Читать книгу ...ach, dieses ewige Sehnen - Maxi Hill - Страница 7

IM AUFWIND DES LEBENS?

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Es war einer der letzten Tage im März, der sich extra für sie herausgeputzt zu haben schien. Der Himmel war klar, nur ein paar Wolkenfetzen flogen dahin. In den Bäumen vor dem Haus schlugen die Finken, und ein Elsternpaar sammelte fleißig Nistwerk und trug es in die hohe Birke. Für einen kurzen Moment dachte Maria daran, wie gefährlich die Elstern für die winzigen Finken werden könnten und wie ungerecht doch das Leben der Kreaturen war. Die Starken nutzen die Schwachen aus, laben sich an deren Schwäche und glauben noch, es wäre ihr Recht, das ihnen vom Schöpfer zugedacht wurde.

Maria war jetzt fertig angezogen und probierte, wie sie mit dem Täschchen, das sie gewöhnlich über der Schulter trug, weil diese Art zu tragen Hannes sehr gut gefiel, auf dem Fahrrad zurechtkommen würde. Immer noch vermochte sie nicht wirklich zu begreifen, was sie da tat. Aber irgendetwas sagte ihr ganz deutlich, dass sie Lottes Vorschlag innerlich erregt hatte. Die Kinder waren versorgt. Elias kümmerte sich nicht um die Mama, wenn seine Patentante Anna ihm nur einen leckeren Plins mit selbstgepflückten Heidelbeeren vor die Nase stellte. Karla und Franka warfen Blicke kindlichen Staunens auf die Mutter, die sich herausgeputzt hatte, wie nie mehr in letzter Zeit. Sie wusste, was sie trieb, aber wie hätte sie ihren Kindern erklären sollen, was ewige Sehnsucht ist und was sie bewirkt.

Ihr Herz schlug merkwürdig hart. Wovor hatte sie mehr Respekt? Vor der langen Fahrt auf dem fremden Gefährt, das Lotte besorgt hatte und von denen sie eines vor Jahren ein letztes Mal bestiegen hatte. Oder kribbelte der Gedanke an den Tanz in ihr und an die dafür nötigen Tänzer?

Wenn sie es sich richtig überlegte, war sie ein wenig befangen auch gegen Lotte, die seither an ihren Lippen hing, wenn sie nur davon sprachen. Maria konnte Lottes Bewegungen sehr gut einordnen. Ihr draller Körper stand auf Angebot, auf ein: Sieh her, ich bin noch jung und frisch. Seit Maria zugestimmt hatte, suchte Lotte umso öfter ihre Nähe. Vermutlich hatte sie Angst, Maria könnte es sich noch einmal anders überlegen. Inzwischen wusste sie auch, wie Lotte das Vorhaben vor ihrer Mutter begründet hatte. Natürlich fühle sie sich nur verantwortlich, Maria zu begleiten. Darüber verlor die selbsternannte Freundin zu Maria logischerweise kein Wort.

Die Mädchen Karla und Franka winkten der Mama hinterher. Hinter den Gardinen versteckt standen wie eh und je jene Frauen, die notorisch keiften, wenn einer der Männer aus dem Dorf Maria oder auch Lotte oder jeder anderen Witwe zu Hilfe eilte. Sie wussten nicht, wie es denen ging, die allein zurückgeblieben waren. Deren Männer waren unversehrt oder wenigstens lebend von der Front zurückgekehrt oder rasch aus der Gefangenenschaft entlassen worden. Es gab auch Männer im Dorf, die gar nicht an der Front waren. Weiß der Geier, wie sie es angestellt hatten.

Eine der Frauen rief später den Mädchen zu, als die beiden Witwen längst um die Kurve geradelt waren: »Findet ihr das schön von eurer Mama? Habt ihr keine Angst so alleine?« Franka nickte, aber Karla schüttelte ihren Kopf. Sie hatte unlängst gehört, wie ihre Mama über die Keifenden geredet hatte, und wie sie sagte, dass sie böswillig seien und dass der liebe Gott sie nicht mit Barmherzigkeit gesegnet hätte. Zwar kannte jeder hier die Gefahr, die vom Zeltlager ausging, das im Wald, kaum einen Kilometer entfernt von den Russen aufgeschlagen worden war. Aber keines der Kinder konnte die Angst der Erwachsenen verstehen. Die Kinder gingen gern dahin, wo gesungen und getanzt wurde und wo des Öfteren einmal eine Schöpfkelle Suppe übrig war. Auch wenn sie die Soldaten nicht verstanden, sie waren stets freundlich zu ihnen.

Die Fahrt mit den Rädern ging bereits an den Teichen vorbei, führte dann nach sechs Kilometern den steilen Berg hinauf, wo sie ihr Gefährt schieben mussten. Von oben ging es leicht abschüssig bis zur Stadt, was für Maria, die ungeübter im Radeln war als Lotte, eine winzige Erholung versprach.

Hinter der Stadt ging es dann stetig bergauf. Maria kämpfte nicht nur gegen Atemnot an, auch gegen ihre untrainierten Muskeln, die schon jetzt ihren Dienst zu versagen drohten. Wie sollte es erst auf der Rückfahrt werden, wenn sie vom Tanzen erschöpft sein wird. Ob überhaupt jemand mit ihr tanzen würde? Lotte hatte diese Bedenken brüsk zerstreut: Dann tanzen wir eben miteinander. Wozu sind wir zwei?

Der Wind nahm zu und Maria kämpfte auch noch mit ihren wild fliegenden Haaren, die ihr die ganze Zeit ins Gesicht schlugen. Das Kopftuch saß zu locker, aber sie konnte es nicht ständig wieder fester binden, weil sie nicht dauernd absteigen wollte. Sie war schon Hemmschuh genug für Lotte, der es gar nicht schnell genug ging; überhaupt erschien ihr Lotte merkwürdig geheimnisvoll. Maria hatte ihr geliebtes Hütchen für eine Fahrradtour noch ungeeigneter gefunden, was sich jetzt rächte. Wenigstens schob sie von Zeit zu Zeit mit einer Hand eine vorwitzige Locke zurück unter das schützende Tuch, wobei sie ständig aus der Spur kam und das Fahrrad zu schlingern begann. Wie wird sie nur aussehen, wenn sie erst angekommen waren? Wer wird sie zum Tanz auffordern, wer wird mit mildem Blick in ihr gerötetes Gesicht schauen wollen, wie es Hannes getan hatte, meistens, und wie sie es seit langem vermisste.

Vor dem Gasthaus, das direkt an der Straße stand, stiegen sie endlich ab und schoben die Räder auf den Hof. Vor der Tür zum Saal stand eine Traube junger Männer, die den ankommenden Mädchen erwartungsvoll entgegen schauten. Maria sah es wohl, dass Lotte unbemerkt eine Hand hob. Lotte war nicht so schüchtern wie sie, das musste sie akzeptieren. Zwei der Kerle schlugen einem anderen freundschaftlich auf die Schulter. Dieser junge Mann trug eine Schiebermütze und es war derjenige, der Lotte zugewinkt hatte. Von einem anderen, hochgewachsenen, der im Lichtkegel stand und dessen Haar glänzte, hörte Maria die Worte: »Nichts für mich.« Es war wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl sie nicht wusste, wem die Worte des Mannes galten, den sie pomadig nennen würde, aber nur wegen der glänzenden Paste in seinem Haar. Ein anderes Urteil stand ihr nicht zu.

Drinnen im Saal gab es noch immer die vom Krieg verschonte Tanzfläche, wie Maria noch nie eine gesehen hatte, wie sie ihr aber in allen Einzelheiten beschrieben worden war, und die stimmten: Ein Karree aus blauen, gelben und roten Glasflächen direkt vor dem Bühnenpodest, wo die Kapelle saß. Unter dem Glas brannte Licht — welch eine Verschwendung!

Später konnte sie beobachten, wie das Licht blau oder gelb, manchmal auch rot an den Beinen der Tanzenden empor kroch bis tief unter die Kleider der Frauen. Das schien der geplante Sinn dieser Fläche zu sein, die damit zum Ruf des Hauses beitrug. Drumherum in zwei Reihen standen Holztische und hölzerne Stühle, die bereits zur Hälfte belegt waren. Am Tresen stand der Wirt, der mit Adleraugen jeden taxierte, der von seiner Tochter, die den Einlass machte, hereingelassen worden war. In der Vitrine hinter dem Mann standen nur drei Flaschen Schnaps, ein Klarer, vermutlich Wodka, mit dem die Russen handelten. Ein Brauner vom Schwarzmarkt, und die Flasche mit grünem Pfefferminzlikör, der im Licht funkelte wie ein Smaragd. Daneben ein Fass, dessen Zapfhahn der Chef bereits bediente.

Die kleine Kapelle spielte sich leise ein. Einer auf einem Schifferklavier, ein anderer an einem Schlagzeug und einer der drei Musiker wechselte zwischen Flöte und einem golden glänzenden, gebogenen Instrument mit kleinen Hebeln, das Maria noch nie zuvor gesehen, vermutlich aber schon gehört hatte, denn dessen Töne gefielen ihr besonders gut und erweckten nie gesehene Bilder zum Leben, von Meer und Strand und Himmel und Sonne.

Erst einmal saßen die beiden Frauen nur da, lauschten der Musik und beobachteten, wie sich der Saal zu füllen begann. Zum Trinken war noch nicht die Zeit gekommen. Sie mussten ihr bisschen Geld gut einteilen. An der großen Eingangstür standen jene Kerle, die keine Plätze beanspruchten. Sie holten sich vom Wirt, was sie brauchten und standen wie in den Startlöchern, um schnell bei ihren Auserwählten sein zu können. Maria schaute zweimal verstohlen auf die Gruppe und könnte meinen, auch für sie sei nichts dabei, wie es der pomadige gesagt hatte. Kurz darauf waren auch jene beiden unter den Wartenden, die ihr schon, vor der Tür aufgefallen waren: Der große, pomadige, der sie beide abwertend beurteilt hatte, ebenso der mit der Schiebermütze, der Lotte zugewinkt hatte. Jetzt starrten sie immerzu in ihre Richtung. Im schummerigen Licht des Saales glänzte das Haar des Größeren nicht mehr so auffällig und er sah auch sonst gar nicht mehr so garstig aus. Der Kleinere, dem Lotte offenbar gefiel, stand auf dem Sprung, als wartete er ungeduldig auf den Startschuss, um quer über die Tanzflächen zu rennen.

Mit dem Auftakt zum Tanz hatte es auch Lotte sehr eilig, mit eben diesem Kerl, den sie offenbar von irgendwo kannte, für zwei Runden auf der Tanzfläche zu verschwinden. In der Tanzpause hatte sie Maria atemlos erklärt, sie habe diesen Waldi auf dem Schwarzmarkt kennengelernt, habe ihm einen Mantel und ein paar fast nagelneue Schuhe ihres Mannes vermacht und sei dafür großzügig belohnt worden. Vermacht? Und belohnt. Für Maria hörten sich die Worte nicht nach Schwarzmarkt an, aber darüber sollte sie nicht sinnen. Die Menschen brauchten ihre speziellen Methoden, um nicht zu verhungern, bisweilen auch dunkle Kanäle.

Nach dem zweiten Tanz blieb Lotte ganz weg. Maria kam sich mal wieder verlassen vor. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, für Lotte nur das Alibi gewesen zu sein, um sich mit diesem Kerl zu treffen. Weiß der Geier, woher sie ihn wirklich kannte und wo die beiden jetzt waren.

Es ging ihr besser, wenn sie sie sich nicht dauernd umschaute, ob Lotte zurückkam, also bestellte sie sich einen winzigen Likör, nippte aber nur daran, weil sie sich einen zweiten nicht mehr leisten wollte. Das Zeug brannte in ihrer Kehle und es war ihr, als müsste sie sofort eine Zigarette haben, aber allein ohne Lotte zu rauchen, traute sie sich nicht.

Sie verfolgte die Bewegungen des Musikers mit dem blechernen Instrument und hoffte, er würde es nie wieder weglegen. Und dann hoffte sie ebenso sehr, der Kerl, der sie zu den ersten Tänzen aufgefordert hatte, käme nicht noch einmal. Alles Hoffen schien umsonst, als sie hinter sich eine Stimme vernahm, die etwas sagte wie: Wie wär's mit uns beiden? Mit ihr hatte diese Stimme nichts zu tun, redete sie sich ein. Wenn sie einfach nicht reagierte, würde er sich um eine andere Frau bemühen, Frauen gab es ja mehr als Männer.

»Darf ich bitten?«, sagte die Stimme jetzt spürbar höflicher. Trotzig drehte Maria den Kopf und erkannte, dass es nicht der unmusikalische Trampel von vorhin war. Der Kerl, aus dem die Worte kamen, sah auf einmal so normal aus, blickte sie so offen an, dass Maria die Absurdität ihrer Lage gar nicht erkannte. Normalerweise sprangen die Mädchen freudig auf, wenn sie nur einer aufforderte. Sie aber blieb sitzen, schüttelte ihren Kopf noch immer mit der Einstellung, sie habe den unbeholfensten Tänzer der Welt vor sich. Es war aber der Kerl mit der vielen Pomade im Haar, dem sie vermutlich noch vor einer halbe Stunde gar nicht zugesagt hatte. Nix für mich. Seine Augen sahen für einen Moment fast so aus wie Hannes Augen, nicht so klar aber freundlich, nur heller, nebelgrau, was auf Maria ungewöhnlich wirkte. Sie wusste im selben Moment, dass sie sich nur etwas vormachte, dass sie, wenn sie mit ihm zur Tanzfläche ginge, sofort eine andere Meinung haben würde. Diese Kerle hatten über die Jahre des Krieges vermutlich nie richtig zu tanzen gelernt.

»Ich bin Paul«, sagte er, während sein Kopf mitsamt der Schulter eine leichte Verbeugung andeutete. »Ich wohne hier… ich meine, etwas weiter oben… auf dem Hof meiner Eltern.« Es schien abrupt, wie er seine Vorstellung beendete, aber Maria liebte es, wenn ein Mann höflich war. Und dass sich einer erst vorstellte und erst dann sein Recht einforderte, hatte sie das erste Mal nur von Hannes erlebt, und das blieb so bis zuletzt.

Irgendetwas zog sie vom Stuhl. Er hob seine Arme zur Tanzposition und sie legte sich willenlos hinein und schwebte mit ihm davon, als sei sie von einem Schluck Pfefferminzlikör bereits berauscht. Bei seinen vielen Drehungen, die für seine kräftige Statur federleicht ausfielen, jedenfalls im Gegensatz zu ihrem ersten Tänzer, schaute sie immer wieder zur kleinen Bühne, um ihren Lieblings-Musiker nicht aus den Augen zu verlieren.

»Der Saxophonspieler gefällt dir wohl?«

Aha, dachte sie. So heißt das Instrument also. Dann lachte sie: »Nicht so sehr der Spieler wie das Instrument«, erwiderte sie, obwohl sie aus unerklärlichem Grund nach ein paar Drehungen bereits außer Atem war.

»Wer bist du? Woher kommst du?«

»Ich bin kein Wer«, versuchte sie seine Nähe durch innere Distanz zu vergrößern. »Und ich bin wohnhaft, wo du noch nie warst.«

»Wohnhaft? Ist dein Zuhause auch wie die Haftanstalt?«

Warum sollte sie darauf etwas erwidern. Ihr Zuhause ist keine Haftanstalt, obwohl sie das Leben irgendwie ebenso einengte. Weil sie nichts sagte, zog er sie kräftig an sich heran: » Dann wird es Zeit, dass dich einer aufmuntert.«

Als sie seine starken Arme spürte, wurde sie ganz leicht, ganz biegsam, als sei ihre Zeit mit Hannes zurückgekommen.

»Ich heiße Maria«, sagte sie zögernd, aber noch ehe sie von ihren Kindern oder ihrem Schicksal reden konnte, schob der Mann, der Paul hieß, ihren Oberkörper wieder etwas von sich, schaute durchdringend in ihr Gesicht, lächelte aber süßsäuerlich und sagte: »Maria? Hoffentlich bist du keine Heilige.«

Sie wusste mal wieder nichts zu erwidern. Heilig war sie gottlob nicht, aber das hieß ja nicht, dass sie Gott verdammte, obwohl es nach dieser elenden Zeit nun wirklich einen Grund dafür gegeben hätte.

Ab jetzt tanzte dieser Paul immer wieder mit ihr, blieb gleich an ihrem Tisch sitzen, weil Lotte noch nicht wieder aufgetaucht war. Maria fühlte sich von dem starken Mann wie in den Himmel gehoben. Früher mit Hannes hatten sie oft getanzt, und sie waren sehr gut aufeinander eingespielt, was sie bei diesem Mann noch vermisste, logisch, alles brauchte seine Zeit. Bei seinen wilden Drehungen, wenn er sie über die Spiegelfläche wirbelte, dass ihr Rock zu schweben begann, konnte sie seinen großen Schritten nicht gut folgen und ihre Füße stießen bisweilen zusammen. Jedes Mal entschuldigte sie sich bei ihm, obwohl ja nicht nur sie die Schuldige war, wenn der Rhythmus nicht stimmte. Ihm fehlte die Einfühlung auf ihren Körper, wie ihr das Gefühl für seine Größe noch fehlte. Auch wenn sein Blick mehr zum Spiegel ging als zu ihr, fühlte sie seinen festen Griff, als sei das einer, der sie sicher durchs Leben geleitete. Dennoch stießen ihre Schuhe mal wieder gegeneinander, so ungeübt sie nach den Jahren der Entbehrung von allem Lustvollen war.

»Es tut mir leid…«, rutschte wenigstens ihr heraus. Er sah keinen Grund, sich zu entschuldigen. Im Gegenteil.

»Wenn du dich noch einmal entschuldigst, bist du mir diese Nacht schuldig«, raunte er ihr ins Ohr. »Du ahnst nicht einmal, wie sie dir gefallen könnte.«

Sie lachte, und das Lachen hatte auf einmal einen himmlischen Klang. Als die Musik wieder aufspielte und Maria dem fremden Mann in die Augen schaute, fiel ihr ein Satz ein, den Hannes einmal zitierte und der von einem Nietzsche stammen soll. Was gedacht werden kann, kann auch ausgeführt werden. Aber diese Weisheit des ihr unbekannten Nietzsche lag für Maria gefühlt in großer Ferne.

Sie tanzten noch eine Stunde zusammen und tranken miteinander. Paul war nicht geizig. Sie spürte die Kraft eines Bauernburschen in seinen Armen und in seinem Leib, die nicht einmal Hannes hatte, und der war sehr sportlich gewesen. Und sie spürte das watteweiche in ihm, das er bekam, wenn er sagte: »Augen hast du, die könnten einen schon um den Verstand bringen.«

Dass er dabei mehr auf ihre Bluse als in die Augen schaute, wunderte sie, erklärte es sich aber mit einer gewissen Scheu eines jungen, unerfahrenen Mannes. Dieses Bild verflüchtigte sich schnell, wenn Paul sie kraftstrotzend und zielsicher über das Parkett wirbelte. Ob ihrer Fehleinschätzung kam ein sonderbares Gefühl in sie, das lauwarme Glück flüchtiger Paare, das sie zu verdrängen suchte. Was sollten jetzt ihre tiefen Gedanken? Es gab viel mehr Frauen als Männer, hübsche und weniger hübsche, jüngere als sie und ältere. Manch eine ließ diesen Paul nicht aus den Augen, andere schickten wütende Blicke zu Maria. Er aber wich nicht von ihrer Seite. Maria fühlte sich nicht nur innerlich hochgehoben, sie war zum ersten Mal so voller Mut und fühlte sich so wichtig, dass sie nur noch singen wollte. Die Kapelle spielte Lilli Marlene, und Maria sang mit. »Vor der Kaserne vor dem großen Tor stand eine Laterne und steht sie noch davor. So wolln wir uns da wiedersehen, bei der Laterne wollen wir stehen, wie einst Lilli Marlen. Unsre beiden Schatten sah‘n wie einer aus, dass wir uns so lieb hatten, das sah man gleich daraus. Und alle Leute sollen sehen, wenn wir bei der Laterne stehen, wie einst Lilli Marlen…

Die beiden Schatten hatten es Paul angetan. Wenn sie in sein Gesicht sah, schien es ihr, als sei er sehr zufrieden, wie einer, der etwas genau dort haben wollte, wo es momentan war.

»Wollen wir nicht woanders hin gehen, wo unsere Schatten… ich meine, wo man ungestört …reden kann?«

Das klang zwar nicht sonderlich überlegen aber immerhin vernünftig. Vermutlich wollte er sich der anderen Frauen erwehren, die ihn belauerten. Auch wenn ihr die Musik ausnehmend gut gefiel, zu reden war immer erstrebenswert. Zudem musste sie nicht mehr ständig darauf achten, dass sie von Paul nicht ausschließlich auf der Spiegelfläche herumgewirbelt wurde, bis ihr Rock sich aufblähte und er dabei seine Blicke nicht vom Spiegelboden ließ. Das war das Einzige, was sie jetzt nicht länger brauchte. Zumal man bei der lauten Musik nicht einmal richtig miteinander reden konnte. Das Reden war die Seite des Lebens, die sich von ihr verabschiedet hatte, das wahre Reden jedenfalls. Nicht der Plausch mit den Nachbarn, nicht der mit den Kindern. Das Reden, wie sie es mit Hannes so gut konnte… Sie hob mit beiden Händen ihr welliges Haar an und ließ es langsam wieder in den Nacken fallen. Jetzt bloß nicht an Hannes denken, befahl sie sich. Jetzt lag ihr am Herzen, etwas von Paul zu erfahren, wie er lebte, wie er dachte, was er plante. Also mussten sie reden. Nicht mehr ganz so widerwillig verließ sie den Saal und ging mit ihm mit. Draußen wird sie von sich selbst sagen, sie folge nur dem Wunsch, es Lotte gleichzutun, die sich offenbar irgendwo anders als auf der Tanzfläche prächtig amüsierte. Wann hatte sie sich zuletzt einmal amüsiert?

Es war stockdunkle Nacht. Nicht eine helle Laterne gab es weit und breit, aber Paul führte sie sicher über die Straße und nach ein paar Schritten durch ein Tor in einen offenbar großen Hof. Die Fenster vom Wohnhaus waren alle dunkel. Also schliefen die Leute, die darin wohnten.

»Hier wohnen wir«, flüsterte er wie ein Kind, das sich heimlich aus dem Bettchen schlich. »Meine Eltern und ich. Wir haben viel Land und einen Stall voller Vieh. «

Paul öffnete eine hölzerne Tür. Sie quietschte in den Angeln, aber er hatte offenbar den Bogen raus, das Geräusch zu verhindern.

»Wo sind wir hier…?«

»Bei den Zossen«, sagte er, »aber keine Sorge, die schlafen jetzt auch.« Was sind denn Zossen, fragte sie sich, aber die Blöße, in seiner Welt nicht Bescheid zu wissen, gab sie sich nicht. Paul hatte plötzlich einen asthmatischen Atem bekommen, als er raunte: »Hast du schon mal gesehen, wenn ein Hengst die Stute besteigt?«

Oh ja, das hatte sie wohl, und sie war sehr jung und sehr erschrocken vor dem rötlichen Schwengel, der seinen Weg kraftvoll suchte. Paul wartete nicht auf ihre Antwort, zerrte aber merkwürdig an ihrem Mantel.

»Hier ist es nicht so kalt.« Paul flüsterte verdächtig. Sie dachte, seine Eltern dürften nichts von seiner Bekanntschaft erfahren. Noch nicht. Sein Satz vom Gefängnis konnte darauf schließen lassen. Dabei war er doch mehr als erwachsen und konnte für sich selbst bestimmen.

Es war in der Tat warm in dem Raum, der offenbar sehr groß war, größer als vermutet. Sie tasteten sich vorwärts bis zu einer Wand, an der eine Bank stand oder etwas andres, was mit Stroh ausgelegt war. Also konnte man hier gut sitzen und reden. Und vielleicht nahm er sie auch jetzt wieder in seine starken Arme. Sie stellte sich jedenfalls vor, wie es sein könnte, nicht nur auf der Tanzfläche zu spüren, noch begehrenswert zu sein.

»Die Wärme kommt von den Tieren«, sagte er wie nebenbei, aber nicht mehr flüsternd. »Deinen Mantel brauchst du gar nicht.«

Das stimmte. Es war warm, aber ob die Wärme anhielt, wenn sie sich nicht mehr wild im Tanz drehten, nur noch still dasaßen und redeten, oder ob die Wärme, die sie spürte, nur von innen kam, solange sie so aufgewühlt war von dem verblüffenden Umstand, blieb abzuwarten. Wer würde nicht aufgeregt sein, wenn man ausgerechnet dem Mann gefiel, von dem man geglaubte, dass er einen beim ersten Blick bereits abgekanzelt hatte.

Paul drückte sie auf das Stroh. Sein Griff war fest, aber nicht hart oder unvorsichtig. Dennoch war das Gefühl, nach so langer Zeit wieder von einem Mann dirigiert zu werden, äußerst befremdlich. Sie musste ihm von Hannes erzählen, unbedingt, und davon, wie sie jetzt lebte. Aber wie konnte sie es anstellen, um ihn nicht zu verstimmen.

»Haben wir nicht ein Glück, dass wir noch leben?«, flüsterte sie und fischte im Dunklen nach seiner Hand, die nicht mehr nur an ihren Mantelknöpfen großen Gefallen gefunden hatte.

»Glück nenne ich es nicht«, raunte er, schien aber keine Lust zu haben, über das Warum zu reden.

»Die meisten Menschen wären schon glücklich, wenn sie nur das Leben zurückbekommen würden, was sie mal hatten«, versuchte sie es noch einmal und hoffte, er würde sie jetzt fragen. Er fragte nicht nach ihrem Leben, was sie sehr schade fand. Immerhin wollte sie nichts anderes, als klare Verhältnisse, jetzt, wo sie wusste, wo er wohnte und was er war. Als Bauernsohn hatte er bestimmt kein leichtes Leben; aber totsicher auch keine Not.

Noch immer ließ er nicht von ihren Knöpfen, die zugegeben nicht leicht zu öffnen waren.

»Wie soll man wissen, was Glück ist, wenn man ihm nie begegnet.« Mit seinen merkwürdig melancholischen Worten floss ein Stöhnen aus dem Mund, das bedauernswert war, das aber auch genau das Gegenteil sein konnte. Sie war eine erwachsene Frau und kannte die Nöte der Männer nur zu gut.

»Möchtest du nicht mehr reden?«, entfuhr es ihr, obwohl ihr inzwischen statt seiner Hände auf ihrem Leib erst einmal seine Lippen auf ihrem Mund gefallen würden.

Sein schwerer Atem blieb, aber erst einmal erfuhr sie bei jedem Knopf, den er öffnete etwas mehr von Paul: Er war als Bauer von der Front verschont worden, um für Brot und Kartoffeln zu sorgen, und er führte auch jetzt ein ziemlich gutes Leben, weil er mit den Russen gut konnte, wie er sagte und was immer das heißen mochte. Aber Glück nenne er es dennoch nicht. Es war ein kluger Schachzug, nichts weiter. Seine Hände wurden ungestümer, aber jetzt suchten sogar seine Lippen nach ihren, was Maria erregte. Mit schwerem Atem stieß er heraus: »Von mir aus sollte kämpfen wer wollte. Ich hatte keine Lust, mich im Schützengraben als Rabenfraß wiederzufinden.«

So aufgewühlt sie auch war, diese Haltung von Paul tat Maria weh. Ein lediger Bauernsohn ließ lieber die Väter von Tausenden Kindern verrecken? Wie viele Kinder standen jetzt ohne Väter da, und wer würde sie ernähren? Zugegeben, Paul hatte bei der Ernährung der Menschen eine maßgebliche Rolle zu spielen und sie durfte ihm nichts übel nehmen. Jeder Mensch hätte so entschieden, wenn ihm das Glück hold gewesen wäre. Ihre Argumente würde er niemals verstehen, weil er ihre Geschichte nicht — noch nicht — kannte. Andererseits erschreckte sie der nächste Moment nicht minder, wenn auch nicht so negativ.

In seiner Atemnot, die sie beim Tanzen an Paul nicht gespürt hatte, flüsterte er ihr zu, dass er später etwas Butter und was immer sie brauchen würde, aus dem Speicher holen würde.

»Später«, wiederholte er mit einer Bestimmtheit, die seine Hände bestätigten. Ihr Mantel lag längst im Stroh und das Kleid, das sein Interesse am Knöpfen noch verstärkt hatte, befand sich nicht mehr dort, wo es hingehörte.

Maria wusste nicht, wohin das alles führen würde, aber in diesem Moment war sie Paul sehr dankbar für das Angebot, das er ihr nicht hätte machen müssen. Auf diese Weise kam ihr Ausflug auch den Kindern zugute, Hannes‘ Kindern.

Trotz ihrer ungewissen Erwartung schämte sie sich noch immer für ihre erste Einschätzung, die sie zu oberflächlich getroffen hatte. Er war nicht der pomadige Stenz mit der niederträchtigen Geste, den sie in ihm gesehen hatte. Er war ein Mann mit viel Liebe im Herzen und mit Händen wie jeder Mann sie hatte. Diese Hände suchten jede Rundung ihres Körpers. Irgendwann gestand er: »Ich hatte noch nie eine so zarte Frau bei mir. «

»Oh, wie viele waren es denn?«

Auch wenn ihm das Sprechen immer schwerer fiel, antwortete er in die Dunkelheit: »Ach, im Grunde nur meine Mutter und meine Schwester, aber … na ja, man ist ein Mann und man sucht etwas fürs Leben. «

Fürs Leben suchte Maria auch, insofern verstand sie ihn sehr gut. Bei Paul gab es nur den einen Umstand. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf einem Bauerngut zu leben und zu arbeiten. Davon hatte sie keinen Schimmer. Und überhaupt. Paul würde ihre drei Kinder niemals akzeptieren. Wenn sie sich nachher trennen, würde es für ihn — egal was noch passierte — ein Abschied sein.

Paul fand alles aufregend, was er berührte, und das sagte er immer wieder. Er zog sie rittlings auf seinen Schoß und feuerte tausend atemlose Schwüre in ihre Ohren, die Maria teils beflügelten, teils erschreckten.

»Eine wie du sollte immer zu mir gehören. Hörst du? Immer!«

Wenn sie je eines wollte, dann war es Beständigkeit. Aber in dieser Nacht ging es ihr dann doch ziemlich schnell mit seinem Blick in die Zukunft. Das Ganze erschien ihr so absurd, so verrückt, um nicht verrucht zu sagen. Aber es war kein Traum. Ihr Verstand arbeitete normal und es war trotzdem geschehen, was sie in einsamen Nächten erträumt, ja erlebt hatte, aber eben nur im Traum.

»Unsere Schatten sind eins. Das wolltest du doch, nicht wahr?«

So sehr ihr seine Zuwendung gefiel, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass sie noch vor zwei Wochen fest überzeugt war, jeder andere Mann würde ihre Liebe und Treue zu Hannes zerreißen, würde sie innerlich ihrer Selbstachtung berauben. Niemals hätte sie sich verziehen, was sie an diesem Tag — in dieser Nacht — zuließ, ja geradezu mit ihrer Singerei von den verschmolzenen Schatten herausgefordert hatte und nun bis zum letzten Zuge genoss. Noch vor zwei Wochen war sie bereit gewesen, sich in Lumpen und Asche zu hüllen, nur weil sie einem Mann zu gefallen schien. Nun lag sie hier mit einem wildfremden, wenn auch begehrenswerten Mann, um den sie von anderen Frauen, totsicher auch von Lotte, beneidet wurde. Sie selbst hatte sie nur einen Gedanken: Das Leben. Das Leben ist wieder in mich gedrungen. Es hat sich zwischen mich und Hannes geschoben, aber es wird sich nicht zwischen mich und die Kinder schieben. Niemals. Es wird mich vielleicht viel Kraft kosten, vor den Leuten im Dorf mit der neuen Liebe zu bestehen, aber wer sollte es mir verübeln, wenn ich die Last des gewöhnlichen Lebens abstreifen will oder wenigstens auf vier Schultern verteilen, so, wie Paul es angedeutet hatte.

Ziemlich rasch brachte Paul Maria zurück zum Lokal. Er lief schnell, zu schnell, wie sie fand. Er dürfte sie ruhig noch ein paar Mal küssen, ehe sie wieder ins Licht traten, doch er sagte nur, er mache sich Sorgen, ob Lotte noch da sei, damit sie, Maria, nicht alleine nachhause müsse. Wohin sie genau musste, fragte er nicht und sie drängte ihm ihr Leben auch nicht auf. Noch nicht.

Die Kapelle saß noch an einem Tisch und trank, was der Wirt spendiert hatte. Sonst waren kaum noch Gäste da. Lotte und ihr Kerl saßen auf den kalten Stufen und stritten, bis Lotte wutentbrannt das Fahrrad schnappte und Maria hinter sich herzog.

Nach zwei Stunden kamen sie zuhause an, gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Hahnenschrei. Mit Lotte war die ganze Fahrt über nicht gut Kirschen essen, weshalb Maria vermied, über ihr eigenes neues Glück zu reden, schon gar nicht darüber, wie dankbar sie Lotte im Grunde für deren Hartnäckigkeit war.

Die Kinder schliefen fest, und in der Wohnung hatte es nicht einmal ein Chaos gegeben. Maria fand keine Lust, noch ins Bett zu schlüpfen, zu sehr hingen ihre Gedanken an dieser Nacht mit Paul, der ersten mit einem Mann nach Hannes. Paul Zimmer, formten ihr Lippen, die zwar nur spärlich, aber immerhin auch wieder einmal geküsst worden waren. Maria Zimmer?

Nun stand sie da und etwas hatte sich grundlegend verändert. Es hatte ihr in letzter Zeit allen Mut geraubt zu glauben, sie könnte nie wieder lieben, was sie dazu bewogen hatte, sich von jedem Mann zurückzuziehen, um ihren tristen Weg ausschließlich für ihre Kinder, für Hannes‘ Kinder, weiterzugehen. Sie sah diesen Weg der Entbehrung jeglicher Liebe viel zu lange als richtig und zwingend an und war sogar entschlossen gewesen, ihn nicht zu verlassen.

Doch jetzt gab es Paul…

...ach, dieses ewige Sehnen

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