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Einige Worte über konstruktiven Sozialismus (1930)
Оглавление(Erstpublikation Februar 1930, erschienen in: „Die Internationale“)
Unter sechs von Nestor Machno an Malatesta gerichteten Fragen befindet sich die folgende: “(3) Welche Mittel soll der Anarchismus außer der sozialen Revolution benutzen und über welche verfügt er, um seine konstruktiven Auffassungen zu zeigen und hervorzuheben?”
Hierzu macht der Genfer Risveglio folgende seinen eigenen Standpunkt präzisierenden Ausführungen: “Der Anarchismus sucht vor allem den Tag zu beschleunigen, an dem die Massen zur Revolution als Mittel greifen, da er überzeugt ist, daß eine neue Entwicklung sich nicht auf andere Weise einen Weg bahnen kann. Wie unter dem Regime des Feudalismus alles zur Unterwerfung unter den Feudalismus führte, so löst sich unter dem kapitalistischen Regime alles in Einordnung in den Kapitalismus auf. Es gibt wohl die ganze tägliche Propagandaarbeit, Protestaktionen, Widerstand und Empörung und ebenso die Vorbereitungs- und Erziehungsarbeit, aber wir glauben nicht, daß man auf dem Gebiet der konstruktiven Auffassungen viel zeigen und hervorheben können wird, außer, versteht sich, theoretisch. In jedem Milieu gedeiht nur das sich demselben Anpassende, und wir möchten vor allem dieser Anpassung ein Ende machen. Fallen wir nicht unsererseits in den Irrtum der egalitären Sozialisten, den Glauben entstehen zu lassen, daß man schon mit dem heutigen Regime und seinen Einrichtungen viel erreichen könne, denn dann ist es natürlich, daß man nicht mehr an die Revolution denkt. Dies geschieht dann auch, wenn außerordentliche Verhältnisse eine solche Revolution erfordern, erleichtern und auf einmal hervortreten lassen wie 1918 bis 1919; man fühlt sich dann gar nicht dazu angeregt, ihr zu folgen und sie vorwärtszutreiben, ihrem Ziel zu, und läßt so den Feinden Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen und dann zur grausamsten Unterdrückung zu schreiten.” Gewiß kann die Frage des konstruktiven Sozialismus durch diese Bemerkungen nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das gegenwärtige Milieu beeinflußt und beeinträchtigt ja nicht nur unsere positive Tätigkeit, sondern unser ganzes Denken und Wesen, also auch unsere sozialistischen Auffassungen und den Rhythmus all unserer sozialistischen Betätigung. Trotzdem üben wir unser Denken und unseren Willen nach besten Kräften und sollten, schon um Einseitigkeit zu vermeiden, auch praktisch konstruktive Übungen nicht unterlassen. Der menschliche Fortschritt muß auf der ganzen Linie vorgehen, und Phantasie, Gefühl und Spekulation (reine Verstandarbeit) sollen stets eine praktische Betätigung befruchten und umgekehrt. Dem von so vielen gemachten geistigen Fortschritt, der Einsicht des Wertes der Zusammenarbeit und dem gefühlsmäßigen Fortschritt, der Neigung zu uneigennütziger und freiheitlicher Solidarität, sollte wirklich eine wesentlich größere praktische Betätigung der so zahlreichen vorgeschrittenen Sozialisten entsprechen, als das heutige Organisationsleben, die übliche Propaganda und allenfalls die Teilnahme an Vereinen zu Bildungs- und Erholungszwecken und die direkten Arbeitskämpfe darstellen. Die verhängnisvolle Trennung von Kopf- und Handarbeit hat die Menschheit genug gespalten und auf beiden Seiten solche Einseitigkeit geschaffen, daß sie sich nur schwer zusammenfinden; in gleichem Sinn ist nach meiner Auffassung der ganze Sozialismus im Bann einseitiger Entwicklung, wenn er die konstruktive Seite unentwickelt läßt.
So werden ganze Generationen alt, müde und finden nichts zu tun als die tägliche Propaganda- und Organisationsarbeit usw.; dies wirkt abstumpfend wie ein ewiger Elementarunterricht, von dem nie ein Aufstieg zu eigenem Denken, eigener Forschung, eigener Ausübung des Gelernten stattfinden würde. Solcher Routine sollte man sich entreißen; sie hat bei den großen Parteien und Organisationen ganz und gar zu einer Übertragung der Tätigkeit auf delegierte, angestellte, professionelle Kräfte geführt, die sich in ihre Rolle als Führer gründlich eingelebt haben, und die jede unabhängige Betätigung der Geführten schädlich für sich halten und instinktiv bekämpfen. Der Sozialismus wird so immer unproduktiver, mechanisierter, auf einige wenige Aktionen der leitenden Kräfte beschränkt, und seine Verwirklichung würde sich bei diesem Tempo auf Hunderte von Jahren verteilen. Demgegenüber kommen die vorauszusehenden anfänglichen Unzulänglichkeiten des noch so wenig geübten konstruktiven Sozialismus wenig in Betracht. Denn wenn man hier von jedem Fehler und Mißerfolg große Nachteile erwartet und deshalb gar nichts tut, wie kann man da hoffen, nach einem revolutionären Sieg ein neues soziales Gebäude aufzurichten, das nicht an allen Ecken und Enden etwa gerade solche Fehler zeigte und Mißerfolge hervorbrächte, wie diejenigen, die man bei vorhergehender Übung zu vermeiden gelernt hätte? Wir sind leider groß in der Ängstlichkeit vor den Folgen einer unzureichenden Leistung, eines momentanen Mißerfolgs, nicht nur auf diesem praktischen, sondern auf dem Gesamtgebiet unserer Auffassungen. Nie fehlen die Kassandrarufe, die alles von der Routine Abweichende als demoralisierend, korrumpierend, parteizerstörend verschreien; nichts leichter als auf solche Weise kaltes Wasser über jede neue Initiative zu schütten. Wer aber hätte je gehen gelernt, wenn er jeden Fall gescheut hätte? Wagen wir uns also trotz allem auf das verpönte Gebiet des konstruktiven Sozialismus.
Von grundlegender Wichtigkeit scheint mir die Frage der richtigen Proportionen zu sein. Zwerghafte Organismen mit intim-kameradschaftlichem Charakter sind immer möglich, gerade so wie in sich geeinte Familien, deren Mitglieder verschiedene Berufe ausüben und unter sich, wo es zweckmäßig oder nötig ist, Solidarität ausüben. Solche Zwerggruppen sind für die Beteiligten oft sehr angenehm, ebenso oft lockern, sie sich oder zerfallen, wie Familien. Hierin liegt nichts Neues. Wenn die zum sozialistischen Leben neigenden sich auf solche Weise betätigen, mag ihnen dies Befriedigung oder, bei Disharmonie, Enttäuschungen bringen, und sie mögen ein gutes oder ein schlechtes Beispiel geben. Es wäre aber nichts gewonnen, wenn der konstruktive Sozialismus sich hiermit erschöpfen würde, und es wäre ein Verlust, wenn seine tüchtigsten Anhänger sich hierauf beschränkten, sich isolierten und ihrer Tätigkeit also selbst sehr enge Schranken setzten.
Eine kooperative Produktion in größerem Maßstab müsste in jedem Herstellungszweig in Bezug auf Größe des Betriebes, Maschinen, Absatzkreis, laufendes Kapital und Kredit usw. mindestens über dieselben Einrichtungen und Mittel verfügen wie normale kapitalistische Betriebe, oder das Unternehmen wäre von Beginn an hoffnungslos im Nachteil. Wenn dann innerhalb eines richtig ausgestatteten und gut proportionierten Betriebes an Stelle von niedrigen Arbeitslöhnen, hohen Direktionsgehalten und dem Betrieb entzogenen Profit, höhere Arbeitslöhne und eine sie nicht wesentlich überschreitende Entlohnung der technischen Leitung treten würden, und der Profit auch hierfür oder zur allmählichen Vergrößerung des Betriebes verwendet würde, so wären lebens- und leistungsfähige Organismen geschaffen, deren günstigere Arbeitsverhältnisse den Ansporn bilden sollten, solche Betriebe möglichst zu vermehren. Aber erst wenn Derartiges für eine Reihe von Produktionszweigen besteht, und wenn in zahlreichen Sozialisten der Wille erwacht ist, nur diesen Betrieben ihre Kaufkraft zuzuwenden, dann kann aus den Arbeitern und dem Käuferkreis eine sich gegenseitig mit allem Wesentlichen versorgende Gemeinschaft werden, die festbegründet dasteht und innerhalb welcher dann ein neues soziales Leben sich aufbauen kann durch neue soziale Einrichtungen, die besten Arbeitsverhältnisse, freiwilligen Wechsel in der Beschäftigung usw. Solche kleinen kooperativen Städte, oder wie man es nennen will, in denen auch das Wohnungswesen gartenstadtartig, der jetzigen Härten beraubt ist, und die in direkter Wechselbeziehung mit landwirtschaftlichen Unternehmungen auf gleicher Grundlage stünden, hätten sich in Ländern ungestörten ökonomischen und sozialen Lebens wie England, Holland, Schweden usw. längst einrichten lassen, wie Letchworth und einiges wenige andere an Gartenstädten, Gartenvorstädten, Siedlungen usw. tatsächlich ins Leben traten. Gewerkschaften und Genossenschaften, wo sie altbegründet, zahlreich und permanent sind, hätten zusammen die Anfangsmittel und Arbeitskräfte meist hinreichend beistellen können, ebenso die sozialistischen Bewegungen ihre Kaufkraft als Konsumenten. Es ist nicht geschehen, weil eben, von den Genossenschaften abgesehen, allen anderen der Glaube an die Sache fehlt. Wenn aber Derartiges nicht in dem erforderlichen Umfang, sachlich, zweckmäßig und mit rechnungsmäßiger Genauigkeit begründet und betrieben wird - wie es bei den Unternehmungen großer Genossenschaften, den gartenstadtartigen Siedlungen usw. wohl schon manchmal geschehen ist -, so entstehen betriebstechnisch minderwertige Gründungen, die ein schlechtes Ende nehmen.
Zwanglosigkeit , Reichlichkeit, ein bequemes Treiben sind dabei nicht möglich, und hierdurch scheint die Anziehungskraft solcher Organismen, deren werktätige Kräfte, wenn alles gut zusammenginge, in wesentlich verbesserten Verhältnissen leben könnten, wesentlich vermindert. Psychologisch scheint dies unvermeidlich zu sein: dem kapitalistischen Zwang steht bei den Arbeitern volle Verantwortungslosigkeit gegenüber. Mangel an Interesse an dem Unternehmen ihrer Ausbeuter, und dafür eine Arbeit mit intensivem Verantwortungsgefühl einzutauschen, erscheint dem Durchschnittsmenschen als eine Verschlechterung seiner Lage, auch wenn die Arbeitsverhältnisse wesentlich besser würden.
Dies ist auch der Grund, warum die Arbeiter in der jetzigen Vorbereitungsperiode des Sozialismus so leicht alle Macht in die Hände der Führer gleiten lassen, wodurch sie die eigene intensive Bemühung und die Verantwortung von sich abgewälzt sehen, und ebenso ist ihnen deshalb der kommunale und der Staatssozialismus so genehm, wo erst recht andere festbegründete Organismen jedem die Arbeit zuweisen und für ihn denken und ihm die Verantwortung abnehmen. Dieses passive Verhalten ist fest eingewurzelt, da es, seit in aller Urzeit Stärkere den Schwächeren den Arbeitszwang auflegten, eine Verteidigungswaffe der Ausgebeuteten war, wenn sie schon arbeiten mußten, möglichst wenig, schlecht und gleichgültig zu arbeiten. Je intensiver die Ausbeutung, bis zur heutigen Rationalisierung, desto mehr wird diese Abwehrwaffe gebraucht, und so kommt es, daß, je näher große soziale Krisen heranrücken, die, wenn ein neuer Aufbau stattfinden kann, an die Arbeitslust und Arbeitsenergie eines jeden sehr hohe Anforderungen stellen werden, desto mehr der Arbeitsprozeß den Arbeitern verhaßt und in seinem Resultat gleichgültig geworden ist.
Deshalb sollte man sich nicht bei dieser Konstatierung beruhigen und diese Verhältnisse, weil sie die heutigen Kapitalisten schädigen, prinzipiell gutheißen, sondern versuchen, entgegenzuwirken, und hier zu ist der konstruktive Sozialismus wohl das eigentliche Gegenmittel. Durch ihn würde, in tüchtig aufgebauten Produktivorganismen wie die im vorigen geschilderten, die freie Arbeit in ihrer Würde und ihren Leistungen gezeigt werden, und die Masse der Arbeiter könnte allmählich lernen, solche freiwilligen selbstbegründeten Verhältnisse der kommunalen und staatlichen Arbeitsknechtschaft vorzuziehen. Dies mag noch so schwer praktisch durchzuführen sein - es muß doch eine unserer Aufgaben bleiben, diese große Lücke auszufüllen, bevor bei einer neuen sozialen Krise weitere Teile der Menschheit der sozialen Staatsknechtschaft verfallen, wie seit dem Herbst 1917 in Rußland.
Denn es ist leicht, den Arbeitswillen einer befreiten Menschheit in den Himmel zu erheben, wie die Propagandaliteratur dies tut; man vergißt dabei die sehr großen Erholungs-, d.h. Nichtarbeits- oder Wenigarbeitswünsche, die sich dann mindestens ebenso intensiv geltend machen würden. Um da Zusammenstößen vorzubeugen, könnte eine in der vorbereitenden Übungs- und Erfahrungszeit erzielte Erziehung zum Verantwortlichkeitsgefühl und sozialer Arbeit für ein soziales Milieu gewiß nur nutzen. Vor allen Dingen sollten wir die konstruktive Arbeit des autoritären Sozialismus nicht übersehen, der seit vielen Jahren seine Mitglieder in unzählige gesetzgebende, beratende und verwaltende Stellen hineinzusetzen weiß, dazu zahllose Arbeiter aus seiner Anhängerschaft, die so aus dem privatkapitalistischen in das kommunale und staatliche System übergehen, von dem einmal zum sogenannten sozialistischen Staat und der sozialistischen Gemeinde nur ein Schritt sein wird, den diese bereits dem ganzen Organismus eingefügten Anhänger zuerst machen werden. Wenn man das Adaptation (Anpassung) nennt, ist sein Wesen dadurch nicht erschöpft; es ist bereits ein Teil des neuen autoritären Aufbaus, und wenn wir nicht wünschen, daß im entscheidenden Moment die großen Massen blindlings dieser Strömung folgen, die so plausibel und mühelos erscheint und sie von neuem des Verantwortungsgefühls enthebt, so müßten wir ein freiheitliches Gegengewicht zu schaffen versuchen. Die Genossenschaftsbewegungen sind uns bereits entgangen, weil man die für ihren Betrieb in der gegenwärtigen, über die Rohstoffe, Naturschätze und Arbeitswerkzeuge nicht frei verfügenden Zeit notwendige methodische Regelmäßigkeit und Sparsamkeit für autoritär, entwürdigend und egoistisch-pedantisch hielt. Für die Sozialdemokraten waren sie zu unabhängig, außerstaatlich und außerparteilich und so wurden sie, ihrem Schicksal überlassen, vielfach indifferent, kleinlich und weitgehenderen Zielen entfremdet. Der Syndikalismus ist von seinen unmittelbaren Aufgaben absorbiert und umschloß in den Zeiten seiner größeren Entfaltung so viel unmittelbare revolutionäre Hoffnungen, daß er irgendeine vorbereitende, teilweise, nicht das Endziel direkt anpackende Tätigkeit gar nicht ins Auge faßte und jedenfalls nicht in Angriff nahm. Unter Anarchisten besteht die erwähnte Besorgnis, die ich für übertrieben halte, durch irgendeine nicht direkt revolutionäre Handlung den Sündenfall zu begehen und der Zersetzung oder Korruption rettungslos zu verfallen, wobei aber doch der Fall eintritt, daß gerade sehr viele Anarchisten sich an Seitenbewegungen aller Art sehr eifrig beteiligen und dadurch vielfach der allgemeinen Bewegung verlorengehen. Diese bot eben ihrem Tätigkeitsbedürfnis keine direkte, irgendwie konstruktive Aufgabe, und sich der Revolution unmittelbar zum Opfer zu bringen, ist nicht jedermanns Sache; so bleiben nur die angedeuteten Spezialisierungen übrig, die unsere Idee manchmal viel zu sehr überwuchern.
Gustav Landauer, einer der wenigen, die diese Verhältnisse übersahen, versuchte zweimal, durch die Schrift “Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse” (Berlin, 1. Mai 1895; 30.S.) und durch die Gründling des Sozialistischen Bundes (1908), einen Anstoß zu praktisch-sozialistischer Betätigung zu geben, von seinem Interesse für Die Neue Gemeinschaft ganz abgesehen (“Durch Absonderung zur Gemeinschaft”, 1900). Sein zweiter “Sozialist”, seit dem 15. Januar 1909, sein Aufruf zum Sozialismus (1911) und vieles in seinem Briefwechsel begründen seinen Standpunkt überreichlich; daneben steht die harte Tatsache, daß der Bund Ende 1910 17 Gruppen zählte: fünf in Berlin und Umkreis, je eine in Breslau, Leipzig, Hamburg, Köln, Hof an der Saale, Mannheim, Heilbronn, Stuttgart und München, Bern, Zürich, Luzern. Im Februar 1912 waren es 18. Diese Organisation und Landauers persönliche Arbeitskraft und Prestige reichten gerade aus, den “Sozialist” bis zum 15. März 1915 am Leben zu erhalten als die schönste, inhaltsreichste, wirklich wertvollste anarchistische Zeitschrift , die es bis dahin in Deutschland gab. Die Mitgliederstärke der Gruppen ist mir nicht bekannt. Zu einer praktischen Tätigkeit der Gruppen als Gemeinschaft kam es nicht, und wenn lokal irgendetwas geschehen ist, blieb es vereinzelt. Ob nun diese weniger als zwanzig Gruppen 500 oder 1000 Mitglieder zählen mochten, jedenfalls sah Landauer den Miniaturcharakter der Anteilnahme und ebenso die Abneigung, der seine Initiative bei den deutschen Anarchisten begegnete, z.B. auf dem Kongreß in Halle, 16. Mai 1910, und seitens des Leipziger “Anarchist” (s. “Sozialist”, 15. August 1912), und von einem wirklichen Versuch war bald kaum mehr die Rede. Der “Sozialist”, wie Landauer ihn zusammenstellte und großenteils schrieb, war übrigens selbst ein solcher Versuch, dem Anarchismus von allen Seiten, aus dem bestem Denken aller freien Männer neues Blut zuzuführen und ihn vor der Enge und Verknöcherung zu bewahren, der er schon damals zu verfallen drohte; Landauer versuchte ihn weit, geräumig, für die verschiedenen freiheitlichen Richtungen geistig bewohnbar zu machen, auch ein Stück konstruktiver Anarchismus.
Wenn in dem großen deutschen Sprachgebiet in sechs Jahren sich kaum zwanzig kleine Gruppen für freiheitlich-konstruktiven Sozialismus zusammenfinden und auch diese keinerlei Anfang machen, ist das nun wirklich ein Beweis für die Wertlosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unmöglichkeit dieses Vorschlages oder zeigt es vor allem, wie weit wir es in der Abkehr von einer in den Verdacht, praktisch unter uns sozialistisch leben zu wollen geratenden Tätigkeit gebracht haben? Landauer schrieb einmal: “Wer mich nicht versteht, braucht nicht unbedingt mir die Schuld zu geben”, und diese kecken Worte passen wirklich auf gar manche Situationen.
Würden sich jetzt, nach zwanzig Jahren, wieder nur 500-1000 zusammenfinden, wäre ein Versuch aussichtsloser wie damals. Würden sich 5 -10 000 oder 50 -100 000 für konstruktiven Sozialismus, wenn auch auf gemäßigster Grundlage erklären, so könnte wohl etwas geschaffen werden, dem der einzelne seine gewissenhafteste Arbeitsleistung geben müßte, um es sicher zu begründen, und dann könnte jeder, der etwas an Geist und Talent zu geben hat, das neue Gebäude freiheitlich ausschmücken, und jeder, der für ein freies Milieu empfänglich ist, würde sich in demselben wohl fühlen. Solche Schöpfungen des freien sozialistischen Willens würden unter dem solidarischen Schutz der ganzen Arbeiterschaft stehen, und so weit sind wir schon, um zu erreichen, daß sie dadurch vor kapitalistischen und staatlichen Eingriffen geschützt würden. Sie würden nicht auf ein Land beschränkt bleiben und sich international verbrüdern. So können wohl eine Reihe freiheitlicher Oasen geschaffen werden, die sich, wozu es auch an Anregungen nicht mehr fehlt, teilweisen oder ganzen Austritt aus den Staaten erringen würden, was alles möglich wäre, wenn eine sympathisierende Menge, seien es die organisierten Arbeiter, seien es die radikalen und humanitären freiheitlichen Kreise aller Art, neben ihnen stehen und wenn sie selbst Hervorragendes leisten und ein wirklich der freien Zukunft den Weg weisendes Beispiel geben.
Ist also der freiheitliche Sozialismus aller Richtungen, der Anarchismus und Syndikalismus einer solchen Leistung von Zehntausenden, neben denen Hunderttausende mit solidarischen Sympathien stehen, fähig, dann wäre eine solche Tätigkeit für all diese Richtungen wohl das Zweckmäßigste, durch das sie dem beständig neue Positionen okkupierenden autoritären Sozialismus endlich wirkungsvoll entgegentreten würden. Ist eine solche Grundlage für den Anfang nicht vorhanden, sollte an ihrer Begründung gearbeitet werden; denn wenn einmal wirkliche soziale Krisen Dutzende von Millionen in Bewegung setzen werden, haben wir wenig zu erwarten, wenn wir jetzt nicht einmal einige Zehntausend aktionsfähig finden würden, mit einigen hunderttausend Sympathisierenden neben sich.
Jeder Versuch, groß oder klein, müßte im Geist hingebender Arbeit für das künftige große Ziel gemacht werden und nicht zur Erreichung unmittelbaren persönlichen Lebensgenusses. Auch für letzteren Zweck tun sich Personen zusammen, und es ist ihre Sache, und ich gönne ihnen den Genuß, nur ist eben ihre Mitarbeit am großen Bau der Zukunft gering und sie sollten auf jeden Fall nicht dabei das große Wort führen wollen. Im Übrigen ist auch ihr Wille, sich dem Druck des heutigen Systems auf irgendeine Weise zu entziehen, willkommen und zu begrüßen.