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TEIL 1 — DIE VERGANGENHEIT

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JUNI 1944

Maria Jahn sieht die Bilder ihres Lebens wie in einem Reigen an sich vorbeiziehen. Erst ist es ein bunter Reigen, wie sie ihn als Kind getanzt hat, aber dann werden die Bilder immer grauer, immer düsterer. Alles um sie herum war kalt, war grau, war trostlos. Sie selber war grau, fühlte sich tot, so tot, wie ihr geliebter Hannes. Dabei hatte sie noch so große Hoffnung, dass er bald ganz zu ihr nachhause zurückkommt. Das waren jene unglückseligen Monate, in denen sie auf jeden Laut gelauscht hatte, der ihn ankündigen könnte.

Schon zweimal war er unverhofft von der Front auf Urlaub gekommen, und schon zweimal war ihnen der Abschied zur Hölle geworden. Beim letzten Mal hatte er gesagt: »Liebes Mariechen, wenn ich nicht wiederkomme, sollst du für immer wissen: Ich liebe dich, wie nichts auf der Welt. Manchmal, wenn ich im Schützengraben liege, mein Leben überdenke und glaube, dass es bald zu Ende sein könnte, bedauere ich sehr, dass keines meiner Kinder meinen Namen trägt.«

»Du kommst wieder«, hatte sie geflüstert, obwohl es ihr ganz anders zumute war, obwohl sie in ständiger Angst lebte, ihn an den vermaledeiten Heimatstolz der Deutschen zu verlieren. Ihr wäre sein Vaterstolz viel lieber gewesen.

Seit Hannes an der Front war, wusste sie umso mehr, wie sehr sie ihn liebte. Damals, als sie aus der Gegend von Breslau hierhergekommen war und in ihrer düsteren Mansarde lebte, glaubte sie noch, sie klammere sich an den erst besten Notnagel, um nicht mutterseelenallein in der fremden Gegend zu sein, wo sie niemanden sonst als ihre Kollegen kannte, wenngleich sich mit der Zeit auch liebe Gäste dazugesellten, die ihr wohlgesonnen waren und die ihre Arbeit als Kaltmamsell im »Weißen Schwan« schätzten. Hannes war ihre große und einzige Liebe und er wird es immer bleiben. Zuerst war es das Leuchten in seinen Augen und der Ausdruck in seinem Gesicht so voll Zärtlichkeit, was ihr sofort gesagt hatte: Dieser und sonst keiner. Später verfiel sie auch seiner Stimme, die warm und tief war und die so wundervolle Worte sagen konnte, wie sie noch keine von einem Mann gehört hatte.

Irgendwann war es dann passiert. Sie konnte nie mehr genau sagen, was genau geschehen war. Ihre Blicke über den Tresen hinweg? Sein Zwinkern, als sie ihn bedient hatte. In derselben Nacht wusste sie dann, wie sanft und warm sich seine Haut anfühlte, wie er behutsam durch ihr Haar strich und wie er sie zärtlich zu küssen begann. Spätestens dann hatte sie begriffen, dass sie keine Wahl hatte. Hannes war die Liebe ihres Lebens. Dass er noch tausend andere fantastische Seiten hatte, die sie überaus liebte, machte das Glück ihres Lebens vollkommen.

Wie konnte sie damals schon ahnen, dass es eine Liebe voller Tragik werden könnte. Wenn man glücklich ist, so glücklich, dass man sich über jedes Kind freut, das er einem in den Leib pflanzt, ahnt man nicht, diese Liebe würde gar nicht ihr ganzes kleines Leben ausfüllen.

Seit er weg war, hatte sie tausendmal seine Stimme gehört, mit ihm geredet, als stünde er neben ihr. Viel zu lange lebte sie in der Hoffnung, dieser gottverdammte Tag sei ein einziger Irrtum.

Im ersten Moment verfluchte sie den Überbringer der entsetzlichen Meldung mehr als die wahren Verbrecher, die ihr ganzes Übel zu verantworten hatte? War das der Traum der Menschen? Immer mehr an Land und an Macht. Sie verfolgten mit stolzer Brust, wie soldatische Einheiten in fremdes Land vorstießen. Glaubte man wirklich, das ging, ohne Leid zu säen? Leid auf der einen wie auf der anderen Seite.

Der Ortsgruppenführer in seiner senfgelben Uniform mit den angsteinflößenden rotweißen Kragenspiegeln stand vor ihr, die eine Hand geradeaus zum Hitlergruß gestreckt, in der anderen ein kleines Bündel undefinierbare Dinge. Es war nur ein Moment, ein winziger Stich in ihr Herz, bis sie im Bündel den Brustbeutel von Hannes erkannte. Die ersten Worte des Mannes hallten im Gewirr zwischen unsäglicher Angst und beißender Wut ungehört durch Marias Kopf. Der wohlgenährte Mann in seiner strammen Pose donnerte ein paar Kampfesschwüre heraus — jetzt erst recht — bis Maria endlich verstand, dass es ernst war, wie niemals zuvor in ihrem Leben etwas ernster war. »… für Führer und Vaterland gefallen: Heil Hitler!«

Sie weinte nicht einfach wie gewöhnlich, wenn die Angst und die Erschöpfung sie in unerträgliche Unruhe versetzten. Sie brüllte ihren Schmerz heraus, mit beiden Fäusten auf der uniformierten Brust des Mannes trommelnd. Er zeigte sich standfest und führte seine Rede schnöde weiter. »Dieser Krieg wird nicht mehr lange dauern. Die Zeiten sind hart, da müssen wir alle Opfer bringen und stark sein…«

Marias Augen weiteten sich, die Luft in ihren Lungenflügeln wurde knapp, und in den Adern schien das Blut zu stocken. Nach kurzer Besinnung schrie sie ihn an: »Ihr Mörder!« Danach konnte sie ihre Wut nicht mehr bezwingen: »Opfer bringen … Noch mehr Opfer … Mit dem Mutterkreuz des Führers an der Brust stark sein? Bis zum Ende …? Bis zum bitteren Ende, nicht wahr …! Wie bitter soll es noch für mich werden?«

Der Mann kniff die Lippen zusammen und hielt ihr das Blechschild entgegen, so, als müsste er den Beweis erbringen, dass Hannes Jahn nicht zum Feind desertiert ist, dass er gestorben ist wie ein Held im Kampf für Führer und Vaterland. Diese Erkennungsmarke hatte die ganze Zeit in der fleischigen Hand eines dickfälligen Menschen gelegen, wie ein kleiner Triumph der Wahrheit. Für einen Bruchteil einer Sekunde wünschte Maria sich, es könnte sein wie im Märchen von Schneewittchen, das sie noch gestern den Kindern vorgelesen hat. Der Jäger war ein guter Mensch. Er hatte die schöne Königstochter verschont, der bösen Stiefmutter aber hatte er ein falsches Herz zum Beweis für Schneewittchens Tod gebracht.

Dieser Mensch vor ihren Augen jedoch war kein gutmütiger Jäger. Seine Uniform war nicht hoffnungsvoll grün und dennoch war er der erste Mensch, der die Wucht ihrer Verzweiflung auszuhalten hatte.

Das Grauen erfasste sie irgendwann endgültig. Die Demütigung dieser herzlosen Propaganda vom notwendigen Opfer in einem solchen Moment schlug ohne Vorwarnung in puren Hass um. Sie beugte sich nach vorn, entriss dem Mann das Bündel Geld, das er als Entschädigung mitgebracht hat, öffnete die obere Klappe des Herdes und warf das Geld in den schwarzen Schlund. Wie konnte sie noch wissen, was sie tat? Ihre Beine versagten längst den Dienst und sie ging auf den hölzernen, frisch gescheuerten Dielen in die Knie, ließ den Schmerz über sich hereinbrechen und mit lautem Geschrei wieder aus sich herausströmen.

Lotte, die Tochter der alten Cecilia Merschank, war in Begleitung des Mannes gekommen. Sie hatte den Tag herbei gefürchtet, an dem Maria diese Nachricht bekommt, dieselbe, wie sie selbst eine schon vor elf Monaten bekommen hatte. Sie wusste, was es bedeutete, mit drei kleinen Kindern allein da zu stehen — in dieser Zeit. Auch Lotte war vom Verlust ihres Mannes durch den Kugelhagel des Feindes gezeichnet, aber sie hatte nur ein kleines Balg, wie sie immer sagte, und dazu hatte sie noch die Mutter bei sich, die den Haushalt beinahe alleine bestritt und die in ihrer Derbheit sogar die geizigen Bauern dazu bringen konnte, etwas Essbares herauszurücken. Weiß der liebe Gott, wie sie das machte.

Das halbe Dorf hatte vom Tod des Hannes Jahn eher gewusst als seine Familie. Auch Hannes Mutter Alma Fischer verschonte man vorsorglich von dieser Meldung, bis die Obrigkeit sich ihrer Pflicht entledigt hatte.

Keiner ging gerne mit dieser Art Nachricht zu den Witwen oder Müttern und Vätern. Man schob es hinaus mit dem Vorbehalt, man müsse abwarten, ob die Frontnachricht der Lage entspricht.

Geistesgegenwärtig nahm Lotte einen Feuerhaken und kratzte die Geldscheine aus der Asche, in der gottlob nur noch wenige Funken Glut steckten.

Irgendwann war Maria zu erschöpft, um noch länger zu schreien. Sie winselte vor sich hin und führte viele Worte im trockenen Mund, die niemand ganz verstand, die aber die Namen ihrer drei Kinder benannten, und wie sie ohne einen Vater auskommen sollten in dieser schweren Zeit: Karla. Franka. Elias.

Vereint half man ihr wieder auf die Beine, und ebenso vereint versuchte man ein zaghaftes Versprechen, sie jeder Zeit zu unterstützen. Was immer darunter zu verstehen war, dem Mann glaubte sie schon damals kein Wort. Und was Lotte betraf, so wusste sie längst, wo die Grenzen ihrer Hilfe zu erwarten waren.

Bevor der Mann in Uniform seinen Arm weit von sich steckte und seine Mission für Führer und Vaterland als beendet betrachtete, war ihm noch die heilige Pflicht eingefallen, auch ganz andere Worte zu einer Kriegswitwe sagen zu müssen:

»Es ist das Zeitalter der Frauen, Maria, aber an eines solltest du immer denken: Wenn wir den Krieg endlich gewonnen haben, dann hat dein Hannes mit seinem tapferen Kampf es erst möglich gemacht. «

Im gegenwärtigen Augenblick und noch lange danach nahm sie nichts mehr von dem wahr, was sie umgab. Sie verstand nicht einmal mehr, was um sie herum geschah, was ihre Kinder taten, was man im Radio über den Frontverlauf verkündete, den sie stets mit wachem Interesse und ängstlichem Bangen verfolgt hatte. Nicht einmal zu ihrer Schwiegermutter Alma fand sie den Weg. Es sah so aus, als floh sie innerlich von ihrer Welt, in der sie bislang so glücklich war mit ihrem Hannes. Und nicht genug, es sah auch so aus, als wünschte sie, es käme jemand, um auch sie zu vernichten, auch sie von dieser jämmerlichen, ungerechten Welt zu erlösen, sie in Staub und Asche zu verwandeln und endlich von den Qualen zu befreien. Es kümmerte sie keine schlaflose Nacht, kein Regen im Winter, kein Sturm in den Wipfeln und unter den Dachfirsten, der das Haus zu zerreißen drohte. Alles war nur die Folge dessen, was zu ihrem Leid geführt hatte — der erbarmungslose Krieg.

Auch Alma Fischer — Hannes‘ Mutter hatte noch einmal geheiratet und trug nicht mehr den Namen, den ihr Sohn noch trug — fand den Weg zu Maria erst spät. Es gab eine Zeit, da war sie gram mit Hannes, weil er keine Hiesige wollte, weil er sich partout in diese Schlesierin verlieben musste. Wer weiß, warum die aus ihrer Heimat bis in diese Gegend gekommen war, und wer weiß, was eine treibt, die täglich von fremden Menschen umgeben ist und in diesem feinen Etablissement jedem ums Maul gehen muss. Und überhaupt, sie war viel zu zart, um einmal einen Haushalt zu führen, der ihrem Erstgeborenen gebührte.

Die Zeit nach dieser unsäglichen Nachricht — vom ersten Hahnenschrei bis zum ku-witt des Käuzchens bei Nacht — war eine unsägliche Qual für Maria. Daran änderte auch nichts, dass Karla, die schon sechs Jahre alt war, sie mit Tee versorgte, ihr die wenigen Gänge abnahm, die ein Kind schon bewältigen konnte, auch wenn vom Brot, das sie vom Bäcker holte, stets der Kanten abgenagt war.

Als der Frühling kam, spürten die Nachbarn, dass eine deutliche Veränderung in Maria begann. Die Zeit der Trauer war dem Trotz gewichen, der seit Kindertagen in Maria schlummerte. Man sah sie wieder in ihrem schönsten Kleid mit den Kindern an der Hand durch das Dorf spazieren. Sie war eine Erscheinung, der man gerne hinterher schaute. Vor allem die wenigen Männer, die es an der Heimatfront noch gab. Ihre Beine waren wieder leicht, ihr Körper schien über der Erde zu schweben, als hoben sie tausend Engel in den Stand des Himmels. Nur am Abend zuhause in ihrem Bett flossen bittere Tränen, kämpfte die Wut gegen die Erschöpfung der mühseligen Tage, hörte sie all die Laute, als trafen sie durch dicke Watte auf ihr Ohr. Völlig gefühllos lag sie da wie in den Falten von Gottes Mantel gebettet, und sie wartete darauf, dass sie einen Weg gewiesen bekam, den eine von Gott verlassene Frau zu gehen hat. Sie wusste nicht, dass alles der großen Sehnsucht geschuldet war, die sie für Jahre nicht loslassen würde.

Irgendwann sah sie ein, es würde ihr niemand helfen können, wenn sie sich nicht selbst half. Die übergroße Liebe von Hannes musste sie schon viel zu lange entbehren, aber sie war kaum imstande, ihre eigene Liebe an die Kinder weiterzugeben. Jede Regung ihres Herzens brachte den Schmerz zurück, den der Verlust von Liebe und Geborgenheit bewirkte.



...ach, dieses ewige Sehnen

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