Читать книгу David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill - Страница 5
Verwöhnt
ОглавлениеDer Tag, an dem es Ellen Herold die Sprache verschlägt, ist ein düsterer. Regen fällt wie ein bleierner Vorhang vor das Bild der Stadt. Am windstillen Himmel hängen schwere, graue Wolken, die beschlossen haben, kein einziges Blinzeln der Sonne hindurch zu lassen. Es ist ein kühler Spätsommertag, kühler als es der letzte Augusttag zu sein hat. Gemessen an den Temperaturen hätte sie eine gefütterte Jacke vertragen, aber gemessen am Kalender entschloss sie sich für eine ganz normale Kostümjacke.
Als sie fröstelnd das Haus betritt, gibt es diesen Moment der Sprachlosigkeit. In der ersten Sekunde wundert sie sich. In der zweiten ist sie sofort in Sorge und schon die dritte erfüllt sie mit Zorn. Auf den kalten Stufen im Parterre sitzt David Brock nur im Unterhemdchen und Slip, barfüßig und, wie es scheint ungewaschen und ungekämmt, wobei letzteres für Ellen völlig unwichtig ist. Mit seinen unfassbar hellgrünen Augen schaut das Kind zu ihr auf und Ellen glaubt ein Lächeln der bleichen Lippen zu erkennen. Ein zärtliches Mitleid löst die Wut in ihr auf, die niemanden als die Eltern betrifft. Der Blick des Jungen bewirkt in Sekundenschnelle ihre herzliche Zuneigung.
Es war dieser besondere Augenblick. Hätte sie ihrem Temperament freien Lauf gelassen, wäre sie mitsamt dem Jungen zu den Eltern marschiert und hätte denen auf ihre Art Bescheid gesagt. So aber nimmt sie das Kind, steigt in den Aufzug und fährt an der Etage vorbei, in der David wohl eine Bleibe, aber kaum ein gutes Zuhause haben dürfte. Andererseits betrifft ihr Zorn das ganze Haus: Wie viele Leute sind schon an dem Kind vorbei gegangen? Angewidert vielleicht. Gleichgültig allemal. Wer noch halbwegs bei Trost ist, muss doch erkennen, dass dem Kind etwas fehlt!
Die großen Augen des Jungen, der wie angewurzelt in ihrem Arbeitszimmer steht und die Gegenstände bestaunt, die noch von ihren eigenen Kindern zurückgeblieben sind und die zu entsorgen sie nicht übers Herz bringt, wirken auf Ellen wie ein göttlicher Ritterschlag. Behutsam bringt sie in seine Nähe, wovon sie glaubt, dass es ihm gut tun könnte. Eine flauschige Decke gegen den ausgekühlten Körper. Zwei Scheiben von dem Gugelhupf, auf die sie mit bunten Plätzchen rasch ein Gesicht zaubert. Und ein Glas warme Milch, in die sie mit flinker Hand einen Schuss Honig gegeben hat. Sie hält sich zurück, will ihn nicht erschrecken. Noch könnte der Blick aus den Kulleraugen auch Skepsis sein. Und dann murmelt das Kind etwas, was sie nicht versteht, was sich aber wie Urmel anhört, allenfalls Ursel. Es wird wohl Urmel sein, denkt sie. Das Urmel aus dem Eis ist ihr noch gegenwärtig. Vielleicht hat er unter den Dingen im Schrank etwas entdeckt, was ihn an das Urmel im Eis erinnert. Vielleicht aber heißt auch jemand aus der Nähe des Kindes Ursel. Die kleinen Finger tasten über den Kuchen, klauben eines der Augenplätzchen heraus und führen es seltsam ängstlich an die Lippen. Das Zucken des Körpers entgeht ihr nicht, dabei hat sie noch keinen Ton gesagt und schon gar keinen, der ein Zucken verursachen könnte. Doch sie muss mit ihm reden, sonst traut er sich nichts.
»Das darfst du essen. Und die Milch darfst du trinken. Sie ist schön warm. Du frierst doch, nicht wahr? «
Das zweite der beiden Augenplätzchen steckt schon bald zwischen den blassen Lippen, die noch einmal das Wort entlassen, was jetzt viel deutlicher nach Ursel klingt. »Ursel macht auch immer solche Kuchengesichter? «, fragt sie vorsichtig.
Der Kopf des Jungen geht hin und her. Also nein? Der kleine Finger des Jungen wandert zum Glas mit der Milch. Also wird Ursel ihm Milch zu trinken geben.
»Trink nur, bevor sie wieder kalt wird. «
Es wird wohl besser sein, das Kind für den Moment allein zu lassen, denkt sie. Aber es müsste erst gewaschen werden, am besten gebadet. Das wäre sowohl gegen den Schmutz angebracht, als auch gegen die Kälte im mageren Körper. Ellen weiß, dass sie bei einem so verstörten Kind nichts überstürzen darf. Dennoch. Einen warmen Waschlappen über seine Hände zu streifen ist das Mindeste …
Der Junge lässt es geschehen, und das ist der Anfang allen Mutes, den Ellen Herold an diesem Tag aufbringt, um Vertrauen von diesem Kind zu erheischen.
Als die Milch verschlungen, der Kuchen so nach und nach seinen Weg der Bestimmung genommen hat, legt sie ein buntes Buch an dieselbe Stelle, von der sich der Kleine noch nicht wegbewegt hat. Sie fragt ihn, ob sie ihm daraus vorlesen soll, doch er antwortet nicht. Nur seine Finger berühren neugierig die Seiten mit den Bildern, die mal lustig, mal gruselig anmuten, aber dennoch der Phantasie eines Kindes nicht abträglich sind.
Sowie sie das Buch in ihre Hände nimmt, geht dasselbe Zucken durch den schmächtigen Körper, als ducke er sich vor irgendetwas. Weil nichts passiert, schaut David sie mit großen Augen an, die jetzt weniger ängstlich, vielleicht sogar zufrieden aussehen. Das wohlige Gefühl des Sattseins und die Wärme der Milch haben in seinem Bauch die kindliche Abwehr besänftigt. Es ist die geschwollene Sprache in diesem alten Märchenbuch, die sie davon abhält, dem Kind daraus vorzulesen. Und es sind die Grausamkeiten, die Menschen im Märchen verüben und die nichts mit dem Leben von jetzt zu tun haben können. Dergleichen hat sie ihren eigenen Kindern allzu gerne erspart und manchmal ein Märchen einfach umgedichtet. Aus der Schublade zieht sie zwei Blätter, die sie gottlob erst vor kurzem ausgedruckt hatte. In ihrer Schreibgruppe Die Wortwanderer, die sie halbherzig und dennoch nicht ungern besucht, hatte man beschlossen, mal ein Märchen zu schreiben. Nur vorgelesen hat sie es dort nicht, noch nicht. Vielleicht auch nie. Erst einmal sehen, wie ein Kind darauf reagiert. Schon beim Überfliegen der ersten Zeilen erkennt Ellen Herold, dass es eigentlich ein Märchen für Erwachsenen ist, zumindest, was die Moral der Geschichte ausmacht. Doch der Junge hört zu, auch wenn seine noch immer kalten Finger über ein ganz anderes Bild aus dem Buch streichen. Sie weiß es noch aus ihrer eigenen Kindheit, als sie allzu gerne zu einem Hörspiel im Radio Bilder malte und wie sich die Dinge darauf mit den Worten verknüpften, die sie hörte.
»Der Goldregenbaum«, beginnt sie und legt rasch das ausgedruckte Bild auf die Seite des Märchenbuches, die noch geöffnet ist; Goldregenblüten, die sie als Hintergrund für das Deckblatt ihrer Geschichte vorgemerkt hat, so eitel ist sie wenigstens.
♦ In alten Zeiten, als das Gute noch belohnt und das Böse noch bestraft wurde, lebte ein Mädchen am steinigen Berg. Es war zum Weinen arm. Selbst die Sonne zog sich traurig eine Wolke vors Gesicht, sobald sie es sah. Das Mädchen lebte in einer einsamen Hütte, schlief auf einer harten Matte und besaß nicht einmal Schuhe. Wenn es spielen wollte, nahm es drei Steine von der kargen Erde und ließ sie den Hang hinunterrollen. Vor ihrer Hütte aber stand ein kleiner Baum mit gelben Blüten. Sobald das Mädchen aus der Hütte trat, fielen drei Tropfen aus einer winzigen Wolke auf das Bäumchen. Fortan nannte sie es Goldregenbaum. Dieser Baum trug zuerst nur drei Blüten, aber die waren in dieser tristen Welt des Mädchens allergrößte Freude. ♦
Ellen macht eine Pause und schaut in das Gesicht des Kindes, das nicht mehr so verstört aussieht wie noch vor kurzem auf der Treppe.
♦ Eines Tages kam ein stolzer Reiter des steinigen Weges. »Verkauf mir die Blüten«, sagte er. »Es soll dein Schaden nicht sein. «
»Nein«, antwortete das Mädchen. »Sie sind meine einzige Freude. Wer keine Freude hat, der lebt nicht mehr. « Der Reiter zog wortlos von dannen. Regen und Sonne ließen das Bäumchen wachsen und gedeihen und bald hatte es mehr Blüten, als der Baum tragen konnte. Da kam ein altes Mütterchen an der Hütte vorbei: »Du musst die Blüten zum Markt tragen! «
»Ich kann den steinigen Weg zur Stadt nicht gehen, ich habe keine Schuhe. «
»Lade auf meinen Buckel, was du verkaufen möchtest. Ich will es für dich tun. «
Das Mädchen tat, wie ihm geheißen und sagte der Alten: »Sieh zu, dass du den stolzen Reiter triffst. Schenke ihm drei Blüten, die bin ich ihm schuldig.« »Der Arme ist dem Reichen nichts schuldig«, sagte die Alte und zog mit der Last auf dem Buckel davon. ♦
Seit einiger Zeit spürt Ellen deutlich, wie das Kind zu ihr aufblickt, sobald sie nur Luft holt, und wie es wartet, dass sie weiter liest.
♦ Nach Wochen, als der Goldregenbaum wieder in prächtiger Blüte stand, erschien die Alte wieder vor der Hütte. Aus ihrer Kiepe holte sie Schuhe für das Mädchen und allerlei Nützliches gegen den Hunger bei Tage und gegen die Kälte bei Nacht.
»Das alles hast du für den Goldregen bekommen? «
Die Alte lachte: Wenn ich jung und schön wäre, hätten mir die Leute noch mehr bezahlt.
»Das ist ungerecht«, sagte das Mädchen, bedankte sich artig, lud die Alte zum Abendschmaus ein und bot ihr ein Lager für die Nacht.
»Warum tust du das? Du hast doch selbst kaum zu essen. «
»Ich tu es aus Freude. Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «
Noch ehe die Sonne am Morgen ihre ersten Tränen auf das Bäumchen weinte, war die Alte verschwunden und das Mädchen hat nie wieder etwas von ihr gehört.
♦
Vielleicht sollte sie an dieser Stelle aufhören zu lesen? Überfordert sie ein so kleines Kind mit dieser Geschichte? In diesem Moment spürt sie, wie David ganz nah an sie heranrückt. Etwas muss im kleinen Kopf vorgehen. Etwas, was angenehm war oder ist.
♦ Fortan ging das Mädchen selbst in seinen festen Schuhen den steinigen Weg hinunter in die Stadt und verkaufte die Goldregenblüten auf dem Markt. Es war der einzige Schatz, den es besaß. Vom Erlös kaufte es ein, was es für ihr bescheidenes Leben brauchte. Nicht lange, da trat ein Fremder zu ihm heran. Er hatte die Augen der alten Frau, aber er sprach mit fester Stimme: »Komm mit mir, ich zeige dir, was dein Goldregen wert ist. «
Dieser Mann mit den Augen der Alten erinnerte das Mädchen zugleich an den stolzen Reiter. Es erschrak, hatte es doch vergessen, die Alte zu fragen, ob sie getan hat, worum sie gebeten wurde. Der Mann sah die Not des Gewissens im Gesicht des Mädchens. Er bedankte sich höflich für die drei Blüten, die die Alte ihm geschenkt habe. Froh über diese Botschaft willigte das Mädchen ein, mit dem Mann zu gehen. Nicht weit vom Markt stand ein wunderschönes Haus mit goldenem Dach und mit grünen Fensterläden und davor blühte ein prächtiger Goldregenbaum.
»Es gehört dir«, sagte der Mann. »Ich hab es für dich gebaut. «
»Warum tust du das? «, fragte das Mädchen
»Ich tu es aus Freude«, sagte der Mann. »Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «
♦
Es ist verlorene Zeit, denkt Ellen, der Junge hat kein Wort verstanden. Aber ist das wirklich für sie so wichtig? Sollte der Junge nicht nur Vertrauen schöpfen? Vertrauen in ihre sanfte Stimme. Zutrauen, dass ihm hier nichts Bösen geschieht. Ob verstanden oder nicht, die Nähe und die Güte ihrer Stimme hat er wohl genossen, sofern er sich nur nicht traute, aufzubegehren.
In ihren Zweifel hinein greift das Kind nach Ellens Hand. Wortlos. Grundlos? Es hebt das blonde Köpfchen und strahlt sie an, als habe sie ihm ein Geschenk bereitet, das er sich sehnsüchtig erträumt hat. Die unverhoffte Wärme in ihrer Brust gehört zu ihrem Wunsch, zu ihrem Traum.
»Noch …«, sagt er, und es klingt gar nicht mehr so zaghaft. Er schiebt das Buch in ihren Schoß. Langsam kommen ihr Zweifel, ob das Kind überhaupt sprechen kann oder ob es nur nicht will. Sie lässt David selbst die Buchseiten umlegen. Ungeschickt. Ungeübt, wie es scheint. Seine Hand, deren ungelenke Bewegung beinahe die Seiten ruiniert, hält bei einem der bunten Bilder inne. Zwei Kinder irren durch einen dunklen Wald, an dessen Rand schon eine Hütte zu sehen ist, aus deren Schornstein weißer Watte-Rauch aufsteigt und deren Fensterläden wie Pfefferkuchen aussehen, die mit süßem Eclair verziert wurden, und das Dach, das mit Puderzucker bestreut zu sein scheint.
»Das soll ich lesen? «
Der Junge strahlt und bringt zum ersten Mal mehr als nur knappe Worte heraus: »Hm. Und das … und das …«
»Gut, David. Das alles lesen wir. Versprochen. Aber erst müssen wir dich baden. Du bist ganz kalt und kalte Kinder dürfen keine Märchen anhören. «
Es ist blöd. Saublöd. Sie ist völlig aus der Übung. David sagt nichts dagegen, schaut sie nur fragend an. Sie nimmt seine Hand und führt ihn ins Bad, wo sie längst fast lautlos warmes Wasser eingelassen hat.
Das Kind lässt alles geschehen. Sie könnte doch froh sein. Doch ihre Zweifel mehren sich. Die dunklen Streifen an Armen und Füßen sind gar kein Schmutz, ebenso die Flecken an Brustkorb und Lenden nicht, die sie erst jetzt bemerkt.
Derweil David mit dem Schaum spielt, als habe er ihn lange vermisst, steht sie fassungslos dabei. Sie möchte ihn fragen, was er da angestellt hat, aber bei den wenigen Worten, die sie aus ihm herausbekommt, hat das alles keinen Zweck. Hin und wieder stockt seine Bewegung, und weil sie ihm zunickt, fährt er mit seinem Spiel fort. Quiekend schüttet er eigenhändig mit dem Becher Wasser über seinen Kopf und lacht dabei, wie sie es von diesem Kind noch nie gehört hat und deshalb nicht vermutet hätte.
Es ist das erste Mal, dass sie den Jungen in ihrer Nähe hat. Es muss nicht das letzte Mal bleiben, und deshalb wird es noch genügend Anlass geben, den Grund der Flecken aufzuspüren. Geschwister können rabiat sein, meinen es vielleicht nicht einmal böse. Aber manch ein Spiel ist unangebracht für ein so zartes Kind.
Irgendwann lässt die Wärme des Wassers nach und das freudige Spiel muss mit Vernunft beendet werden. Als sie David aus der Wanne heben will, scheint es ihr, als wollte er beißen und kratzen, doch sie muss sich wohl geirrt haben. Die Bilder des verstörten Kindes auf der Schwelle, vor allem das unsichtbare danach, das ihr geistiges Auge abbildet, weil sie es miterlebt zu haben glaubt, beherrschen sie noch immer.
»So, mein Kleiner. Jetzt rubbeln wir dich trocken und dann lesen wir das Märchen von Hänsel und Gretel. «
Auch das Rubbeln, das ihren eigenen Kindern nie Freude bereitet hat und das sie deshalb nur zögerlich beginnt, gefällt dem Jungen offenbar. Erst als sie sagt: »Und dann wollen wir mal sehen, ob deine Mama inzwischen zu Hause ist«, schubst er sie weg. Sie übersieht die Garstigkeit, hält ihr Versprechen trotzdem ein und nach dem Märchen gibt es noch einen Schokoriegel mit auf den Weg.
Dann hört sie Lärm aus der Wohnung von unten. Gregor Brock ist nach Hause gekommen und tobt. Wortfetzen von Essen, das mal wieder nicht fertig ist … die Wohnung nicht aufgeräumt …
Was immer es ist, es geht sie nichts an. Nur David will sie jetzt um keinen Preis nach Hause bringen. Nach dem, was sie gesehen hat, muss sie annehmen, es wäre nicht das erste Mal, dass der Junge zwischen Frustschläge geraten ist. Was aber, wenn die Eltern sich schon längst Sorgen machen? Vielleicht hat die Mutter schon lange nach ihm gesucht und deshalb den Haushalt vernachlässigt.
Schweren Herzens nimmt sie das Kind an der Hand und geht bis zum Treppenabsatz mit ihm. Dann nimmt sie in abstoßender Langsamkeit jede einzelne Stufen, zählt von eins an vorwärts, doch das Kind beteiligt sich nicht daran, wie ihre Kinder es früher getan haben; gerne sogar und froh darüber, dass sie schon etwas konnten, was die Erwachsenen auch nicht anders beherrschten.
Sie weiß nicht, ob sie in der letzten Minute ein einziges Mal geatmet hat. Hinter der Tür der Brocks noch immer Rumor, undeutlich, aber man spürt, dass es nicht die Sorge um das abwesende Kind sein kann. Die Klingel aus Plastik ist verkrustet von unzähligen Kinderhänden. Eigentlich könnte sie läuten und gehen, aber David steht so stocksteif da, als würde er ihr sofort folgen. Vorsichtig, als will man sich eines Bestimmten vergewissern, öffnet sich die Tür einen Spalt.
»Nicht schimpfen, Frau Brock. David war bei mir. Er saß … auf der Treppe und da dachte ich …«
Birthe Brock hat rote, verquollene Augen. Ein einziger Gedanke durchfährt Ellen: Vielleicht hat sie doch schon geweint um ihr Kind.
Nach einem kurzen Moment des wortlosen Messens zweier grundverschiedener Frauen reißt die Mutter dem Kind den Schokoriegel aus der Hand. Mit eben der gleichen Heftigkeit faucht sie zu Ellen: »Das tut ihm nicht gut. «
»Warum? Was hat er denn? «
Ihr scheint es, als ob die Frau zuerst erschrickt, dann angestrengt überlegt. Ellen ist sich seit Langem nicht schlüssig, ob ihr Urteil über die Familie noch gerecht ist. Verfärbt von der Tusche, mit der Frau Hedel das Familienbild malt, ist es allemal. Gerade in diesem Moment kann Ellen nachempfinden, warum man in der Nachbarschaft so viel Unverständnis für diese Familie zeigt. Vielleicht unschlüssig, sich einer Fremden anzuvertrauen, vielleicht aber auch garstig, weil die Fremde ihrem Kind mehr Gutes tun kann als sie selbst, platzt Birthe Brock heraus und es klingt nicht gut in Ellens Ohren: »Er ist zuckerkrank. «
Sie weiß, dass es bei einem so kleinen Kind möglich ist, wenn auch selten, und es ist mal wieder so weit, dass sie mit sich ins Gericht geht, mit niemandem sonst. Noch später, als sie längst in ihre Arbeit vertieft am Computer sitzt, steht das Bild des blassen Kindes neben ihr. Sie kann es überall sehen. An den Wänden. Auf dem Boden. Sogar zwischen den zerstückelten Wolken auf ihrem Computerbild erscheint das verstörende Bild des Kindes, das kaum ein richtiges Wort zustanden bringt, das kaum die Kraft aufbringen kann, die Stufen zu steigen, das dennoch einen herzerwärmend dankbaren Blick zu senden in der Lage ist. Aber dass es schon älter als vier, beinahe fünf Jahre sein soll, will sie nicht glauben. Zu gerne hätte sie mit der Mutter geredet, dagegen spricht ihre eigene Devise von den Worten, die wie Gewehre den Verlust deines Ichs retten oder dein Ego töten.
Birthe Brock gelang allein durch Gesten schon letzteres und doch ist ihr Ego durch eine Erkenntnis gestärkt: David ist krank. Diese Nachricht brennt Scham in ihr Gewissen. Was kann man aus Unwissenheit nicht alles falsch machen, auch als reifer, wissender Mensch. Dass sie nicht alles weiß, bedrückt sie nicht. Heute kann man jedes Defizit des Wissens unkompliziert ausmerzen. Zuerst sucht sie im Netz nach Diabetes bei Kindern. Noch einmal soll ihr nicht ein so eklatanter Fehler passieren.
Großes Drama im kleinen Körper, liest sie die erstbeste Überschrift, und ihr Gewissen möchte aufschreien. Hat das Kind immer Durst, muss es oft zur Toilette und verliert es an Gewicht? … Fünfundzwanzigtausend Kinder in Deutschland sind betroffen … Zwei Auslöser sind die Schuldigen – Gene und Viren. … Masern, Mumps und Röteln können die Körperabwehr in die Irre leiten … Der Überschuss an Zucker im Blut entzieht dem Körper Wasser … Je süßer das Blut, desto mehr Urin scheiden die Nieren aus … die Zellen können die Energie nicht nutzen … die Kleinen werden müde, schlapp und lustlos.
Obwohl der Junge die ganze Zeit über nicht einmal zur Toilette musste und obwohl sie den typischen Aceton-Geruch des Atems nicht feststellen konnte, von dem sie gerade liest, macht sie sich große Vorwürfe. Nach weiteren Zeilen, die sie angestrengt in sich aufsaugt, wird ihre Sorge zuerst noch größer: Wird die Diabetes zu spät festgestellt, gleitet das Kind schlimmstenfalls ins Koma.
Ellen atmet auf: Zum Glück hat die Familie bei all ihren Problemen die Krankheit von David erkannt. Warum aber hat sie keine Anzeichen von Injektionen gesehen? Das wäre die normale Therapie, wie sie jetzt weiß. Auf alles hat sie freilich nicht geachtet, aber das nächste Mal wird sie David nur zum Spielen zu sich nehmen, zum Vorlesen, das hat ihm sehr gefallen.
Nur einmal noch kommt David zu Ellen Herold; zwei Wochen später und ganz von selbst. Danach halten die Eltern das Kind endgültig von ihr fern. So gesehen ist es doch sehr verantwortungsbewusst. Nicht jeder Mensch weiß mit einem so kranken Kind richtig umzugehen und erklären konnte sie es sich schließlich nicht. Die Chance hat ihr die Mutter mit ihrer heftigen Reaktion gar nicht gegeben …