Читать книгу Eddie, der Golem und Ich - Maurice Delage - Страница 6
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ОглавлениеMein Gast hatte sich sehr verständnisvoll gezeigt, er sei ja ohnehin zu früh gekommen. Erst da hatte ich auf die Uhr gesehen. Es war tatsächlich noch nicht ganz halb zehn.
Während ich die Scherben zusammenkehrte, sah er sich im Laden um, wobei ich nicht umher kam, ihn zu beobachten. Er wirkte wohlhabend, seine Hände waren manikürt, sein Anzug gewiss nicht von der Stange. Gesehen hatte ich ihn noch nie. Wahrscheinlich war neu zugezogen, sagte ich mir oder auf der Durchreise. Und noch einmal stellte ich mir die Frage, wie ich hatte vergessen können, die Tür zu verriegeln. Doch offensichtlich musste ich es getan haben. Wie hätte er sonst so plötzlich vor mir stehen können?
»Sie scheinen ein wahrer Kenner zu sein«, sagte er beiläufig, als ich mich schließlich zu ihm gesellte.
Ich lächelte etwas unsicher und legte den Kopf zur Seite.
»Ihre Exponate sind von außerordentlicher Qualität. Alles Einzelstücke, viele sogar handsigniert. Er deutete auf das gerahmte Cover, das Bonita vorhin noch naserümpfend missbilligt hatte. Bruce Dickinson hatte es persönlich mit seiner Unterschrift veredelt. Dann wies er mit einer raumgreifenden Geste in die Runde. »Ihre Räumlichkeiten gleichen mehr einem Galerie, denn einem Raritäten Shop.«
Gerissener Hund, dachte ich. Er versteht es, einem Honig ums Maul zu schmieren. Wahrscheinlich hatte er bereits etwas entdeckt, dass für ihn von Interesse war.
»Sie scheinen auch nicht zum ersten Mal mit Dingen wie diesen in Kontakt zu geraten«‘, sagte ich seine Geste erwidernd.
Er lächelte ausdruckslos.
»Haben Sie bereits etwas gefunden, das Ihnen gefallen könnte?«
»Oh, sogar einiges. Allerdings bin ich nicht gekommen, um etwas zu erwerben.«
Ich war überrascht und noch mehr, als er plötzlich, wie ein Magier aus dem Nichts, eine kleine hölzerne Truhe präsentierte. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er sie mitgebracht hatte.
»Ich möchte Ihnen dieses, ja ich möchte sagen, einzigartige Exponat anbieten.«
Verwundert nahm ich die schlichte Schatulle entgegen. Sie war handgefertigt und recht hübsch anzusehen. Wahrscheinlich Nussholz, dachte ich. Schätzungsweise Ende neunzehntes Jahrhundert. Französisch, vielleicht auch englischer Herkunft.
Das war es jedoch auch schon, was ich positiv bemerken konnte. Sämtliche Ecken waren beschädigt. Einer der Füße fehlte vollständig. Die Beschläge waren aus einfachem Messing und der Unterboden wölbte sich fleckig. Offenbar wurde er einmal von einer Flüssigkeit durchdrängt.
Ich zog die Stirn in Falten. Beim besten Willen konnte ich nicht erkennen, was an dieser Kiste besonders sein sollte. Und schon gar nicht war sie einzigartig.
»Nun ...«
»Sie ist wundervoll, nicht wahr?« Er strahlte, als habe er mir Elvis’s Memoiren angeboten. Im Original. Handgeschrieben.
Ich atmete durch, suchte nach den passenden Worten, um ihm eine Absage zu erteilen, da beugte er sich vor und schürzte eine Hand an die Lippen.
»Sie werden nicht glauben, was sich in ihr befindet.«
*
Ich glaubte es tatsächlich nicht. Natürlich glaubte ich es nicht. Der feine Herr wollte mir allen Ernstes weismachen, in der Schatulle befände sich das Herz des Eddie. Stellen Sie sich das einmal vor. Was für ein Humbug. Und damit nicht genug. Edward the Head sei keine leblose Gestalt, die man an Seilen über die Bühne führen müsse. Er sei, halten Sie sich fest, die Inkarnation des Golem, wer auch immer das sein sollte, und Derek Riggs habe sich lediglich der uralten Legende um Rabbi Loew bedient, als er mit seiner Erweckung die Heavy Metall Szene revolutionierte.
Ungelogen, er hatte das Wort Erweckung benutzt, als ob der geniale Grafiker der Maidens mit dem Teufel im Bunde gewesen sei und einen Klumpen Lehm lebendig werden ließ.
Je länger ich ihm zuhörte, je deutlicher wurde mir bewusst, dass mein Gegenüber nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Seine elegante Erscheinung, sein vornehmes Gehabe, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er völlig verrückt war.
Unglücklicherweise bin ich im Absagen erteilen nicht sonderlich gut und wie er so mit seinen leuchtenden Augen vor mir stand, so völlig begeistert von seinem Artefakt, wie er es nannte, da hat er mir beinahe leidgetan. Armer Irrer, dachte ich. Ich könne die Truhe ja eine Zeit lang ausstellen und wenn ich sie verkaufen würde, solle ich ihm einfach das geben, was man für sie gezahlt hätte. Abzüglich meiner Provision natürlich. Selbstredend wolle er mich nicht bedrängen. Ich sei ja ein so netter Kerl. Bla bla, bla bla ...
Was soll ich sagen, ich habe sie, wider aller Vernunft, dann doch angenommen. Niemand wird diese Holzkiste kaufen, schon gar nicht, wenn ich ihren vermeintlichen Schatz anpreise. Es war ein Fehler, ich weiß. Aber zumindest hatte ich nun ein wenig Zeit, um mir zu überlegen, wie ich ihm die Enttäuschung beibringe.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, ging ich nach hinten, ich wollte mit Bonita reden. Ihre Vorhänge bauschten sich vor der weit auf stehenden Terrassentür. Ein leerer Teller lag auf ihrem Schreibtisch, ein Hauch ihres Lieblingsduftes SUN in der Luft. Von ihr selbst jedoch keine Spur - sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden.
Nachdenklich presste ich die Lippen aufeinander. War ich vielleicht doch zu harsch zu ihr gewesen?
Ich verriegelte den Hinterausgang, nahm den Teller vom Schreibtisch und wandte mich zur Tür. Goldgelbe Krümel und ein Klecks zurückgelassener Zitronenkonfitüre verrieten mir, dass es sich um das Stück Porzellan handelte, auf dem ich die restlichen Scones drapiert hatte. Sie hatte sie allesamt aufgefuttert. Oder zur Uni mitgenommen. So oder so, sie war nicht mehr hier und so nahm ich mir vor, es gegen Abend noch einmal zu versuchen. War vielleicht ohnehin besser. Bis dahin würden sich die Wogen geglättet haben.
Mit der Zuversicht eines liebenden Vaters wandte ich mich erneut zur Tür, da fiel mein Blick auf einen roten Fleck auf dem Teppich. Von der Marmelade konnte er nicht sein, also ging ich in die Hocke und betrachtete ihn genauer. Der Tropfen war noch nicht ganz eingetrocknet und sah aus wie ...
Ich streckte einen Finger aus und leckte ihn ab. Tatsächlich, es war Blut. Bonita’s Blut. Erschrocken würgte ich an einem Kloß. Ihr wird doch nichts ...
Im gleichen Moment rügte ich meine Dummheit. Sie wird in ein Stück Glas getreten sein, als sie hinaus stürmte, sagte ich mir. Ganz bestimmt sogar. So wird es gewesen sein.
*
Der Rest des Tages verlief ereignislos. Bis zum Mittag verkaufte ich ein Paar Nylonstrümpfe, die Petra Schürmann (die bis heute einzige deutsche Miss World) 1956 als lebende Schaufensterpuppe getragen hatte. Nachmittags ein Paar Stiefel, in denen einst Gene Simmons über die Bühne stolzierte und ein weiteres, mit denen die in Bay City, Michigan, geborene und später zur erfolgreichsten Künstlerin der Musikgeschichte avancierten Madonna Louise Ciccone, für ihr Erotica Album posiert hatte.
Zwei schöne, ausgefallene Stücke, insgesamt jedoch kein berauschender Umsatz für einen ganzen Tag Arbeit. Aber ich will mich nicht beklagen, ich hatte schon weit schlimmere erlebt. Und noch weit schlimmer sind die Tage, an denen man sich eingestehen muss, ein Vermögen für etwas bezahlt zu haben, das nicht die Tinte wert war, mit der man den Scheck unterschrieben hatte. Meine größte Dummheit in dieser Hinsicht, waren wohl die zerfetzten Überreste einer in Alkohol präparierten Fledermaus. Sie ahnen es sicher schon und ja, es war wohl der Wunsch nach der Sensation, der mich daran glauben ließ, es handele sich tatsächlich um Ozzy’s legendäres Fledertier aus dem 82er Konzert, als der selbsternannte Prince of Darkness einem solchen Geschöpf, live vor abertausenden, grölenden Fans, den Kopf abbiss.
*
Bonita hatte sich nicht mehr blicken lassen, weder vor noch nach dem Essen. Offenbar hatte sie es vorgezogen, auch den Nachmittag an der Uni zu verbringen, was letztendlich jedoch auch nichts Außergewöhnliches war. Sie ist sehr ehrgeizig, wissen Sie. Und was ihr an Erfahrung fehlt, versucht sie mit Fleiß und Einsatz wettzumachen. Ihr Erfolg scheint ihr Recht zu geben und obwohl man als Vater natürlich immer besorgt ist, wenn die heranwachsende Tochter erst spät abends nach Hause kommt (da bilde ich keine Ausnahme), ist man im tiefsten Inneren selbstverständlich auch ungemein stolz. Gar keine Frage.
Ja, meine Kleine wird erwachsen, jeden Tag ein kleines Stückchen mehr und der Tag an dem sie ganz ausziehen und ihrer eigenen Wege gehen wird, ist sicherlich nicht mehr fern.
Mir graut schon jetzt davor.
Wie immer schloss ich das Geschäft pünktlich um fünf. Während ich die Alarmanlage aktivierte, fiel mein Blick auf die kleine Truhe, die noch immer auf dem Tisch in der Sitzecke lag. Ich zog die Stirn in Falten, hatte ich sie nicht schon nach hinten gebracht? Ich konnte mich nicht erinnern.
Ich wischte den Gedanken von mir wie eine lästige Fliege, trug das Kistchen den Gang hinunter und schob es in eines der hintersten Regale. Selbstredend würde es dort keine große Chance haben, das Interesse eines Kunden auf sich zu ziehen. Aber wie gesagt, ich glaubte ohnehin nicht, dass sich irgendwer dafür begeistern könnte. Und die guten Plätze, vorne im Laden, hatte ich für die wahren Schätze reserviert.
Bevor ich den PC runter fuhr, fragen Sie mich nicht warum, tippte ich Rabbi Loew in die Befehlszeile und drückte die Entertaste. Eine halbe Sekunde später erhielt ich mehr als einhunderttausend Ergebnisse.
Sie mal einer an, dachte ich verblüfft. Den ominösen Rabbiner hatte es tatsächlich gegeben. Neugierig geworden, klickte ich auf den erstbesten Link und überflog den Artikel.
Jehuda ben Bezalel Loew war zu seiner Zeit ein über die Grenzen hinaus bekannter Talmudist, Prediger und Philosoph. Vermutlich um 1512 in Posen geboren, entstammte er der berühmten aus Worms stammenden Familie des Reichsrabbiners Jacob Löw. Jehuda sei der vielleicht bedeutendsten Denker des Judentums gewesen, las ich weiter. Zahlreiche Legenden rankten sich um seine Person. Eine davon sei die Erschaffung des Golem.
Obwohl viele Legenden einen wahren Kern besitzen, bin ich ehrlich gesagt wohl allzu sehr Realist, um mich für solch übersinnliches Zeug zu begeistern. Und so fühlte ich mich dann auch mehr als bestätigt, als ich bereits in der darauffolgenden Zeile las, einer anderen Legende nach, sei der aus einem Klumpen Lehm erschaffene Geselle bereits vierhundert Jahre zuvor zum Leben erweckt worden.
Typisch, dachte ich nur, schloss das Browserfenster und verließ mein Büro.