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DAS ANDERE LEBEN - November 1986
ОглавлениеDie Sonne an diesem Morgen und die Aussicht auf die Ankunft des Koffers mit Post aus der Heimat brachten neue Zuversicht. Ein stilles Abkommen mit den Piloten der angolanischen Fluggesellschaft TAAG bescherte uns einmal wöchentlich die schnelle Beförderung der heiß ersehnten Post, die mit der Interflugmaschine aus Berlin-Schönefeld zur Botschaft in Luanda befördert wurde und nach der Kontrolle durch deren Sicherheitsdienst mehr oder weniger rasch von angolanischen Piloten auf den Weg in die Provinzen gebracht wurde.
Manchmal war der Koffer verschwunden. Zumeist tauchte er aufgebrochen und ramponiert irgendwann wieder auf. Bisweilen aber blieb er verschwunden. Abgesehen vom Wert des Koffers war der Inhalt für Diebe unergiebig, für uns aber unersetzbar. Niemand wusste, welche Nachrichten aus der Heimat verlorengegangen waren. Briefe aus der Heimat waren die einzige Chance, mit unseren Familien in Kontakt zu bleiben. Telefone gab es für uns nicht, und auf meine angolanische Nachbarin Rosa konnte ich mich entweder nicht verlassen, oder auch sie hatte bei diesem Telefonnetz keine Chance. Zweimal hatte ich sie gebeten, für mich anzurufen, aber es gab nie einen Erfolg. Die deutsche Gruppe verfügte über ein Funkgerät, aber das diente nur der Übermittlung von Zustandsberichten der mitgereisten Staatssicherheitsleute an deren Dienststellen in der Hauptstadt oder für einen absoluten Notfall. Die anderen Informanten, die es in der Gruppe gab, und von denen wir wussten oder vermuteten, schrieben wöchentlich Briefe an ihre Dienststellen in der Heimat.
An diesem Tag gab es per Funk ein Avis aus Luanda. Sobald die Boeing 707 vom Inlandsverkehr im Anflug auf die Stadt war, machte sich Björn, unser Sicherheitsmann, auf den Weg zum Flugplatz. Der lag fünf Kilometer östlich vom Stadtrand entfernt. Björn ging keiner anderen Arbeit nach, als die dreißig Leute der Gruppe zu «beschützen». Ihn unterstützten dabei im Wechsel jeweils andere Angehörige der Staatssicherheit, die stets nur sechs Monate im Land blieben. Björn wohnte mit seiner Frau Yvonne über uns und sie blieben mehrere Jahre hier.
Noch war die Luft kühl. Auf der Ostseite wärmte die Sonne bereits die Balustrade, zu der die Wohnungstüren zeigten. Die spartanisch eingerichtete Küche hatte eine separate Tür. Vor dem Sieg der Revolution hielt man auf diese Weise die Dienstboten aus dem Wohnbereich der portugiesischen Herrschaften fern. Diese Küchentür benutzte ich nur, um Björn beim Wasserzapfen den kürzesten Weg zu ermöglichen, oder manchmal, wenn mein Brotteig schon am Morgen mit einem Tuch bedeckt auf einem Hocker in der warmen Sonne stand. Das war an diesem Tage der Fall.
Zum Osten hin lagen die Hütten eines der vielen bairros zwischen dichtem Grün. Nur vereinzelt konnte man sehen, wie das Leben da unten zu erwachen begann. Umso erdrückender für mich die Gewissheit, auf dieser Seite sehr nah am Elend zu sein. Auch wenn es die Augen nicht direkt sahen, das Elend und der tägliche Tod schlichen in mein Gemüt, zerkratzten die Seele und das Gewissen, hier zu sein und doch nicht genug zu tun.
Was aber war genug, und wo sollte man beginnen? So wie es keinen Anfang gab, würde es kein Ende geben.
Ich riss mich los vom Anblick der dichten Bambusbüsche. Wie immer würde ich im unüberschaubaren Durcheinander die Hütte der Trauernden nicht herausfinden, wo mir am Abend das laute Wehklagen der komba diesen Schrecken versetzt und des Nachts den Schlaf geraubt hatte. Ich lief zur West-Seite der Wohnung und trat auf den Balkon. Nirgendwo auf der nach beiden Seiten ansteigenden Straße hatte sich ein langer, unfreiwilliger Leichenzug hinter einem dahin schleichenden Lastwagen gebildet. Der Weg zum Friedhof war weit. Er lag auf einer Anhöhe, einst außerhalb der Stadt. Heute war er längst umringt, geradezu eingeschnürt von den Elendsvierteln. Man begrub die Toten dicht an dicht in erschreckender Einfachheit. Nur selten zeigte ein Holzpflöckchen die Stätte der letzten Ruhe, die von Unkraut überwuchert bald in Vergessenheit geriet. Ein anderer Teil des Gottesackers, ein morbides Spektakel marmorner Tempel- und Kapellenarchitektur, ließ den Wohlstand der einst Herrschenden erahnen. Dieser Grabmal-Pomp war eines der Privilegien der Portugiesen gewesen und ich fragte mich, wer wohl jetzt deren opulente Grabmäler schmückt.
Die Luft war klar wie an jedem Morgen, doch irgendetwas war anders. Die laute, dicht befahrene Straße war von welkem Laub übersät. So glaubte ich, bis ich begriff, dass es Heuschrecken waren. In meinem Trübsinn hatte ich am Abend vergessen, die Wäsche von der Leine zu nehmen, die die Hälfte meines Balkons überspannte. An jedem Stück Wäsche klebten nun die gefräßigen Biester. Nur mit Ekel und Widerwillen bemühte ich mich, das grüne Getier abzuschütteln. Ich hatte mich an all diese Dinge noch nicht gewöhnt. Den grünen, jungen Tieren sah man ihre Gefährlichkeit nicht an, das einzelne Tier war auch nicht wirklich ekelig, eher grazil. Die Penetranz liegt immer in der Masse, pflegte Arne gerne zu sagen, und das beträfe nicht nur die Heuschrecken. Vier Stockwerke unter mir auf der Asphaltstraße war die Masse verendet. Ob es die Kälte der Nacht war?
Schräg gegenüber entlang der Straße waren die weiß getünchten Villen aus der Kolonialzeit in helles Licht getaucht. Wie aufgereihte Perlen blendete ihr Glanz. Nur ein paar Schritte dahinter, im nahen bairro, kamen die Menschen wie allmorgendlich stocksteif aus ihren Hütten gekrochen und wärmten sich an den gelben Lehmwänden, die sich der Sonne entgegen reckten. Solange ich die Heuschrecken über die Balkonbrüstung aus den Kleidungsstücken schüttelte, war mir beklommen zumute. Nicht der Tiere wegen, es war der Anblick dieser betrüblichen Nachbarschaft. Ich liebte es, hoch oben zu wohnen und den ungehinderten Blick bis zu den Tafelbergen schweifen zu lassen. Dieser Blick aber sah immer zugleich auch das Elend. Die Leute in den flachen, weißen Villen zogen hohe Mauern um sich oder errichteten Zäune aus lebendem Blattwerk, um das Elend, das der Bürgerkrieg gebracht hatte, von sich fernzuhalten. Wenn man mit einem von ihnen über die Menschen im bairro reden wollte, erntete man nur beleidigtes Schweigen. War denen beim Anblick des Elends ebenso beklommen zumute wie mir? Oder fühlten sie sich von den vor dem Krieg geflüchteten Landsleuten gestört? Ohne diesen sinnlosen Krieg hätte jeder Einzelne von denen sein Überleben selbst gesichert.
Warum ging mir das alles durch den Kopf? Die bairros waren — für mich jedenfalls — immer da gewesen und mit ihnen die Erklärung, warum sie da sein mussten. Ich kannte es nicht anders, die Einheimischen kannten die Zeit sehr wohl, als die Stadt nur ihnen gehörte. Damals war es angenehmer, in dieser Stadt — der Perle des Südens — zu leben. Jetzt waren viele Häuserwände zerschossen, die Fenster geborsten und etliche Bauruinen verkamen in jahrelanger Starre, weil deren Bauherren es vor mehr als zehn Jahren vorgezogen hatten, das Land zu verlassen, das kein Herrenvolk mehr um sich haben wollte. Als dann die neue Aggression begann und die lehmigen Krebsgeschwüre die Grünflächen am Stadtrand überwucherten, wurde die Perle matt, verlor ihren Glanz, und mit den Elendsvierteln schwand der junge Glanz einer geeinten Nation. Über Hunderttausend Menschen lebten jetzt in der Stadt, die für zwanzigtausend genügen würde. Die meisten waren notdürftig eingepfercht zwischen selbstgeformten Lehmwänden unter notdürftigen Dächern.
»Lauter Dumme und Faule werden es nicht sein, die jetzt dort hausen«, hatte Arne zu seiner Diplomandin Celestina gesagt.
»Wie gebrochen, wie schuldlos entwürdigt müssen die Menschen sich fühlen?«, mischte ich mich in das Gespräch, wohl ahnend, dass die Leute aus den Hütten einst auf dem Land ihr Auskommen hatten.
»Jeder Mensch, vor dem ein Unglück auftaucht, fühlt sich ausgestoßen, minderwertig geworden«, wich Celestina aus, als gäben meine Worte nur ein Gefühl wieder, einen Trugschluss. Sie hatte leicht reden. Ihr ging es gut. Sie hatte einen Beruf, konnte nebenbei studieren und fuhr einen kleinen weißen Käfer, um den sie jeder DDR-Bürger beneidete. Ob sie wirklich dachte, diese Menschen fühlten grundlos, ausgestoßen zu sein? Fragte sie danach, ob ihre Landsleute je Beistand bekamen, ob sie wirklich satt wurden und ihrer Tradition folgen konnten, ihrem Glauben nachgingen oder auch den schon längst verloren hatten? Davon wollte die Studentin nichts wissen.
Später, Gott sei Dank nicht zu spät, bekam ich dann selbst den Blick für den einzelnen Menschen in dieser beklagenswerten Masse, deren bescheidene Wünsche in den Sorgen versickerten, in den Ängsten, in der Hoffnungslosigkeit dieser staubigen Welt. Ich musste erleben, wie sie das ganz normale Leben an sich vorbeiströmen ließen und nur noch in Zeitabständen dachten, die von der einzigen Mahlzeit am Tage bis zur nächsten reichte.
Aber davon später.
An jenem Tag ahnte ich noch nichts davon. Ich ahnte nur, wie gut es mir trotz aller Einschränkung noch ging. Ich beklagte mich nie. Nur meine Unwissenheit über alles, was mich umgab, lähmte mich zuweilen, machte meinen Geist unbeweglich, ließ nur eine Denkrichtung zu. Zurück.
Am folgenden Sonntag brachen wir auf zur Fahrt nach Tundavala. Björn und Bernhard, die beiden OSK genannten Staatssicherheitsleute hatten zuvor den Weg ausgekundschaftet und ihn für sicher befunden. Es war gesetzt, dass kein DDR-Kooperant ohne Begleitung eines der OSKARs, wie wir sie kurz nannten, den Schutz der Gruppe verlassen durfte. Sogar unsere Fahrt zum einzigen freien Gemüsemarkt in dreißig Kilometer Entfernung — auf dem nicht gekauft, sondern getauscht wurde — musste einer der Bewacher mit seiner Waffe begleiten. Es war für keinen von uns noch überlegenswert, jeder hatte sich daran gewöhnt. Hier war es auch leichter als zuhause, diesen Umstand der ständigen Bewachung zu ertragen, hier gab es schließlich eine echte Gefahr.
Die Natur und der klare Himmel sollten uns diesem Tag etwas Leichtigkeit geben. Unser kleiner Konvoi nahm die Straße nordwestlich über die Tafelberge und bog hinter dem Hügel der Igreja Senhora da Monte nach Westen ab. Der Weg entlang einer Bergfalte war ausgewaschen und steinig. Rechtsseitig in der Senke lagerten Unmengen rostiger Hinterlassenschaften des Krieges. Ausgebrannte LKW, auf Minen gelaufene Panzer, zerschossene Kriegsmaschinerie. Die üppige Natur besiegte die Spuren des Verderbens, wo das Verderben noch am Leben war. Überall, wo noch vor Wochen das Braun der Dürre vorherrschte, begann dichte Vegetation zu sprießen. Jetzt war das Land wirklich grün. Nur der Jungaustrieb der kleinwüchsigen Bäume und Sträucher hatte ein rötliches Braun, als hätte die Sonne ihre ganze Pracht darin zur Ruhe gebettet, um sie an diesem Morgen zu neuem Strahlen zu erwecken. Am Wegesrand streckten rosa Agaven ihre Blütenstängel mannshoch in den Himmel. Hin und wieder blitzte das feurige Rot eines Weihnachtssternes durch das üppige Grün. Jetzt ging es der Natur gut, es regnete täglich einmal. So erquicklich diese Zeit auch war, mit dem Regen wuchs neue Gefahr. Tagsüber fühlten wir uns sicher, aber jede Dämmerung hieß Achtung vor der gefährlichen Anopheles.
Ich war das erste Mal hier oben. Alle aus unserer deutschen Gruppe fuhren gerne hier herauf auf die Felsplateaus über der Schlucht, die über sechshundert Meter in die Tiefe reichte. Hier war die Luft rein und würzig. Der einzige Hinweis auf Zivilisation war ein einsames Wirtshaus. Davor war der Weg zu Ende. Ein junger Mann im schneeweißen Hemd und dunkler Hose machte sich an den Blumenrabatten zu schaffen, ein anderer lehnte gelangweilt in der Tür. Hier herauf verirrte sich kaum ein Gast und auch wir hatten es nur auf den Picknickplatz unweit des Hauses abgesehen. Steinerne Bänke und Tische, gemauerte Grillroste und schattenspendende Bäume — Rudimente aus der Kolonialzeit. Mehr brauchten wir nicht.
Ich sog die würzige Luft tief in meine Lungen, ehe das gleißende Licht der Mittagssonne uns in den Schatten der wenigen Eukalyptusbäume verdammen sollte, die dem Holzraub der Hoffnungslosen noch entgangen waren.
Beinahe dreißig meiner Landsleute verteilten sich in kleinen Gruppen um die steinernen Tische. Jedes Paar hatte einen gut gefüllten Picknickkorb dabei und selbst gemachte Säfte. Dieser Tag hatte noch etwas Besonderes. Jemandem war es gelungen, einen Kasten N’Gola-Bier außer der Reihe zu organisieren. So alle zwei bis drei Wochen hatten wir Anspruch auf einen kleinen Kasten pro cartaò de abastecimento. Das war jene Lebensmittelkarte für den hiesigen Einkauf, die nur der bekam, der Arbeit hatte. Zwanzig kleine Flaschen Bier waren lächerlich wenig für alle, aber immerhin, es war Bier, auch wenn es zuweilen nach Stachelbeeren schmeckte.
Die fenda von Tundavala ist eine gewaltige Schlucht im Bruch zwischen Serra da Chela und Serra da Neve. Zu dieser Zeit stürzten kleine Bäche von den Felsen herab und ergossen sich in die Täler, wo sie in der dürstenden Erde versiegten. Da, wo das Wasser sich sammeln konnte, traf sich Alt und Jung.
Die Waschplätze nahe der Stadt, oft zwischen Felsgestein gelegen, waren die Badestuben für Mensch und Vieh und die Tummelplätze der Kinder. Berge von Textilien wurden hier von den Frauen gewaschen. Sie lachten und redeten dort miteinander, bis die Sonne die über heiße Felsbrocken ausgebreiteten Kleidungsstücke getrocknet hatte. Wenn die Frauen mit ihren Kiepen auf den Köpfen —bisweilen waren sie auch noch voller nasser Wäsche — und mit ihren Babys auf dem Rücken wieder nach Hause gingen, lachten sie ebenso, als wäre es keine Anstrengung.
Der schwere süße Geruch gelber Akazien breitete sich über dem Picknickplatz aus und kroch mir unerträglich stark in die Nase. Arne hatte sich einem Skatspielertrupp angeschlossen und die Frauen lamentierten über diverse häusliche Verrichtung, die für jede Einzelne nichts als Rückständigkeit bedeutete. Auch ich konnte der fremden Lebensart kein Lob abringen. Zum Lamentieren war ich noch weniger geboren worden. Keiner von uns hätte es ändern können, wenn Brot aus den Transportsäcken auf die dreckige Ladefläche des offenen Lastwagens kullerte und das Vieh, dessen Fleisch wir maximal viermal im Jahr erhielten, in Holzfällermanier zerteilt wurde.
Ich dachte an Carlos und daran, wo er wohl wohnen könnte. Ganz bestimmt da weit unten im grünen Land, von wo er seinen Blick auf die Felsen gerichtet haben mochte, die er nie erklimmen sollte. Und ich dachte an meine Kinder.
Mein mütterlicher Schmerz im Herzen und die nächtliche Angst seit meiner Ankunft, wandelten sich bald in nachdenkliche Stille. Ich fühlte mich merkwürdig untätig, obwohl es täglich viel Mühe bereitete, das profane Leben abzusichern. Mein Herz wurde nie leicht und mein Kopf war wie leergeblasen.
Das änderte sich erst viel später, als ich anfing, heimlich zum Bairro zu laufen…