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2.) Das Frühmittelalter

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Europa am Ende des Karolingerreichs

Mit Beginn des 10. Jahrhunderts ist das Karolingerreich in zwei große Teile auseinandergefallen. Im Westen herrschen die Kapetinger als französisches Königsgeschlecht. Im ostfränkischen Reich wechseln sich die Dynastien in rascher Folge ab. Während westlich des Rheins ein zentralistischer Staat im Werden ist, entwickeln sich im Osten starke Territorialfürsten, die nicht so sehr das gesamte Reich sondern vor allem auch ihre eigene Territorialmacht im Auge haben. In Europa sind mittlerweile viele Königreiche entstanden, die uns auch noch heute bekannt sind: Die skandinavischen Königreiche, Polen, Ungarn, Bulgarien, Kroatien, Frankeich, England und Schottland. In Spanien herrscht das muslimische Emirat von Cordoba, während der ostfränkische König als „römischer Kaiser“ auch über einige Restgebiete des untergegangenen Imperium Romanum und damit über den größten Teil von Italien gebietet.

Abgesehen vom Emirat von Cordoba ist über ganz Europa das Christentum verbreitet. Seit die christliche Religion durch das Dekret des oströmischen Kaisers Theodosius I. (347 – 395) vom 27. Februar 380 zur Staatsreligion im gesamten damaligen Römischen Reich geworden ist, steht die junge Religion unter Staatsschutz und kann sich dementsprechend schnell ausbreiten. In den kontinentaleuropäischen Ländern ist das Christentum seitdem durch die strengen Vorgaben des Vatikans geprägt. Im östlichen, slawisch geprägten Gebiet ist die Form der Religionsausübung durch dort vorherrschende Traditionen geformt worden.

Am Weihnachtstag 800 ist Karl „der Große“ (747 – 814), der König der Franken, durch Papst Leo III. (750 – 816) zum römischen Kaiser gekrönt worden. Karl glaubt an die Theorie der „Translatio Imperii“ - also an die „Übertragung des Imperium Romanum“ an ihn und seine Nachfolger. Damit – so die Begründung dieser politischen Theorie, die sich auf die Bibel beruft – sei die Welt vor dem Untergang gefeit, der nach dem Ende der vier Reiche der Ägypter, der Perser, der Griechen und eben der Römer drohe. Mit der Übertragung an ihn, ist das römische Reich nicht untergegangen, sondern lebt in ihm und seinem Reich weiter. Da Karl den Cäsaren des Imperium Romanum nachfolgt, übernimmt er auch deren politische Hinterlassenschaften, zu denen das zur Staatsreligion erhobene Christentum gehört. Konsequenter Weise ist das Christentum auch Staatsreligion im Frankenreich. Da der Papst den Frankenkönig zum römischen Kaiser gekrönt hat und die Regentschaft mit göttlichem Segen versehen hat, sind beide eine Symbiose eingegangen: Der Papst versieht die Kaiserkrone mit seinem Segen, der Kaiser stellt den Kirchenstaat und das Christentum unter den Schutz seiner weltlichen Macht.


Das Christentum breitet sich aus und mit dieser Expansion kommt auch der Absolutheitsanspruch der christlichen Kirche über den europäischen Kontinent. Mit der Krönung Karls zum römischen Kaiser steht der Papst unter weltlichem Schutz, seine päpstliche Interpretation der Bibel prägt die gesamte damals bekannte, nichtislamische Welt. Von Rom aus steuern die Päpste fortan das religiöse Leben in Europa und können allmählich auch Einfluss auf die Politik nehmen.

Pornokratie

Aber das Papsttum im frühen Mittelalter ist nicht nur der Mittelpunkt der christlichen Welt, sondern erliegt zeitweise auch weltlichen Verlockungen. Zwischen 904 und 963 verkommen die Papstwahlen zu einer Farce, da sie den politischen Ränkespielen ihrer Zeit geopfert werden. Zudem hat der Vatikan in jenen Jahren offenbar unter dem unguten Einfluss eines Mutter-Tochter-Gespanns gestanden, dem es beinahe gelungen wäre, den Vatikan in ein päpstliches Freudenhaus zu verwandeln. Jedenfalls verwendet der renommierte Kirchenhistoriker Cesare Baronius (1538 – 1607) in seinem 1603 erschienenen Werk für diese Epoche den Begriff „Pornokratie“. Ein weiterer Zeuge der Zustände ist der Historiker und Bischof von Cremona, Liutprand von Cremona (920 – 972). Wie korrekt diese erstaunliche Bezeichnung ist, verrät ein Blick in die Annalen der römischen Kurie. In den Augen der Chronisten wird der Vatikan in dieser Zeit tatsächlich von einem Hurengespann geleitet. Es handelt sich um ein Frauen-Tandem, Theodora (894 – 950) und Marozia (890 – 937), die beide Mätressen diverser Päpste sind.

Die Geschichte des Papsttums gleicht in diesen Jahren einer Räuberpistole. Besonders hemmungslos wird der christliche Kodex unter Sergius III. (850 - 911) mit Füßen getreten. 904 inszeniert er mit dem Ehemann seiner Mätresse Marozia, Herzog Alberich I. von Spoleto (889 – 925) einen Marsch auf Rom und lässt sich anschließend unter dem militärischen Schutz des Herzogs zum Papst weihen. Diesem ziemlich merkwürdigen Machtgebaren folgt ein Blutrausch, dem seine beiden Vorgänger und zwei christliche Mitbrüder zum Opfer fallen. Kommentatoren dieser Zeit bezichtigen den Stellvertreter Christi auf Erden, „ständig grenzenlose Abscheulichkeiten mit leichten Frauen“ zu begehen, womit sie nicht nur Sex mit Minderjährigen gemeint haben. Sergius III. ist offenbar „ein Sklave eines jeden Lasters und ein äußerst gottloser Mensch“, heißt es in den Überlieferungen weiter.

Im Mai 946 wird mit Johannes XII. (939 – 964) ein Sohn Alberichs I. auf dem Heiligen Stuhl platziert. Er trägt den Beinamen „der Schlechte“ und das nicht zu Unrecht. Denn Papst Johannes XII. ist Atheist, hat jede Menge Geliebte beiderlei Geschlechts, mit denen er geradezu unglaubliche Orgien im Vatikan feiert. Der für seine papstkritischen Bemerkungen bekannte zeitgenössische Chronist Liutprand von Cremona berichtet nicht nur von einem Bordell im Vatikan, sondern auch noch von Mordanschlägen, Inzest, Simonie und einer Jagd- und Spielleidenschaft des Papstes, so dass der Vorwurf der permanenten Gotteslästerung nicht weiter ins Gewicht fällt. Sein Verhalten ist derart skandalös, dass ihm der Prozess gemacht werden soll. Die förmliche Anklage liest sich so:

„Wisset denn, nicht wenige, sondern alle, sowohl Weltliche als auch Geistliche, haben Euch angeklagt des Mordes, des Meineids, der Tempelschändung, der Blutschande mit Eurer eigener Verwandten und mit zwei Schwestern. Sie erklären noch anderes, wovor das Ohr sich sträubt, dass Ihr dem Teufel zugetrunken und beim Würfeln Zeus, Venus und andere Dämonen angerufen habt.“

Über den Tod von Johannes XII. gibt es unterschiedliche Berichte. Vermutlich ist der Papst während eines Geschlechtsaktes mit einer verheirateten Römerin von deren Ehemann überrascht und mit mehreren wilden Hammerschlägen aus dem Leben befördert worden. Eine Synode hat ihn 991 zu Recht „ein Ungeheuer ohne jede Tugend“ genannt.

Italienische Verhältnisse

Zweifellos sind diese knapp 60 Jahre des Papsttums kaum mehr als die Geschichte einer kriminellen Vereinigung gewesen. Der christliche Kodex ist mit Füßen getreten worden und nicht wenige Päpste in dieser Zeit haben ihren weltlichen Lastern ausgiebiger gefrönt als sie sich mit der Verbreitung der christlichen Lehre beschäftigt haben. Mit der Absetzung von Papst Johannes XII. hat diese beschämende Periode ein Ende gefunden.

Gleichzeitig wird in diesen Jahren auch ein anderer Konflikt deutlich. Denn die Päpste stehen unter zunehmendem Druck einiger mächtiger oberitalienischer Familien, die mehr Einfluss fordern, Gebietsansprüche stellen und mit dem Papstamt liebäugeln. Eine dieser Familien wird von Berengar II. von Ivrea (900 – 966) angeführt, der den Kirchenstaat dauerhaften Attacken aussetzt. Berengar II. will sich den Kirchenstaat einverleiben und – wenn es geht - auch noch den Rest von Italien. Berengar II. ist Nachfahre Karls „des Großen“ und Markgraf von Ivrea, dessen Hausmacht im Norden Italiens in der Nähe von Mailand und Turin liegt. Neben dem Papst hat Berengar II. mit dem italienischen König Hugo I. von Arles (887 – 947) noch einen weiteren Gegner.

Für den Papst ist das eine schwierige Lage, denn er hat weder eigene militärische Möglichkeiten, noch kann er auf Nachbarn hoffen, die ihm zu Hilfe eilen. Deshalb entsinnt sich Johannes XII. wie sein Vorgänger Leo III. vor 150 Jahren eines starken weltlichen Herrschers, der ihm in dieser bedrohlichen Situation helfen könnte. Damals sind es die kampferprobten Langobarden gewesen, die Leo III. das Leben schwer gemacht haben, nun sind es norditalienische Territorialherren, die Johannes XII. in Angst und Schrecken versetzen. Damals ist der Frankenkönig Karl zu Hilfe gekommen – nun soll es ein Sachse sein, der hilft, die italienischen Verhältnisse zu klären.

Heinrich I.

Mit Heinrich I. (876 – 936) sitzt im Jahr 919 der erste Sachse auf dem ostfränkischen Königsthron. Nachdem er 921 den Gegenkönig Arnulf von Bayern (ca. 870 – 937) unterworfen hat, ist seine Machtposition unumstritten. Heinrich I. steht vor schweren Problemen, als er sein Amt antritt, denn die Ungarn sind Anfang des neuen Jahrhunderts von den Petschenegen aus ihrer ursprünglichen Heimat an den nordwestlichen Ufern des Schwarzen Meeres vertrieben worden und haben sich bei der Suche nach neuen Siedlungsräumen in Richtung Kontinentaleuropa aufgemacht. Dabei stellen sie sich nicht zimperlich an. Die Beschreibungen ihrer Überfälle lassen jedenfalls an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig. Raub- und Plünderungszüge führen die ungarischen Heere nach Mähren, Kärnten, Sachsen, Thüringen und schließlich nach Bayern bis zur Lech, deren Ufer mehrfach mit dem Blut erschlagener Soldaten getränkt werden.

Mit Heinrich I. tritt den Hunnen aber ein Kriegsherr entgegen, der ihnen in nichts nachsteht und mit gleicher Brutalität gegen seine Gegner vorgeht. Die Kriege, die dieser Heinrich in seinem Leben geführt hat, sind kaum zu zählen, einige hat der sächsische Geschichtsschreiber Widukind von Corvey (925 – 973) notiert:

„er überfiel 928 plötzlich die Heveller. Er zermürbte sie in zahlreichen Gefechten (…) und nahm schließlich deren Hauptort Brandenburg durch Hunger, Schwert und Kälte. Nun wandte er sich gegen die Daleminzen. (…) Er belagerte ihre Stadt Gana und nahm sie nach 20 Tagen. Er überließ sie seinen Kriegern zur Plünderung; alle Männer wurden getötet, die Knaben und Mädchen als Sklaven weggeführt. Hierauf zog er mit seiner ganzen Streitmacht nach Prag, der Hauptstadt der Böhmen …“

929 erreicht Heinrich I. einen neunjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn, in dem er sich bereit erklärt, Tributzahlungen an sie zu entrichten. Gleichzeitig lässt er das Land mit Schutz- und Trutzburgen überziehen, er bewaffnet einen Teil der Bauernschaft und stellt überall im Land gepanzerte Reiterheere zusammen. Vier Jahre später kündigt er die Tributzahlungen auf, woraufhin eine ungarische Streitmacht an den Grenzen zu Sachsen und Thüringen auftaucht.

Am 15. März 933 kommt es zwischen Heinrichs Heer und den Ungarn zur Schlacht an der Unstrut, einem Nebenfluss der Saale im heutigen Sachsen – Anhalt. An der Schlacht haben offenbar alle Völker des ostfränkischen Reiches teilgenommen - also Bayern und Schwaben genauso wie Franken, Lothringer, Sachsen oder Thüringer. Genau wie nach der Schlacht von Tours und Poitier, als 732 Karl Martell, der Großvater von Karl „dem Großen“, die von Spanien nach Mitteleuropa vorrückenden Mauren geschlagen hat, ist nun Heinrich I. so etwas wie der von Gott bestätigte „Beschützer der Christenheit“.

Der sächsische Geschichtsschreiber Widukind von Corvey, der in drei Büchern die Geschichte der Sachsen bis etwa 970 niedergeschrieben hat, nennt den ostfränkischen König „Vater des Vaterlandes und Imperator“. Die Regentschaft des Sachsen Heinrichs I. ist aber nicht nur wegen der erfolgreichen Bekämpfung der ungarischen Heere und wegen der Unterwerfung der Heveller im heutigen Brandenburg von Bedeutung. Mit seiner Krönung sitzt zum ersten Mal ein Herzog auf dem Königsstuhl, der weder Karolinger noch Franke – also Angehöriger der „Gründungsfamilien“ des fränkischen Reichs - ist. Heinrich I. ist vielmehr Herzog der Sachsen, um deren Unterwerfung Karl „der Große“ bis 804 hart hat kämpfen müssen. Etwas mehr als 100 Jahre nach dieser besonders brutalen Unterwerfungsaktion Karls, die ihm zeitweise den Namen „Sachsenschlächter“ eingebracht hat, bekommt der Sachse Heinrich die Zustimmung zu seiner Wahl zum ostfränkischen König von Franken, Bayern, Thüringern, Westfalen und Schwaben. Zwei Jahre später – 921 – scheint diese Gemeinsamkeit aber wieder zu zerbrechen, denn Bayern und Sachsen wählen mit Arnulf von Bayern einen Gegenkönig, der aber gegen Heinrich I. unterliegt.

Zum ersten und wahrlich nicht zum letzten Mal tritt die Uneinigkeit im ostfränkischen Reich zu Tage. Zwar sind es erst wenige Stämme, die das Land in der Mitte Europas besiedeln, aber auch diese wenigen können sich nicht auf eine gemeinsame Zentralgewalt einigen. Im westfränkischen Reich tritt dieses Auseinanderdriften von zentralen und partikularen Interessen nicht so sehr in den Vordergrund wie in Ostfranken. Eine Markierung, die bis weit ins 19. Jahrhundert so bleiben sollte.

Aus dem alten Reich Karls „des Großen“ entsteht im Osten also ein Reich, in dem der König zwar einerseits „König der Franken“ genannt wird. Andererseits aber entfernt sich das ostfränkische Reich in seiner politischen Tradition immer mehr vom alten gesamtfränkischen Reich. Parallel zu dieser Distanzierung vom Ursprung des fränkischen Großreichs läuft auch die zunehmende Entfremdung zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des ehemaligen Karlsreichs. Das, was viele Jahrhunderte später sich als Deutschland und Frankreich gegenübersteht, nimmt von nun an einen eigenständigen nicht selten entgegengesetzten Weg. Aus den Brüder und Schwestern im Frankenreich Karls werden Konkurrenten um die Macht in Europa – bevor sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder einander näher kommen werden. Dazwischen liegen viele unheilvolle Entwicklungen, die in der so genannten „Erbfeindschaft“ und vielen Kriegen ihren Ausdruck finden.

Otto I.

Als Heinrich I. stirbt, folgt ihm 936 sein Sohn Otto I. (912 – 973), den er schon vorher zum Mitregenten erhoben hat. Otto I. wird ohne großen Widerspruch der übrigen Stammesherzöge gewählt. Der neue König überragt seine Mitmenschen um Haupteslänge; ein gesunder Menschenverstand und vor allem seine praktische Schläue sind überliefert. Von Anfang an steht er aber vor nicht unerheblichen innenpolitischen Schwierigkeiten, die ihm vor allem die Verwandtschaft bereitet. Denn schon kurz nach seiner Krönung fordert Otto I. die Unterwerfung der Herzöge und Landesfürsten unter seine Königsmacht. Die aber haben andere Pläne und machen damit ein weiteres Dilemma offenkundig, dem sich fortan alle Könige und Kaiser im Osten des alten Karlsreiches zu stellen haben.

Denn die Landesfürsten wollen ebenfalls einen Teil der Macht der Zentralgewalt. Wünscht der König die Unterwerfung verbunden mit dem Treueschwur, dann ist eine entsprechende Gegenleistung fällig – Geld zum Beispiel oder eigene Steuern und Zölle oder andere Privilegien. Ist der König stark, hat er eine eigene Hausmacht, dann kann er den Fürsten gegenüber Stärke zeigen und überhöhte Ansprüche abweisen. Andernfalls muss er nachgeben.

König Otto I. macht sich zu Beginn seiner Regentschaft daran, seine Macht abzusichern. 936 erzwingt er an der Spitze eines starken Heeres vom dänischen König und von den Slawenstämmen zwischen Elbe und Oder die Anerkennung seiner Königswürde. Auch gegenüber seinen Brüdern Thankmar (900 – 938) und Heinrich (919 – 955), die sich 939 gegen ihn erheben, reagiert er mit militärischer Härte. Thankmar stirbt während eines Aufstands gegen Otto I. beim Versuch, seinen Halbbruder zu befreien. Heinrich unterwirft sich 941, nachdem ein weiterer Versuch gescheitert ist, Otto I. aus dem Amt zu verdrängen. Auch die Herzöge Giselher von Lothringen (890 – 939) und Eberhard von Franken (855 – 939) scheitern mit ihren Aufständen gegen Otto I.

Familienherzogtümer und Reichskirchensystem

Den partikularen Bestrebungen der Landesfürsten setzt König Otto I. ab 944 eine wachsende Zahl so genannter „Familienherzogtümer“ entgegen. Lothringen geht an seinen Schwiegersohn Konrad „den Roten“ (922 – 955), Bayern an seinen Bruder Heinrich und Schwaben an seinen Sohn Liudolf (930 – 957). Das stellt einen massiven Eingriff in die bisherige Ordnung dar und ruft die entsprechenden Reaktionen hervor. Die Herzöge planen Pfingsten 941 einen Mordkomplott. Aber der Plan fliegt auf, die Rebellion bleibt ohne Folgen. Der Streit aber wird Europa über viele Jahrhunderte in Atem halten, denn die Mitte des Kontinents bleibt lange instabil, weil die Verteilung der Macht in diesem geostrategisch höchst interessanten Gebiet umstritten ist. Während westlich des Rheins die Macht der Fürsten gebrochen und damit alsbald der Weg frei sein sollte für eine „vornationale“ Staatlichkeit, geht es im Osten des alten Karlsreiches um die Frage, ob dieser Teil des alten fränkischen Großreichs in viele kleine, kaum überlebensfähige Territorien auseinander brechen würde.

Auf Grund der Erfahrungen mit seiner aufmüpfigen Familie zieht Otto I. die Mitglieder des hohen Klerus auch für weltliche Aufgaben heran, indem er ihnen bedeutende Staatsämter überträgt und sich damit eine eigene Machtbasis aufbaut. Meist stammen die Kirchenmänner aus wichtigen Familien, sind gut ausgebildet und können deshalb Verwaltungsaufgaben besser erledigen als die Kriegsherren des hohen Adels. Otto I. gewährt den Kirchen Königsschutz und Immunität und nimmt sie als „Reichskirchen“ in den Schoß der weltlichen Macht auf. Neben den wichtigen Staatsämtern bekommen die Kirchenmänner auch noch Reichs- und Kirchengut als Lehen. Für Otto ist das relativ ungefährlich, denn die geistlichen Würdenträger sterben – normalerweise jedenfalls – kinderlos und unverheiratet, so dass ihre Ämter und Lehen nach fränkischem Lehnsrecht wieder an den König zurück fallen, der sie dann immer wieder an vertrauenswürdige Männer weitergeben kann. Diese Verfahrensweise greift aber in die Vollmacht des obersten aller Christen ein, denn eigentlich ist nur der Papst berechtigt, Bischöfe oder Äbte in ein Amt einzusetzen. Bei Otto I. ist das kein Problem, da er ein ausgezeichnetes Verhältnis zum Primas der christlich-römischen Kirche hat. Später entzündet sich über dieses Recht der „Investitur“ eine heftige Auseinandersetzung – der „Investiturstreit“, der 1077 mit dem „Gang nach Canossa“ enden wird. Zunächst aber hilft dieses „Reichskirchensystem“ das Reich zu stabilisieren.


Stabilisierend wirkt auch das Grenzsicherungssystem der so genannten „Marken“. Vor allem im Süden des Reiches wird die „Ostmark“ als Abwehr-Bollwerk gegen die Ungarn große Bedeutung bekommen. 996 ist „Ostarrichi“ entlang der Donau gelegen; im Laufe der Zeit verschiebt sich „Ostarrichi“ immer weiter nach Süden. Später entstehen daraus Österreich, die Steiermark und Krain. Rund 1000 Jahre später wird Adolf Hitler (1889 – 1945) beim so genannten „Anschluss Österreichs“ am 15. März 1938 verkünden, „die älteste Ostmark des deutschen Volkes zum jüngsten Bollwerk des Deutschen Reichs“ zu machen:

„Ich proklamiere für dieses Land seine neue Mission. Sie entspricht dem Gebot, das einst die deutschen Siedler aus allen Gauen des Altreichs hierher gerufen hat. Die älteste Ostmark des deutschen Volkes soll von jetzt an das jüngste Bollwerk der deutschen Nation und damit des deutschen Reiches sein!“

Dabei hat er sich auf die politischen Verhältnisse des Mittelalters der Jahrtausendwende bezogen, als die Bewohner „Ostarrichis“ zweifellos Mitglieder des ottonischen Reiches gewesen sind! Ein makabres Beispiel wie Geschichte willfährigen Interpretationen anheimfallen kann.

Die Schlacht auf dem Lechfeld

Ottos I. Regentschaft ist von unzähligen Schlachten gekennzeichnet, die für den Bestand des ostfränkischen Reiches von großer Bedeutung gewesen sind. Denn zur Mitte des 10. Jahrhunderts sind die brandschatzenden ungarischen Truppen zu einer echten Plage geworden. Kein Dorf, kein Hof und kein Kloster ist mehr sicher gewesen vor den Plünderern, die im wahren Sinne des Wortes „über Leichen“ gegangen sind. Die Angst der Menschen vor den marodierenden Banden ist inzwischen so groß geworden, dass Otto I. sich zum Handeln gezwungen sieht. Also zieht er in die Schlacht und besiegt die Hunnen 955 auf dem Lechfeld in der Nähe von Augsburg vernichtend. Bei dieser legendären Schlacht, nach der die Ungarn endgültig aus dem ostfränkischen Reich vertrieben sein werden, führt Otto I. ein Heer an, dessen Soldaten aus fünf Herzogtümern stammen. Er ist zwar der König des gesamten ostfränkischen Reichs, er befehligt aber nur „seine“ sächsischen Ritter. Die anderen kommen aus Thüringen, Böhmen, Franken oder Schwaben – und als Angehörige dieser Stämme fühlen sie sich auch! Die Angehörigen der verschiedenen Stämme haben gemeinsam in einem Heer gekämpft, weil die Bedrohung in diesem Fall durch die Übergriffe der Hunnen weit schwerer gewogen hat, als der Wunsch nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von einem ostfränkischen König. Den Territorialherren geht es vor allem um die Erhaltung ihrer Stämme und Herzogtümer. Sie begeistern sich zwar an der Kriegskunst und der Tapferkeit des Königs und sie folgen ihm scheinbar bedingungslos. Herz und Seele aber hängen an ihren Schollen, ihren Wäldern und Seen, ihren Klöstern und Dörfern, den kleinen Städten und an dem von ihnen mühsam bewirtschafteten Grund und Boden. Das alles muss verteidigt werden – nicht der „Staat“ oder das „Reich“ – und gegen die anstürmenden Hunnen geht das in diesem Moment eben nur mit einem gemeinsamen Heer. Manche Historiker sehen in dieser gemeinsamen Schlacht der „deutschen“ Stämme dennoch den Beginn oder die Keimzelle eines deutschen Staates.

Zudem bildet sich trotz aller Partikularinteressen um die Jahrtausendwende eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das die „deutsch Sprechenden“ immer dann unter einem Dach vereint, wenn eine bedrohliche Situation von außen den Bestand des Reiches gefährdet. Trotzdem ist im östlichen Teil des alten Frankenreiches die Bindung der Menschen an die unmittelbare Umgebung, an das eigene Herzogtum oder den Stamm sehr viel stärker ausgeprägt als die Hinwendung zu einem gesamtstaatlichen Gebilde, das von einem König oder Kaiser angeführt wird. Die Einzelinteressen der Landes- und Provinzfürsten sind stärker als das Interesse am gemeinsamen Staat. In dem ausgeprägten föderalen Charakter der Bundesrepublik Deutschland, in der die Bundesländer gesetzlich verbriefte Mitspracherechte haben, sind heute noch die Ausläufer dieser frühmittelalterlichen Überzeugung zu entdecken.

Im Westen wie im Osten des alten Frankenreichs kristallisieren sich also eigenständige Gebilde heraus. Im Westen herrschen seit 888, als Odo von Paris (ca. 866 – 898) zum König gekrönt worden ist, die Robertiner. Die sächsischen Ottonen haben sich im Osten durchgesetzt. Etwas anders war die Lage im Süden, also im heutigen Italien. Dort ist Sizilien von den Arabern erobert worden und wird die nächsten 250 Jahre unter muslimischer Herrschaft stehen. Die unmittelbare Nähe von muslimischen Truppen zum Kirchenstaat sorgt immer wieder für Unruhe und eine latente Gefahrenlage auf der italienischen Halbinsel, in deren Mitte sich der unbewaffnete Kirchenstaat befindet. Die Päpste empfinden ihre geopolitische Lage zwischen Sizilien im Süden und diversen rivalisierenden Familienclans auf dem Festland als zunehmend ungemütlich. Der italienische König Hugo von Arles (887 – 947) steht in einer Dauerfehde um die Macht in Italien mit Berengar II. von Ivrea seinem mächtigsten Widersacher.

Konflikte in Italien

Der Streit zwischen König Hugo und Berengar II. eskaliert zu Beginn der 40er Jahre des 10. Jahrhunderts. Hugo will Berengar stürzen, um ihn als Konkurrenten auszuschalten. Diese Aussicht treibt den Fürsten von Ivrea zur Flucht über die Alpen an den Königshof von Otto I., der ihm 941 Unterschlupf gewährt. Mit der Duldung Ottos I. erobert Berengar II. vier Jahre später Teile Norditaliens zurück, wird als Befreier begrüßt und übt fortan in diesem Teil des Landes die Macht aus. 946 dankt Hugo von Italien ab, die Regierungsgewalt geht zwar formell auf Lothar II. (928 – 950), den 18jährigen Sohn von Berengar II. über. Tatsächlich aber regiert der immer mächtiger gewordenen Berengar II. von Ivrea selbst. Vier Jahre später stirbt Lothar II. überraschend - wie es heißt. Vermutlich hat Berengar II. ihn vergiften lassen. Als Berengar II. sich zum italienischen König nun auch offiziell ausrufen lässt, hat er aber den nächsten Coup schon im Auge.

Denn Berengar von Ivrea plant nun die durch den Tod seines Sohnes Lothar II. eben zur Witwe gewordene Adelheid von Burgund (932 – 999) mit einem weiteren seiner Söhne zu verheiraten. Adelheid würde als italienische Königin einen Nachkommen als Erben einsetzen und damit eine Dynastie auf dem italienischen Königsthron begründen. Deshalb will Berengar einen seiner Söhne mit ihr verheiraten und so die Dynastie Ivrea begründen. Aber er hat nicht mit der Widerspenstigkeit der jungen Witwe gerechnet, denn die lehnt sein Ansinnen entschieden ab. Daraufhin beraubt und misshandelt er sie, um sie anschließend in Garda gefangen zu setzen. Die Überlieferung berichtet dann von einem Priester namens Martin. Martin hat Erbarmen, befreit 951 Adelheid nebst Tochter Emma und sorgt für ihr weiteres Überleben.

Adelheid hat offenbar gute Verbindungen im Land und lanciert einen Hilferuf an Otto I., der sie daraufhin befreit. Aber es bleibt nicht nur bei einer schnöden Befreiungsaktion. Otto I. heiratet ein Jahr später die als tugendhafte und vorbildliche Christin beleumundete Adelheid von Burgund. Das Pikante an dieser Hochzeit ist die Tatsache, dass Otto I. wegen der Herkunft seiner Frau nun auch der rechtmäßige König in Italien sein könnte. Er nimmt die Krone aber nicht selber an, sondern lässt Berengar II., der ja seit dem Tod seines Sohnes Lothar als italienischer König fungiert, im Amt. Berengar muss lediglich am 7. August 952 einen Treueeid gegenüber Otto I. leisten, der damit de facto die Macht in Italien ausübt.

Otto kommt angesichts seiner Familie nur schwer zur Ruhe, denn die Ehe Ottos mit der schönen Adelheit macht mehr Schwierigkeiten als gedacht. Ottos Sohn Liudolf aus der ersten Ehe mit Editha (910 – 946), der Halbschwester des englischen Königs, fürchtet um die Thronfolge, falls der zweiten Ehe seines Vaters ein Stammhalter beschert sein sollte. Der offene Zwist, der das Land in eine schwere Krise stürzt, beginnt Weihnachten 951 als Liudolf in Saalfeld eine Zusammenkunft mit den Fürsten nutzt, um ein Komplott gegen Otto zu schmieden. Liudolf gelingt es, mit seinem Schwager Konrad „dem Roten“ weitere Fürsten zu gewinnen, aber der Plan, Otto zu entmachten, schlägt fehl. Adelheid bringt 952 mit Heinrich (952 – 954) einen ersten Sohn zur Welt, er soll Ottos Nachfolger werden. Aber der Junge stirbt schon zwei Jahre später. Doch in den folgenden Jahren bringt Adelheid mit Bruno (953 – ca. 980) und Otto (955 - 983) zwei weitere Jungen und Mathilde (954 – 999), die spätere Äbtissin von Quedlinburg, zur Welt.

Im März 953 bricht der Aufstand des frustrierten Sohnes Liudolf aus. Zunächst scheint es so, als könnte die Rebellion klappen. Als Otto hört, dass Mainz in die Hände seiner Feinde gefallen ist, beginnt er im Sommer 953 mit der Belagerung der Stadt. Aber der Konflikt ist militärisch nicht zu lösen gewesen, sodass der Streit auf dem Verhandlungswege beigelegt werden muss. Nicht nur der Aufstand seines Sohnes und die Bedrohung durch die Hunnen schwächt zeitweise die Herrschaft Ottos. Innerhalb von zwei Jahren sterben eine Reihe wichtiger politischer Akteure, so dass Otto I. ständig gezwungen ist, die Machtbalance im ostfränkischen Reich neu zu justieren. An neuerlichen Turbulenzen in Italien dürfte er in diesen Jahren sicher kein Interesse gehabt haben, aber sie bleiben nicht aus.

Angriff auf das „Patrimonium Petri“

Denn ein weiterer Sohn Berengars II. – namens Wido (949 – 965) – hat mittlerweile auch Gefallen an der Macht gefunden und 959 das Herzogtum Spoleto erobert. Das ist nicht irgendein Herzogtum gewesen: Spoleto grenzt im Süden an den Kirchenstaat und eignet sich bestens zum Angriff auf das „patrimonium petri“. Angesichts des kriegslüsternen Wido und des nicht minder entschlossenen Berengar II. fühlt sich Papst Johannes XII. in Rom in seiner Haut nicht mehr wohl. Die Lage wird immer prekärer, als Berengar II. von Ivrea eine schwere Krankheit Ottos und die Reichskrise durch den Aufstand seines Sohnes Liudolf ausnutzt, um seine Macht in Oberitalien weiter auszubauen. Im September 957 stirbt Liudolf während einer Mission im Auftrag seines Vaters in Oberitalien, was Berengar weiter in Richtung Kirchenstaat vordringen lässt. In dieser heiklen Situation ersucht Johannes XII. den ostfränkischen König um Hilfe. Genau wie rund 160 Jahre zuvor Karl „der Große“ leistet nun Otto I. dieser Bitte im Herbst 960 Folge.

Der Zug nach Rom wird akribisch vorbereitet. Für den Fall seines Todes lässt er auf einem Hoftag zu Worms seinen noch minderjährigen Sohn Otto II. zum Mitregenten krönen. Pfingsten 961 huldigen ihm die höchsten kirchlichen Würdenträgern des Landes. Aber all das kann über das Risiko eines Italienzuges nicht hinwegtäuschen, denn die praktische Herrschaft ist an seine Anwesenheit geknüpft. Er hat alle wesentlichen Funktionen des Landes auf sich und seine Verwandten bezogen. Das hat gut funktioniert, so lange er selber im Lande gewesen ist. Jetzt muss sich erweisen, ob Netz der Verwandten, Freunde und Getreuen, mit dem er das Land überzogen hat, halten wird.

Der Feldzug nach Italien beginnt im August 961 mit der beschwerlichen Überquerung der Alpen über den Brenner. Weihnachten ist das Heer bei Pavia. Als Berengars Gefolgsleute die Übermacht Ottos erkennen, weigern sie sich zu kämpfen. Otto erklärt den geflohenen Berengar für abgesetzt. Der entmachtete Berengar verschanzt sich auf einer seiner Festungen, wo er sich zwei Jahre später ergeben muss. In einer für ihn demütigenden Zeremonie unterwirft er sich Otto I., in dem er vor ihm kniend sein Schwert übergibt. Anschließend wird er in Bamberg ins Gefängnis gesteckt, wo er bis zu seinem Tod 966 auch bleibt. Otto hingegen zieht weiter nach Rom.

Kaiserkrönung Ottos I.

Am 1. Februar 962 empfängt ihn Johannes XII. freudig vor den Toren der Stadt und krönt ihn am nächsten Tag als Dank für die rasche Hilfe zum Kaiser des „Römischen Reichs“. Auch seine Frau Adelheid wird gesalbt und gekrönt und erhält so den gleichen Rang wie Otto. Das ist etwas Neues, denn bis dahin ist noch keine Frau eines Königs oder Kaisers mit gesalbt und gleichsam inthronisiert worden. Für das kaiserliche Paar bedeutet die gemeinsame Krönung auch ein gemeinsamer Besitz – nämlich Italien, zumindest der von Arabern nicht besetzte Teil Italiens.

Nach Karl „dem Großen“ ist nun der Sachse Otto I. der zweite Kaiser des Heiligen Römischen Reichs nach dem Untergang des Imperium Romanum 476. Am Tag nach der Krönung erfolgt die Gegenleistung des frisch gekürten römisch-deutschen Kaisers: In einer Prunkurkunde in Goldschrift auf purpurgefärbtem Pergament erneuert Otto den Pakt, mit dem schon Karl „der Große“ den Stellvertretern Christi auf Erden die Besitzungen des „Patrimonium Petri“ bestätigt hat.

Aber sein „Privilegium Ottonianum“ spricht dem Papst weitere Gebiete zu, die bis dahin zum Königreich Italien gehört haben. Da Otto I. aber seit der Heirat mit Adelheid König eben dieses italienischen Reichs ist, kann er leichten Herzens die Gebietsabtretungen beurkunden. Ferner hält die Urkunde fest, dass es in Zukunft keine Papstwahl geben werde, ohne dass der Kandidat Otto oder einem seiner Nachfolger vorgestellt worden ist. Man könnte also sagen, ein Pakt auf Gegenseitigkeit oder eine win-win-Situation: Otto ist römisch-deutscher Kaiser geworden, der Papst hat die Erneuerung der karolingischen Schenkung und noch ein bisschen mehr sowie den Schutz der weltlichen Macht bekommen.

„Renovatio Imperii“

Otto „der Große“ ist der erste in der langen Liste der „römisch-deutschen Kaiser“. Karl „der Große“ ist zwar auch Kaiser gewesen - aber ein fränkischer. Karl hat bei seiner Kaiserkrönung das fränkische Gesamtreich repräsentiert, Otto I. „nur“ den östlichen, später deutschen Teil. Die Bezeichnung „römisch-deutsch“ hat sich in der Forschung etabliert, um eine Unterscheidung zwischen den Kaisern der römischen Antike einerseits und den deutschen Kaisern der späteren Jahrhunderte andererseits zu haben. Kurze Zeit nach Otto wird aus dem „Ostfrankenreich“ ein „Regnum teutonicum“ oder ein „Regnum Teutonicorum“ – also ein „Königreich der Deutschen“.

Wie bei der Kaiserkrönung Karls „des Großen“ rund 160 Jahre zuvor spielt auch bei Otto I. die politische Theorie jener Jahre eine große Rolle. Nach dem oströmischen Kaiser Justinian I., der 534 versucht hat, das Römische Reich zurückzuerobern („Restauratio Imperii“ – also „Wiederherstellung des Reiches“), und Karl „dem Großen“, der 800 zum Römischen Kaiser gekrönt worden ist („Translatio Imperii“ – also „Übertragung des Reiches“), geht es nun ein drittes Mal um die Nachfolge des Imperium Romanum. Grundlage ist wieder die Theorie der vier Reiche (Babylonisches, Persisches, Griechisches und Römisches Reich) und die Vorstellung, dass mit dem Untergang des vierten Reiches das Ende der Welt gekommen sei. Mit der Krönung Karls „des Großen“ durch Papst Leo III. im Jahr 800 sei auch die Kaiserwürde des alten römischen Reiches auf den Franken übertragen worden. Otto I. führt nun eine „Renovatio Imperii“, also eine „Wiederbelebung des Imperiums“ durch.

Nach der so genannten „Translatio“, also „Übertragung“ an Karl „den Großen“, wird bei der Kaiserkrönung des Jahres 962 dieser Vorgang wiederholt, erneuert und ergänzt, denn Kaiser Otto will das Imperium „wiederbeleben“. „Übertragung“ und „Wiederbelebung“ sind die beiden ideologischen Begriffe, mit denen Otto I. sein hohes Amt begründet. Seine Kaiserwürde liegt in der direkten Tradition des römischen Kaisertums und als römischer Kaiser steht Otto I. an der weltlichen Spitze der „christianitas“ – der Christenheit. Otto I. ist der Bewahrer und Beschützer eines mittelalterlichen Imperiums, das innerhalb von etwas mehr als 400 Jahren dreimal in einem symbolischen Akt mit der römischen Antike verbunden worden ist: 534 durch Justinian I. mit der „Restauratio“, 800 mit der „Translatio“ und eben jetzt 962 mit der „Renovatio“ des Imperium Romanum.

Christliche Herrschaft

Otto ist ein durch und durch christlicher Herrscher. Er ist vollkommen verwoben mit der Vorstellung, dass seine weltliche Macht von Gott gegeben sei und dass er dessen Reich auf Erden zu verteidigen habe. Das durch die zweite Kaiserkrönung erneuerte Verhältnis zwischen Papst und Kaiser passt zudem in das Weltbild des 10. Jahrhunderts. Darin ist der Papst der alleinige Interpret der göttlichen Vorstellungen, der durch die Auslegung der Heiligen Schrift den göttlichen Willen vermittelt. Der Kaiser herrscht von Gottes Gnaden und mit päpstlichem Segen, um in einer gewalttätigen Welt für Ordnung zu sorgen. Der Papst, als Vertreter der geistlichen Welt und sein weltliches Pendant, der Kaiser, stellen eine Symbiose dar. Beide sind im Verständnis der Zeitgenossen Figuren einer von Gott gewollten Weltordnung, der niemand entfliehen kann. Papst und Kaiser sind die Basis des „christlichen Abendlandes“. Für beide stehen Amt und Ansehen auf dem Spiel, falls sie diese „göttliche Ordnung“ zerstören würden.

Aber in der Basilika des Apostel Paulus ist an jenem 2. Februar 962 noch etwas Entscheidendes geschehen: Denn mit der Kaiserkrönung Ottos I. bekommt das Oberhaupt der weltlichen Macht – der Kaiser – die Aufgabe übertragen, die römische Kirche und das Papsttum gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen und die Christianisierung Europas voranzutreiben. Fortan ist der Kaiser zum Schutz des „Patrimonium Petri“ und zur Christianisierung des Kontinents verpflichtet. Dementsprechend hat Otto I. das Ziel eines geeinten Europas unter dem Banner des Kreuzes verfolgt. Er gilt als Motor der Christianisierung vor allem im Osten Europas.

Aus den zahlreichen Beispielen seiner christlichen Mission sei auf Magdeburg verwiesen. Lange vor seiner Kaiserkrönung, möglicherweise schon vor der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Hunnen, hat Otto I. das Versprechen abgegeben und die entsprechende Urkunde persönlich signiert, das schon seit 937 existierende Kloster Magdeburg in ein Bistum zu erheben. Anlässlich einer Synode in Ravenna erhält er 967 für seinen Plan den päpstlichen Segen und Magdeburg wird Erzbistum. Der Magdeburger Dom, dessen Grundsteine in der Regierungszeit Ottos „des Großen“ gelegt worden sind, ist bis heute Zeugnis dieses Christianisierers eines Teils Osteuropas. Die Kirche aus der Zeit Ottos ist beim „Großen Brand“ in Magdeburg 1207 fast vollständig zerstört worden. An gleicher Stelle, an der der ursprüngliche ottonische Dom gestanden hat, steht die heutige Kirche, die ab 1209 erbaut worden ist.

Ost- und Westfranken

Mit der Kaiserkrönung Ottos I. ist auch eine andere Entscheidung gefallen, denn der Bruderkampf zwischen dem West- und dem Ostteil des alten Frankenreichs um die Herrschaft im Süden ist nun beendet. Der östliche, später „deutsche“ Teil des alten Frankenreichs hat mit der römischen Kaiserkrone die Hoheit über Norditalien und die Verantwortung für den Kirchenstaat bekommen. Fortan herrscht der deutsche Kaiser in Personalunion auch über den nördlichen Teil Italiens. Für das ostfränkische Reich hat das weitreichende Folgen, denn im Grunde ist es nahezu in zwei Teile aufgeteilt: In einen nördlichen Teil mit vielen selbstbewussten Herzögen in Böhmen, in Schwaben oder in Bayern und in einen südlichen Teil mit Rom als Mittelpunkt und Sitz des apostolischen Stuhls. Der Süden der italienischen Halbinsel ist mehrheitlich muslimisch besiedelt. Diese – fast kann man sagen – Spaltung des alten ostfränkischen Reichs macht das Regieren komplizierter als im Westen des alten Karlsreichs. Der Osten ist heterogener, muss viele unterschiedliche Interessen berücksichtigen und ist für die Sicherheit des Kirchenstaats verantwortlich.

Der westfränkische König Lothar (941 – 986) mag sich zwar geärgert haben, langfristig aber legt diese Weichenstellung den ostfränkischen Kaisern zunehmend mehr Lasten auf die Schultern. Die ostfränkischen Herrscher sind von nun an römische Kaiser, sie stehen an der Spitze des „Römischen Reiches“, dem seit dem 13. Jahrhundert der Zusatz „heilig“ und ab dem 15. Jahrhundert der Zusatz „deutscher Nation“ angehängt wird. Der letzte, der diesen ehrenvollen Titel trägt, ist der Habsburger Franz II. (1768 – 1835) - von 1792 bis 1806! Was mit der Kaiserkrönung Karls „des Großen“ in Rom am 1.Weihnachtstag 800 begonnen hat und mit der erneuten Übertragung der Kaiserwürde an Otto „den Großen“ im Jahr 962 fortgesetzt worden ist, endet erst mit den Wirren der napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts!

Ausgestattet mit der Machtfülle eines Kaisers ist es Ottos Ziel gewesen, ein geeintes Europas unter dem Zeichen des Christenkreuzes zu schaffen – Kolonisation und Mission gehen bei ihm Hand in Hand. Dazu gehört auch der Versuch, den Süden Italiens – die Fürstentümer Benevent, Capua und Salerno – zu erobern. Diese Mission ist zwar nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Immerhin aber kann er erreichen, dass ihm die Langobarden huldigen. Vorrübergehend kann er sogar die byzantinischen Besitzungen in Süditalien annektieren. Schließlich aber muss er sich zurückziehen, nachdem er die Anerkennung seiner Herrschaft durch das ehemalige oströmische Reich erreicht hat – im Gegenzug muss er die Eroberungen zurückgeben. Bald darauf kehrt der mittlerweile 60Jährige zurück und betreibt die Errichtung eines Bistums in Prag, um die Ostexpansion des christlichen Europas voranzutreiben. Das ist seine letzte Tat gewesen, denn Otto „der Große“ stirbt am Abend des 7. Mai 973 an den Folgen einer fiebrigen Erkältung. In sein Grab hat er die Vorstellung mitgenommen, dass die Verbindung der deutschen mit der römischen Kaiserwürde segensreich für alle Beteiligten sein würde. Doch schon die Regentschaft seines Enkels Ottos III. (980 – 1002) zeigt, dass der Spagat zwischen einer deutschen und einer römischen Kaiserschaft nicht beiden Seiten gerecht werden kann.

Polen, Böhmen und Ungarn

Die Christianisierung des von slawischen Stämmen besiedelten europäischen Ostens hat dort natürlich enorme Folgewirkungen gehabt. Polen, dessen Name sich vom westslawischen Stamm der Palonen ableitet, ist wenige Jahre zuvor aus den Herzogtümern Posen und Gnesen gegründet worden. Zwischen 960 und 992 regiert Herzog Mieszko I. (922 – 992) aus der Dynastie der Piasten. Jener Mieszko ist kein Kind von Traurigkeit gewesen, hat andere Herzogtümer unterworfen und das polnische Staatsgebiet nach und nach erweitert, so dass es seinen heutigen Ausmaßen schon relativ nahe gekommen ist. Die polnische Geschichtsschreibung markiert mit der Regentschaft von Mieszko den Eintritt Polens als „organisiertes Staatswesen“ in die europäische Geschichte. Man kann sicher im Jahr 960 noch nicht von Staatswesen in unserem heutigen Verständnis sprechen, gemeint ist wohl ehr der Beginn eines polnischen Königreichs, das sich nach und nach zu einem modernen Staat entwickelt hat.

Mieszko I. lässt sich 966 taufen und tritt damit zum Christentum über. Zugleich schließt er ein Bündnis mit dem ebenfalls christlichen Herrscher von Böhmen Boleslav II. (ca. 930 – 999), der den wohl treffenden Beinamen „der Fromme“ getragen hat. Für die Polen ist die Christianisierung keine Glaubens-, sondern eine politische Entscheidung gewesen. Die andauernden Übergriffe jener Herzöge und Grafen, die im deutsch-polnischen Grenzgebiet Jagd auf angebliche Heiden machen, stellen eine ernsthafte Gefahr für den Bestand der polnischen Herzogtümer dar. Denn die Heidenbekämpfer missionieren gleichzeitig und bringen Unruhe unter die Bevölkerung. Um das zu beenden und gleichzeitig in den erlauchten Kreis der christlichen Herrscher des Abendlandes aufgenommen zu werden, entscheidet sich Mieszko I. für das Christentum.

Auch die Ungarn haben inzwischen einen Siedlungsraum gefunden, nachdem sie weite Teile des Kontinents durch ihren scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch in der ersten Hälfte des 10. Jahrhundert gehörig durcheinander gebracht haben. Zuerst angeführt vom legendären Arpad (ca. 845 – 907) wird ihr Vormarsch unter einem seiner Nachfolger durch die Niederlage gegen Otto I. 955 am Lechfeld bei Augsburg gestoppt. Anschließend haben sich die Ungarn südlich von Polen und Böhmen niedergelassen. Am 20. August 1000 wird das Königreich Ungarn durch Stefan I. (969 – 1038) gegründet, dessen Konterfei noch heute den ungarischen 10.000-Forintschein ziert.

Spagat zwischen „Deutschland“ und „Italien“

Nach Ottos Tod im Mai 973 übernimmt sein vorher schon zum Mitregenten gekrönter Sohn Otto II. (955 – 983) das kaiserliche Zepter. Aber die Regentschaft des gerade erst 18Jährigen steht unter keinem guten Stern. Seine Bemühungen, den Süden Italiens seinem Herrschaftsgebiet einzuverleiben, scheitern 982 mit einer katastrophalen Niederlage. Nach der Schlacht bei Cotrone und einer weiteren Auseinandersetzung im Süden der Halbinsel ein Jahr später ist der Ruf des Kaisers ruiniert, das Ansehen des Amtes schwer beschädigt. Die Wirkung der Niederlage ist verheerend, denn der Kaiser hat die Schlacht gegen die muslimischen Kalbiten verloren, obwohl er das stärkere Heer gehabt hat. Zahlreiche Grafen und Fürsten sind gefallen. Keiner seiner Vorgänger hat je eine solche Schmach ertragen und so schmählich fliehen müssen, um einer Entführung an den Hof des Kaisers von Byzanz zu entkommen. Seine Herrschaftslegitimation ist nach der Niederlage angekratzt. Denn es hat zu den unumstößlichen Überzeugungen jener Zeit gehört, dass dem Kaiser, der durch den Stellvertreter Christi gekrönt worden ist, die Gnade und die Hilfe Gottes sicher sei. Die kaiserlichen Propagandisten haben unermüdlich verkündet, dass es Gott sein werde, der dem Kaiser den Sieg schenkt. Auf diesem Paradigma hat nahezu die gesamte Herrschaft beruht.

Nun aber hat Gott den Kaiser mit seinem gewaltigen Heer ausgerechnet in einer Schlacht gegen die Feinde der Christenheit im Stich gelassen. Aber warum ist der Kaiser von Gott verlassen worden? Keine einzige zeitnahe Quelle hat sich getraut, das Ausbleiben der göttlichen Hilfe in der Schlacht von Cotrone zu thematisieren. Dafür hat sich ein vielsagendes, vielleicht sogar entsetztes Schweigen ausgebreitet. Die Herzöge in Ostfranken sind erschüttert darüber, dass sich Otto II. nach den beiden Niederlagen nicht etwa nach Hause begibt, sondern mehrere Monate in Rom bleibt, wo er nach einer Malariainfektion mit nur 28 Jahren verstirbt.

Diese Nachricht hat nicht nur Trauer in der Verwandtschaft ausgelöst, sondern auch Angriffslust bei den slawischen Stämmen östlich der Elbe. Der Aufstand des Lutizenbundes umfasst die zwischen Elbe, Oder und Ostsee lebenden westslawischen Stämme der Obodriten und Liutizen, die nun eine gute Chance sehen, sich von den sächsischen Eroberern zu befreien. Das Bistum Oldenburg, die Stadt Hamburg geraten in Mitleidenschaft, auch Brandenburg wird überfallen. Das alles hat langfristige Folgen, denn erst zwei Jahrhunderte später können die von den Slawen ruinierten Bistümer wieder aufgesucht werden. Die frommen Christenmenschen registrieren die Auflehnung östlich der Elbe und die Dimension des Aufstands, sie beklagen die hohen Verluste an Menschenleben und die Brutalität, mit der die Slawen gekämpft haben. Damit ist der Erfolg der christlichen Missionspolitik, wie sie seit Otto „dem Großen“ praktiziert worden ist, zunichtegemacht. In kürzester Zeit, so lautet die Klage, ist das Missions- und Ordnungswerk Ottos I. vernichtet. Mit wenigen Ausnahmen ist das Gebiet der Slawen für lange Zeit jeglicher Christianisierung verschlossen geblieben.

Aber der Misserfolg Ottos II. und die entsprechenden Konsequenzen bei den ostfränkischen Herzögen und Fürsten macht auf ein Problem aufmerksam, das in den kommenden Jahrhunderten immer wieder sichtbar wird. Je länger und je häufiger der Kaiser des Römischen Reichs in Italien sein muss, desto heftiger treten - mitunter jedenfalls - die Probleme im ostfränkischen Kerngebiet seiner Herrschaft hervor. Das gilt auch für Otto III., der 996 in Rom von Papst Gregor V. (972 – 999) zum Kaiser gekrönt wird. Aber das geistlich – weltliche Gespann wird keine 12 Monate später auseinandergerissen, als Gregor V. einer Intrige zum Opfer fällt und von einem Gegenpapst gestürzt wird. Daraufhin muss Otto III. in Rom einmarschieren, um den in seinen Augen legitimen Papst erst auf die Beine und dann auch wieder auf den Heiligen Stuhl zu helfen. Offenbar ist er bei dieser Gelegenheit so angetan von Rom und seiner prunkvollen Schönheit, dass er der Idee verfällt, dort eine Kaiserpfalz zu errichten.

„Renovatio Imperii Romani“

Für Otto III. wird Rom zum Mittelpunkt seines Weltbildes. Von Rom aus will er das Reich regieren. Hier soll das künftige Zentrum der von ihm vereinigten geistlichen und der weltlichen Macht errichtet werden. Die „renovatio imperii Romani“ („Wiederherstellung des Römischen Reiches“) soll durch ihn ins Werk gesetzt werden, so jedenfalls hat es sich der Kaiser fernab der Heimat gedacht.

Otto III. hat aber noch weitergehende Ambitionen und will – ebenso wie der Papst – als irdischer Vertreter des Apostelfürsten gelten und sich als „servus apostolorum“ („Diener der Apostel“) ansprechen lassen. Damit beansprucht er das oberste Verfügungsrecht über den Kirchenstaat und macht deutlich, dass er sich als Nachfolger eines römischen Kaisers aus der Blütezeit des untergegangenen Römischen Reiches sieht. Ein solcher römischer Kaiser hat tatsächlich die gesamte Macht über das „Imperium Romanum“ gehabt, das sich – etwa zur Zeit Caesars - von Spanien und Frankreich über die Alpen nach Italien erstreckt und sowohl Griechenland, Kleinasien bis Byzanz und Damaskus als auch weite Teile der afrikanischen Küste umfasst hat.

Otto III. meint es Ernst und will sein Weltbild in die politische Tat umsetzen. Aber sein Tod im Jahr 1002 hat die Realisierung seiner Vorstellungen beendet, bevor er richtig damit angefangen hat. Die Zeitgenossen Ottos III. stehen seinem politischen Treiben skeptisch und ablehnend gegenüber, wie der Bericht des sächsischen Erzbischofs und Missionars Brun von Querfurt (ca. 970 – 1009) deutlich macht. Jener Brun von Querfurt hat Otto III. gut gekannt und ihn als Domherr und Hofkaplan oft nach Rom begleitet. Kurz nach dessen Tod verfasst er eine kaum deutlicher zu formulierende Kritik am Kaiser:

„Hat er auch sonst viel Gutes getan, so war er doch in einem Punkte im Irrtum. (…) denn da ihm Rom allein gefiel und er das römische Volk vor allen anderen durch Geldgeschenke und Ehren auszeichnete, wollte er für immer in Rom verweilen (…) Dies war die Sünde des Königs: Das Land seiner Geburt, das liebe Deutschland, wollte er nicht einmal mehr sehen, so groß war die Sehnsucht, in Italien zu bleiben. (…) Der gute Kaiser befand sich nicht auf dem rechten Wege, (…) denn wenn auch die Bürger (Roms) seine Wohltaten nur mit Bösem vergolten hatten, so war doch Rom der von Gott den Aposteln gegebene Sitz. Und selbst da brach die Liebe zu seinem Geburtslande, dem Sehnsucht weckenden Deutschland, nicht in ihm durch; das Land des Romulus, vom Blute seiner lieben Getreuen durchtränkt, gefiel in seiner buhlerischen Schönheit dem Kaiser immer noch mehr …“

Man erkennt in dieser Kritik das grundsätzliche Dilemma vor dem die deutschen Kaiser stehen: Die Italienpolitik wird nicht nur viel Energie und Zeit, sondern auch immensen finanziellen Aufwendungen erfordern. Bis ins hohe Mittelalter werden sie immer wieder gezwungen sein, mit Streitkräften nach Italien zu ziehen und die politischen Ränkespiele ihrer Tage zu ordnen. Das wird ihr Interesse von dem Teil des Reiches ablenken, dem sie eigentlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hätten zukommen lassen sollen: Dem deutschen Reich.

Aus dem einen Teil des Vielvölkerstaats von Karl „dem Großen“ ist in der östlichen Hälfte ein eigener Vielvölkerstaat geworden, der sich in der Zukunft als ein kompliziertes geostrategisches Gebilde erweist, das schwer regierbar ist. Das deutsche Reich wird durch Zugewinne zwar immer größer und der deutsche Kaiser ist zeitweise der mächtigste Herrscher in Europa. Aber die politischen Möglichkeiten, das Reich zusammen zu halten, wachsen nicht in gleichem Maße. Die militärische Herrschaft über Italien ist schwer zu stabilisieren und die Zentralmacht muss weite Teile ihres Einflusses an die immer stärker werdenden Fürsten und Herzöge abtreten. Diese Vorschau betrifft den östlichen Teil des alten Frankenreichs, im Westen sind die Erschütterungen nicht so spürbar, weil dort das Verhältnis zwischen der zentralen Macht und den Partikularmächten zu Gunsten der Zentrale entschieden wird.

Im westfränkischen Reich haben die Könige dafür gesorgt, dass die nach Unabhängigkeit und Einfluss strebenden Territorialfürsten sich der Zentralgewalt unterordnen. Dieser Prozess ist vor allem dadurch befördert worden, weil seit 987 die Kapetinger auf dem Thron sitzen und für die Einigung des Landes und die Festigung ihres Königtums sorgen. Sichtbarster Ausdruck der gegenläufigen Entwicklung in Westfranken ist der Auf- und Ausbau einer Regierungsstadt – nämlich Paris. Die westfränkischen Könige herrschen in einem Palast auf der Ile de la Cité, der ursprünglich von den römischen Besatzern gebaut worden ist. Eine Herausforderung für den Zusammenhalt des westfränkischen Reichs sind im die im Norden einfallenden Normannen gewesen. Seit 900 siedeln sie in der „Normandie“ und bekommen 911 das Land als Lehen zugesprochen. Die Normannen sollen in den westfränkischen Staat eingebunden werden und gleichzeitig die offene Kanalküste gegen weitere Überfälle schützen. Ohne es mit einem konkreten Datum belegen zu können, sprechen Forscher seit etwa diesem Zeitpunkt nicht mehr vom westfränkischen Reich, sondern von Frankreich.

Mit dem Beginn des 11. Jahrhunderts ist noch eine Entscheidung gefallen: Europa wird christlich geprägt sein. Einzig in Süditalien und in Spanien behindern muslimische Besetzungen das weitere Vordringen des Christentums. Spanien wird in den kommenden Jahrhunderten – ausgehend von der Grenzmark Karls „des Großen“ – Stück für Stück „zurückerobert“. In Sizilien ist die nicht-christliche Herrschaft ebenfalls zeitlich begrenzt und die „heidnischen“ Normannenherzöge im Nordwesten Frankreichs nehmen den christlichen Glauben an. Auch wenn es in Europa oft genug ganz und gar unchristlich zugehen wird, sind christliche Moralvorstellungen und Verhaltenscodizes das gemeinsame Bindemittel aller europäischen Völker.

England

Aber nicht nur die Mitte des europäischen Kontinents nimmt allmählich die Strukturen an, die uns heute noch geläufig sind. Angelsächsische Germanenstämme haben während der Völkerwanderung die britischen Inseln aufgesucht und besetzt. In den folgenden Jahren prallen dort christliche und heidnische Bräuche aufeinander, die erst mit einer Synode im Jahr 664 insofern beigelegt werden können, als die Angelsachsen ihre tradierten Bräuchen gegen die römische Kirchenordnung tauschen. In den kommenden Jahren ist die englische Kirche dem Vatikan treu ergeben, später wird es Schwierigkeiten zwischen der „anglikanischen Kirche“ und dem Papst in Rom geben. Mit Beginn des 9. Jahrhunderts aber ist die Christianisierung der Insel abgeschlossen, gleichwohl gewisse heidnische Rituale noch einige Zeit überlebt haben.

Von Dänemark kommend erscheinen 793 die ersten Wikinger in England. Die Wikinger haben einen erstaunlichen Siegeszug durch Europa hingelegt und sind dabei bis Kiew und hinter die Wolga gekommen. Zunächst setzen die Wikinger die Menschen auf der Insel in Angst und Schrecken, weil sie plündernd und marodierend durch das Land ziehen. Aber allmählich verändern die Wikinger ihre Strategie. Sie ziehen sich nach ihren Raubzügen nicht mehr zurück, sondern bleiben in England, gründen erste Siedlungen und fordern von den Nachbarn Tributzahlungen. 866 landet ein großes dänisches Heer in England, drei Jahre später stehen dänische Krieger über die Themse kommend vor den Toren Londons.

In den folgenden Jahren ist es immer wieder zu Kämpfen zwischen den einheimischen Königen und den Wikingern gekommen. In den meisten Fällen gehen die Kämpfe für die englischen Heere schlecht aus, im Umkehrschluss aber entsteht ein erstes Gemeinsamkeitsgefühl der Bewohner der britischen Inseln. Nach einigen Jahren, in denen sich Einheimische und Wikinger eigene Einflussgebiete zugesichert und geachtet haben, beginnt 980 eine zweite Welle von Wikingerangriffen. Die Angriffe erfolgen auf dem Seeweg, wo die Wikinger den Engländern weit überlegen sind. Die Engländer müssen sich der Übermacht beugen, akzeptieren hohe Tributzahlungen und legen schließlich noch einmal viel Gold und Silber auf den Tisch, um den Abzug der Wikinger zu erkaufen.

Der englische König Aethelred II. (968 – 1016) hat die Auseinandersetzung mit den Wikingern mit besonderem persönlichem Einsatz geführt, indem er die Tochter eines in der nordfranzösischen Normandie residierenden normannischen Herzogs heiratet. So gestärkt vollführt Aethelred II. ein Massaker an allen Dänen, derer er habhaft werden kann. Das Ergebnis ist eine Katastrophe, denn er muss fliehen, die Wikinger verstärken wieder ihre Angriffe und Aethelred II. hat den Grundstein gelegt, der wenige Jahre später zur Eroberung Englands durch die Normannen führen sollte. Nach seinem Tod wird der dänische König Knut „der Große“ (995 – 1035) Herrscher in England. Knut ist König von Dänemark, England, Norwegen und Südschweden in Personalunion.

Spanien

In Spanien herrscht das Emirat von Cordoba, obwohl es im 9. und 10. Jahrhundert zu schweren innermuslimischen Konflikte gekommen ist. Zeitweise stellen diese Konflikte den Bestand des Emirats in Frage. Erst als es dem achten Emir Rahman III. (889 – 961) gelingt, mehrere Revolten gegen die muslimische Herrschaft in Spanien niederzuschlagen und er zudem Al-Andalus – das heutige Andalusien – befrieden kann, gründet er das Kalifat von Cordoba. Aus dem Emirat, also einem fürstlichen Herrschaftsbereich, wird ein Kalifat, wo geistliche und weltliche Führung in der Person des Kalifen vereinigt sind. Aber es gibt auch Widerstand gegen die muslimische Besatzung Spaniens. Insbesondere im Norden an der Grenze zum Frankenreich etabliert sich mit Asturien das erste christliche Königreich, das nach der Verlegung der Hauptstadt von Oviedo nach Leon und einigen dynastischen Wirren 925 als Königreich Leon weiter existiert. Aber die christlichen Reiche in Kastilien, Navarra, Aragon oder Barcelona kämpften nicht nur gegen die Übermacht der Muslime des Kalifats von Cordoba, sondern auch sehr viel und sehr gerne gegeneinander.

Kirchenschisma

Im Vatikan durchleben die Päpste zu Beginn des 11. Jahrhunderts eine schwierige Phase. Es zeichnen sich immer deutlicher unüberwindliche Schwierigkeiten mit den christlichen Glaubensbrüdern im Byzantinischen Reich ab. Die Gegensätze zwischen den Päpsten in Rom und den Patriarchen in Konstantinopel sind vor allem machtpolitischer Natur. Leo IX. (1002 – 1054), der bedeutendste deutsche Papst des Mittelalters, hat sich als Reformer einen Namen gemacht. Er hat Priesterehe, Ämterhäufung und das Recht weltlicher Herrscher geistliche Würdenträger in ihre Ämter zu berufen - die so genannte Laieninvestitur - bekämpft. Der deutsche Papst verordnet der päpstlichen Verwaltung grundlegende Veränderungen und holt zahlreiche Reformer nach Rom. Die gregorianischen Reformen werden unter seinem Pontifikat weiter geführt und das Kardinalskollegium begründet, das bis heute als höchstes päpstliches Beratergremium fungiert. Aber Leos IX. Amtszeit ist überschattet von einem Dogmenstreit zwischen der Westkirche, deren Oberhaupt er ist, und der Ostkirche, die der Patriarch von Konstantinopel, Michael I. Kerullarios (1000 – 1059), führt. Die beiden nebeneinander existierenden Kirchen unterscheiden sich vor allem in den Auffassungen über die richtige Liturgie und die kirchlichen Dogmen. Anfang 1054 wird klar, dass sowohl Papst Leo IX. als auch das Oberhaupt der oströmischen Kirche den Führungsanspruch über die Christenheit für sich beanspruchen.

Kurz nach dem Tod Leos IX. kommt es im Juli 1054 schließlich zum endgültigen Zerwürfnis zwischen der römischen und der byzantinischen Kirche, als der päpstliche Abgesandte Kardinal Humbert von Silva Candida (1006 – 1061) nach Konstantinopel reist, um den in seinen Augen abtrünnigen Patriarchen zu bekehren. Als das misslingt, knallt er am 16. Juli 1054 eine päpstliche Bannbulle gegen Michael I. Kerullarios auf den Altar der Hagia Sophia und provoziert damit seinen eigenen Bann. Dieser ursprünglich nur auf zwei – ebenso unnachgiebige wie arrogante - Personen bezogene Bannfluch spaltet die christliche Kirche endgültig. Trotz vielfacher Versuche, die Spaltung zu überwinden, hat das Schisma bis heute Bestand.

Die Welt der mittelalterlichen Christen ist fortan in zwei Hälften auseinandergefallen. Während der europäische Kontinent weitgehend unter dem Einfluss der römischen Kirche steht, werden das byzantinische Reich und weite Teile Osteuropas und Asiens von der orthodoxen Kirche des Patriarchen von Konstantinopel geprägt. Auch wenn sie fortan getrennte Wege gehen, beobachten die beiden christlichen Kirchen mit zunehmender Sorge die weitere Ausbreitung des Islam. Beide Kirchen haben ihr religiöses Zentrum mit dem Geburtsort Jesu in einer Gegend, die immer mehr von islamischen Staaten beherrscht wird: Palästina. Aber rundum Jerusalem haben sich muslimische Staaten etabliert: das Aijubidenreich, das Reich der Hülagiden, das Sultanat der Seldschuken oder Kleinarmenien. Damit stellen islamische Staaten eine latente Bedrohung für die Christenheit dar, weil sie offenbar auf Expansion aus sind.

Im 11. Jahrhundert stoßen islamische Seldschuken, eine türkische Fürstendynastie, immer weiter nach Süden vor und nehmen 1055 Bagdad und anschließend den gesamten Irak, weite Teile Persiens, Syrien und Zypern ein. Ihre Hauptstadt heißt Rey – etwas mehr als 10 Kilometer vom heutigen Teheran entfernt. Von dort organisieren sie ihre Herrschaft über weite Teile des Vorderen Orients und des Nahen Ostens. Palästina und Jerusalem gehören also zum islamischen Herrschaftsgebiet. Dieser Umstand löst bei den frommen Christenmenschen in Europa Zorn aus, schließlich beanspruchen Christen und Juden das Heilige Land mit Jerusalem als spirituellen Mittelpunkt ihrer Religionen für sich. Zudem erschrecken Meldungen, die Hauptstadt des mächtigen Byzantinischen Reiches – Konstantinopel – könne sich den islamischen Seldschuken kaum noch erwehren. Damit ist zum ersten Mal ein christliches Reich von islamischen Eroberern existenziell bedroht.

Weltliche Macht vs. Geistliche Macht

Diese für die christlichen Kirchen missliche Lage bringt am Beginn des 11. Jahrhunderts für die Päpste in Rom eine entscheidende Frage auf, deren Beantwortung die europäische Welt für mehr als zwei Jahrhunderte in Atem halten soll: Wenn die christliche Kirche das nach ihr benannte Abendland geprägt hat, was ist dann mit dem Rest der damals bekannten Welt? Soll auch dort der lange Arm des Vatikans hinreichen und kann die geistliche Macht Könige und Kaiser veranlassen, gegen die Muslime in einen Krieg zu ziehen, um die frohe Botschaft der Bibel auch bei denen zu verkünden, die offensichtlich nichts davon wissen wollen? Die Antworten auf diese Fragen werden nicht in einem akademischen Disput gefunden, sondern in blutigen Schlachten.

Die Päpste streben auch nach weltlicher Macht, das haben sie immer wieder gezeigt. Aber wer hat denn nun das Sagen in Europa? Kaiser und Könige haben zwar Armeen und deshalb die unbestrittene weltliche Macht. In der damaligen Vorstellungswelt müssen sie aber auch göttlichen Segen haben, den aber nur der Papst – als Stellvertreter Gottes auf Erden – erteilen kann. Die Päpste haben zwar die geistliche Macht, sind aber ohne militärische Hilfe schutz- und hilflos. Sie können nur den Alleinvertretungsanspruch Gottes auf Erden in die Waagschale werfen. Es geht also um die Frage, welchen Einfluss kann die weltliche Macht der geistlichen zubilligen, ohne sich überflüssig zu machen? Und umgekehrt: Wie viel weltlicher Einfluss auf die Entscheidungen der Kirche ist dem Ansehen des Papstes noch zuträglich?

Die Suche nach Antworten auf diese spannenden Fragen beginnt in Goslar am 11. November 1050, als Heinrich IV. (1050 – 1106), der Sohn Kaiser Heinrich III., das Licht der Welt erblickt und schon als Vierjähriger auf Wunsch seines Vaters zum König gekrönt wird. Als Heinrich III. zwei Jahre später stirbt, muss der nun sechsjährige Heinrich seine Nachfolge antreten, was natürlich ohne Vormund nicht zu bewerkstelligen ist. Diese Situation provoziert Begehrlichkeiten bei einigen sächsischen Fürsten, die das Machtvakuum für sich nutzen wollen. Unter der Führung des Kölner Erzbischofs Anno II. (ca. 1010 – 1075) wird eine Verschwörung der Fürsten gegen den minderjährigen König und dessen vollkommen überforderte Mutter Agnes von Poitou (1025 – 1077) organisiert.

Im Frühjahr 1062 kommt es in Kaiserswerth bei Düsseldorf zu einer regelrechten Posse, die heute Wochen lang die Schlagzeilen der Boulevardpresse füllen würde: Der inzwischen 12-Jährige Heinrich IV. wohnt kurz nach Ostern einem großen Fest bei, als zur Überraschung der versammelten Gäste plötzlich der prunkvoll gekleidete Kölner Erzbischof Anno II. mit seinem Gefolge erscheint und sich unter die illustre Gästeschar mischt. Nach dem Ende der offiziellen Feierlichkeiten lädt der Erzbischof den Knaben auf eines seiner prächtigen Schiffe ein. Aber diese als Besichtigung getarnte Einladung entpuppt sich rasch als Entführung, denn kaum hat Heinrich IV. das Boot betreten, legt es ab und steuert auf die Strommitte zu. Der verängstigte junge König hechtet über Bord und versucht schwimmend das Ufer zu erreichen, wird aber von seinen Entführern wieder aus dem Wasser gezogen und ins benachbarte Köln verschleppt. Kaiserin Agnes von Poitou muss dem Treiben hilflos vom Ufer aus zusehen. Den Staatsstreich des frommen Gottesmanns kann sie nicht verhindern: Sie ist entmachtet und Anno II. führt die politischen Geschäfte im Reich.

Aber nicht lange, denn Anno II. von Köln gerät bald selbst in ein Gemisch aus Intrigen und Denunziationen und wird schließlich von Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen (ca. 1000 – 1072) als Vormund des immer noch unmündigen Königs Heinrich IV. abgelöst. Adalbert scheint übrigens das Vertrauen des jungen Mannes erhalten zu haben, denn als Heinrich IV. im März 1065 endlich selbst regieren darf, bleibt Erzbischof Adalbert auch weiterhin sein Berater. Ein Jahr später bekommt Heinrich IV. auf dem Reichstag zu Tribur die Macht der Fürsten zu spüren, denn sie zwingen ihn, jenen Adalbert von Hamburg-Bremen aus dem Amt zu jagen, und drohen unverhohlen ihn zu entmachten. Die reale Macht des Königs der Deutschen hat zwar existiert – aber eben nur wenn die Fürsten einverstanden sind. Da seine Mutter, Kaiserin Agnes von Poitou, nach dem Entführungsfall von Kaiserswerth ihren gesamten Besitz hat abgeben müssen, ist nun auch Heinrich VI. ohne ein eigenes Herzogtum – und mehr denn je auf die Territorialherren im deutschen Reich angewiesen.

Derartige Schwierigkeiten sind auf der anderen Seite des Rheins im westfränkischen Teil des alten Karlsreiches – in Frankreich - weitgehend unbekannt. Dort regiert mit Philipp I. (1052 – 1108) ebenfalls ein Minderjähriger. Philipp I. ist als Siebenjähriger zu Pfingsten 1059 gekrönt worden. Auch sein Vater ist früh gestorben, auch für ihn ist ein Vormund bestellt worden. Danach aber hören die Gemeinsamkeiten beidseits des Rheins auf, denn sobald Philipp I. selbst regieren kann, beginnt er den königlichen Einfluss gegenüber den mächtigen Fürsten auszubauen. Im Gegensatz zu Heinrich IV. gelingt es ihm, die Krondomäne, also das Gebiet, in dem ausschließlich er – der König – das Sagen hat, zu erweitern. Seine Nachfolger werden diesen Prozess fortführen und so den Grundstein für das zentralistisch organisierte Frankreich von heute legen. Außenpolitisch steht für Philipp I. die militärische Auseinandersetzung mit dem englischen Königreich ganz oben auf der Tagesordnung. Dieser Konflikt prägt die Politik der französischen Monarchie für viele Jahre und lässt verlustreiche Kriege über das Land ziehen. Philipps I. schwerste politische Bedrohung kommt von außen und nicht von einer inneren Opposition, die ihm den königlichen Thron streitig macht. Das unterscheidet ihn von seinem nahezu gleichalten Pendant im Ostteil des ehemaligen Frankenreichs.

Gregor VII.

Während beiderseits des Rheins die jugendlichen Könige um Macht und Einfluss mit den Territorialfürsten ringen, wird in Rom am 30. Juni 1073 mit dem Mönch Hildebrand ein Mann als Papst Gregor VII. (1025 – 1085) in sein heiliges Amt eingeführt, der im Vatikan schon seit langem eine zentrale Figur ist. Noch während der Begräbnisfeierlichkeiten für Alexander II. (1010 – 1073) kommt es im Vatikan zu tumultartigen Auseinandersetzungen, weil Hildebrand seine Wahl gegen ein Papstwahldekret und mit Hilfe eines demagogisches Kardinal durchsetze will. Jener Kardinal hat ihn vor der Kirche S. Pietro in Vincoli einfach durch das Volk ausrufen lassen. Der Mönch Hildebrand rechtfertigt sich später, ihm sei keine Zeit zum „Sprechen und Überlegen“ geblieben, weil die Menschen „wie die Wahnsinnigen auf ihn zugestürmt“ seien. Egal wie: Der im Vatikan nicht sonderlich beliebte Gregor VII. ist seit 1059 als Vermögensverwalter der römischen Kirche und Mitglied des Kardinalskollegiums der wichtigste Mann im Kirchenstaat. Die Archive des Vatikans stehen ihm ebenso offen wie ihm die Berichte über die erschreckenden Zustände der so genannten „Pornokratie“ während des 10. Jahrhunderts bekannt sind. All das bestärkt ihn darin, den Kampf gegen die Verweltlichung der römischen Kurie aufzunehmen. Seine Aufgabe sieht der neue Papst in der geistigen und vor allem geistlichen Erneuerung des Klerus, den er aus der Umarmung durch die weltliche Macht befreien will.

Anlässlich einer Fastensynode im Februar 1075 sagt Gregor VII. dann der weltlichen Macht im christlichen Abendland endgültig den Kampf an. Die weltliche soll sich der geistlichen Macht unterordnen. Damit soll die römische Kurie wieder zu dem werden, was sie eigentlich ist: Zentrum eines den europäischen Kontinent einenden christlichen Glaubens und nicht willfähriger Steigbügelhalter der weltlichen Macht – so wie es Horst Fuhrmann in seinem 1998 erschienen Buch über die Päpste geschrieben hat. Das Sagen über die Welt – und das ist in der mittelalterlichen Vorstellungswelt gleichbedeutend mit Europa - soll der mit göttlicher Mission ausgestattete Papst haben. Deswegen definiert Gregor VII. die Funktion der Bischöfe und Priester neu. Wenn er, der Papst, der Stellvertreter Christi auf Erden ist, so sollen fortan die Bischöfe und Priester die Stellvertreter des Papstes sein. Nur der Papst soll deshalb künftig das Recht haben, kirchliche Würdenträger in ihre Ämter zu bringen. Priester und Bischöfe sollen sich in Zukunft nicht weltlichen Problemen widmen, sondern sich wieder auf die Verkündigung von Gottes Wort konzentrieren. Es soll dem Papst vorbehalten sein, zu entscheiden, wer die einflussreichen Bistümer leitet und wer die durch päpstliche Interpretation bestimmte Verbreitung der christlichen Lehre in Europa organisiert. Glauben soll fortan heißen, dem Papst zu gehorchen!

Diesem Prinzip widerspricht die bis dahin geübte Praxis der so genannten „Laieninvestitur“. „Laieninvestitur" bezeichnet das Recht eines Königs Bischofsämter oder andere kirchliche Positionen vergeben zu können. Dem König ist es auch erlaubt gewesen, den Bischofsstab und den dazugehörigen Ring zu verleihen. Auf dieser Basis haben die weltliche und die geistliche Macht ein Bündnis geschlossen – zum Wohle beider Seiten. Die so durch den König eingesetzten Bischöfe und Äbte haben sich zum stabilen Machtfaktor entwickelt und den deutschen Königen seit Otto „dem Großen“ einen effizienten Herrschafts- und Verwaltungsapparat geschaffen, der ohne ihre Hilfe nicht funktionieren würde. Gregor VII. ist all das zuwider, er will die Macht des weltlichen Herrschers brechen und die „Laieninvestitur“ unterbinden. Der Konflikt wird mit harten Bandagen geführt, Papst und Kaiser schrecken nicht davor zurück, Ansehen und Macht in die Waagschale zu werfen. Gregor VII. verbietet auf besagter Fastensynode in Rom die gängige Ernennungspraxis und degradiert damit die Könige zu ganz gewöhnlichen Laien, die in Zukunft weder Bischöfe noch Priester oder Äbte in ihre Ämter einsetzen dürfen. Die Abschaffung dieses Privilegs ist für Heinrich IV. ein Angriff auf seine königliche Würde, die nicht unbeantwortet bleiben darf. Damit beginnt der so genannte „Investiturstreit“.

Der Investiturstreit

Wie wichtig dem Papst diese Veränderungsabsichten gewesen sind, kann man einem Papier entnehmen, das den Titel „dictatus papae“, also „Diktat des Papstes“, trägt. Der Text findet sich im päpstlichen Briefregister, ist aber nicht veröffentlicht worden. Es könnte also sein, dass es sich lediglich um das Gedächtnisprotokoll einer geheimen Sitzung im März 1075 handelt, bei der im Vatikan die weitere Vorgehensweise Gregors VII. besprochen worden ist:

„Er (der Papst) allein kann Bischöfe absetzen und wieder einsetzen.

Er allein darf nach Maßgabe der Zeitumstände neue Gesetze erlassen, neue Völker vereinen, aus einer Kanonie eine Abtei machen und umgekehrt, ein reiches Bistum teilen und arme zusammenlegen.

Ihm allein steht die Verfügung über die kaiserlichen Insignien zu.

Einzig des Papstes Füße müssen alle Fürsten küssen.

Er kann den Kaiser absetzen.

Sein Urteilsspruch kann von niemand aufgehoben werden, während er allein alle anderen Urteile aufheben kann.

Er kann die Untertanen von der Treue gegen Böse entbinden.“

Dieses „päpstliche Diktat“ ist ein Frontalangriff auf Heinrichs IV. weltliche Herrschaft. Als geradezu ungeheuerlich muss er den universalen Anspruch des Papstes aufnehmen, den „Kaiser absetzen und die Untertanen von ihrem Treueschwur entbinden“ zu können. Das kann sich er auf keinen Fall gefallen lassen. Wer ihn absetzen und seine Untertanen vom Treueschwur befreien kann, ist mächtiger als er selbst und legt obendrein Hand an die Grundlagen der Reichsordnung! Für Heinrich IV. ist sofort klar, wohin die Reise gehen soll – nämlich in die Unterordnung des Königtums unter die Macht des Vatikans.

Heinrich IV.

Heinrich IV. bekommt die Auswirkungen dieses päpstlichen Griffs nach der Macht unmittelbar zu spüren. Als er in Mailand und im Kirchenstaat Bischöfe einsetzten will, provoziert er den Papst und der Konflikt eskaliert innerhalb kurzer Zeit. Im Dezember desselben Jahres bedroht Gregor VII. den König mit dem Kirchenbann. Damit fordert er nicht nur Heinrich IV. heraus, sondern er wirft jenen Glaubensbrüdern im deutschen Episkopat den Fehdehandschuh auf den Tisch, die sich mit dem geistlich-weltlichen System von Geben und Nehmen bestens arrangiert haben. Die deutschen Kirchenmänner verstehen die Zeichen aus Rom sofort. Da sich die meisten von ihnen mit dem Reichskirchensystem arrangiert haben, würde die Durchsetzung der päpstlichen Ideen ihren Lebensstil erheblich verschlechtern. Deshalb kündigen zahlreiche Bischöfe am 10. Januar 1076 bei der Synode in Worms dem Papst den Gehorsam auf. Sie richten ein Schreiben an den „falschen Mönch Hildebrand“ und fordern diesen auf, den Stuhl Petri unverzüglich zu verlassen. Jener nahezu vergnüglich zu lesende Brief ist uns überliefert in der „Weltchronik“ des Abtes Ekkehard von Aura (1085 - 1125) und nimmt Bezug auf die Umstände der Papstwahl Gregors VII. am 30. Juni 1073, die, wie man lesen kann, keineswegs vergessen sind:

„Als du dich in die Leitung der Kirche eindrängtest, waren wir uns zwar darüber klar, welches verbotenen und frevelhaften Unterfangens gegen Recht und Gerechtigkeit du dich mit der dir eigenen Anmaßung erfrechtest, doch glaubten wir stillschweigend über deinen schlimmen Amtsantritt in der Hoffnung hinweggehen zu sollen, dass der so verbrecherische Anfang im Lauf einer tüchtigen und Eifer vollen Regierung ausgeglichen werden könnte. (…) Du hast durch bittere Spaltungen die Brandfackel der Zwietracht in die römische Kirche hineingeworfen und hast diesen Brand mit deinem rasenden Wahnsinn durch alle Kirchen Italiens, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens auflohen lassen, indem du ruchlose Neuerungen einzuführen bestrebt bist und dich in unerhörter Überhebung aufblähst. (…) und so ging durch deine berühmten Erlasse – nur unter Tränen kann man davon sprechen – Christi Namen fast zugrunde. (…) Weil wir dies schlimmste der Übel nicht mehr länger dulden wollen, so fassten wir in gemeinsamer Berufung den einmütigen Beschluss, dir kundzutun, was wir bislang verschwiegen haben. Du kannst darum weder jetzt dem Apostolischen Stuhl vorstehen, noch wirst Du dies je können. (…) Nachdem du deinen Lebenswandel durch so vielerlei Schmach und Schande entehrt hast, werden wir (…) künftig nicht gehorchen, und weil, wie du öffentlich erklärt hast, keiner von uns für dich Bischof war, so wirst auch du für keinen von uns von nun ab Papst sein.“

Das ist natürlich starker Tobak. Der Zorn des deutschen Episkopats über die vielen Neuerungen, die der Papst gegen ihren Willen durchsetzen will, spricht Bände. Und ihr Brief hat Folgen! Denn nach der Lektüre des Schreibens ergreift der Papst die nächste Stufe der Eskalation und erklärt den König gemäß des 12. Satzes seines „dictatus papae“ für abgesetzt und exkommuniziert. Damit ist etwas für die mittelalterliche Welt Unerhörtes geschehen. Denn noch nie hat sich ein Papst so unmissverständlich in die Belange der weltlichen Herrschaft eingemischt, noch nie hat ein Papst öffentlich einen weltlichen Herrscher so degradiert und gedemütigt und ihn auch noch aus der Kirche geworfen. Mehr noch: Noch nie hat ein Papst so unüberhörbar zum Ausdruck gebracht, dass die geistliche über der weltlichen Macht zu stehen habe - und nicht umgekehrt. Der Streit mit dem Papst zeigt Wirkung: Einige Fürsten in Sachsen und Süddeutschland sowie ein Teil der Bischöfe nutzen die Gunst der Stunde und fallen von Heinrich VI. ab. Die Fürstenopposition – unter ihnen Welf von Bayern (1030 – 1101), Rudolf von Rheinfelden (1025 – 1080) und Berthold von Kärnten (1000 – 1078) - wittern eine Möglichkeit, sich selbst ins Spiel zu bringen und fordern den König auf, binnen „Jahr und Tag“, also in den nächsten zwölf Monaten, die Aufhebung des päpstlichen Bannes zu erreichen. Andernfalls müsse ein neuer König gewählt werden.

Canossa

Nun bleibt Heinrich IV. keine andere Wahl mehr, als zum Bußgang anzutreten. Doch er hat die Rechnung ohne die grimmige Entschlossenheit der Fürsten gemacht, die ihn unter allen Umständen absetzen wollen. Ohne den König zu informieren, laden sie Gregor VII. nach Augsburg ein, wo er über das Schicksal Heinrichs IV. entscheiden soll. Ein durchsichtiges Vorhaben, denn welche Entscheidung würde der Papst wohl treffen? Als Datum für die Durchführung dieses Plans ist der 2. Februar 1077 vorgesehen. Gregor VII. macht sich sofort auf den Weg von Rom nach Süddeutschland. Zur gleichen Zeit - aber in umgekehrter Richtung – bricht auch Heinrich IV. auf. Mit kleinem Gefolge überquert er die Alpen, um zum Papst nach Rom zu gelangen.

In der Emilia Romagna in der Nähe von Modena kommt es schließlich zum Show-down im Schnee. Gregor VII. erfährt von der Reise Heinrichs IV. und lässt sich von seiner Reisebegleiterin Mathilde von Tuszien (1046 – 1115) überreden, den Kaiser zu empfangen. Ort des Geschehens am 28. Januar 1077 ist die Burg Canossa, die Mathilde gehört. Dort legt Heinrich IV. seinen Eid ab, nachdem er angeblich im Büßergewand ohne königlichen Schmuck drei Tage barfuß im Schnee seine offensichtliche Reue dargeboten haben soll. Der Papst befreit ihn vom Bann und nimmt den Reumütigen wieder in die Kirchengemeinde auf, nachdem die Bedingungen geklärt sind: Der Papst bestimmt zukünftig allein über die Besetzung von Kirchenämtern, außerdem müssen sämtliche während des Streits konfiszierten Kirchengüter zurückgegeben werden und der Kaiser muss Treue gegenüber der „heiligen römischen Kirche“ schwören. Da diese mit einem Schwur verbundenen Bedingungen nicht personalisiert werden, gelten sie auch für alle Nachfolger Heinrichs IV. Das ist zweifellos ein demütigender Augenblick für den König gewesen, der durch seinen Bußgang der Oberaufsicht des Papstes über die weltliche Herrschaft zustimmt und dem Königtum einen schweren Imageschaden zufügt. Mit seiner Unterwerfung akzeptiert Heinrich IV. die päpstliche Strafgewalt nicht nur über sich, sondern auch über sein Amt. Aber es bleibt ihm keine andere Wahl, denn ohne seinen sprichwörtlichen „Gang nach Canossa“ hätte er gegen die heimische Fürstenopposition keine Chance mehr gehabt. Heinrich IV. wird durch den Reformeifer des Papstes eine schmähliche Niederlage beigebracht und seine Position gegenüber den Fürsten und Herzögen des Reiches ist nachhaltig geschwächt.

Während Heinrich IV. geschwächt aus dem Konflikt mit dem Papst herausgeht, sieht sein französischer Amtskollege Philipp I. (1052 – 1108) den apostolischen Reformen gelassen entgegen. Er und seine Vorgänger haben sich sehr viel weniger in kirchliche Belange eingemischt, eine Art Reichskirchensystem mit der engen Verzahnung von Kirche und Krone gibt es in Frankreich nicht. Nur in ein paar Dutzend Fällen hat der französische König die Wahl von Bischöfen beeinflusst. Philipp I. stimmt den Reformen der Kirche in seinem Reich zu, weil seine Interessen davon kaum tangiert werden. Heinrich IV. dürfte neidisch über die Ufer des Rheins geblickt haben, denn für ihn kommt es noch schlimmer. Trotz der Aufhebung des Bannes wird am 15. März 1077 in Forchheim bei Nürnberg Rudolf von Rheinfelden zum Gegenkönig gewählt. Bei dieser Auseinandersetzung kann Heinrich IV. wieder fest mit einem Gegner rechnen: Gregor VII. Der Papst schlägt sich auf die Seite von Rudolf, erneuert den gerade aufgehobenen Bann gegen König Heinrich IV., setzt ihn zum zweiten Mal ab und löst den Treueeid seiner Untertanen erneut auf.

Doch Rudolf von Rheinfelden stirbt Mitte Oktober 1080 in der Schlacht von Hohenmölsen. Das nutzt Heinrich IV. sofort aus, bricht nach Rom auf und belagert die Stadt drei Jahre lang. 1083 setzt er seinerseits Gregor VII. ab und hievt auf der Synode von Brixen einen gewissen Wibert von Ravenna als Clemens III. (1020 – 1100) auf den apostolischen Stuhl in Rom. Von Clemens III. lässt sich Heinrich IV. Ende März 1084 im Gegenzug zum römischen Kaiser krönen. Damit scheinen sich die Ereignisse für Heinrich IV. doch noch zum Guten gewendet zu haben. Aber der im Jahr zuvor seines Amtes enthobene Gregor VII. bekommt 1084 Hilfe vom Heer des Normannenführers Robert Guiskard (1015 – 1085), der sich in Sizilien festgesetzt hat. Beim Anblick der Truppen des Normannenherzogs müssen sich die kaiserlichen Truppen Heinrichs IV. aus Rom zurückziehen. Es stellt sich jedoch heraus, dass die als Befreier des abgesetzten Papstes herbeigesehnten Normannen lieber die Stadt plündern als sie zu verteidigen. Zum Entsetzen Gregors VII. verkehrt sich also sein Plan ins Gegenteil. Wie einst der römische Kaiser Nero steckt Guiskard die halbe Stadt in Brand und zieht unbekümmert von dannen, nicht ohne Gregor VII. mitzunehmen. In Salerno lässt er den ehemaligen apostolischen Oberhirten laufen. Am 25. Mai 1085 stirbt Gregor VII.

Die Schlacht von Manzikert

1055 erobern die Seldschuken Bagdad. Es scheint unvermeidlich, dass ihr Zug weiter nach Konstantinopel, dem Zentrum des byzantinischen Reichs, gehen würde. Der byzantinische Kaiser Romanos IV. (ca. 1010 – 1072) schickt angesichts dieser bedrohlichen Lage Hilferufe nach Europa, um christliche Ritter zu ermuntern, sich für die Verteidigung des ebenfalls christlichen Teils des alten oströmischen Reichs einzusetzen. Und tatsächlich folgen viele Ritter vor allem aus Frankreich dem Ruf und stellen sich an die Seite des bedrängten Kaisers von Byzanz. Aber die Niederlage in der entscheidenden Schlacht um die künftigen Einflussgebiete der christlichen und der islamischen Religion können sie am 26. August 1071 in der Nähe der kleinen Stadt Manzikert in Ostanatolien in der heutigen türkischen Provinz Mus nicht verhindern.

Als die beiden Heere aufeinander treffen, ist der Ausgang indes schon klar, denn auf Seiten der Byzantiner gibt es Verrat und die militärische Führung hat es versäumt, genaue Aufklärung über die Beschaffenheit des Geländes und über die Stärke des Gegners zu betreiben. Am Ende der Schlacht gerät der „heldenhaft“ kämpfende byzantinische Kaiser Romanos IV. in Gefangenschaft. Die Niederlage seines Heeres hat weltpolitische Bedeutung, denn nach der Schlacht von Manzikert beginnt der allmähliche Untergang des Byzantinischen Reiches. Gleichzeitig brechen in Bulgarien und Serbien Aufstände aus und Kleinasien wird türkisch. Mit der Schlacht von Manzikert ist entschieden, dass diese Gegend der Erde islamisch werden und deswegen immer wieder in Gegensatz zum „christlichen Abendland“ geraten würde.

Obwohl der geopolitische Europabegriff im Mittelalter keine große Bedeutung erlangt hat, entfaltet die Wahrnehmung des Fremden eine für Europa identitätsstiftende Wirkung. Denn immer mehr gleicht die Demarkationslinie zwischen der christlichen und der islamischen Welt auch einer Identitätslinie für die Menschen. Jene, die auf dem europäischen Kontinent leben, empfinden sich mehr und mehr als Angehörige des „christlichen Abendlands“ und grenzen sich so von denen ab, die nicht auf ihm leben. Dieser Prozess der Identitätsentwicklung gilt natürlich für beide Seiten, denn auch die Muslime empfinden die Auseinandersetzung mit den Christen als identitätsstiftend. Auf dem europäischen Kontinent beginnt im 11. Jahrhundert ein vielschichtiger Prozess, in dem antike, heidnische, jüdische und christliche Wurzeln miteinander verschmelzen und einen speziellen europäischen Zivilisationsraum entstehen lassen, so jedenfalls die Schlussfolgerung von Monika Franz 2004. Entlang der Religionsgrenze findet die „Geburt Europas“ statt. Durch die Konfrontation mit Nicht-Christen bildet sich eine spezifische europäische Mentalität heraus, wobei das Mittelalter die Genese, gleichsam Geburt und Kinderstube, Europas gewesen ist, „ohne dass die Menschen jener Jahrhunderte die Idee oder den Willen gehabt hätten, ein einheitliches Europa zu schaffen“, so formuliert es Jacques Le Goff in seinem 2004 erschienen Buch „Die Geburt Europas“.

Die Macht der Territorialfürsten

In Deutschland macht sich Heinrich IV. nach Gregors Tod 1085 wieder daran, Bischöfe und andere kirchliche Würdenträger in ihre Ämter einzusetzen. Gleichzeitig wird die Opposition gegen ihn dadurch geschwächt, dass einige ihrer führenden Köpfe sterben. In Italien verschlechtert sich die Lage für den Kaiser, in Norditalien bildet sich der lombardische Städtebund, der von ihm lancierte Papst Clemens III. muss sich dem offiziellen Nachfolger Gregors geschlagen geben. Als sich auch noch der mächtige Erzbischof von Mailand gegen Heinrich mit dem offiziellen Papst verbündet, ist klar, dass das Reformlager im Sinne des verstorbenen Gregors VII. die Oberhand gewonnen hat. 1090 bricht Heinrich IV. zu seinem dritten Italienfeldzug auf, ist aber wegen der Sperrung der Alpenpässe durch den Städtebund bis 1096 zur Untätigkeit gezwungen. Die letzten Jahre seiner Regentschaft sind durch eine relative Stabilisierung der Herrschaft gekennzeichnet. Als er am 7. August 1106 in Lüttich stirbt, sind aber Probleme sichtbar geworden, die auch in den kommenden Jahrhunderten den deutschen Königen und Kaisern das Leben schwer machen werden.

Der deutsche König hat keine eigene, starke Machtbasis, von der aus er den Kampf gegen die Rivalen um die Krone hätte aufnehmen können. Die reichsinterne Opposition nutzt jede sich bietende Gelegenheit, um den König mit manchmal hemmungslosen Angriffen zu traktieren und zu schwächen. Die Fürsten und Herzöge können dagegen einen erheblichen Machtzuwachs verzeichnen. Sie können den König gleichsam an die Kandare nehmen. Der König kann nicht einmal über Krieg und Frieden entscheiden, ohne die Großen seines Reiches zu konsultieren. Aber aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit entwickelt sich in den kommenden Jahrhunderten ein politisches Zusammenspiel zwischen den Territorialmächten und der Zentralmacht. Das Königtum verliert Macht und Ansehen, die Fürsten und Herzöge entwickeln ein politisches Gegengewicht. Das führt zwar einerseits zu mitunter chaotischen Machtkonstellationen im deutschen Reich, verhindert aber andererseits eine zu starke, eventuell sogar despotische Macht des Königs. Aus dieser Balance der Kräfte entwickelt sich im Laufe der Jahre ein politisches System, das auf die Belange sowohl der königlichen Zentralmacht als auch auf die Wünsche der Territorien Rücksicht nehmen muss. Dieses Zusammenspiel ist eine der Grundlagen, aus denen der föderale Charakter hervorgeht, der bis heute die Bundesrepublik prägt. Mit einem modernen Begriff könnte man dem Deutschen Reich am Beginn des 12. Jahrhunderts eine ausgeprägte politische Heterogenität attestieren, die die eruptiven Kräfte im Lande bevorzugt und oft genug für heftigen internen Streit sorgt.

Im Gegensatz dazu haben die französischen Könige sehr rasch damit begonnen, ihre Krondomäne sorgsam auszubauen und als Basis der eigenen Macht zu etablieren. Für den französischen König – und das gilt besonders für die Zukunft – kommt die Bedrohung eher von außen als von innen, sodass dem Ausbau eines zentralistisch organisierten politischen Systems, in dem Paris schon früh die Rolle einer „Hauptstadt“ zukommt, nichts im Wege steht. Genau wie im östlichen Teil des alten Frankenreichs werden in diesen Jahren die grundlegenden Strukturen für den kommenden Staat gelegt: Frankreich ist bis heute ein zentralistisch organisierter Staat, in dem politische Macht nur von einem Ort ausgeht - Paris.

Der Investiturstreit geht am 23.September 1122 zu Ende. Nach zähen Verhandlungen wird auf den Lobwiesen bei Worms das „Wormser Konkordat“ unterzeichnet. Darin befreit Papst Kalixt II. (1060 – 1124) den Kaiser vom Kirchenbann, gestattet ihm die Anwesenheit bei Bischofs- und Abtwahlen, erlaubt die Belehnung der vom Papst erwählten Würdenträger und sichert dem Kaiser begrenzte Einflussmöglichkeiten bei strittigen Wahlen zu. Kaiser Heinrich V. muss die von seinem Vater konfiszierten Kirchengüter zurückgeben und obendrein garantieren, dass er der römischen Kirche „getreulich“ beistehen werde. Damit ist die römische Kurie eine reiche und mächtige Organisation geworden, denn sie wird mit dem „Wormser Konkordat“ wieder Eigentümerin der über das ganze Land verteilten Bistümer. Das Konkordat ist nicht nur an Papst Kalixt II. gerichtet, sondern an die „heilige römische Kirche“ im Allgemeinen. Damit gilt der militärische Beistand des deutschen Kaisers nicht nur für Heinrich V., sondern auch für alle seine Nachfolger.

Europa unter dem Kreuz der Christen

Nach dem Investiturstreit ist die Macht der Päpste gestärkt. Unter kaiserlichem Schutz wird nun die reine Lehre des vom Papst definierten christlichen Glaubens europaweit verbreitet. Die christliche Lehre entwickelt erhebliche Bindekräfte. Sie bietet den Menschen eine überirdische Erklärung ihres Lebens als eine Art Vorbereitung auf das Leben im Jenseits an. Dort – so die Heilsversprechung – werden sie für die irdischen Qualen reichlich entschädigt. Mit dieser simplen „Erklärung“ lassen sich für die einen alle irdischen Ungerechtigkeiten leichter ertragen und für die anderen besser rechtfertigen. Religion bekommt die Funktion eines irdischen Blitzableiters für Zustände auf der Welt, die ohne eine derartige Sinndeutung für viele Menschen nicht zu ertragen gewesen sind. Die einen profitieren von der durch den Vatikan interpretierten Bibel als Grundlage ihrer Herrschaft, für die anderen ist sie eher eine Anleitung zum Leiden.

In den nun folgenden Jahrhunderten werden im Namen der Heiligen Schrift die Armen gespeist und die Abweichler verbrannt. Es werden die Angepassten hofiert und die Kritiker auf den Scheiterhaufen gestellt. Wer die christliche Ordnung in Frage stellt, wird auf ganz und gar unchristliche Weise bestraft. Die „Universitas Christiana“ ist zwar einerseits eine erste „europäische Gemeinschaft“, andererseits übt sie aber religiösen Zwang aus, der weder andere Religionen noch andere Meinungen duldet. Häretiker, Heiden, Moslems und Juden haben in dieser christlichen Gemeinde nichts zu suchen und sie bekommen es auch bald zu spüren. Die europäischen Christen sind unter dem Kreuz ihres Herrn Jesus von Nazareth vereint. Aber vom Kreuz des christlichen Religionsstifters tropft bald das Blut Andersgläubiger.

Am 12. März 1088 wird Otto von Lagery als Papst Urban II. (1035 – 1099) in sein apostolisches Amt eingeführt. Ihn erreichen in regelmäßigen Abständen Berichte über angebliche oder tatsächliche Gräueltaten der Seldschuken an christlichen Pilgern, die sich alljährlich zu den heiligen Stätten Jerusalems aufmachen. Wie viel Übertreibungen und glatte Falschmeldungen die päpstlichen Ohren erreichen, ist nicht bekannt. Aber der aus dem Investiturstreit gestärkt hervorgegangene Papst nimmt diese Berichte zum Anlass, die militärische Macht der weltlichen Herrscher für die Zwecke der römischen Kirche zu instrumentalisieren.

Erster Kreuzzug

Sieben Jahre nach seiner Amtseinführung ruft Urban II. die weltlichen Herrscher zu den Waffen und verpflichtet sie 1095 zu einer christlichen Mission: Die gequälten und unterdrückten christlichen Brüder und Schwester im Heiligen Land, predigt Urban II., müssten aus den Krallen der „Heiden“ befreit werden. Bei dem nun folgenden 1. Kreuzzug ist der Papst der Oberbefehlshaber einer Armee, in der die mitreisenden Fürsten und Herzöge ihm direkt unterstellt sind. So endet das 11. Jahrhundert für das krisengeschüttelte Europa mit einer Herausforderung, die sie für nahezu 200 Jahre beschäftigen wird. Islamische Horden - so der Schreckensruf des Papstes - herrschen rund um Jerusalem, sperren die Wege zu den heiligen Stätten der Christenheit, plündern und brandschatzen das Gelobte Land. Als sich diese Nachrichten durch Berichte von frommen Pilgern bestätigen, kommt die christliche Propaganda in Schwung.

Sie wird noch unterstützt durch ein Hilferuf aus Konstantinopel, wo sich Kaiser Alexius I. (1048 – 1118) von den Seldschuken derart bedrängt fühlt, dass er um den Bestand seines Reichs und des christlichen Abendlandes fürchtet. Wahre Gräuelgeschichten berichtet er dem Papst und vergisst nicht zu erwähnen, dass nicht nur Land als Beute lockt, sondern auch die „Weiber des Orients“, die unvergleichlich schöner seien als die des Abendlandes. Das verfehlt seine Wirkung nicht, zumal der Papst noch seine eigene Propagandamaschine anwirft und zur „Hilfe für die christlichen Brüder im Osten und zur Befreiung Jerusalems“ aufruft. Urban II. erteilt allen christlichen Krieger Ablass für vergangene und zukünftige Sünden und den garantierten Einzug ins Paradies. Derart angestachelt fällt der Aufruf zum Krieg gegen die „Heiden“ in Palästina auf ein überwältigendes Echo. Auf der Synode von Clermont ruft Papst Urban II. am 27. November 1095 mit ziemlich unappetitlichen Worten, die uns vom Chronisten Robert der Mönch (1055 – 1122) überliefert sind, zum Kreuzzug auf:

„Sie beschneiden die Christen und das Blut der Beschneidung gießen sie auf den Altar oder in die Taufbecken. Es gefällt ihnen, andere zu töten, indem sie ihnen die Bäuche aufschneiden, ein Ende der Därme herausziehen und an einen Pfahl binden. Unter Hieben jagen sie sie um den Pfahl, bis die Eingeweide hervordringen und sie tot auf den Boden fallen. Ihr solltet von dem Umstand berührt sein, dass das Heilige Grab unseres Erlösers in der Hand des unreinen Volkes ist, das die heiligen Stätten schamlos und gotteslästerlich mit seinem Schmutz besudelt.“

Mit diesem apokalyptischen Szenario gelingt es ihm, die Ritter Europas über alle Grenzen und Streitigkeiten hinweg hinter der Fahne mit dem christlichen Kreuz zu vereinigen. Tatsache ist, dass die muslimischen Herrscher im Nahen Osten in den christlichen Pilgern eine lohnende Einnahmequelle erblickt und die heiligen Stätten nur gegen die Zahlung einer Art Eintrittsgeld zugänglich gemacht haben. Für die frommen Pilgerscharen, die ihre Knie auf der heiligen Erde des Ölbergs oder Golgathas beugen wollen, ist das natürlich unerträglich. Alljährlich sammelt sich eine christliche Reisegesellschaft in Rom an den Gräbern der Apostel, setzt von Pisa oder Genua nach Konstantinopel über und macht sich von dort zu Fuß ins Land der Verheißung auf. Nach dieser beschwerlichen Reise lockt das Heilige Land und viele heiligen Stätten, an denen Buße getan wird. Ist genügend Buße getan und feierliches Gelübde für einen zukünftig besseren Lebenswandel abgelegt, folgt ein Bad in den Wellen des Jordan. Nachdem die Sünden der Vergangenheit auf diese Weise entsorgt sind, machen sich die Geläuterten auf ihre Heimreise. Zu Hause angekommen, berichten sie von den Schikanen, denen sie ausgesetzt gewesen sind, von geschändeten Christusstatuen, denen Ohren und Nasen fehlen, so dass sie einen erbärmlichen Eindruck machen. All das stachelt die christlichen Ritter auf, sie schwören Rache und versammeln sich hinter dem Papst in Rom, der nun in der Funktion eines christlichen Heerführers auftritt.

Vor allem französische Ritter folgen dem Kriegsruf von Urban II., in Deutschland ist die Kriegsbegeisterung nicht so ausgeprägt. Dafür zeigt sich in deutschen Landen zum ersten und nicht zum letzten Mal eine zum Blutrausch gesteigerte Judenfeindschaft. Vermutlich im Sog der bevorstehenden „Schlacht gegen die Heiden“ wenden sich Fanatiker gegen die anderen „Ungläubigen“ und richteten 1096 Massaker an, die eine böse Ahnung von dem verbreiten, was noch kommen sollte. In den „sächsischen Annalen“ findet sich der Bericht eines unbekannten Schreibers:

„In Mainz erschlugen sie neunhundert Juden und verschonten dabei weder Frauen noch Kinder. Bischof dieser Stadt war dazumal Rothard, in dessen Schutz sich die Juden mit ihren Schätzen geflüchtet hatten; doch vermochten weder Bischof noch seine Ritter, die eben in beträchtlicher Zahl zugegen waren, die Juden zu verteidigen und den Jerusalempilgern zu entreißen. (…) Nachdem der Bischofshof, in dem Juden Schutz gesucht hatten, und sogar die Gemächer des Bischofs erstürmt worden waren, wurden alle Juden, die man daselbst fand, ermordet. Diese Niedermetzelung der Juden fand am Dienstag vor dem Pfingstsonntag statt; es bot einen kläglichen Anblick, als man die großen und zahlreichen Haufen der Erschlagenen mit Wagen vor die Stadt hinausfuhr. Auf gleiche Weise wurden die Juden zu Köln, Worms und in anderen Städten Frankreichs und Deutschlands ermordet. Nur wenige kamen davon, die in ihrer Not ihre Zuflucht zur Taufe nahmen.“

Aus fünf Richtungen machen sich 1096 die Züge der Ritter mit dem Kreuz auf der Rüstung auf den Weg nach Jerusalem. Es sind 330.000 Ritter voller Begeisterung, die mit der Aussicht auf lohnende Beute im Land der Verheißung unterwegs sind. Die Zahl der Opfer dieses ersten von insgesamt sieben Kreuzzügen wird mit 290.000 angegeben. Die Marschroute führt die Krieger Christi zuerst nach Konstantinopel, wo die Schwierigkeiten schon beginnen, denn Kaiser Alexius will seine Stellung in Kleinasien schützen und verlangt von den Kreuzfahrern das Versprechen, alle eroberten Gebiete ihm als Lehnsherren zu übereignen. Nach langem Verhandeln willigen Fürst Raymond von Toulouse (1041 – 1105) und Herzog Gottfried von Bouillon (1060 – 1100) ein und die Reise geht weiter. Aber das Unternehmen droht an weiterem Ungemach zu scheitern, denn die abendländischen Ritter befinden sich in unbekanntem Gebiet und sind auf Hilfe und Ehrlichkeit ihrer griechischen Führer angewiesen. Ohne sie würden die christlichen Heerscharen ihr Ziel vermutlich nie erreichen und in jeden Hinterhalt der türkischen Seldschuken laufen, die sich ihnen überall in den Weg stellen.

Zu den unablässigen Angriffen der Türken kommen noch sengende Sonne, Hunger und Durst, sodass manch einer der frommen Ritter seinen Entschluss spätestens in den Weiten der kleinasiatischen Tiefebene bereut. 1096 ist das Kreuzfahrerheer aufgebrochen, bis Anfang Juli 1098 werden Nicäa und Antiochia erobert. Über Beirut geht es weiter nach Jaffa und Haifa. Zwischenzeitlich hat Gottfried von Bouillon Edessa eingenommen und den ersten der so genannten Kreuzfahrer-Staaten gegründet – die Grafschaft Edessa, die sich zu beiden Seiten des Euphrat ausbreitet. Drei Jahre nach ihrem Abmarsch erreichen die Kreuzfahrer schließlich Jerusalem. Was sie dort anrichten, spottet jeder Beschreibung, denn sie verhalten sich keineswegs besser als die, gegen die zu kämpfen sie vorgeben.

Im Juni 1099 beginnt der letzte Teil der Schlacht des inzwischen auf 21.000 Ritter zusammen geschrumpften Kreuzfahrer-Heeres um Jerusalem. Mit Rammböcken und Wurfmaschinen machen sie sich an ihr Zerstörungswerk, das von einem fürchterlichen Gemetzel begleitet wird. Mit dem Ruf „Gott will es!“ auf den Lippen entern sie Jerusalem und richten ein bestialisches Blutbad unter den Bewohnern jener Stadt an, in der seit Jahrhunderten Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich zusammenleben. Mit gleichem Eifer vergewaltigen und rauben die christlichen Krieger, sodass nur wenige Menschen in Jerusalem mit dem Leben davonkommen. Dieses Massaker stilisieren die Gotteskrieger zur „Reinigung“ der Stadt von den Ungläubigen. Aber ihre „Säuberungsaktion“ stellt die Gräuel der vorangegangenen Belagerung der heiligen Stadt bei weitem in den Schatten. Nach dem Morden halten die christlichen Eroberer eine Dankprozession ab und waten dabei durch das Blut von Juden, Moslems und Christen, die sich ihrer unbändigen Gewalt nicht haben zur Wehr setzen können. Die Totenstille der Stadt wird nur von den Schritten der Sieger durch das Blut und die geschändeten Leiber der Opfer unterbrochen. Dieser Tag kostet rund 70.000 Menschen das Leben.

Kreuzfahrerstaaten

An der Belagerung Jerusalems ist Gottfried von Bouillon an führender Stelle beteiligt. Das scheint ihn prädestiniert zu haben, im Anschluss an das Massaker zum „Vogt des heiligen Grabes“ ernannt zu werden. Er ist der erste christliche Herrscher Jerusalems, aber an seiner Regentschaft klebt das Blut tausender unschuldiger Opfer des ersten Kreuzzuges. Als Folge der christlichen Eroberungen im Nahen Osten bilden sich neben der Grafschaft Edessa weitere so genannte Kreuzfahrer-Staaten: Klein-Armenien, das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Tripolis und das Königreich Jerusalem. Das alles geschieht auf Wunsch und mit dem Segen der römischen Kirche, die vor Beginn des Kreuzzuges zugesichert hat, dass das den „Ungläubigen“ entrissene Land von den Kreuzfahrern in Besitz genommen werden darf. Um das Königreich Jerusalem und die anderen Kreuzfahrer-Staaten aber liegen mächtige arabische Staaten, die auf das Treiben der Kreuzfahrer und ihre Hinterlassenschaft mit Wut und Empörung reagieren: Das Emirat von Damaskus, das Kalifat von Kairo, das Reich der Yubiden und das der Zengiden.

Dem ersten folgen noch sechs weitere Kreuzzüge, die – so makaber es auch klingen mag – den ersten intensiven Kontakt zwischen Orient und Okzident, zwischen Morgenland und Abendland herstellen. Während Christen und Muslime einander um die Wette die Hälse durchtrennen, begegnen sich zum ersten Mal ihre Kulturen. Die Ritter des christlichen Heeres bemerken, dass es auch ihre Gegner an Tapferkeit und Mut nicht fehlen lassen. Hüben wie drüben geht es Kriegern um die Verteidigung der eigenen Wertvorstellungen und nicht nur um die pure Lust am Krieg. Aus der Anerkenntnis der Unterschiedlichkeit entwickelt sich auch so etwas wie Achtung vor den jeweils anderen Vorstellungen. Aber trotz allem ist das Vordringen der christlichen Heere nach Jerusalem den muslimischen Fürsten natürlich ein Dorn im Auge.

Die Rückeroberung Edessas durch Fürst Zengi (1082 – 1146), dem Statthalter von Mosul, im Jahr 1144 bietet den Anlass für den zweiten Kreuzzug, dem der französische Abt Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153) die entsprechende ideologische Ausrichtung gibt:

„Im Tod des Heiden sucht der Christ seinen Ruhm, weil Christus verherrlicht wird.“

Bernhard von Clairvaux’s Parole von der „vollständigen Ausrottung der Heiden oder deren sichere Bekehrung“ überzeugt dieses Mal nicht nur den französischen König Ludwig VII. (1120 – 1180), sondern auch den deutschen König Konrad III. (1093 – 1152), der, hingerissen von der Beredsamkeit des Abtes, am Weihnachtstag des Jahres 1145 „das Kreuz nimmt“, wie es in den Annalen zu lesen steht. Im Mai 1147 brechen deutsche Truppen unter königlicher Führung auf, bald darauf erreichen etwa 30.000 Kreuzfahrer auf dem Landweg über Ungarn Konstantinopel. Auch dieses Mal ereignen sich unter dem Deckmantel des Kreuzzuges Judenpogrome, die angestachelt von einer Mischung aus Mordlust und religiöser Erregung in Prag, Würzburg und einigen rheinischen Städten ihre Opfer finden. Fanatische Prediger wiegeln zügellose Volksmassen auf, die die Juden vor die Wahl stellen: Tod oder Taufe!

Die Katastrophe dieses Kreuzzuges wird den christlichen Waffenbrüdern erst im Angesicht ihres eigentlichen Zieles der Unternehmung klar. Denn die islamischen Heerführer haben Edessa in Schutt und Asche gelegt, bevor die Kreuzfahrer die Stadt erreichen. Es gibt nichts mehr zu befreien und das stürzt die Anführer der christlichen Heerscharen in helle Aufregung. Im Juni 1148 beschließen der Hochadel des Königsreichs Jerusalem und die Kreuzfahrer, anstelle der niedergebrannten Stadt Edessa nun Damaskus zu belagern. Ausgerechnet Damaskus! Denn Damaskus ist in jenen Jahren die einzige muslimische Stadt, die den Christen zugetan ist. Das Unternehmen „Damaskus“ mündet in einem blutigen Debakel, an dessen Ende die Damaszener Jagd auf die Belagerer machen. Schließlich ziehen die christlichen Ritter ab und begeben sich 1150 auf die beschwerliche Heimreise, zwei Jahre nachdem sie von Regensburg aufgebrochen sind.

Saladin I.

Anfang 1187 gibt es erneut schlechte Nachrichten aus Jerusalem. In unmittelbarer Umgebung der Heiligen Stadt treibt ein christlicher Raubritter namens Rainald von Chattilon (1125 – 1187) sein Unwesen, indem er Landkarawanen überfällt und ausraubt. Bei einer seiner Unternehmungen ist ausgerechnet die Schwester des Sultans Saladin (1137 – 1193) an Bord einer geplünderten Karawane. Sie kommt bei diesem Überfall durch die Hand eines christlichen Ritters ums Leben, woraufhin Saladin gelobt, den Täter unter allen Umständen zur Strecke zu bringen. Am 4. Juli desselben Jahres gelingt ihm das auch eindrucksvoll in der Schlacht von Hattin an den Ufern des Sees Genezareth.

Da zu dieser Zeit Gleiches mit Gleichem vergolten wird, lässt Saladin nicht nur Rainald von Chattilon enthaupten, sondern auch noch ein paar andere Ritter. Sein eigentliches Ziel aber ist die Rückeroberung Jerusalems, wo seit 88 Jahren christliche Herrscher das Sagen haben. Die Belagerung der Heiligen Stadt beginnt am 21. 9. 1187. Die christlichen Verteidiger sind in deutlicher Unterzahl, wehren sich aber tapfer und fürs erste auch erfolgreich. Schließlich verlagert Saladin seine Truppen auf den Ölberg und lässt von dort Jerusalem mit Pfeilen unter Dauerbeschuss nehmen. Gleichzeitig beginnen muslimische Kämpfer die Stadtmauer zu untergraben – ähnlich wie es die christlichen Ritter 1099 gemacht haben. Diesen Angriff können die Verteidiger Jerusalems noch zurückschlagen, aber ihnen ist auch klar, dass sie den Attacken Saladins nichts mehr entgegen zu setzen haben.

Die Christen in Jerusalem wollen den Märtyrertod sterben, um den Feinden nicht lebend in die Hände zu fallen. Aber Heraclius von Caesarea (ca. 1140 – 1191), der Patriarch von Jerusalem, hält sie mit dem Hinweis davon ab, dass dann ihre Frauen und Kinder versklavt werden würden. Heraclius droht Saladin damit, die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom zu zerstören, um Gespräche über ein friedliches Ende der Belagerung von Jerusalem herbeizuführen. Schließlich einigen sich beide Seiten darauf, dass sich die Verteidiger Jerusalems frei kaufen können. Nur diejenigen, die das geforderte Geld nicht aufbringen können, sollen in die Sklaverei geschickt werden. Aber dazu kommt es nicht, denn Saladin lässt alle Bewohner Jerusalems unbehelligt von dannen ziehen und übernimmt am 2. 10. 1187 die Regentschaft in der Heiligen Stadt – fast ohne Blutvergießen. Anschließend gelingt es Sultan Saladin, weitere Kreuzfahrer-Staaten zurück zu erobern. Das Ende der christlichen Herrschaft über diesen Teil des Nahen Ostens scheint besiegelt.

Als die Kunde von der Rückeroberung Jerusalems in Europa die Runde macht, wird schnell der Ruf nach einem neuen Kreuzzug laut. Aber der nun folgende dritte Zug christlicher Ritter in den Nahen Osten ist wegen interner Streitigkeiten über die richtige Strategie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aus deutscher Sicht hat dieser dritte Kreuzzug insofern eine gewisse Bedeutung, weil der deutsche Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122 – 1190) beim Bad in einem knietiefen Fluss vor den Augen seiner Heerführer tot zusammenbricht. Die Lage im Nahen Osten ist in den kommenden Jahren durch die Rückeroberung weiterer „Kreuzfahrerstaaten“ gekennzeichnet. Da die militärischen Erfolge der muslimischen Heere Gründe für weitere Kreuzzüge liefern, dreht sich die Spirale der Gewalt im Nahen Osten immer weiter. Der vierte Kreuzzug von 1202 bis 1204 soll eigentlich der Rückeroberung Palästinas dienen, wendet sich aber gegen das christliche Konstantinopel. Die Stadt wird 1203 belagert, geplündert und zerstört. Das anschließend gegründete so genannte „Lateinische Kaiserreich“ bindet aber derart viele militärische und finanzielle Mittel, dass der eigentliche Gedanke der Kreuzzüge kaum noch eine Rolle spielt.

Die Phase der Kreuzzüge dauert bis 1272. Die Soldaten des Herrn richten dabei fürchterliche Blutbäder an und fügen dem Ansehen des Christentums schweren Schaden zu. Die Brutalität, mit der sie zu Werke gegangen sind, hat der Brutalität, die sie den islamischen Kriegern unterstellt haben, in nichts nachgestanden. Mehr noch: Die Kreuzzüge sind begleitet von Massakern an unbeteiligten Menschen und von Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Die schamlose Brutalität, mit der die Gotteskrieger im Auftrag des Papstes in der Heiligen Stadt zu Werke gegangen sind, ist der Beginn einer Gewalteskalation im Namen des christlichen Herrn gewesen. Rund 900 Jahre vor den ersten Dschihadisten des 21. Jahrhunderts sind es die mittelalterlichen Päpste, die den Grundstein für religiösen Fundamentalismus und „heilige Kriege“ gelegt haben. Ein Umstand, der das Verhältnis zwischen Christen und Moslems bis heute schwer belastet.


„Universitas Christiana“

Nach knapp 200 Jahren sind die Kreuzzüge beendet, die Zahl der Opfer ist nicht genau zu ermitteln, sie hat mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere Millionen betragen. Die geopolitische Landkarte des Nahen Ostens ist durch die Kreuzzüge nicht nachhaltig verändert worden. Vorher wie nachher ist dieser Teil der Welt mehrheitlich von islamischen Staaten geprägt, von denen das bis 1922 existierende Osmanische Reich das bedeutendste werden sollte. So wenig die Kreuzzüge auch erreicht haben, so bedeutend sind sie für den europäischen Kontinent gewesen.

Denn Ritter aus allen europäischen Ländern haben sich mit dem Ruf „Gott will es!“ auf den Lippen in den Dienst der römischen Kirche gestellt. Unter der Führung der Päpste hat sich die „Universitas Christiana“ zum ersten Mal über einen langen Zeitraum bewährt. Sie stiftet – so makaber es klingt – im Inneren des Kontinents Identität und exportiert gleichzeitig den Tod ins Heilige Land. Den Päpsten ist es gelungen, nicht nur die Abenteuerlust der Ritter, sondern auch die unterschiedlichen Interessen der Länder unter dem christlichen Kreuzsymbol zu vereinigen. Damit haben die Päpste dem Kontinent „ein gemeinsames Ziel“ vorgegeben, wie es der britische Historiker John Bowle in seiner „Geschichte Europas“ von 1983 formuliert hat.

So unterschiedlich Europas Völker auch gewesen sind, so sehr ihre Krieger sich deshalb gegenseitig die Kehlen durchgeschnitten haben, so sehr aber sind sie auch Teil der christlichen Gemeinde gewesen, die den europäischen Kontinent beherrscht hat. Die Christen des Abendlandes fühlen sich als Einheit. Sie sind gemeinsam einer Religion verpflichtet, deren Regeln sie klaglos befolgen. Gemeinsam akzeptieren sie Papst und Kaiser als Tandem aus geistlicher und weltlicher Macht, das ihr Leben bestimmt. Europa war und ist ein christlicher Kontinent.

Gleichzeitig – und das macht die Beurteilung dieses Janusköpfigen Geschehens so kompliziert – lebt das Christentum sozialstaatliche Elemente vor. Zahlreiche Mönchsorden aber auch einfache Christenmenschen liefern dazu die Vorbilder. Sie kümmern sich um die Armen und Schwachen, die Alten und Kranken. Die christliche Religion ist nach außen und gegen Andersdenkende brutal und gewalttätig. Im Inneren aber prägt sie christliche Umgangsformen und Kulturtechniken, die wie selbstverständlich von den Eltern auf ihre Kinder übertragen werden. Die in einem gemeinsamen Glauben verbundenen Menschen haben den gleichen geistigen Horizont, die gleichen Fragen und – natürlich – auch die gleichen Ansichten. Das Christentum hat Europa wie keine andere Geisteshaltung beeinflusst. Die Entwicklung Europas ist das Ergebnis aus einer anfänglich christlichen Prägung und antichristlichen Bewegungen, die später auf den christlichen Monopolanspruch reagiert haben. Die Renaissance, der Humanismus, die Reformation und schließlich die Aufklärung sind nichts weiter als alternative Antworten auf Fragen, die das römische Christentum mit dem Verweis auf das Jenseits – irrtümlicherweise - bereits als beantwortet angesehen hat.

Die Genese Europas II

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