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Die konstitutionelle Revolution

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Das 20. Jahrhundert begann für Persien mit einer Revolution. Die Schwäche der Qajaren hatte den Boden bereitet für Forderungen nach einem konstitutionellen Rahmen für die Herrschaft des Schahs und die Einrichtung eines Parlaments. Nach Protesten sah sich Mozaffar al-Din Schah (1896–1907) am 5. August 1906 gezwungen, einen Ferman zur Einberufung eines Parlaments (mağles) zu unterzeichnen. Das kurz darauf erlassene Wahlgesetz sah eine Repräsentation nach Klassen (Qajarenprinzen, Religionsgelehrte, Großgrundbesitzer, Großhändler, sonstige Berufsstände) vor. Eine Vertretung der religiösen Minderheiten gab es nicht.103 Das Parlament hatte die Aufgabe, eine Verfassung auszuarbeiten. Am 7. Oktober 1906 begann es mit seiner Arbeit. Als Vorlage dienten die Verfassungen Belgiens und Bulgariens sowie einige Artikel der kurz zuvor erlassenen russischen Verfassung von 1906. Der Text garantierte demokratische Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit, Briefgeheimnis, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und das Recht auf einen Gerichtsprozess gemäß definierten Regeln; besondere Rechte für die religiösen Minderheiten dagegen nicht.104

Die konstitutionelle Revolution wurde vor allem von Kräften in der Provinz Aserbaidschan getragen. Dabei stellten sich die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak ab 1908 an die Seite der Revolutionäre. Armenische Fedayi unterstützten den bewaffneten Kampf gegen reaktionäre Kräfte. Armenische Intellektuelle lieferten entscheidende Impulse für die liberale und sozialistische Bewegung.105 Die Entscheidung der armenischen Parteien zur Unterstützung der konstitutionellen Kräfte in Persien hing sicherlich auch mit der gleichzeitig im Osmanischen Reich stattfindenden jungtürkischen Revolution zusammen. Der Boden für die breite Beteiligung von Armeniern an der konstitutionellen Revolution in Persien war von den säkularen armenischen Schulen bereitet worden. An ihnen unterrichteten viele Lehrer aus dem Kaukasus. Sie waren dort politisiert worden und hatten ihre liberalen oder sozialistischen Ideen nach Persien gebracht. Außerdem waren die beiden internationalen armenischen Parteien Hnchak und Dashnak seit 1890 in Persien aktiv und hatten ihre Ideen verbreitet. Mehrere Zeitungen warben um die Gunst der armenischen Leserschaft.106

Eine Reihe von Assyrern in Urmia, vor allem ehemalige Schüler der presbyterianischen Missionsschulen und Migranten, die im Kaukasus mit sozialdemokratischen und sozialistischen Ideen in Berührung gekommen waren, unterstützten ebenfalls die revolutionären Kräfte. Allerdings waren die Christen Urmias nicht in dem dort im November 1906 gebildeten Revolutionsrat (anğomān) vertreten. Überlegungen, einen eigenen christlichen anğomān in Urmia zu bilden, wurden Anfang 1907 schnell wieder aufgegeben.107

Der Streit um die angemessene Form der Regierung Persiens spitzte sich nach der Unterzeichnung des anglo-russischen Vertrags (31. August 1907) zu. Dieser teilte Persien in eine russische Einflusszone im Norden, eine britische im Süden und eine neutrale Zone im Zentrum. Die persischen Nationalisten griffen dieses Abkommen heftig an. Der Schah versuchte den Streit zu nutzen, um die konstitutionelle Ordnung zu beseitigen. Zwei Mal ließ er den mağles von seinen persönlichen Truppen, den von russischen Offizieren trainierten Kosaken, beschießen. Ab Juni 1908 regierte der Schah wieder ohne Verfassung und Parlament. Tabriz allerdings widersetzte sich der Macht des Schahs. Die Aufständischen, die in enger Verbindung mit dem Kaukasus standen, erhielten Unterstützung von Armeniern, Tataren und Georgiern. Armenische Fedayi unterstützten die Aktivitäten der lokalen Widerstandskomitees und ihrer moğāhedīn in Tabriz, Salmas, Maku, Dilman, Khoi und Urmia. Der Schah ließ Tabriz belagern, jedoch erfolglos. Im April 1909 verlangte Russland die Aufhebung der Belagerung, damit seine dort ansässigen Staatsbürger versorgt werden könnten. Russische Truppen besetzten die Stadt. In Rasht erhoben sich ebenfalls Anhänger der Verfassung. Einer ihrer militärischen Führer war der Armenier Yeprem Khan Davitian (1868–1912). Seinen Einheiten gehörten mehrere hundert armenische Fedayi an. Mit Unterstützung armenischer und georgischer Einheiten wurde Qazvin erobert. Da sich gleichzeitig der mächtige Stamm der Bakhtiyari in Isfahan erhoben hatte, war der Schah militärisch am Ende. Im Juli nahmen die Konstitutionalisten Tehran ein, Mohammad-Ali Schah (seit 1907 Nachfolger seines verstorbenen Vaters Mozaffar al-Din) dankte zugunsten seines minderjährigen Sohnes Ahmad ab. Die Konstitutionalisten übernahmen die Macht; Yeprem Khan wurde Polizeichef. Unterdessen wurden ein Gesetz für die Wahl eines neuen mağles verabschiedet. Die Vertretung nach Korporationen wurde aufgegeben. Stattdessen erhielten nun die Minderheiten der Armenier, Assyrer, Juden und Zoroastrier je einen eigenen Abgeordneten. Bahai und Babi, die von den islamischen Religionsgelehrten als Abtrünnige betrachtet wurden, wurden ausgeschlossen.108

In Tabriz blieb die radikale Partei der Demokraten (ḥezb-e demokrāt) bestimmend. Allerdings hielten die Russen Tabriz und weite Teile des Nordens weiter besetzt. Im September 1911 unternahm ein Bruder des ex-Schah mit russischer Unterstützung einen Restaurationsversuch. Er wurde aber von den Polizeieinheiten Yeprem Khans gestoppt. Yeprem wurde daraufhin Oberkommandierender der Armee des Nordens. Allerdings verlangte nun Russland vom mağles ultimativ die Entlassung des amerikanischen Finanzexperten und die Übernahme der Kosten seiner Truppen im Nord-Iran. Der mağles gab dem nicht nach, sondern zog es im Dezember 1911 vor, sich selbst aufzulösen, ohne Neuwahlen anzusetzen. Damit war die Herrschaft des Parlaments zu Ende.109

Die katholischen Lazaristen beobachteten die revolutionären Ereignisse mit großer Zurückhaltung; sie standen an der Seite des Schahs und der etablierten Ordnung. Die amerikanischen Presbyterianer begrüßten dagegen zunächst den Ruf nach grundlegenden Freiheiten, sahen in der Folge aber im zunehmenden Einfluss des Islam auf die revolutionäre Bewegung eine Gefahr. Die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche unterstützten ebenso wie die zaristische Regierung offen die Regierung des Schahs und beklagten die Aktivitäten der Revolutionäre.110

Nach dem Scheitern der konstitutionellen Revolution beschlossen die zentralen Organe des Dashnak 1912, die Aktivitäten im Iran einzustellen. Die russische Besetzung Aserbaidschans hatte bereits zur Zerschlagung der meisten Dashnak-Zellen in der Region geführt. Von vielen persischen Nationalisten wurde der Rückzug des Dashnak als Verrat an der gemeinsamen Sache verstanden. Dies sowie die Protektion, die die christlichen Dörfer Aserbaidschans bei den Russen suchten, säte für viele Jahre Feindschaft zwischen iranischen und armenischen Nationalisten, die erst in den 1920er Jahren überwunden wurde.111

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