Читать книгу Kämpf um deine Daten - Max Schrems - Страница 11
4. Nazis oder Kommunisten?
Оглавление»Hallo? Ist da Europa gegen Facebook?«
»Ja, hallo!«
»Großartig. Ich bin von der New York Times und würde gerne über euch schreiben. Haben Sie ein paar Minuten?«
»Sicher, gerne. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Also, zu Beginn wollte ich fragen, warum in Europa Privatsphäre so wichtig ist. Ähm, … ist das wegen der Nazis oder wegen der Kommunisten?«
So ähnlich fing zirka jedes zweite Interview zu unserem Facebook-Verfahren mit Journalisten aus den USA an. Warum sind diese Europäer so paranoid? Gut, dass die Überwachung durch den Staat eingedämmt werden muss, das kann man als Amerikaner ja noch verstehen: Der Staat ist böse. Aber private Unternehmen sind ja schlussendlich dafür da, möglichst aus allem Profit zu schlagen. Was haben diese Europäer also mit ihrem komischen Datenschutz?
Nun kann man Journalisten bei derartigen Fragen Ignoranz, Blödheit oder amerikanischen Imperialismus vorwerfen. Ich sehe das neutraler. Man muss zugeben, dass Privatsphäre ein höchst unerklärliches, teilweise absurdes und stark kulturelles Konstrukt ist. Es gibt meistens keinen logischen Grund, warum wir gewisse Dinge im Geheimen machen wollen und andere in der Öffentlichkeit.
Als ich in China in einem Busbahnhof aufs Klo musste, trennte mich von meinem Nachbarn nur eine hüfthohe Wand. Stuhlgang wie bei den Römern, als gemeinschaftliches Erlebnis. Ich musste zum Glück nur klein. In Japan saßen wir wenige Wochen später auf Toiletten, die auf Knopfdruck Geräusche und Melodien spielten, damit draußen nur ja keine unschönen Körperlaute zu hören waren. Zwei Stunden Flugzeit trennen diese hüfthohen Abtrennungen von einer Kultur, die ganz natürliche Geräusche nicht ertragen kann und diese lieber mit Soundmodulen übertönt.
Wer in den USA durch eine Vorstadt fährt, findet keinen Zaun, keine Hecke und meistens auch keine Vorhänge. Jeder kann direkt von der Straße ins Wohnzimmer sehen. Wenn ein Bäumchen an der Grundgrenze gepflanzt wird, dann nur um klarzustellen, wie weit man seinen Rasen mähen muss. Der Front Yard ist die Visitenkarte des Hauses, im Hinterhof liegen nicht selten der Dreck, eine Hundehütte und ein altes Trampolin. In Zentraleuropa sind wir hingegen Meister der Mauern, Hecken, Zäune und Vorhänge. Meine Mutter arbeitet seit Jahren daran, eine möglichst hohe und dichte Hecke zur Straße hin zu haben. Strategisches Schneiden soll dabei höchste Bedeutung haben, sagt sie. Als wir einen alten österreichischen Freund der Familie besuchten, der nun in den USA lebt, war sofort klar wo er wohnte, als wir in seine Straße einbogen: in dem einzigen Haus mit einer dichten Hecke. Ein kleines Stück österreichische Privatheit in einem Vorort von New York.
Im Jahr 1928 hatte der US-Supreme-Court zu entscheiden, ob die US-Verfassung die Telefonüberwachung irgendwie einschränkt. Das Gericht entschied, dass es keine Privatsphäre bei Telefongesprächen gibt, denn die »Telefonleitungen sind ebensowenig Teil des Hauses oder des Büros wie die Highways, entlang derer sie gespannt sind.« Ein Telefonat ist also nicht privat. Punkt. Erst 1967 änderte das Höchstgericht seine Ansicht, und die Telefonleitungen wurden dann über Nacht doch Teil des Hauses oder Büros oder zumindest so etwas ähnliches Privates.
In den USA ist juristisch gesehen überhaupt nur das privat, bei dem Bürger eine »vernünftige Erwartung« haben können, dass es privat ist (»reasonable expectation of privacy«). Wenn es um vernünftige Erwartungen geht, trennen Europäer und Amerikaner oft Meilen oder Kilometer, je nachdem, wie man es misst.
In den USA fanden Gerichte, es sei nicht vernünftig, davon auszugehen, dass der eigene Hinterhof irgendwie privat ist, denn ein Polizeihelikopter könne ihn ja einsehen. Daher: kein rechtlicher Schutz gegen Überwachung. Auch wenn Sie jemandem anderen etwas anvertraut haben, können Sie nicht vernünftig erwarten, dass es privat bleibt. Das geht so weit, dass Sie nicht vernünftig davon ausgehen dürfen, dass Ihr E-Mail-Provider (dem Sie zwangsläufig Ihre E-Mails weitergeben müssen) diese nicht dem Staat weitergibt. Als allerdings die Polizei mit Wärmebildkameras nach Drogenplantagen suchte, entschied ein Gericht, dass man vernünftigerweise nicht davon ausgehen musste, dass ein privates Haus mit Wärmebildkameras durchleuchtet wird. Nachsatz: Es sei denn, Wärmebildkameras werden irgendwann eine weit verbreitete Technologie, dann ist es wieder nicht mehr vernünftig davon auszugehen, dass Sie mit Ihrer Pot-Plantage (oder auch nur Ihrem Ficus Benjamin) privat bleiben. Kurz gesagt: Alles, was technisch möglich und nicht unglaublich trickreich ist, ist erlaubt.
In Europa hat hingegen der Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass man auf der Straße vor einer Überwachungskamera einen Suizid hinlegen kann und trotzdem davon ausgehen darf, dass diese Bilder nicht ans Fernsehen weitergegeben werden. Aber auch in Europa ist nicht alles ein großer privater Einheitsbrei. Im hohen Norden etwa sind die Steuerdaten der Bürger öffentlich. Dort können Sie also einfach nachsehen, was Ihr Nachbar so verdient oder zumindest, wie viel er bei der Steuerbehörde angibt. Finnen konnten diese Daten sogar über einen SMS-Service abrufen. Sie sehen also, auch was innerhalb Europas als vernünftigerweise privat betrachtet wird, ist relativ.
Sexualität ist wiederum so privat, dass wir kaum jemanden Dritten daran teilhaben lassen. Jedoch gibt es eigentlich, abgesehen von den vielleicht etwas unpraktischen Gegebenheiten, keinen logischen Grund, warum wir uns nicht im Bus, der U-Bahn oder auf dem Gehsteig der Liebe hingeben sollten. Warum tun wir das also nicht? Es ist am Ende wohl Kultur. Logisch begründbar ist es, nüchtern betrachtet, nicht.
Sexualität ist übrigens ein Beispiel, bei dem wir in den USA mehr Drang zur Privatheit als in Europa sehen. Für körperliche Freuden im Auto oder im Freien haben Sie in den USA interessanterweise eine viel höhere Chance auf eine Strafe als in Europa. Denn bei Sexualität haben wir tendenziell einen weniger verschämten Umgang als unsere Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks.
Ähnliche Unterschiede sieht man auch bei diversen Umfragen. In Deutschland waren beispielsweise laut NTV im April 2014 ganze 79% gegen die Vorratsdatenspeicherung. In den USA waren ein halbes Jahr früher laut einer Umfrage der Washington Post nur 41% gegen ein ähnliches geheimes System der NSA zur Telefonüberwachung. In den USA fand die Mehrheit von 56% die Massenüberwachung akzeptabel und 45% sagten sogar, dass die Regierung auch noch alle E-Mails überwachen sollte.
Hingegen halten viele meiner Freunde in den USA die Idee eines zentralen Melderegisters für einen Fall von massiver staatlicher Überwachung. Für uns ist das wiederum vollkommen normal. Es gibt also nicht nur einen größeren und kleineren Drang nach Privatsphäre, der Drang ist noch dazu in verschiedenen Bereichen verschieden ausgebildet.
Aber abgesehen von verschiedenen Kulturen zeigt sich selbst innerhalb eines Kulturkreises eine riesige Bandbreite an Einstellungen. Die einen haben Spaß dabei, befreit am FKK-Strand in die Fluten zu springen, die anderen meiden das Schwimmbad überhaupt, weil sie nicht unter Fremden liegen wollen. Die einen stellen freudig verwackelte Selbstportraits aus ihrem Badezimmer öffentlich ins Netz, die anderen wollen überhaupt nicht fotografiert werden und wollen schon gar nicht, dass Fotos von ihnen irgendwo online zu finden sind.
Wenn wir also von Privatsphäre sprechen, reden wir eigentlich alle von etwas anderem. Wenn Sie hundert Menschen aus ihrem Umkreis fragen, was für sie privat ist und was nicht, bekommen Sie vermutlich hundert verschiedene Antworten. Besonders unterschiedlich wird es, wenn wir über verschiedene Kulturen hinweg über solche höchst abstrakten und komplizierten Werte wie Privatsphäre sprechen. Je tiefer wir dabei in die Details gehen, umso mehr sehen wir, was uns trennt. Man spricht zwar vom selben Wert, im Detail und im Konflikt mit anderen Werten haben wir aber ganz verschiedene Prioritäten.
Das sieht man natürlich auch bei anderen Themen. So sind wir uns weltweit einig, dass menschliches Leben geschützt gehört. In vielen Ländern gilt das aber nicht, wenn es um die Bestrafung eines Mörders geht. Hier ist die Strafe oder auch nur die Rache wichtiger als das Leben. Entsprechend gibt es die Todesstrafe oder eben abgehackte Hände bei Dieben. Auf die Frage, ob das richtig oder falsch ist, gibt es am Ende leider keine wissenschaftlich eindeutig richtige Antwort. Ich persönlich bin froh, in einem Land ohne staatliche Giftspritzen und Hackebeile zu leben, aber das liegt vermutlich zum größten Teil daran, dass ich es so gewohnt bin und das meinen Moralvorstellungen entspricht. Genauso können Sie über den Sozialstaat, Schranken für die Wirtschaft, die Rolle der Familie, den Sinn und Unsinn von Religionen oder tausende andere Themen jahrelang diskutieren, ohne die ultimative Wahrheit zu finden.
Natürlich gehört in der Praxis viel Größe dazu, generell zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen, Kulturen und Länder hier, vollkommen berechtigt, verschiedene Ansichten haben. Daher möchte ich auch gleich klarstellen, dass ich nicht glaube, dass meine oder die europäische Sichtweise objektiv korrekt ist, es ist nur eine Sichtweise von vielen. Diese Sichtweise ist aber genauso legitim und ist genauso zu respektieren wie jede andere. In einer demokratischen Struktur bedeutet das vor allem auch, dass es nicht mal unbedingt eine wissenschaftliche Wahrheit für diese Position braucht. Sie legitimiert sich allein über ihre allgemeine Akzeptanz oder die Mehrheitsfähigkeit. Das Ganze gilt natürlich auch für abweichende Meinungen.
Das Spannende im Internet ist nun aber, dass Gruppen, für die Privatsphäre wichtig ist, im gleichen Raum auf Gruppen treffen, die das überhaupt nicht so sehen und auch nicht unbedingt verstehen können. So gelten im Silicon Valley die Europäer mit ihrem Datenschutz für viele als vollkommen absurde Truppe. Sowas wie ein Grundrecht auf Datenschutz, wie es in der EU vorgesehen ist, kennt man dort schlichtweg nicht. Nur bei wenigen Menschen, die beim Thema Datenschutz besonders kritisch sind, gilt die EU als schillerndes Vorbild. Zu einem großen Teil wird die Idee von Privatsphäre im Netzzeitalter dort aber wie gesagt als verträumt, falsch, überkommen und jedenfalls für die Unternehmen als lästig gesehen.
Aus irgendwelchen hehren Gründen auf möglichen Profit zu verzichten ist innerhalb des liberalen Wirtschaftsverständnisses nur schwer erklärbar. Das wäre ja wie staatliche Gesundheitsversorgung für alle. Sowas kann ja auch nur den Kommunisten einfallen, würden viele ätzen.
Neben der Frage der Anerkennung von Privatsphäre an sich, kommt man hier auch zu einem zweiten Phänomen: In Europa gibt es einen viel stärkeren Drang, die armen, kleinen Konsumenten, Arbeitnehmer oder Mieter zu schützen. In den USA gibt es hingegen eine Tendenz, die Übermacht des Stärkeren als gerechten Lohn für dessen Arbeit und Kraft zu sehen. Wer sich nicht durchsetzt, hat eben verloren. Der Wilde Westen lässt grüßen, aber an sich ist diese Grundhaltung ebenso legitim wie das europäische Beschützertum.
Die Einführung von Datenschutz ist so gesehen auch nur ein logischer Schritt nach dem Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutz. Datenschutz ist nichts anderes als der Schutz der Bürger vor den übermächtigen Unternehmen und Staaten, nur eben im digitalen Informationszeitalter. Das Ziel, das damit verfolgt wird, ist, dass der Konsument nicht informationell ausgebeutet werden soll, ebenso wie Kreditnehmer, Mieter oder Arbeitnehmer nicht finanziell oder persönlich ausgebeutet werden sollen.
Der Schönheitsfehler im europäischen Konzept ist jedoch, dass die USA den weltweiten Markt für IT-Produkte massiv dominieren. Mit wenigen Ausnahmen haben US-Unternehmen die Software unserer Geräte nach ihren Vorstellungen gemacht. Unter dem Schlagwort »Code is Law« (die Software ist das Gesetz) gilt damit auch auf unseren Geräten faktisch die amerikanische Idee von Privatsphäre und Grundrechtsschutz. Die IT-Industrie arbeitet extrem schnell und will, wenn möglich, ein Produkt mit wenig Aufwand in kürzester Zeit auf der ganzen Welt verkaufen. Anpassungen an das Recht von etwas mehr als 190 Staaten der Erde sind da nicht vorgesehen und schon gar nicht erwünscht.
Die IT-Unternehmen gehen eher mit dem »Friss Vogel oder stirb« Prinzip durch die Welt, und das funktioniert recht gut. Was für andere Branchen unmöglich wäre, ist in der IT-Sparte total normal. Oder könnten Sie sich vorstellen, dass ein europäisches Auto in den USA eine Zulassung bekommen würde, ohne unzähligen US-Standards zu entsprechen? Oder, dass jemand in den USA einfach so Kaffee verkaufen könnte, ohne diesen mit unzähligen Warnhinweisen von »Achtung, heiß!« bis zu »Kaffee kann krebserregend sein!« zu verschönern? Das wäre unmöglich.
Wenn es sich aber um die Produkte handelt, in denen unsere gesamte Kommunikation, alle unsere Unterlagen, alle unsere Interessen und unser halbes Leben verarbeitet oder oft auch überwacht werden, gelten lokale Gesetze plötzlich nicht. Wenn es nach den Herstellern geht, sollten hier, unter Ausblendung des Rests der Welt, nur die Gesetze und die Kultur eines Teils der Welt gelten. Das Traurige dabei: Wir sehen diesem Geschehen zu und tun nicht mehr, als uns verbal zu empören, um dann erleichtert ein Bier trinken zu gehen.