Читать книгу Die Sphinx in Trauer - Max Kretzer - Страница 7

4.

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Die Uhr des Kirchturms ließ zwei Schläge erschallen, die wie verweht herüber klangen. War es halbelf oder halbzwölf? Oder vielleicht noch später? Wie lange lag ich schon? Es wurde mir schwer, dies festzustellen, denn hin und wieder, wenn meine Sinne sich schärften, war es mir, als hätte ich minutenlang ohne Bewußtsein gelegen. Das wiederholte sich mit Unterbrechungen. Es war mir, als gingen über mein stilles Brüten Schlummerwellen, die mich sanft einlullten und mich jeder Einwirkung des Erdengeräusches enthoben.

Dann träumte ich wirklich; und wirklich, es war nichts Beklemmendes, das meine Seele umfing. Herrliche und schöne Träume waren es, oder eigentlich Träumeleien, kleine Übergänge vom Wachen zum Schlaf, die sozusagen an meiner Gefühlswelt vorüberhuschten. Ich verglich sie mit Oasen in der Wüste meines Zustandes, hervorgezaubert von der Schicksalsfee, die mir in dieser entsetzlichen Stunde ihr Mitleid schenken wollte.

Bald sah ich das unendliche, blaue Meer, dessen Farbe mich erfrischte und eine tolle Sehnsucht in mir erweckte; bald sah ich eine Fülle rosenroter Wolken vor mir schweben. Dann war es ein Waldidyll, in dem eine Quelle floß, helles durchsonntes Grün das Auge erquickte und hundertstimmiger Gesang der Vögel das Ohr betörte.

Dann wieder glaubte ich einen Einblick ins Paradies zu haben, mit allen den einfältigen Vorstellungen der Kinderzeit. Ich sah die Urtiere, die ersten Menschen, riesige Blattpflanzen, und plötzlich den Engel mit dem flammenden Schwert, der Adam und Eva den Zorn Gottes fühlen ließ. Violetter Dunst verhüllte zuletzt alles; ein prächtiger Bergkegel stieg aus ihm empor, der Feuergarben nach allen Seiten sprühen ließ.

Abermals entstand ein anderes Bild. Eine saftige Wiese dehnte sich vor meinen Augen, auf der langstielige Glockenblumen, sanft vom Winde angeweht, sich hin- und herwiegten. Die Kelche wuchsen sichtbar, während die Stengel immer kleiner wurden. Blühende Mädchenleiber entstanden aus den bunten Blumenkronen; sie warfen sich Kußhändchen zu, entstiegen ihrem Thron, pflückten Blümlein und wanden sie zu Kränzen. Dann tanzten sie einen Reigen, verschämt und stolz, ihre Bewegungen wurden lebhafter, bis sie in einem tollen Wirbel verschwanden.

Die Erde öffnete sich und ich sah einen schneeweißen Abgrund, in dessen Tiefe purpurfarbene Wolkenringe schwammen. Ich folgte einem unwiderstehlichen Locken, stieg hinab auf weichen Sohlen, die keinen Schall von sich gaben. Und als ich tief unten stand und nur die Öde mich umgab, senkten sich die Wolkenringe auf mein Haupt, zogen sich immer dichter um meinen Leib zusammen und trugen mich wieder sanft nach oben, wobei ich schaurige Wonne empfand.

Es war wie ein großes, herrliches Wanderpanorama der Seele, das an mir vorüberzog.

Aus einer dieser Minutentäuschungen erwachend, hörte ich sonderbares Gemurmel an meinem Bette, aus dem sich erst allmählich abgebrochene Worte herausrangen. Es kam mir wie das Gebet eines Mannes vor, der mit unterdrückten Lauten seine Andacht verrichten wollte. Zuerst glaubte ich, es wären zwei im Zimmer, denn zeitweilig hörte sich das Selbstgespräch wie die Beantwortung der Frage eines anderen an. Dann aber erkannte ich die Stimme des alten Kutschers des Sanitätsrates, der sich durch irgendeinen Umstand eingefunden hatte.

„Nun sind wir gewissermaßen noch verlassener, Herr Doktor“, sagte er im Pluralis majestatis, der seiner Sprechweise immer eine komische Würde gab. Bisher hatten wir in dem Herrn Doktor immer noch einen guten Freund — gewissermaßen seit des Herrn Sanitätsrat Tod noch den einzigen. Nun ist’s auch damit vorbei. Der alte Anton wird den Herrn Doktor nicht vergessen, nein, das tun wir nicht. Wir haben den Herrn Sanitätsrat zwanzig Jahre lang gefahren, und den Herrn Doktor beinahe an die acht Jahre, und das immer, wie sich’s gehörte. Gewissermaßen ohne Angst vor der Polizei und mit Vorsicht. Laßt doch, das versteht ihr gar nicht, ihr andern! Ihr seht in dem Herrn den Feind, gewissermaßen den großen Brotkorb. Ich aber sah in dem Herrn Sanitätsrat und auch in dem Herrn Doktor die Menschen mit ihren Klagen. Gewissermaßen hatten sie auch ihre Sorgen, große und kleine. Sie hätten’s besser gehabt, als ich? Wer sagt das? Wieso sollten sie es? Sie sind beide tot, und wir leben noch. Gewissermaßen noch, obwohl unsere Knochen schon mürbe sind wie Zunder. Und die Beine versagen uns sogar den Dienst. Aber wir, Anton Puhl, leben doch und wenn wir unser Kreuz auch elend tragen, uns schmeckt doch ’s Essen noch. Gewissermaßen noch.“

Man hätte ihn für betrunken halten können, wenn nicht seine Sprechweise so zusammenhängend gewesen wäre. Leute, die viel mit Tieren zu tun haben, werden unwillkürlich zu derartigen Selbstgesprächen verführt; sie unterhalten sich mit den Geschöpfen und da diese stumm bleiben, gewöhnen sich ihre Freunde allmählich daran, sich selbst Rede und Antwort zu stehen. Die Anwesenheit der Tiere, die sie lieben, erweckt in ihnen das Bedürfnis zu Mitteilungen, was für sie etwas Befreiendes hat.

Wie oft hatte ich den Alten überrascht, wenn er sich beim Striegeln des Braunen im Stalle die seltsamsten Geschichten mit ihm erzählte. Und nun, nachdem er lange hatte geistig fasten müssen, holte er alles doppelt nach.

Er sprach weiter, immer in derselben Weise, bald geradezu, dann sich wieder unterbrechend, nach seitwärts, als spräche er schließlich vor einer großen Versammlung. Etwas Rührendes lag in dieser Ausdrucksweise, etwas mannhaft Offenes und zugleich Einfältiges, so daß ich ihm am liebsten die Hand gedrückt hätte.

Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie ihm fast versagte: „Nun müssen wir Abschied nehmen, Herr Doktor, gewissermaßen für immer. Für meine Beine wird’s zu weit nach da draußen. Friede sei mit Ihrer Seele.“

Er schwieg. Ich hatte die Empfindung, als verrichtete er noch ein leises Gebet. Dann aber wurde er wieder lebhaft: „Ach, mein liebes Söhnchen, da bist du ja auch. Immer leise, still! Gewissermaßen schlafen die Toten nur. Und es wäre sündhaft, sie aufzuwecken. Denn selig sind, die im Herrn ruhen. Das wissen wir aus der Heiligen Schrift.“

Es war mein Junge, der sich wieder furchtsam näherte.

„Willst du das liebe Papachen noch einmal sehen? Recht so. Brauchst keine Angst zu haben. Die Toten sind besser als die Lebenden. Gewissermaßen ist das Wahrheit. Sieh nur, liegt er nicht da, als wenn er schliefe? Uns scheint es wenigstens so, als wollte er noch etwas sagen.“

Der Papagei sprach dazwischen, den jetzt erst der Alte erblickte. „Ei, sieh doch, das liebe Tierchen, will wohl auch Abschied nehmen.“

„So ist es, Vater Anton,“ erwiderte Hans zaghaft. „Vater hat ihn so lieb gehabt. Er saß so bedrückt in seinem Bauer, als wüßte er alles. Das macht, weil Vater heute noch nicht mit ihm gesprochen hat. Glauben Sie, daß solche Tiere das wissen?“

„Ob sie das wissen, mein Söhnchen! Wenn die Tiere nur erzählen könnten, was würden wir da zu hören bekommen. Gewissermaßen lauter Wahrheiten, wenn’s auch nur Neuigkeiten wären. Wir wissen das, denn wir haben unser Leben lang mit Tieren zu tun gehabt… Aber nun komm, mein Söhnchen, hier ist nicht der Ort zu solchen Gesprächen. Ich will der guten, lieben Mama noch die Hand küssen. Für das Essen, das ich in der Küche bekommen soll. Und alte Sachen hat sie uns auch versprochen. Sie ist so gut, wie das liebe Väterchen immer war. Gewissermaßen wird sie auch in den Himmel kommen dafür. Nun komm, du darfst sie heute nicht ärgern.“

Das alles brachte er in raunendem Tone hervor, als wollte er einen Schläfer nicht wecken.

Der Junge aber sträubte sich. „Erst muß ihn Jakob noch einmal sehen. Ganz nahe. Nimm du ihn, er beißt nicht, das weißt du ja.“

Plötzlich fing der Papagei an zu sprechen. Er verstand nicht viel, aber um so öfter wiederholte er immer wieder dasselbe: „Frau Doktor, wo ist Ihr Mann? …“ Das war eine der Plappereien, die ich ihm mit viel Geduld beigebracht hatte. Seine Stimme hatte etwas Menschliches; sie war weich und schmiegsam, mit einem singenden Zug, der an das Sprechen eines zarten Kindes erinnerte. Und als der Vogel jetzt „ja, ja“ hervorstieß, hatte ich fast die Empfindung, als müßte noch eine dritte Person anwesend sein.

„So schenk’ doch dem lieben Väterchen noch einen Kuß“, sagte mein Junge wieder. Das Tier sträubte sich nicht. Es verriet keine Angst, sprach nur fortwährend „ja, ja“ und ließ das Rauschen seines Gefieders dicht an meinem Gesicht wahrnehmen.

Plötzlich schallte die Stimme meiner Frau dazwischen. „Aber Hans, bist du nicht recht gescheit? Was machst du da? Bring’ das Tier weg. Sophie, gehen Sie doch mal schnell…“

Der ganze Widerwille sprach bereits aus ihr, den man gegen die unerlaubte Berührung mit einem Toten hat. Ihre sonst so glockenreine Stimme erschien mir hart, grausam, wie von einer kommend, die nie ihr Leben mit dem meinigen geteilt hatte. Nochmals wiederholte sie ihren Zuruf, strenger und abweisender als zuvor, so daß der Junge zu weinen begann. Er fühlte sich beleidigt und ging wimmernd von mir fort, begleitet von dem kreischenden Papagei, den man unsanft angefaßt haben mußte.

„Aber so hör’ doch, was Muttchen sagt“, versuchte ihn Sophie zu beruhigen. „Das Tier könnte ja krank werden, und dann wir andern auch.“

„Wovon denn? Mein liebes, gutes Väterchen tut doch keinem was.“

„Ach, das verstehst du noch nicht. Das brauchst du auch nicht. Du mußt nur gehorsam sein.“

Sie zog ihre Stimme beim Sprechen, so daß ihre Worte unendlich gleichmäßig vorkamen. Ich stellte mir wieder ihre Verschlossenheit vor, mit der sie den ganzen Tag emsig herumging, nur um ihre Arbeit zu verrichten und einsilbig zu antworten. Sie sagte nie zu viel, sprach aber stets treffend und sicher, was von der Schärfe ihres Verstandes zeugte.

Ich dachte, sie würde noch einmal zu mir zurückkehren, um mich allein zu betrachten, aber sie blieb im Nebenzimmer, dessen Tür noch immer geöffnet war. Ich hielt sie plötzlich für roh, bis ich mir einredete, sie könnte schon vor meinem Lager gestanden haben, ohne daß es mir bewußt gewesen wäre.

Anton hatte sich mit demütigen Beileids- und Dankesbezeigungen verzogen. Dann begann meine Frau wieder: „Haben Sie den Brief abgegeben, Sophie?“

„Ja, Frau Doktor. Eine Dame öffnete und sagte nur, daß es gut sei.“

„Schön.“

Sie wollte noch etwas hinzufügem, brach aber ab. Nach einer Pause fuhr sie fort: „Nun gehen Sie schnell aufs Telegraphenamt, und dann gehen Sie gleich ins Handschuhgeschäft mit heran. Es wird bis dahin auf sein. Ich habe keine schwarzen mehr. Bringen Sie mir gleich zwei Paar mit Sechseinviertel — kurze Finger … Hans, du kannst mitgehen, zieh’ dich rasch an!“ rief sie dann lauter. „Die Luft wird dir auch gut tun. Sophie wird dir helfen.“

Der Junge wollte nicht. „Ich gehe mit Sophie nicht gern“, gab er aus einem Nebenraum zurück. „Ich bleibe lieber hier.“

Die Mutter fuhr ihm laut über den Mund. „Wirst du wohl! — Wenn du nicht folgst, sperre ich dich im Sterbezimmer ein.“

Davon wollte der Junge nichts wissen. Ich merkte seiner Gegenrede die Angst an, die diese fürchterliche Drohung in ihm hervorrief. Sofort kam er bittend angeschlichen, und die Worte „Muttchen, liebes Muttchen, hab’ mich doch lieb“, perlten wie süße Schmeicheleien über seine Seele, wie immer nach derartigen kleinen Zänkereien.

Mit Sophie ging er allerdings nicht gern, weil sie für sein übermütiges Geplauder kein Verständnis hatte. Sie war zu wortkarg, was Kinder nicht vertragen können.

„Nun spute dich, Sophie kann dir auch einen Windbeutel kaufen.“

Er trampelte laut auf, immer ein Zeichen seines erwachenden Vergnügens, was ihm aber diesmal die Mutter mit einem raschen Zwischenruf verbot.

Trotzdem hielt Irma die beiden noch zurück. „Sehen Sie doch mal, Sophie,“ begann sie wieder, „steht mir der Trauerhut noch?“

„Vortrefflich. Frau Doktor halben sich ihn wohl umarbeiten lassen ?“

„Es ist noch der alte vom Begräbnis meines Onkels.“

„Wie lange sich doch so ’n Hut halten kann, Frau Doktor.“

„Man trägt ihn ja doch nur bei Gelegenheiten. Die Fasson ist jetzt wieder in Mode! Sie wissen doch — ich ließ ihn mir vor zwei Monaten neu garnieren, als Frau Theiß gestorben war. Dann konnte ich doch nicht mitgehen, weil ich erkältet war. Auch das Kleid ließ ich mir extra anfertigen.“

„Ja, ich entsinne mich, Frau Doktor. Es sitzt Ihnen noch wie angegossen.‘

„Ich kann mich also drin sehen lassen?“

„Aber Frau Doktor! Ihnen sitzt eigentlich alles. Sie haben die Figur danach.“

Abermals trat ein Pause ein. Dann sagte Irma wieder seufzend: „Wer hätte das gedacht, daß ich das nun noch alles verwenden könnte.“

„Sie müssen sich trösten, Frau Doktor“, gab Sophie zurück. „Es ist ja doch nur alles Bestimmung im Leben. Wie’s kommen soll, so kommt’s.“

„Meinen Sie? Sie haben immer eine Entschuldigung bereit. Darin bewundere ich Sie.“

„Das ist eine Art Selbsttäuschung, Frau Doktor, und das beruhigt. Wir Frauen sind ja nun doch einmal die Stärkeren, weil wir zäher sind.“

„Wie kommen Sie denn gerade darauf?“

Ihre weinerliche Stimmung war verschwunden, die sonderbare Unterhaltung hatte ihr wieder Festigkeit gegeben.

„Wie man so darauf kommt, Frau Doktor … Ich wollte, ich wäre Witwe.“

„Ach, reden Sie doch kein dummes Zeug.“ Ein kurzes Lachen begleitete die Worte, das aber sofort unterdrückt wurde. „Beinahe hätte ich ganz vergessen, wie mir zumute ist. Sie sind aber manchmal komisch in Ihren Äußerungen.“ Die Neugierde hatte sie aber stark gereizt, und so fuhr sie denn nach einem Weilchen fort: „Weshalb hätten Sie diesen Wunsch, Sophie?“

„Na, eine trauernde Braut ist doch nichts. Danach haben sich die Männer nicht mehr. Bei einer Witwe ist das ganz was anderes.“

„Gehen Sie nur jetzt!“ Es klang hart und abweisend, als wollte sie dieses Gespräch nicht weiter fortsetzen,

Während der ganzen Zeit arbeitete mein Vorstellung lebhaft. Ich glaubte beide im Zimmer herumgehen zu sehen, sah ihre Gesichter, ihr Mienenspiel — den ganzen Ausdruck dieser beiden so verschiedenen Wesen, die im Innersten vielleicht gar keine Berührungspunkte hatten, die sich aber doch zueinander hingezogen fühlten, geschieden nur durch eine Schranke, die die Herrin von der Dienerin trennt.

Es hatte wieder geklingelt, aber schwach und zaghaft. Ein verspäteter Patient wurde abgewiesen. Es war ein Arbeiter, den ich an diesem Vormittag zu mir bestellt hatte, um ihm einen Schnitt in die Finger zu machen, und der nun, um eine Hoffnung ärmer, von dannen ziehen mußte.

Alles dies hörte ich jetzt aus der Küche hereinschallen, wo Lina sich sehr laut mit Anton unterhielt. Dann verstummte auch dieses Gespräch. Jeder Laut erstarb im Hause. Es herrschte sonntägliche Stille.

Die Sphinx in Trauer

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