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Vorwort zur Edition
ОглавлениеAnarchismus scheint ein amorphes Gebilde zu sein, nicht wirklich zu fassen, nicht wirklich mit den Regeln des Wissenschaftsbetriebs zu definieren. So begegnet man dem Anarchismus auf den unterschiedlichsten Feldern, die – besieht man sie genauer – vor allem dazu verleiten zu verneinen, dass es überhaupt eine verbindliche Lehre des Anarchischen geben kann. Zu unterschiedlich sind die Ansätze verschiedener Schulen und Vertreter dessen, was man leichtfertig unter dem Begriff des Anarchismus zusammenfasst.
Anarchisten und die, die sich damit beschäftigten, gab es wahrscheinlich schon immer. Aus der Idee der ‚Gesellschaft ohne Herrschaft‘ wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert so etwas wie eine Lehre – mit vielen Gesichtern und einer bewegten Geschichte, mit Phasen der Popularität und Jahren der Bedeutungslosigkeit, er zog Intellektuelle an, aber hatte nie die Bindungskraft und Faszination, die der Sozialismus oder Faschismus auf die Massen ausübte. Als soziale Bewegung geriet er fast in Vergessenheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich im englischsprachigen Raum wieder vermehrt Intellektuelle wie Noam Chomsky und Murray Bookchin mit den Ideen des Anarchismus. Auch auf Künstler und Literaten übte die Utopie der Herrschaftslosigkeit schon immer eine starke Anziehung aus. Die Protestbewegungen der 1960er Jahre grub die anarchistischen Klassiker aus und bis heute zeigen sich Freiheits-Aktivisten auf der ganzen Welt von den Grundideen des Anarchismus geprägt.
Was ist aber Gegenstand des Anarchismus? Es ist die Forderung nach der Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Es ist die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit und das Streben nach einer möglichst freien Gesellschaft, in der „soviel Kollektivität wie nötig und soviel Individualität wie möglich nebeneinander bestehen“, wie der Schriftsteller Horst Stowasser es formulierte. Einer, der sich intensiv damit auseinandersetzte, wieviel Kollektivität nötig und wie viel Freiheit möglich sein mochte, war Max Nettlau (1865-1944), von dem diese Edition eine Auswahl seiner wichtigsten Schriften präsentiert. Nettlau war ein Sprachforscher und einer der bedeutendsten Historiker des Anarchismus in Deutschland. Die hier vorliegenden Aufsätze sind vor allem ein wertvolles Zeitdokument zur Rekonstruktion der Kontroversen innerhalb der anarchistischen Bewegung der 1920er und frühen 1930er Jahre. Allerdings – liest man die Texte heute – sind sie nicht einfach nur Dokumente der Hauptschaffenszeit von Nettlau. Die darin behandelten Themen haben bis heute ihre Aktualität behalten. Es sind zentrale Fragen, die Nettlau verhandelt: Wie kann man freiheitliche Ambitionen im Alltag umsetzen, in der das Zusammenleben von wirtschaftlichen Sachzwängen geprägt ist? Wie lassen sich technischer Fortschritt und Ökologie miteinander vereinbaren? Wie kann man für seine Ideen werben, ohne einem intoleranten Dogmatismus zu verfallen? Nettlau war nicht nur bloßer Theoretiker des Anarchismus, der solche Fragen und etwa eine in sich geschlossene Lehre des Anarchismus zu erarbeiten versuchte. Seine Beiträge waren vielmehr der Versuch, der anarchistischen Bewegung praktische Impulse zu geben, und die sozialistischen Ideen mit dem Alltagsleben der Menschen zu verbinden.
Die hier in einer kompakten Edition zusammengefassten Texte Nettlaus erschienen in der zweiten Folge der anarchosyndikalistischen Zeitschrift ‚Die Internationale‘, die von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) herausgegeben wurde. Die FAUD war eine im Dezember 1919 gegründete anarchosyndikalistische Gewerkschaft, die aus der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) hervorgegangen war. Nettlau schrieb regelmäßig für diese Zeitschrift. In seinen Artikeln formulierte er seine grundlegendsten Gedanken in kompakter Form, weshalb diese Edition einen guten Überblick vermittelt und als Einstieg in Nettlaus Gedankenwelt zu verstehen ist. Eine Ausnahme bildet der erste Text, der die Niederschrift eines im November 1899 gehaltenen Vortrags in der Londoner Freedom Discussion Group ist.
Ein Schwerpunkt der hier versammelten Aufsätze ist die Auseinandersetzung mit dem autoritären Sozialismus, einem zentralen Thema von Nettlau. Darunter sind nicht nur der Kommunismus russischer Prägung, sondern auch alle anderen marxistischen Strömungen in Europa zu verstehen. Die Spannung zwischen den beiden sozialistischen Ideologien war so alt wie die Bewegung selbst. Doch unter dem Eindruck des bolschewistischen Kommunismus seit 1917 hatten sich die alten Konfliktlinien konkretisiert und verhärtet, wie Nettlau argumentiert: „Diese schamlose Diktatur im Sozialismus ist ein Verbrechen am Sozialismus und an der ganzen Menschheit, deren Traum und Hoffnung zu allen Zeiten nicht Zwang, Ungleichheit und gegenseitige Feindseligkeit, sondern Freiheit, Gleichheit und Solidarität oder mindestens friedliches Zusammenleben waren und sind.“ Die Sozialdemokratie wurde nicht weniger kritisiert. Nettlau verglich den Führungsanspruch der Sozialdemokraten mit dem der Priesterkaste in alten Zeiten: Die Unentbehrlichkeit der Politiker sei deren eigene Fiktion, die zu einem Selbstzweck geworden sei. Außerdem würde die Sozialdemokratie von den Kapitalisten nur noch als zähmbares Haustier gesehen, die dadurch unfähig geworden sei, ihre humanitären Zielsetzungen von Gleichheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Solch grundlegende Kritiken kennzeichnen die Werke Nettlaus in weiten Teilen. Kritik übte er auch am Anarchismus, dem er selbst am meisten abgewinnen konnte, und dessen begrenzter Wirkungsgrad er bedauerte. So forderte er wiederholt einen Schulterschluss oder zumindest eine Verständigung mit allen Elementen der Gesellschaft, die freiheitliche Ziele verfolgten. Sein Streben galt stets der Pluralität und richtete sich trotz eigener deutlicher Positionen gegen starren Dogmatismus. Auch wenn Nettlau angesichts des Nationalismus und Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts keine Hoffnung hatte, zu Lebzeiten die sozialistische Revolution im anarchistischen Sinne zu erleben, veröffentlichte er wiederholt Beiträge mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Status quo. Nettlau blieb Idealist mit einer gut gemeinten Botschaft: „Das wirkliche Ziel ist das freie Leben, das heißt die freie soziale Betätigung eines jeden, und dieses Ziel kann von keiner autoritären Richtung erreicht werden.“ Die extreme Bestätigung dafür erlebte er ab 1933.
Die Zeit des Nationalsozialismus erlebte Nettlau in Wien, wo er – nachdem die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg sein geerbtes Vermögen aufgebraucht hatte – lebte. In ärmlichsten Verhältnissen ging er dort seiner Tätigkeit nach, den Anarchismus zu dokumentieren, alles über ihn zu sammeln, darüber zu schreiben. Ergebnis dieser Tätigkeit, die er über Jahrzehnte betrieb, war nicht nur die auf 7 Bände konzipierte und ab 1925 veröffentlichte „Geschichte der Anarchie“ (wovon die beiden letzten Bände nicht mehr verlegt wurden). Ein umfängliches Archiv über den Anarchismus war das zweite „opus magnum“. Das Archiv musste er 1935 wegen seiner Geldnöte an das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (ILSG) verkaufen. Als die Nationalsozialisten 1938 Österreich „anschlossen“, ging Nettlau nach Amsterdam, seiner letzten Lebensstation, wo er bis zu seinem Tod, 1944, unbehelligt an der Katalogisierung seines Archivs arbeitete.