emma musterte ihn streng.
„Der Bursche ist nichts für Dich.”
Emma lächelte. Sie überlegte, so, als dachte sie gerade tatsächlich ernsthaft darüber nach, seiner Einladung samt Nachstellungen doch noch zu folgen, dann aber giftete sie zurück. „Kalle Buddenhagen! Wenn Du heute Abend nichts anderes mehr triffst, dann musst Du wohl selbst mit Dir spielen.” Kopfschüttelnd wandte sie sich von ihm ab.
Das Fenster surrte hoch, der Wagen fuhr davon. Ein zweites Fahrzeug rollte die Straße hoch. Emma, verärgert, enttäuscht, gedankenverloren – sie sah auf dessen Lichter, auf einen der Blinker, der rechts gesetzt war, da plötzlich schoss ein dritter Wagen aus der Seitenstraße heraus. Bremsen quietschten schrill und unerträglich laut. Statt abzubiegen fuhr der Wagen, um die Kollision mit dem anderen Fahrzeug zu vermeiden, geradewegs auf sie zu.
Emma riss die Augen auf. Erschrocken starrte sie in gleißend helles Licht. Sie vernahm einen heftigen Schmerz, spürte, wie sie abhob, wie sie flog und auf dem Gehweg aufschlug. Sie lag da, bewegungslos, den Kopf hebend, weil ein Klingeln ertönte, ein Wecker tickte und Stimmen tuschelten. Rotlicht schimmerte ihr entgegen, Trommeln dröhnten dumpf. Ihr wurde kälter. Es war nicht richtig, hier zu sein, mahnte ihr Bewusstsein, um Momente später jede Wahrnehmung in ein tiefes Nichts zu lenken.
Rhythmisch ertönte eine Beatmungsmaschine. Anderes medizinisches Überwachungsgerät fiepte leise. Emma öffnete langsam ihre Augen. Sie blinzelte, sah nur schemenhaft und hörte nur gedämpft, als ob Watte ihre Ohren verstopfte. Blut tropfte in eine Leitung, an ihren Schläfen verspürte sie den leichten Druck zweier Elektroden. Diffus nahm sie wahr, dass sie in einem Bett lag, unter einer dünnen, weißen Decke. Vorsichtig hob sie den Kopf. Zwei Hände aber drückten sie sofort zurück in die Kopfkissen. Sie wollte reden, fragen, wo sie war. Sie sah auf eine Spritze, deren Spitze in eine Kanüle gesetzt wurde. Bilder und Töne um sie herum verloren langsam neuerlich jede Schärfe. Es wurde dunkel, so, als blendete jemand langsam das Leben aus.
„Wir haben sie zur Vorbereitung auf die Operation in ein künstliches Koma versetzt. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.”
Ron hörte den Arzt reden, was seine Worte aber bedeuteten, wusste er nicht. Hinter einer Glasscheibe blickte er mit Emmas Mutter und Conny auf ihren regungslosen Körper. Er war fassungslos. Er war geschockt. Die Mutter weinte. Seit vier Stunden hatte er darauf gewartet, sie endlich sehen zu dürfen. Ihre Mutter hatte ihn angerufen. Alle seine Sinne waren immer noch verklebt. Erst nach und nach hatte er begriffen. Emma hatte den Unfall überlebt, immerhin. Doch sie war, wie es hieß, am Rücken verletzt. Die ganze Nacht über blieb er bei ihr. Er hielt ihre Hand und redete mit ihr. Er hatte sich energisch für seinen Beistand durchsetzen müssen, bei der Mutter und dem Klinikpersonal gleichermaßen. Wie in Trance folgte er einer Verantwortung, die er bis dahin nicht gekannt hatte.
Am Vormittag betrat eine Schwester das Krankenzimmer der Intensivstation. Behutsam weckte sie Ron auf. Er war auf einem Stuhl neben dem Bett eingeschlafen. Er beobachtete, wie die Schwester Leitungen und Monitore überprüfte, Infusionen wechselte und ihm andeutete, dass er mit ihr reden konnte. Ron streichelte ihre Hand, als er entdeckte, dass Emma ihre Augen zu öffnen begann.
„Mama?” ihr Blick sah immer noch unklar, ihre Stimme war schwach. Getrübt nahm sie wahr, wie die Schwester an jemanden herantrat. Erneut schwärzte sich allmählich alles Licht vor ihren Augen.
„Ruhig! Ganz ruhig! Ich bin bei Dir.” Ron griff ihre beiden Hände, streichelte sie zärtlich, führte sie zu seinem Mund und küsste sie. Unsicher und ängstlich legte er Emmas Hand wieder zurück und ließ los. Die Schwester führte ihn aus dem Zimmer. Noch einmal blickte Ron auf Emma. Er musste gehen, doch er wollte nicht. Entsetzt wandte er sich schließlich ab.
Zurück im Loft verspürte Ron an diesem Vormittag wie noch nie zuvor ein tiefes Bedürfnis der Selbstreinigung. Seit einer halben Stunde schon stand er unter der Dusche. Langsam sackte er die Kachelwand hinunter. Sein Blick fiel auf eine Gummiente. Er nahm sie und streichelte sie liebevoll. Tränen folgten. Eine tiefe Leere und sein Gewissen quälten ihn gleichermaßen. Im Schlafzimmer sah er auf die Bilder, die unter der Decke hingen, auf die Bilder ihres Glücks, auf die Bilder ihrer Liebe. Betroffen schloss er die Augen.
Zwei Tage der Qualen und Hilflosigkeit vergingen. Stunde um Stunde hatte er auf dem Bett verbracht. Ron aß nichts, er trank nichts. Anrufe der Anteilnahme ließ er unbeantwortet. Kaya stand am Abend vor ihm, doch Ron schlug die Tür bei ihrem Anblick sofort wieder zu. Die Stunden, die Emmas Operation brauchte, verbrachte er in der Klinik. In einem Arztzimmer durfte er auf einer Pritsche ruhen. Bleich und zerstreut wie er war, befürchtete das Klinikpersonal, dass er den Anstrengungen nicht gewachsen war. Doch er wollte da sein, er wollte bei Emma sein. Bei seiner Emma. Er hielt die Gummiente fest in Händen und war eingeschlafen, als der Arzt ihn weckte. Er durfte endlich zu ihr.
Emma lächelte gequält, sichtlich erschöpft, und Ron lächelte gequält zurück. Er setzte sich neben sie, hielt ihre Hand und streichelte ihre Wange.
„Und? Wie war Dein Tag so?” hauchte sie ihm in all ihrer Gebrochenheit zu.
„Ging so! Und Deiner?” fragte er mit heiserer und trockener Stimme zurück.
„Ging so!”
Ron streichelte ihren Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte und versuchte, ihren Blicken zu entgehen.
„Du schaust mich so anders an.”
„Wie denn?”
„Anders eben.” Emma blickte auf seine Hand, die ihre hielt. Die Berührung, die keine mehr war, wurde ihr immer unheimlicher.
„Was denkst Du?” fragte Ron, um irgendetwas zu fragen.
„Was Du wohl denkst?”
Er wartete lange, ehe er antwortete. „Dass Du Dich ausruhen musst. Dass ich bei Dir bin. Dass du die Operation gut überstanden hast.”
„Ja! Das hab ich wohl.”
Beide hielten eine Weile die Stille, das Schweigen des Leids, die Ruhe der Ohnmacht.
„Es ist komisch.”
„Was ist komisch?” fragte er und strich ihr über den Arm.
„Na, so zu liegen. Als schliefe man den ganzen Tag.”
„Hier bleibst Du nicht mehr lange. Hast es doch gehört. In zwei Wochen verlegen sie Dich in diese Spezialklinik. Dann kommen auch wieder andere Zeiten. Wirst sehen. Ruh Dich aus, hörst Du! Ruh Dich aus!”
Emma starrte ihn lange an. Tränen rannen ihr aus beiden Augen die Wangen hinab.
Ron versuchte, sie zu beruhigen. Behutsam streichelte er ihren Kopf und wischte ihr die Tränen von beiden Wangen.
„Ron!”
Er rückte näher an Emma heran. Ganz nahe rutschte er zu ihr, sein Ohr an ihren Mund gepresst. „Was denn?”
„Ich kann Deine Hand nicht spüren. Ich kann sie nicht spüren.” Emma weinte Tränenbäche. „Bitte, Ron! Geh nicht weg! Lass mich nicht allein, ja? Lass mich nicht allein!” schluchzte sie und drehte ihr Gesicht zur Seite.
„Nein! Natürlich nicht! Ich bin hier. Bei Dir.” Mit beiden Händen griff er ihren Kopf und küsste ihre Stirn.
Eine Schwester betrat das Zimmer. Sie spritzte Emma ein Beruhigungsmittel. Wortlos forderte sie Ron auf, seinen Besuch zu beenden.
„Es ist spät! Ich sollte jetzt wirklich gehen. Ruh Dich aus, hörst Du? Ruh Dich aus! Ich komme morgen wieder. Versprochen. Wenn Du etwas haben willst, sag es den Schwestern, ok?”
Emma nickte benommen.
Er küsste sie und verließ, den Blick nicht von ihr abwenden wollend, das Zimmer. Auf dem Flur entdeckte er Emmas Mutter, die weinend in des Erzeugers Armen lag.
Seine Diagnose war fürchterlich. Ron hörte den Arzt, der ihm und den Eltern in seinem Zimmer mit den Auswertungen der Röntgen- und Tomografiebilder das Krankheitsbild Emmas zu erklären versuchte, nur noch verzerrt. Er wankte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Doch es war so.
„Es tut mir sehr Leid. Aber sind wir erst einmal erleichtert. Immerhin kann sie noch selbständig atmen.”
Kreidebleich und starr vor Entsetzen verließ Ron das Arztzimmer. Er ging mehrere Flure entlang. Immer schneller wurde sein Gang. Fast fluchtartig stürzte er aus der Eingangstür der Klinik und lief über den Parkplatz. Er fiel erschöpft auf eine Motorhaube. Er verharrte. Bis alle Dämme brachen. Ron weinte bitterlich. Emma, seine Emma, die Frau, er liebte, die er belogen und betrogen hatte, und die er doch so vergötterte, diese so wunderbare Frau, seine Emma, ausgerechnet seine Emma, war ab dem vierten Halswirbel querschnittsgelähmt. Für den Rest ihres Lebens, so die alles vernichtende Nachricht, konnte sie nur noch ihren Kopf bewegen.