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Wer Zorn sät

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Ach, Ägypten! Was bloß soll aus dir werden? So stolz sind deine Menschen, obgleich ihrer Nation so wenig gelingt. So gerne werden sie regiert, deine Bürger, so lange, bis sie Hunger und Unzufriedenheit wieder auf die Straßen treibt, so lange, bis im Frust um die eigene, kleine Zukunft die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer geworden sind. Ohne jeden Zweifel. Im Land am Nil ticken gleich mehrere Bomben. Waffen klirren bereits. Seit Jahren. Tote werden gezählt wie anderswo Ertragsberichte. Wer anders glaubt, wird verfolgt, wer anders denkt, ist Staatsfeind. Die Gesellschaft ist tief gespalten und ihre Versöhnung lange nicht in Sicht.

Auch das ist richtig. Es ist ruhiger geworden, im Kampf der Dämonen. Doch kein Konflikt ist gelöst. So ist auch das gewiss. Er wird kommen, der nächste Sturm. Denn früher oder später, so geduldig und selbstbewusst sie auch sind, die Ägypter, so erträglich ihr Heimatland derzeit sein mag – ihr Herrscher und seine Eliten sind wieder auf dem Kurs, das so markante Wesensmerkmal eines Ägypters, maßgeblich die Stärke seines Willens auf Hoffnung, zu überreizen. Dann sprudelt sie wieder empor, jene so volkstypische Energie, deren unbändige Kraft geradewegs in die nächste Raserei führen wird. Doch halt! Der Reihe nach.

Wesentlich und wohltuend zugleich sind zunächst andere Eigenschaften der Ägypter, ihre urmenschlichen Qualitäten, die einen annehmen lassen sollten, dass sie Frieden und Gerechtigkeit doch können müssten. Dass sie es nicht können, hat andere Gründe. Die große Mehrheit der Ägypter nämlich sind ausgesprochen friedliebende Zeitgenossen. Ja wirklich! Sie sind vielerorts naturgemäß derart freundlich, dass man oft genug beschämt mit der eigenen Offenheit ringt. Häufig offenbaren sie, vor allem Ausländern gegenüber, eine spontane Hilfsbereitschaft, die bewundernswert ist. Mit ihrer Gelassenheit, ihrem Charme südlicher Lebensart und ihrer Gastfreundlichkeit können sich gerade die Deutschen mit der eigenen Ordnungsliebe und ihren Gewohnheiten Lebensqualitäten abschauen, die allemal bereichernder sind als die üblichen Anstrengungen in Seele und Geist abendländischer Kultur. Gut. Nicht immer. Aber meistens. Und dann ist es, wie es überall ist.

Die meisten Ägypter besitzen, gleich aller auf diesem Planeten, die üblichen Defizite des Menschseins, die zu beseitigen jeden Ortes genauso anstrengend wie herausfordernd sind und damit meistens unbehandelt bleiben. Dazu streben sie wie in jedem Winkel dieser verrückten Welt, nach ursprünglichen Bedürfnissen wie Sicherheit, Geborgenheit und Wohlstand. Sie tun das in einer besonderen Quantität, mit einem umfassenden und massenhaften Rückzug ins Private. Und sie tun das in einer erstaunlichen Qualität, in der Erkenntnis nämlich, dass es sich mit Enttäuschungen besser leben lässt als mit einer zerstörten Illusion. Millionen Ägypter, gleichgültig ob Frau oder Mann, ob Greis oder Kind, verharren in der Zuversicht, vielfach eng verknüpft mit ihrem Glauben, dass früher oder später alles zu dem kommt, der warten kann. Millionen Menschen wollen einfach nur ihre Ruhe.

Bei allem, was so los ist in diesem Land. Es lebt sich gut hier, vor allem als Ausländer, der sich um Geld nicht sorgen muss, wäre da nicht ein Wesenszug der Ägypter, der einem versteckt in jedem Moment eines Tages begegnet. So freundlich und offenherzig einem die Ägypter grundsätzlich vielerorts landauf landab begegnen, so weit verbreitet ist er, dieser elementare Zustand ihrer Gemütsverfassung. Oft bleibt er verborgen, ist er kontrolliert. Doch wehe, er ist geweckt. Der Zorn. Einmal gereizt und entfacht, durch wen oder was auch immer, offenbart sich dieser Charakterzug oftmals in einem Tempo, dem der gemeine Europäer nicht folgen kann. Ihrem Zorn geht meistens Wut voraus, ein Ärgernis, eine Empörung oder eine Kränkung. Dann kocht die Seele, und in den Adern brodelt es. Ein kleines falsches Wort ist manchmal schon genug, und im Ausbruch höchster emotionaler Erregung ist jeder Gleichmut vergessen. Und wird das Ehrgefühl eines Ägypters dauerhaft missachtet und dazu sein Empfinden für Gerechtigkeit, fehlt jede Perspektive schon auf die Aussicht der Erfüllung natürlicher Sehnsüchte, dann formt sich der Zorn eines jeden Einzelnen zu einer unbändigen Energie der Masse, die vor langer Zeit schon jeder Pharao gefürchtet hatte.

Es waren die „Tage des Zorns“, die in Ägypten bis heute so nachhaltig wirken. Sie hatten lange genug verharrt. Dreißig Jahre lebten die Ägypter unter dem Regime ihres ehemaligen Präsidenten Husni Mubarak, bevor sie im Januar und Februar Zweitausendelf, inspiriert durch die tunesische Jasminrevolution, mehr als zwei Wochen lang auf die Straßen und Plätze des Landes strömten und gegen die autoritäre Herrschaft Mubaraks mit seinem ausgeprägten Sicherheitsapparat, gegen fehlende Mitsprachemöglichkeiten, verweigertem Reformwillen und gegen Amtsmissbrauch und Korruption in Staat, Wirtschaft und Verwaltung protestierten.

Heute, gut fünf Jahre nach diesem Aufbegehren, das viele Ägypter allzu pathetisch noch immer „Revolution“ nennen, nach diesem nationalen Erzürnen, regiert wieder ein Alleinherrscher das Land, ähnlich diktatorisch und despotisch, wie einst Mubarak agierte. Die ersten freien Wahlen nach dessen Entmachtung hatten die Muslimbrüder gewonnen. Sie waren die einzig taugliche Oppositionspartei im Land, die sich zügig formieren konnte. Ihr Sieg, mehr noch, was sie wollten und wie sie es taten, brachte den Ägyptern eine weitere Variante jener verbitterten Rage, die das Land bis heute prägt.

Missgestimmt waren sie zunächst, die versteckt Mächtigen, allen voran das Militär, eine gesellschaftliche Kraft, ohne deren Wohlwollen und Zustimmung zu regieren am Nil unmöglich ist. Empörung folgte, Ärger über eine drohende Islamisierung konservativer Prägung, Wut über zweifelhafte politische Entscheidungen, Entrüstung über klägliche Kompetenzen. Geliebt waren die Muslimbrüder noch nie. Jetzt führten sie Ägypten geradewegs in die Katastrophe. Die Zahlungsunfähigkeit, der wirtschaftliche Kollaps, drohte. Monatlich wuchs er, der Zorn, und war letztlich so gewachsen, dass ein Militärputsch dem Spuk der Muslimbrüderschaft ein Ende machte. General Sisi entmachtete Morsi.

Seitdem wurden und werden die Muslimbrüder und ihre Anhänger erbittert attackiert, zurück in den Untergrund gedrängt, zur Terrororganisation erklärt und ihre Anführer wie Anhänger unnachgiebig verfolgt, verhaftet oder getötet. Die Konsequenz ist nur allzu klar. Wieder ist er geschürt, der Zorn, diesmal der, der so Geknechteten und in einem Grad, der als Antwort auf entgegengebrachter Gewalt aggressiver und brutaler kaum sein kann. In wilder Entrüstung bomben und töten sie. Ihr Zorn hat in Hass gewechselt. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht über tote Soldaten, Polizisten oder ermordete Vertreter der Regierung berichtet wird, als Antwort auf Mord und Terror, der den frommen Brüdern widerfahren war. Wer Zorn sät, erntet Zorn. Ihrer Gewaltsamen Unterdrückung folgt die eigene Brutalität. Und obgleich alle Beteiligten vorgeben, in welcher Auslegung auch immer, gläubige Muslime zu sein, hört das Leben des anderen auf heilig zu sein, weil allein Vergeltung das Handeln bestimmt.

Obendrein, als sei diese unbarmherzige innerägyptische Feindschaft zwischen Macht und Ohnmacht nicht schon belastend genug, tummeln sich in diesem Land noch andere, Sympathisanten und Internationale, die ebenfalls von Gewalt bestimmt die anderen um sie herum nicht ertragen können. Islamisten, Dschihadisten, Extremisten, Terroristen, Fundamentalisten – würden sich Vertreter dieser Gruppen in den Wüsten des Landes gegenüberstehen, sie wüssten selbst nicht, wer der jeweils andere ist.

Eine Anstrengung belastet besonders. Im Norden der Sinai-Halbinsel kämpft das ägyptische Militär genauso tapfer wie erfolglos gegen einen Ableger des so genannten „Islamischen Staates“. Ägypten ist Teil der arabischen Front gegen die Schlächter und Barbaren jenes selbsternannten Gottesstaates. Die bestialischen Terrorakte in Paris im November Zweitausendfünfzehn verurteilte Präsident Sisi aufs Schärfste. Und so, wie er das tat, wünschte er sich gleichzeitig nützlichere Hilfen und vor allem mehr Respekt für seinen Kampf gegen die, die das eigene Land, seine Menschen und jede neue noch so kleine, stabilisierende Errungenschaft im Wiederaufbauprozess bedrohen.

Oft wird in der Tat vergessen. Ägypten ist unfreiwillig in einigen seiner Regionen Teil des Vorhofs zur Hölle geworden, die eine unverantwortliche und desolate Außenpolitik des Westens früherer Jahre, maßgeblich die der Vereinigten Staaten, im Nahen und Mittleren Osten geschaffen hat.

Schonungslos und unerbittert kämpfen Sisi und das Militär an verschiedenen Fronten, gegen den mörderischen Irrsinn des so genannten „Islamischen Staates“, gegen die terroristischen Bedrohungen aus Libyen und gegen radikale Muslimbrüder. Niemand erhebt seine Stimme gegen diese Haltung, niemand ist da, der daran erinnert, dass der Terror in diesen Qualitäten militärisch nicht zu besiegen ist. Im Gegenteil. Der Präsident hat die Bevölkerung darauf vorbereitet, dass diese Kämpfe lange dauern können. Dass sein Vorgehen gleichzeitig auch die Eliminierung aller oppositionellen Kräfte zum Erhalt und damit den Ausbau seiner eigenen Macht im Land einschließt, scheint ebenfalls niemanden wirklich richtig zu stören. Weil die Medien, vor allem die unliebsamen, in ihrer Berichterstattung durch entsprechende Gesetze längst schon ausgeschaltet sind, wissen ohnehin nur noch wenige im Land, wie erfolgreich alle gewaltsamen Anstrengungen sind. Misserfolge eingeschlossen.

Wer als Ausländer, als Gast, in diesem Land länger verweilt als nur für die Dauer eines Urlaubs, will und muss die Ägypter wenigstens verstehen, was los ist mit ihrem Land in diesen turbulenten Zeiten, wie sie ticken und was sie bewegt. Dafür, dass sich die Regierung und ihre Gegner bis zum letzten Atemzug derart bekriegen, leben Millionen Ägypter erstaunlich gelassen mit Terror und Tod. Aus guten Gründen. Und auch aus Tradition.

Wie gesagt. Freundlich kommen sie daher, aufgeschlossen und neugierig. Emsig sind sie und begeisterungsfähig, die meisten jedenfalls, und die, die in den Städten leben, laut und quirlig, den Stillstand scheinbar nicht ertragen könnend. Bemüht sind sie, ihr Glück zu machen, den Wohlstand des Westens vor Augen, die Armut ihres Kontinents im Nacken. Man will es doch, das Tempo ihres Lebens begreifen, ihre Wünsche und Sorgen.

Am Ende eines Tages aber, verbracht mit ihren Sitten und ihrem Benehmen, bleibt immer etwas übrig, das nicht zu fassen ist. Das Erstaunen, jene zarte Verwunderung, die gut tut, die, die sich ein jeder bewahren sollte, der fremde Länder bereist, wechselt allmählich in Enttäuschung. Am Ende einer Woche dann ist sie jäh gezügelt, die Lust verzückt zu werden, ringt das Gemüt mit seiner Dämpfung und der Geist mit Unverständnis, ob es sich tauglich leben lässt in einer Ordnung, von der zu erahnen ist, wie wenig dienlich sie wirklich ist.

Gedanken der Verwirrung folgen, der Verblüffung, bevor am Ende eines Monats die Fragen nach dem Sinn des Miteinanders in einem drängen und der Verstand zu realisieren beginnt, wie groß die Schau und klein das Bewusstsein in Wahrheit sind. Ist dann ein Jahr vergangen, ist man nur noch fassungslos, wie das alles sein kann, in einer Gesellschaft zu leben, die keine ist, mit einer Wahrnehmung, die allenfalls den Augenblick kennt und in einer Trägheit, die aus einer gesamtgesellschaftlichen Abgewandtheit erwachsen ist, weil ein paar wenige der ersten Garde des Landes das genau so wollen und steuern.

So, wie sie sind und was sie sind, könnten die Ägypter einen anstecken und begeistern, mit einer Leichtigkeit des Daseins, mit ihrer Einfachheit von Zufriedenheit. Doch weil Millionen dem nationalen Dilemma zu entfliehen versuchen, weil der Rückzug ins Private nur allzu konsequent erscheint, das kleine Heil nach Frieden und Wohlstand wenigstens dort zu finden, bleibt das ganze Land mit sich selbst unversöhnt, ist mittlerweile ein nationales Desaster erwachsen, in dem es sich aus purer Gewohnheit dennoch einigermaßen leben lässt. Wie zumutbar auch immer.

Ausgerechnet die Revolte des Arabischen Frühlings, die für so viele so viel anderes bringen sollte, hat Ägypten zurück in alte Zeiten gebracht. Das Mubarak-Regime sollte weichen und mit ihm all die sozialen Ungerechtigkeiten, die Vetternwirtschaft und Korruption. Dem Wunsch nach einem modernen Staat mit demokratischen Prägungen folgte ein historisches Experiment mit der Regierung Morsi, das kläglich gescheitert ist. Nun regiert wieder ein ehemaliger General, der auf den Wahnsinn terroristischer Gewaltakte nicht minder unversöhnlich mit militärischer Härte reagiert.

Seit mehr als zwei Jahren leben die Ägypter in diesem Duell ihrer Dämonen. Blutspuren kennzeichnen das Land, Tod und Terror. Gewalt und Gegengewalt gehören zum Alltag. Muslimbrüder und Regierung hassen einander. Sie verteufeln sich gegenseitig. Einmal mit tiefer Verachtung belegt, ist Vergeben und Vergessen nicht mehr möglich. Ob heimlich und still oder offen und heißblütig. Millionen feiern ihren Präsidenten, der erbarmungslos zuschlägt. Millionen leiden unter seiner Diktatur. Noch mehr Millionen wollen einfach nur ihre Ruhe, trotz aller Krisen, trotz drastisch gestiegener Preise für ihren so einfachen Lebensunterhalt, die das Leben jeden Tag aufs Neue zu einer gewaltigen Herausforderung machen.

Noch einmal. Die große Mehrheit der Ägypter ist ein friedliebendes Volk. Sie sind hilfsbereit, meistens freundlich, häufig neugierig und stets bemüht. Dass ihnen dabei das eine oder andere in ihrem Eifer nicht gelingt, und dass die Menschen in den Städten des Landes wie Kairo, Alexandria, Suez, Luxor und Assuan gereizter sind als in ländlichen Regionen, neidischer und anstrengender, darf bei all den Herausforderungen millionenstarker Konkurrenz nicht verwundern.

Vor allem aber lieben die Ägypter die Ordnung. Sie wollen die Dinge geregelt wissen. Schon die Menschen im Alten Ägypten fürchteten nichts mehr, als durch einen schwachen Pharao die kosmische Bestimmtheit zu verlieren und dadurch vom Chaos überrollt zu werden. Die Geschichte wiederholt sich, nicht nur die, in der eine weitere „Revolution“ ihre Kinder frisst. Zwischen dem Alten Reich, der Zeit der großen Pyramiden, dem Mittleren Reich, der Blütezeit von Kunst und Literatur, dem Neuen Reich, der Zeit der großen Baumeister, und der Spätzeit, als die Perser über Ägypten regierten, folgte jeder Epoche eine Zeit der Anarchie, der Unordnung und Verwirrung, in der das Land zweigeteilt war oder von Fremdherrschern regiert wurde. Altertumsforscher bezeichnen diese Phasen als Zwischenzeiten. Und in einer solchen lebt Ägypten heute wieder.

Die wesentlichen Ursachen der Konflikte in der ägyptischen Gesellschaft sind mitnichten, wie im Westen vielfach allzu stumpf und vorschnell geurteilt wird, der Islam oder ethnische Auseinandersetzungen. Der erbitterte Kampf hat durch und durch irdische Motive. Einige wenige Eliten des Landes unter dem Wohlwollen und Schutz Sisis verteidigen heute lediglich in anderen Kostümen ihre wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen. Skrupellos füllen sie die eigenen Taschen, bedienen und vergeuden sie in großem Umfang die Ressourcen des Landes und blockieren jede Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft. Sie verhindern den Aufbau nützlicher Infrastruktur und vernachlässigen sträflich die Schul- und Berufsausbildung jüngerer Generationen. Nichts anderes war auch unter Mubarak geschehen. Und die, die einst erstmals demokratisch gewählt worden waren, hätten sich ohne den Umsturz des Militärs ähnlich an dem Land vergangen.

In naiver Erwartung wurden sie im Westen ob dieses vermeintlichen Erfolgs nahezu gefeiert, ausgerechnet die Muslimbrüder, als erste Vorboten einer demokratischen Entwicklung im Land. In nahezu romantischer Verklärtheit galten sie als Heilsbringer westlicher Werte von Freiheit und Demokratie. Vergessen war die Wahrheit ihrer Geschichte, die Phasen ihrer Gewaltakte und blutigen Attentate, ihre Nähe zu bekannt terroristischen Organisationen in der Region und ihre Bereitschaft, Recht und Gesetz bereitwillig zu brechen, wenn es den eigenen Interessen dient.

Als sie mit Mohammed Morsi nach Jahrzehnten im Untergrund und der Illegalität mit ihrem Wahlsieg zweitausendzwölf den Präsidenten stellten, ließen aber auch sie, übrigens durch und durch undemokratisch, nichts unversucht, ihre gewonnene Macht allein auszuüben. Nur etwa ein Drittel der Ägypter hatte sie an die Macht gebracht. Und ein Dialog mit denen, die sie nicht gewählt hatten, unterblieb. Im Eiltempo vergingen sie sich an der Verfassung, um die Vision ihres islamischen Ägyptens endlich etablieren zu können. Ihrer Überforderung und Inkompetenzen mehr und mehr enttarnt, klebten sie selbst mit den einsetzenden Massenprotesten genauso gierig wie unbelehrbar an ihren Ämtern und ihrer Ideologie.

Unbestritten bleibt. Der Militärputsch Sisis hat eine erste Schulung in Demokratie allzu vorschnell und gegen legitimes Recht beendet. Mit ihm leben die Ägypter faktisch wieder in einer Diktatur, auch wenn sie das selbst anders empfinden mögen, politisch unerfahren wie sie sind. Die Gewalt aber, die nun von den Muslimbrüdern und ihren befreundeten Terrorbrigaden gegen die Regierung ausgeht, demaskiert sie ein weiteres Mal. Wer in zorniger Roheit und skrupellosem Eifer seine politischen Gegner derart zerbombt und mordet, verliert jedes Recht auf eine faire Auseinandersetzung. Ihre Rechtfertigung, bislang „nur“ Repräsentanten und Institutionen des Staates zu attackieren, ist allein billige Farce. Auch Soldaten haben Familie, auch Richter sind Menschen. Der Terror der Muslimbrüder offenbart einzig, wie wenig demokratieverträglich ein konservativer Islam der Marke Morsi tatsächlich gewesen wäre.

Millionen Ägypter waren urplötzlich erschrocken, was sie selbst angerichtet hatten. Weil sie nicht an der Wahl teilgenommen hatten, sollten sie nun unter den verschärften Regeln eines konservativen Islams leben. So wuchs der Protest nahezu täglich, war der Zorn der Massen erneut geweckt. Noch heute begeistern sich viele, dass Sisi es war, der Morsi und seine Anhänger davongejagt hatte. Der damalige General avancierte zum Retter der Nation.

Dass auch Sisi keine echte Demokratie will, und auf Gewalt mit Gewalt reagiert, nehmen die meisten Ägypter als notwendiges Übel hin. Er hat Ordnung geschaffen. Und die schließt alle ein, die sich nicht beugen wollen. Jetzt, da die Muslimbrüder weitestgehend ausgeschaltet sind, verfolgt er die säkularen Oppositionellen, sobald sie sein Regime zu kritisieren wagen. Viele Aktivisten von einst, die, die auf die Straßen stürmten, verschwinden noch heute spurlos. Nach Wochen tauchen sie auf, verhört, gefoltert und bedroht. Auch das kümmert nur wenige. Ägypten ist Folterland geworden, still und heimlich und doch so widerwärtig.

Besonders in den Wochen und Monaten vor dem 25. Januar Zweitausendsechzehn haben die staatlichen Repressionen gegenüber liberalen oder anders denkenden Kräften im Land ein Ausmaß erreicht, deren Härte und Unnachgiebigkeit nicht einmal aus der Mubarak-Ära bekannt waren. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muss ein Muslimbruder sein, so die aktuelle Losung. Menschenrechtsorganisationen attestieren Sisi und seinen Dienern die größte Einschüchterungswelle gegen Dissidenten in der jüngeren Geschichte. Fast täglich werden Meldungen über durchsuchte und geschlossene Organisationen, inhaftierte Aktivisten, Blogger, Fotografen und Journalisten veröffentlicht. Ohne jeden Zweifel. Das Regime hat Angst.

Im Vorfeld des fünften Jahrestages der so genannten „Revolution“ soll jede kritische Stimme ausgeschaltet sein, die in der Lage ist anzustecken, Massen zu bewegen. Dass dieses diktatorische Vorgehen erneut für Unruhe und Unmut sorgt, belegen bereits die Webseiten sozialer Netzwerke. Der Widerstand in allen Schichten der Bevölkerung wird lauter. Wie einst. Und dann, eines Tages, ist er wieder da, der Zorn des Volkes, der aus Zorn erwachsen ist.

Noch, so die Betonung, hat sich unter vielen ehemaligen Rebellen und ihren Anhängern Verdrossenheit breit gebracht. Ernüchtert sind die, die einst so schwungvoll stürmten, die, die auf den Straßen der Städte voller Stolz für Gerechtigkeit kämpften, die, die eine Demokratie wollten, nur mit einer Ahnung von ihr im Kopf und doch so reich an Energie und Begeisterung. Längst schon gleichgültig sind die, die ihr Dasein meistern können, weil sie Geld haben oder ausgewandert sind, die, die nur müde abwiegeln, dem Individualismus frönen und selbstverliebt ihrer Wege gehen. Dazu all die Leisen und die Stillen, die, die nichts wissen, weil ihr Leben bislang keine Schule kannte, keine Lehrer, die ihre Talente und Visionen hätten wecken können, zusammen mit all den Armen, die ihr Schicksal lieber in die Hände ihres Gottes legen, weil der bittere Kampf um Leben Beistand braucht. Letztlich. Es ist so gekommen, wie es in der Geschichte der Menschheit immer gekommen war, wenn das Individuum keine Ahnung hatte, wie es mit dem Staat einen tauglichen Vertrag schließen konnte, und erst recht nicht wusste, welche weltlichen Kräfte im Hintergrund bereits ihre Stellungen bezogen hatten.

Bunt und schrill ging es damals zu, lautstark, energetisch und kämpferisch, getreu der ägyptischen Mentalität, die Demokratie jetzt sofort haben zu wollen, spätestens aber morgen, formvollendet und heilbringend, visionär gesichtet im Internet und deswegen vorgetragen von vornehmlich jungen und westlich orientierten Bürgern in den Städten des Landes. Vergessen hatten sie alle anderen, die Alten, die Massen an Gläubigen, die auf dem Land, die Ungebildeten und alle die, die noch weniger wussten. Und nichts war da, außer einem ungestümen Willen, kein Wissen, keine Erfahrung, keine neue politische Kultur, keine neuen Parteien, zu Koalitionen und Bündnissen bereit, keine Führungspersönlichkeiten, keine Strukturen, keine geeignete Verfassung, keine Gewaltenteilung und erst recht keine mündigen Bürger.

Und als nach den ersten freien Wahlen die Muslimbrüder in die Regierung traten, gingen wieder Hunderttausende auf die Barrikaden, noch erzürnter, noch enttäuschter, noch frustrierter, ausgerechnet die doch nicht zu wollen. Wieder zerrissen in zwei Lager, im Zorn bis aufs Blut gereizt, den Tod der Brüder und Schwestern im Kalkül, gemordet, verfolgt und vertrieben – erst das Militär konnte wieder Stabilität schaffen, mit noch mehr Gewalt, mit noch mehr Toten. Und so blieb das, was werden sollte, allenfalls ein Sturm im Wasserglas, regiert heute ein ehemaliger General das Land, ein Repräsentant des Militärs, das als Machtgarant genauso funktioniert wie der Islam.

Wer als Gast in diesem Land lebt, fragt sich früher oder später, warum die Ägypter so wenig aus dem machen, was sie besitzen, warum seit Jahrzehnten jeder Tag aufs Neue eine Fortsetzung bereits gemachter Fehler ist. Vordergründig liegen in vielen Analysen die Gründe auf der Hand. Militär und Mächtige hielten und halten das Land unter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kontrolle. Zahlreiche Märkte und Unternehmensbereiche sind allein von wenigen Mächtigen besetzt, die die Grundwerte und Gestaltung einer freien und vor allem sozialen Marktwirtschaft als Gefahr für ihre Machtpositionen betrachten. Korruption und Vetternwirtschaft schüren zusätzlich die soziale Ungerechtigkeit gerade für die jungen Generationen auf ein gefährliches Maß. Der gigantische Bürokratismus eines aufgeblähten Verwaltungsapparats erschwert überdies jede Eigeninitiative. Und das öffentliche Bildungssystem für die, die es später einmal richten sollen, schult in einer Qualität, die ungenügend ist.

Das alles ist paradox und verursacht fassungsloses Kopfschütteln. Denn das Potential zu Wohlstand und gerechter Verteilung für alle wäre zweifelsfrei da, sind die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung durchaus günstig. Ägypten profitiert von seinem großen Binnenmarkt. Neunzig Millionen Konsumenten wollen befriedigt sein. Das Land liegt an der Schnittstelle des Landwegs von Afrika nach Asien und des Seewegs von Europa durch den Suezkanal zum Indischen Ozean. Als größtes Land im Nahen Osten in zentraler geostrategischer Lage genießt Ägypten durchaus zu seinem Vorteil die Aufmerksamkeit der Weltmächte. Mit den wichtigsten Märkten, Europa und Nordamerika, bestehen Handelsabkommen. Das Land besitzt dazu nennenswerte Energiequellen. Während Erdöl- und Erdgasvorkommen schwinden, stehen Wasserkraft, Wind- und Sonnenenergie nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Selbst der Tourismussektor ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Klar. Mit allen Unruhen, die das Land in der Vergangenheit erfahren hat, verbanden sich gleichfalls zum Teil enorme wirtschaftliche Einbußen. Investoren verließen fluchtartig ihre Standorte, andere kamen gar nicht erst. Noch immer zahlt die Regierung zu viele Subventionen, sind Arbeitslosigkeit und Armut unzumutbar zu hoch. Dabei. Viele Ägypter sind bereit. Sie wollen und können hart arbeiten. Wenn auch nicht immer und überall qualifiziert – die Menschen sind motiviert. Meistens jedenfalls. Vor allem Millionen junger Ägypter drängen danach, der sozialen Absturzspirale endlich zu entfliehen. Dazu. Wie es bei allen heutigen Krisen im Land zukünftig einmal werden soll, macht große Angst. Ägyptens Einwohnerzahl explodiert. Mit einem Bevölkerungswachstum von fast zwei Prozent wollen jedes Jahr etwa eineinhalb Millionen Menschen mehr versorgt werden.

Wie gesagt. Elitäre Cliquen, allen voran das Militär, stehen einem Wandel und vielen notwendigen Entwicklungen im Weg. Sie können und wollen einfach nicht teilen. Es wäre dennoch zu einfach, die Probleme des Landes allein darauf zu beschränken. Das Individuum selbst ist die größte aller Herausforderungen. Denn mehr als all diese volks- und marktwirtschaftlichen Missstände haben die Menschen in diesem Land erstrangig ein grundsätzliches Problem, eines mit sich selbst nämlich, eines mit ihrer Identität. Der gemeine Ägypter denkt zunächst allein an sein persönliches Fortkommen, dann an sich selbst und schließlich an seine Familie. Me, myself and I. Mach du doch etwas, ich komme so gerade eben klar. Die Ägypter wollen oder können keine Gemeinschaft sein. Attestierte man Staaten ein Krankheitsbild, leidet das Land an einer gesellschaftlichen Querschnittslähmung.

Quer durch alle Schichten herrscht ein Individualismus, der erschreckend ist. Selbstreflexion, Verantwortungsbereitschaft und Solidargemeinschaften gibt es nicht. An soziale Kompetenz und Intelligenz auch nur zu erinnern, beschert mehrheitlich allenfalls fragende Augenpaare. Der Narzissmus in diesem Land ist unerträglich. Und dabei ist gleichgültig, wie hoch Kontostände und Besitz sind. Allgemein anerkannte gesellschaftliche Normen schwirren nur vom Hörensagen umher, doch vielerorts denkt und handelt ein Ägypter, wenn er denn denkt, ohne sich auch nur einen Hauch um die Interessen und Bedürfnisse anderer um ihn herum zu scheren. Erkenntnisse wie diese sind leider weder arrogant noch rassistisch. Sie sind die Wahrheit.

Nicht zuletzt wegen dieser Defizite ist auch ihre kleine Revolte gescheitert, die des Arabischen Frühlings, die bezeichnenderweise nicht von den Ägyptern ausging. Denn wenn schon das Individuum keine Ahnung hat, was für ihn selbst geschrieben stehen muss in einer Vereinbarung mit dem Staat, bleibt jeder gemeinsame Protest ein kurzzeitiges Erwachen, ohne Bestand, ohne Strategie und ohne Ziel. Millionenfach sollte eine Rechnung aufgehen. Ich will Würde und Wohlstand, habe aber nicht erkannt, dass ich dafür auch etwas geben muss. Der Schritt zurück, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen – wer, wie die Ägypter, ständig nur im Hier und Jetzt verbringt, hat nichts gelernt, wird nichts lernen und kann damit auch nicht gestalten. Abgesehen davon sind regelmäßige Steuerbeiträge ein ausgesprochen nützlicher Beitrag für eine solche Solidargemeinschaft, die sich viele wünschen, nur keiner bezahlen will.

Es ist typisch für die Ägypter, sich ohne jede gesunde Wahrnehmung der Realitäten, ohne Bewusstsein, mit nahezu unbändigem und doch reichlich naivem Nationalpathos für etwas einsetzen, das vordringlich das eigene Wohl bringen soll. Was andere haben, will ich auch, was andere können, kann ich auch. Ich will Demokratie. Ich will sie morgen. Und wenn sie nicht spätestens übermorgen da ist, will ich sie nicht mehr. Mit gleicher Haltung und Begeisterung ist übrigens auch der ehemalige Präsident Morsi ins Amt gerutscht. Ja! Wir wollen die Muslimbrüder, wir wollen Veränderung, weg mit dem alten Regime. Aber die Scharia, eine Verschärfung der islamischen Rechtsvorschriften für das öffentliche Leben, die wollen wir nicht.

So passt es auch zu den Ägyptern, wie auch ihre enttäuschende Beteiligung an den letzten Parlamentswahlen gezeigt hat, dass sie nun beleidigt den Kopf in den Wüstensand stecken, weil sie nicht sofort und augenblicklich das bekommen haben, wonach ihnen war. Abgesehen davon, dass so ziemlich jeder Kandidat, der zur Wahl stand, regierungskonforme Parolen von sich gab. Nun ist es wieder da, das allgemeine Gefühl der Ohnmacht, die Starre einer namenlosen Zivilfeigheit, vielerorts verhüllt mit einer religiösen Lethargie des Islams, der Demut und Gehorsam predigt, weil der Mensch, durch Gott gelenkt, so der tiefe Glaube, nicht Schuld trägt an seinem Verhalten. Wenn Gott das alles nicht will, dann kann ich ja sowieso nichts machen.

Wieder liegen die Ägypter im Würgegriff der Reichen und Mächtigen. Wieder kontrolliert Generalität das Land. Und wieder wollen die nicht umverteilen. Einige wenige Akteure halten das Volk in Dummheit und Armut, weil sie, würden sie das verändern, selbst geknechtet würden. Es ist wohl so. Nur so macht der große Zuspruch in der ägyptischen Gesellschaft für Staatspräsident Sisi und seine Regierung Sinn. Er sorgt für Ruhe in den eigenen Reihen, damit der Rückzug ins Private, meistens auch ins Patriarchat, störungsfrei gelingen kann. An allem anderen kann ich ja sowieso nichts ändern. So werden die Ägypter gern regiert, wäre da nicht eben jene nationaltypische Emotion namens Zorn, die als letzte gesellschaftliche Größe unberechenbar bleibt.

Als Ende Oktober Zweitausendfünfzehn ein Airbus der russischen Airline MetroJet über dem Sinai abstürzte, hatte niemand der zweihundertvierundzwanzig zumeist russischen Passagiere und Besatzungsmitglieder überlebt. Auf dem Flug von Sharm el Scheikh nach St. Petersburg war an Bord eine Bombe explodiert. Die Barbaren des so genannten „Islamischen Staates“ hatten sich zu dem Terrorakt bekannt. Als unmittelbare Konsequenz stoppten zahlreiche internationale Airlines ihre Flüge auf die beliebte Ferienhalbinsel.

Die Tragödie, für die Opfer und deren Angehörige gewiss von so ganz anderer Bedeutung, besaß damit ein weiteres zerstörerisches Element. Hatte sich die für Ägypten und deren Menschen so bedeutsame Tourismusbranche mit gestiegenen Buchungen und Umsätzen in dieser Region gerade erst wieder nach jahrelangen und beträchtlichen Einbußen einigermaßen erholt, blieben die Urlauber nach dem Absturz erneut in Massen weg. Dieses neuerliche Desaster und seine Folgen verweisen auf ein zentrales Problem Ägyptens. Das Land ist auf die Geschäfte mit den Touristen dringend angewiesen. Ihre Devisen erst zähmen Zorn.

Deutsche wie Europäer spitzen gewöhnlich dann erst aufmerksam die Ohren, wenn es um die Belange dieses Landes geht, weil sie sich fragen, ob ein Urlaub in gehobener Qualität zu Preisen noch möglich ist, die sie nicht knietief in ihrem Dispokredit versacken lässt. Statt Südtirol oder Chiemsee darf es auch der Nil oder ein Badespaß sein, sobald die Ägypter sich wieder beruhigt haben. Haben sie nicht, jedenfalls nach europäischem Sicherheitsverständnis. Unbeschwert geht anders. Und etwas unberechenbar waren diese Araber im Norden Afrikas ja sowieso schon immer, erst recht seit ihrer komischen Revolte.

Dabei. Die Touristikzentren zwischen den Pyramiden und dem Roten Meer, zwischen der Mittelmeerküste und dem Assuan-Staudamm sind sicher. So sicher, wie sicher grundsätzlich eben sein kann. Auch im tiefsten Bayern kann einem ein Dachziegel auf den Kopf fallen. Und die Alibabas dieser Branche samt ihrer Kumpel lauern auch auf Mallorca. Die Ägypter tun viel, sehr viel, um die Gebiete zu schützen. Schon allein aus purem Eigennutz. Dass ihre Tourismuskonzepte und Angebote gehörig reformiert gehören, dass Eigeninitiativen und Ideen nützliche und mehr noch wertvolle Umsatzsteigerungen sein könnten, müssen die Ägypter endlich lernen.

Fakt ist. Ägypten und der Nahe Osten sind wie einige andere klassische Urlaubsländer in den letzten Jahren einfach zu kompliziert geworden, als dass sich in fortgesetzter orientalischer Verklärtheit eine wohltuende Reise in diesem Land verbringen lässt. Wenn schon vor Pauschaltourismus in einem Urlaubsland gewarnt wird, dann stimmt was mit dem Reiseziel nicht, ist der gemeine Ägypter für den gemeinen Deutschen nicht mehr kreditkartenwürdig. Das hat fatale Folgen, denn jedes voll besetzte Flugzeug wird gebraucht, dringender denn je. Gerade weil der persönliche Wohlstand eines jeden einzelnen Ägypters die Volksseele beruhigen kann, müssen die Bikini-Milliarden zurück ins Land, selbst wenn nationale wie internationale Wirtschaftscliquen dadurch noch reicher werden.

Also! Ihr Touristen aller Welten! Kommen Sie! Besuchen Sie dieses Land! Machen Sie sich selbst ein Bild, das so ganz andere Schlagzeilen kennt als so oft schon voreilig und verantwortungslos über die Glotzen und Gazetten westlicher Medien verbreitet worden sind. Wenn Sie nicht gerade live und in Echtzeit einen Kämpfer der Irren des so genannten „Islamischen Staates“ fragen wollen, wie es wohl seiner Mutter geht, die Waffenschmuggler und Terroristen aus Libyen ein paar Stunden auf ihrem Weg durch die Wüsten begleiten wollen, wenn Sie nicht versuchen, einem radikalen Muslimbruder erklären zu wollen, dass es kein Paradies gibt, wenn Sie sich selbst so benehmen, wie Sie es von einem Ägypter erwarten, der daheim Ihre Kreise und Stammkneipe betritt, dann sind Sie so gut aufgehoben wie überall auf dieser verrückten Welt.

Wer als Gast, als Ausländer, in diesem Land lebt, fragt sich früher oder später auch, wer wie mit welcher Lebensart und für wen eine Bereicherung sein kann. Wenn verschiedene Kulturen im privaten Umfeld an die Grenzen von Toleranz stoßen, dann sind kleinere wie größere Konflikte nur allzu konsequent. Sie werden jedoch, auch ohne Lösung, in der Regel offen und ehrlich ausgetragen. Irgendwie wird ein Zusammenleben organisiert, das den Alltag gestaltet. Gerade darin verstehen sich die Ägypter meisterhaft.

Wer sich über welche Defizite bewusst ist, wer wie Zugewinn für den anderen sein kann, wird in persönlichen Begegnungen notwendigerweise häufig mit den Befähigungen der Einsicht und Kompromissfähigkeit auf ein urmitmenschliches Maß im Umgang mit Fremden deutlich. Im krassen Widerspruch zu dieser praktischen Intelligenz von Individuen steht die Unentschlossenheit, ja die Verlogenheit, auf den politischen Bühnen. Diplomaten wie Politiker auf beiden Seiten mutieren zu Heuchlern.

Seit der kleinen Revolte im Land hieß und heißt es, dass sich der Westen endlich einmal entscheiden muss. Der Schlamassel liegt zwischen den Polen einer tauglichen Realpolitik mit der ägyptischen Regierung und einer Durchsetzung der stets propagierten Werte einer freiheitlich demokratischen Grundordnung im Land. So auch geschehen, als Staatspräsident Sisi im Juni Zweitausendfünfzehn Deutschland besucht hatte. Während er von der deutschen Bundeskanzlerin Merkel mit militärischen Ehren empfangen worden war, hatte sich Bundestagspräsident Lammert, zweiter Mann im Staat und vor allem der Repräsentant eines nach vielen Regeln der Demokratie gewählten Parlaments, von Sisi bereits im Vorfeld deutlich distanziert.

Der Einmarsch unter zackigen Militärtönen, vorgetragen in hochglanzpolierter Uniform, war so ganz nach dem Geschmack des ehemaligen ägyptischen Generals. Auftritte wie diese mochte er schon immer. Dass er hinter diesen Höflichkeitsposen wegen seiner erbarmungslosen Hetzjagd auf die Muslimbrüder und Oppositionellen attackiert worden war, doch wenigstens ein bisschen dann und wann einmal an die Einhaltung der Menschenrechte zu denken, nahm er mit bekannt aufgesetztem Grinsgesicht zur Kenntnis. Er wusste. Er wird gebraucht. Ägypten wird gebraucht. Das auch war letztlich die Essenz des Besuchs. Denn das Land am Nil ist zwischen Abend- und Morgenland der letzte einigermaßen stabile islamische Staat einer Weltregion, in der der gnadenlose Terror ultraidiotischer und anderer radikaler Moslems der Brandherde Libyen, Jemen, Syrien und Irak unaufhörlich den Alltag bestimmt.

In Wahrheit war der Besuch nichts mehr als ein kurzes politisches, dazu in Teilen peinliches, Schauspiel, das die Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sisi der Öffentlichkeit vorgetragen hatten, eine Inszenierung von sinnlosem Geplapper, mit der der eine der anderen erstmals entgegengetreten war, und die eine den anderen ertragen hatte. Bei allen Gegensätzen ist man immerhin im Gespräch, so das Signal an die, die es interessierte. Sicher. Wichtig genug wiegt die gemeinsame Absprache zur Abwehr und Bekämpfung regionaler und globaler Bedrohungen, doch darüber hinaus besitzt Ägypten für Deutschland nur wenig Bedeutung, weder wirtschaftlich noch politisch.

Der tatsächliche Einfluss gerade der Deutschen auf die Ägypter andererseits wurde ohnehin bereits in der Vergangenheit nahezu maßlos überschätzt. In der Tradition aller ägyptischen Präsidenten lässt sich auch der glühende Militarist Sisi nicht in seine Amtsführung reinreden, Zeit seines Auftretens als Putschist in den Wirren der Unruhen nicht und erst recht nicht als ägyptischer Mann islamischen Glaubens, dem weder ein ehemaliger Außenminister mit homosexueller Veranlagung behagen noch die Waffen einer noch so souveränen Frau.

Wer Sisis Aufstieg verfolgt hat, weiß, wie sehr der Soldat in ihm sein Auftreten dominiert. Wer Sisi beobachtet, weiß, wie clever und strategisch er sein kann. Und wer ihn kennt, weiß, wie sehr ihn der Islam bestimmt. Allein mit diesen Merkmalen ist klar, wie wenig Demokrat er ist. Wer dazu Land und Leute kennen lernen durfte, weiß ebenfalls, dass es so ziemlich an allem fehlt, was eine freiheitlich demokratische Grundordnung auszeichnet, vorrangig nämlich reife und gebildete(!) Bürger. Demokratie will in langwierigen und komplexen Abläufen entwickelt und etabliert werden. Ihr bloßer Export, stereotyp als oberste Parole des Westens verordnet, als Kopie westlicher Vorbilder, ist allein deswegen schon zum Scheitern verurteilt, abgesehen von einer weiteren grundsätzlichen Frage, wie demokratisch islamische Staaten prinzipiell sein können.

Wenn der Westen, einschließlich der Vereinigten Staaten, weiterhin vorgibt, politische Relevanz und Einfluss in Ägypten zu besitzen, dann ist das eine bewusst vorgetragene Unredlichkeit, eine Verblendung der Wirklichkeit, zu der beharrlich überredet wird. Sisi nimmt Geld an. Mehr macht er nicht. Die Hilfsgelder ausgewählter Bereiche für die ägyptische Armee waren zwar Zweitausenddreizehn gestoppt worden, doch in guter alter Gewohnheit fließen die Dollarmilliarden aus Washington wieder genauso wie die Euromillionen für Wissenschaft und Schulen aus Berlin, und zwar unabhängig von der politischen Entwicklung in Ägypten.

So, wie bis heute vorgetragen und gesehen, bedeuten diese Unterstützungen jedoch keineswegs, dass Sisi politische oder menschenrechtliche Zugeständnisse macht. Im diplomatischen Geplänkel ist einfach keiner da, der deutlich wird und vor allem danach handelt. Niemand ist konsequent und streicht die Überweisungen der jährlichen Dollar- und Eurohilfen, sollte Sisi einen Dialog mit seinen ideologischen Gegnern über deren Freiheiten und Grundrechte weiterhin verweigern. Ägypten wird im Kampf gegen militante Islamisten in einer instabilen Region einfach zu sehr gebraucht. Das allein zählt, um Menschenrechte und eine Versöhnung der ägyptischen Gesellschaft aufzugeben.

Sisi ist schlau. Er hat den Ägyptern etwas zurückgegeben, das weite Teile beruhigt. Noch. Die Ägypter können wieder stolz sein auf ihre Nation, etwa als der neue Sueskanal in Rekordzeit errichtet worden war. Das nimmt natürlich besonders den Unzufriedenen und Protestlern im Land ihre Energie und Bedeutung. Der Präsident ist indes vor allem ein Mann des ägyptischen Militärs. Und das besitzt fast die Hälfte der Wirtschaftsmacht im Land. Ohne das Militär geht nichts, rein gar nichts. Seit Jahrzehnten übrigens, mit dem Auftritt eines gewissen Generals namens Nasser in den fünfziger Jahren. Lächerlich ist die Annahme, dass sich die Herren Generäle von irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe demokratischer Prägung, ob nun von außen oder im eigenen Land, in ihren Geschäften und Einflussnahmen stören ließen. Solange diese Soldaten über diese enorme Macht verfügen, solange tun alle, die mehr oder weniger laut und zaghaft an das Wertesystem der westlichen Welt erinnern, einzig gut daran, die Hoffnung nicht zu verlieren. Dass allein wird gleichermaßen Bürde und Aufgabe für die Zukunft sein. Auf Jahrzehnte wird Ägypten gewiss kein demokratischer Staat werden.

Sich selbst und das Land hat Sisi ohnehin längst schon auf andere Art eingebunden. Neben Russland und China, die in Ägypten gute Geschäfte machen, paktiert Sisi gerne und in großem Stil vor allem mit der Werte- und Finanzgemeinschaft potenter arabischer Staaten. Diese Clique führender Golf-Nationen, allen voran Saudi-Arabien, bevorzugt dazu einen Islam, den sie kontrollieren können, den gemäßigten, den von ihnen gelenkten. Gemeinsam marschieren sie gegen jede Islamisierung, die sie nicht brauchen können. Aus den gleichen Gründen, die Sisi für seinen Kampf gegen die Muslimbrüder fortwährend und hartnäckig proklamiert, fürchten die Scheichtümer konservative und radikalere Koran-Interpretationen, die letztlich antreten, mit Reformen von Rechtsvorschriften einmal erworbene Macht wieder zu nehmen. Ein gemäßigter Islam sichert den Status quo. Er hält die Gläubigen in ihrer Unmündigkeit.

Apropos Islam. Religion ist Opium für das Volk. Das hat einmal Karl Marx gesagt. Berührt und verführt also. Das soll auch so bleiben, liebe Ägypter! Es ziemt sich nicht, euch deswegen anzugreifen. Eure Religion ist euch heilig. Basta! So sehr sich der Geist auch wehrt, das eigene Leben mit transzendentalen Fabeln und Figuren zu bestimmen – der friedliche Islam ist wie jede andere Religion auch keine schlechte Kraft für ein Miteinander der Menschen. Wenn allerdings ein Taxifahrer nach einem von ihm verschuldeten Unfall erklärt, dass nicht er sondern Allah gefahren ist, weil allein Allah schließlich über sein Schicksal verfügt, dann will der Einfluss von Glauben auf reale Geschehnisse zumindest überdacht sein. Millionen Ägypter leben in dieser Vorstellung. Nicht, dass sie glauben, ist das Problem. Ihr chronischer Fatalismus bereitet einem Sorgen.

Ein letzter Aspekt der Vorbereitung auf das, was in den folgenden Geschichten aus eurem Land geschrieben steht. Meine ägyptischen Freunde! Weil bekannt ist, wie einfach es ist, euren Unmut zu reizen, so dass ihr euch im Wechsel des Augenblicks gar tief beleidigt fühlt, braucht es diesen Hinweis. Das, was ihr als Hohn und Spott verstehen könntet, nennt man gemeinhin Satire.

Manchmal tut Satire weh. Absichtlich. Dabei macht Satire nicht mehr, als in sprachlich überbetonter Form gesellschaftliche Zu- und Missstände zu verdeutlichen. Und die, die sich ihrer bedienen, versuchen nur, einen Ausdruck zu gestalten, mit ihren Betrachtungen etwas zu bewegen. Also! Bevor ihr die Ausländerpolizei schickt und des Landes verweisen solltet, gebt euch alle Mühe, nicht immer nur ein deutsches Auto besitzen zu wollen, wenn etwas aus Almanya kommt. Ihr könnt gerade schmunzeln? Gut so!

Wer Zorn sät

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