Читать книгу Die Sphinx in Trauer - Max Kretzer - Страница 6
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ОглавлениеNun, da es völlig Nacht um mich war, hatte sich mein Gehör verfeinert. Mein Innenleben drängte sich sozusagen durchs Ohr nach außen, so daß ich begierig auf jedes Geräusch lauschte. Der Lichtschein hatte meine Seele noch belebt und mir die freudige Vorstellung von meinem plötzlichen Erwachen ohne Hilfe des Arztes gegeben. Diese Zuversicht war jetzt verschwunden. Die Finsternis wirkte wie ein Grab auf mich. Von allen Unglücklichen auf dieser Welt war mir der Blinde stets als der Bedauernswerteste erschienen und nun litt ich selbst unter diesem fürchterlichen Eindruck, der mein Gemüt noch mehr verdunkelte.
Unfähig, die Lider zu heben, malte ich mir im Geiste immer noch den Schnörkel an der Decke mit seinen fratzenhaften Zügen aus. Meine Vorstellungen wuchsen bis ins Unendliche. Ich bildete mir ein, nie mehr sehend zu werden. Ein hilfloses Kind dünkte ich mich, dem man obendrein sein köstliches Geschenk genommen hatte. Meine kranke Seele fieberte. Kalte und heiße Schauer durchrieselten mich abwechselnd und schließlich empfand ich Angst vor einem ungeheuren Etwas, dem ich entfliehen wollte, ohne es zu vermögen. Bestimmte Einfälle verbanden sich damit. Aussprüche von Dichtern und Philosophen, an die ich jahrelang nicht gedacht habe, wurden in mir lebendig. Es war, als wollte mein Denken Triumphe feiern, da die Glieder nicht mehr meinem Willen gehorchten.
Pestalozzis Ausspruch fiel mir ein: „Der Tod ist ein Augenblick, der vorübergeht.“ Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“ klang mir Strophe für Strophe in Gedanken wieder. Und dann drehte sich alles um Melchthals Ausspruch im Tell: „Sterben ist nichts, doch leben und nicht sehen, das ist ein Unglück.“ Die trübe Stimmung wich. Schillers Lied an die Freude durchzog wie gedämpfter Gesang mein Gehirn, und alle Lebensgeister wurden wieder in mir wach. Ich empfand himmlische Sehnsucht nach einem Erwachen auf sonniger Wiese, inmitten duftender Blumen.
Dann beherrschte mich eine seltsame Vision. Ich sah schwarzgekleidete Gestalten im Zimmer, die mein Bett umstanden. Sie sangen einen Choral und meine Frau erhob die blütenweißen Arme und gab den Takt dazu an. Plötzlich warf sie sich über mich und rief: „Ich lasse dich nicht!“ Ihre Schwere nahm mir den Atem, ich fühlte, wie ich erstickte und nun wirklich tot war.
Man trug mich hinaus, so wie ich war. Musik ertönte. Die Schwarzgekleideten folgten. Und alles ging in einem langen Zug durch sämtliche Zimmer die Treppe hinunter. Dann schwieg die Musik. Die dünne Stimme meines Jungen wurde vernehmbar, Er sang das „Jesus, meine Zuversicht“. Hundert Kinderstimmen fielen ein. Posaunen ertönten, der Himmel öffnete sich, Engel schwebten herab, hoben mich in die Höhe und ließen mich plötzlich fallen. Unten auf der Erde fingen Frau und Sohn mich auf. Die Musik spielte lustige Weisen; fröhliches Lachen erschallte; und ich stand aufrecht vor meinem Hause inmitten der Passanten, als wäre nichts mit mir geschehen.
Als mein Bewußtsein wieder rege wurde, hatte ich das Gefühl, in einem Ieichten Schlummer gelegen zu haben, eingelullt durch das plötzliche Schwinden des Lichtes.
„Doktor Relle ist tot“, ließ sich eine Weiberstimme draußen vernehmen.
„Nicht möglich! So plötzlich?“ gab eine andere zurück.
Es mußten zwei Frauen sein, die sich aus den Fenstern über den schmalen Hof hinüber unterhielten.
„Woran ist er denn gestorben?“
„Das weiß man noch gar nicht. Der Chauffeur wollte es nicht sagen.“
Es herrschte große Unruhe im Hause. Nun, wo der Herr fehlte, begannen alle Bande sich langsam zu lösen. Der Tote wurde nicht mehr gefürchtet. Türen wurden geöffnet und laut zugeschlagen; man rannte hin und her, redete durcheinander und gab eilige Antworten auf mir fremde Stimmen. Jedenfalls waren es die Nachbarn, die gekommen waren, ihre Teilnahme persönlich auszudrücken, und die zugleich die Gelegenheit benützen wollten, ihre Neugierde zu befriedigen.
Diese Seitenstraße mit den Häusern des Berlins der Fünfzigerjahre hatte in ihrem Verkehr noch etwas Patriarchalisches. Die Mieter waren seßhaft, kannten sich gegenseitig, begrüßten sich und standen in einem gewissen oberflächlichen Verkehr. Ein kleinstädtischer Zug war vorhanden, der sich vorteilhaft abhob von den Gepflogenheiten der Bewohner in neuzeitlichen Mietpalästen, die sich weder um Hinz noch Kunz bekümmern und steif aneinander vorübergehen, als sei jede Etage eine für sich abgeschlossene Welt.
Die Tür zum Nebenzimmer war offen geblieben. Es mußte jemand die Absicht gehabt haben, zu mir einzutreten, ohne seinen Entschluß auszuführen. Eine verfettete Stimme machte sich bemerkbar, die die Worte asthmatisch hervorholte. Es war die dicke Hauswirtin aus dem Parterre, eine Rentière, die, trotzdem sie auf einem Sack voll Gelder saß, niemals verreiste, den ganzen Tag über das Straßenbild durch ihren Fensterspiegel beobachtete, ihre Hauskatze dabei streichelte und alle Eingänge fest verschlossen hielt, da sie an einer ewigen Angst vor Dieben und Einbrechern litt.
Wenn man klingelte, um sie zu besuchen, dauerte es eine ganze Weile, ehe geöffnet wurde, nachdem man durch die Tür ein Examen hatte bestehen müssen. Trotzdem sie sich selten in den Wohnungen ihrer Mieter sehen ließ, aus Furcht, man könnte sie an längst fällige Reparaturen erinnern, hatte sie heute doch die Kraft gefunden, ihre zweiundeinhalb Zentner die Treppe hinaufzubewegen.
„Herr Jesus, ist das aber schnell gekommen“, hörte ich sie mit ihrer Fettstimme klagen. „Nun heißt’s den Kopf oben behalten, Frau Doktor … I’ was“, begegnete sie einer Einwendung meiner Frau. „Sie sind noch jung und widerstandsfähig. Als mein Seliger starb, war ich krank und elend. Da hatte ich ein anderes Päckchen zu tragen.“
Ein Stuhl knackte. Sie mußte sich mit aller Wucht gesetzt haben, was gleichsam eine gewisse Bestätigung dafür war, daß dieses Fleisch über den Seligen wacker triumphiert hatte. Überhaupt war die Erinnerung an ihn nur der Anknüpfungspunkt eines andauernden Hervorhebens seiner guten Eigenschaften, was sich im Verein mit den Klagen meiner Frau wie ein Vermischen einer Jubelhymne mit den Klängen eines Trauermarsches anhörte.
„Nun sind drei Witwen im Hause“, sagte sie wieder, nachdem sie gründlich Luft gesohöpft. „Du lieber Himmel, wie doch alles so geht. Aber, wie gesagt, — nur den Kopf oben behalten, das ist bei uns unglücklichen Frauen die Hauptsache. Entschuldigen Sie nur, — ich würde ihn mir gern noch einmal ansehen, aber ich befürchte, es bekommt mir nicht. Ich habe Tote nie sehen können. Was für ein prächtiger Mann er war, der gute Herr Doktor! Wissen Sie, meine Liebste, Beste, — er sah eigentlich in der letzten Zeit nie besonders gut aus.“
Noch am vergangenen Quartalsersten, vor einer Woche, als ich ihr persönlich die Miete überreichte, hatte sie mein Aussehen für „blühend“ erklärt und mich gefragt, woher ich die Farbe im Gesicht holte.
„Wenn Sie das Traurigste hinter sich haben, lassen Sie sich nur bald zu einem Täßchen Kaffee bei mir sehen. Ich weiß, was Trost in solchen Tagen bedeutet.“
Abermals knackte der Stuhl, als würde es der Last schwer, sich von ihm zu befreien. Die Diele erzitterte, als sie ging. Meine Frau begleitete sie mit den üblichen Dankredensarten, dann aber, wieder allein im Zimmer, äußerte sie für sich Worte des Ärgers: „Muß man von dieser Person jetzt schon aufgehalten werden. Sie sollte lieber die Wasserleitung machen lassen, aber darum drückt sie sich immer.“
„Das ist wahr, gnädige Frau,“ ließ sich Lina vernehmen, die gerade dazugekommen war.
„Sagen Sie nur, wo bleibt bloß Sophie?“ fragte Irma dann aufgebracht.
„Das Mädchen läßt sich auch Zeit, wenn sie einmal unterwegs ist.“
Sophie war die Zofe meiner Frau, eigentlich ein besseres Hausmädchen für Alles, das aus guter Familie stammte und nur für leichte Arbeit verwendet wurde.
„Wo haben Frau Doktor sie denn hingeschickt?“ fragte Lina.
„Ach, es ist gar nicht so weit. — Hoffentlich hat sie nichts falsch ausgerichtet.“
„Sollte sie für Frau Doktor etwas besorgen?“
„Die Läden sind ja noch zu. Sie sollte einen Brief bestellen. Kommt sie da nicht? Sie hat den Schlüssel mit… Nein, sie ist es noch nicht.“
Große Unruhe verriet sich aus ihren Worten, die noch gesteigert schienen, als sie nach einem Weilchen wieder begann: „Ich hätte noch verschiedene Gänge für sie. Sie sollte auch noch ein Telegramm aufgeben. Mein Schwiegervater muß doch benachrichtigt werden.“
Ich hätte ihr zurufen mögen: Laß’ das, jage ihn nicht unnütz in Schrecken. Ich lebe ja, mein Herz schlägt dir so nahe, daß du es hören müßtest, wenn du noch einmal zu mir zurückkehrtest. Ich liebe dich mehr denn je, nur die Sprache fehlt mir. es dir aufs neue zu sagen. Vielleicht nur noch Minuten, und ich halte dich wieder in meinen Armen.
Und abermals reckte der gefesselte Riese sich in mir, gegen die dunklen Mächte des verkappten Todes anzukämpfen.
„Der arme, alte Herr Pastor, was wird er dazu sagen, wenn er so plötzlich davon erfährt“, sagte Lina wieder. „Wissen sie noch, Frau Doktor, wie fidel er sich über seinen Herrn Sohn freute, — über sein Aussehen und so. Nein, es ist doch zu schrecklich.“
Ja, der arme Alte! Ich malte ihn mir aus, wie jäh er aus seiner behaglichen Ruhe in seinem Dorfe aufgeschreckt werden würde, wie er alle Hoffnungen die er auf seinen einzigen Sohn gesetzt hatte, plötzlich elend zertrümmert sehen, wie die Einsamkeit seines späten Alters vernichtend auf ihn wirken würde.
„Die Depesche könnte Karl eigentlich schnell besorgen,“ begann Irma, „oder nein, lassen sie es nur, er ist in der Garage. Dann gehen Sie wohl, Lina. Aber nein, ich kann Sie auch nicht missen. Es klingelt ja alle Augenblicke, ich mag die Menschen nicht sehen. Lassen Sie dann niemand herein, wenn ich fort bin. Erst will ich natürlich den Arzt abwarten, ich muß ja den Totenschein haben, sonst kann ich nichts machen.“
„Gnädige Frau müssen auch aufs Standesamt und zur Polizei.“
„Es wird jemand kommen, der mir die Gänge abnimmt.“
„Ach so.“
„Gehen sie jetzt und besorgen sie mir etwas Frühstück. Mein Magen hängt mir. Essen muß man doch.“
Stille trat ein. Jeden Augenblick erwartete ich, Irma würde wieder zu mir kommen, aber sie blieb im Nebenzimmer. Ich hörte es an einigen halblaut hingeworfenen Worten, die ich nicht verstehen konnte. Fortwährend wiederholte ich in Gedanken den Satz: „Es wird jemand kommen, der mir die Gänge abnimmt“. Er beherrschte mein Denken wie eine unangenehme Empfindung, die man nicht los wird und die man sich nicht erklären kann. Die Bestimmtheit, mit der sie es ausgesprochen hatte, reizte meine Neugierde. Weshalb sagte sie nicht: Er soll kommen, sondern wird. Es mußte jemand sein, den sie sicher erwartete, zu dem sie großes Vertrauen hatte und der die Veranlassung ihrer Unruhe war.
Mir fiel gar nicht ein, daß es ein Weib sein könnte. Es gibt gewisse Dinge, die uns instinktiv das Richtige ahnen lassen. Doktor Schopp konnte es nicht sein, denn dann hätte sie einfach den Namen genannt. Dasselbe wäre der Fall gewesen, wenn sie jemand aus den uns bekannten Familien hergebeten hätte. Es mußte also eine Person sein, die auch Lina bisher unbekannt geblieben war, die etwas Unbekanntes umgab, auf das sie jetzt nicht mehr Rücksicht zu nehmen brauchte.
Mein brütendes Gehirn wollte eine harmlose Lösung geben. Vielleicht war es ein ganz gleichgültiger Mensch, der ihr plötzlich ins Gedächtnis gekommen war, vielleicht ein entfernter Verwandter, einer von denen, deren man sich nur bei ganz besonderen Gelegenheiten erinnert. Und indem ich dieser Möglichkeit Nahrung gab, grollte ich ihr, daß sie mich, der ich stets offen zu ihr war und ihr mein ganzes Leben geschildert hatte, bisher im Unklaren darüber gelassen hatte.
War er reich, so hätte er sich meiner nicht zu schämen brauchen; war er arm, so hätte ich ihm sicherlich nützen können. Während der Jahre unseres Zusammenlebens mußte sie Gelegenheit gefunden haben, meine Güte in dieser Hinsicht kennen zu lernen.
Dann aber ließ ich diese Möglichkeit wieder fallen. Ich erinnerte mich, oftmals von dem Sanitätsrat gehört zu haben, daß seine Nichte ganz allein stünde, wenn er einstmals die Augen schließen würde. Und deshalb war er beruhigt, als er sie versorgt sah.
Der schlimme Gedanke kam wieder, er verfolgte mich gleichsam wie etwas Störendes, das das reine Denken trübt und immer aufs neue zurückkehrt.
Aus dieser Selbstpeinigung wuchs eine fixe Idee heraus, die meiner Einbildung den weitesten Spielraum gab. Ich sah plötzlich fremde Augen auf mich gerichtet, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Etwas wie Haß regte sich in mir, vermischt mit heimlicher Wonne, die Seelen der Menschen num nackt zu sehen. War das Sterben nur dazu da, Enthüllungen entstehen zu lassen, worüber der Abgeschiedene nicht mehr richten konnte. Abermals verspürte ich das furchtbare Drängen nach Bewegung, Licht und Worten; und wiederum empfand ich die Angst vor dem Unbegreiflichen, das in meinem Gemüte Ahnungen wie heraufziehende Nachtwolken schuf.