Читать книгу Liebe, die auf Trümmern wächst - Maxi Hill - Страница 5
ILSE
ОглавлениеDer Vormittag war lang gewesen. Maria Adams war erschöpft und das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, waren Fragen ihrer Chefin, warum sie niemals am Nachmittag länger bleiben konnte. Frau Heider stützte die Handballen in ihre Hüften und zeigte mit verbissenem Mund auf den Stapel unverpackter Kundenaufträge, die rechtzeitig vor Weihnachten an die Auftraggeber ausgeliefert werden mussten. Aus ihrem Gesicht war abzulesen, ob es Maria nicht selbst am Herzen läge, schließlich sei es ihre Arbeit.
Es war kein Problem für Maria, die vereinbarten Botengänge zu absolvieren. Nicht so, wie es schien.
Wenn Maria allerdings ihre Tochter Ilse nicht einspannen könnte, die täglich mit Kartons bepackt in alle Stadtteile lief und erledigte, was zu Marias Aufgabe als Modistin bei der Firma Heider gehörte, könnte sie das Zubrot aus dem nahen Trachtenladen nie und nimmer verdienen.
Wie würdest du mit dem schmalen Lohn der Heiders drei hungrige Mäuler stopfen können?
Maria erschrak bei ihrem Gedanken an drei Menschen. Niemals durfte sie auch nur so denken. Niemand durfte wissen, wo Max sich versteckte. Schon gar nicht, dass sie bisweilen für ihn sorgte. Kommunist zu sein war schlimmer als Sorbe oder Wende, und nicht arisch zu sein, war in dieser Zeit schlimm genug. Das wurde ihr nicht nur im Trachtenladen bewusst.
Max war vor zehn Jahren in einem Massen-Hochverrats-Prozess mit anderen Kommunisten zu beinahe zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wie er sich aus der ständigen Polizeiaufsicht danach hatte befreien können, war Maria nicht klar, und Max sprach nicht darüber.
Ilse lief durch die Stadt, dem Markt entgegen. Es war kalt, aber noch trug sie ihre Spangenschuhe über dicken Wollsocken, die bis zu den Waden reichten und die ihre langbestrumpften Beine etwas mehr wärmten. Über ihr braunes, gescheiteltes Haar hatte sie eine Filzkappe gestülpt, eine, die fehlerhaft war, weshalb Frau Heider sie Ilse für einen Extra-Botengang geschenkt hatte. Wenn Frau Heider wüsste… Die meisten Kundengänge erledigte sie inzwischen für ihre Mutter — heimlich. Mutter sagte: »Die Heiders müssen ja nicht gleich misstrauisch werden.«
Ob es wegen dem Bissen Zubrot war, den Mutter im Trachtenladen verdiente, oder wegen Max? Oder wegen dem Trachtenladen als solchen? Schließlich kam Mutter aus dem Spreewald…
Was der Grund war, störte Ilse nicht. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, alltäglich mit den Kartons und Tüten die Stadt zu durchstreifen. In dieser Zeit hatte sie keine andere Chance, als mit Hilfsarbeiten die Mutter zu unterstützen. Vielleicht, wenn der Endsieg endlich erreicht ist, kann sie ihren Wunschberuf erlernen — Frisörin.
Im Moment ginge das nicht, sagte die Mutter. Und irgendwie hatte sie vermutlich Recht. Die meisten Frauen trugen die Bunkerfrisur — eine von der Stirn nach oben aufgetürmte Haartolle, die mit Kämmchen zusammengehalten wurde. Für die modernen Brennscheren-Frisuren der feinen Damen reichten die Frisörinnen in den Salons der Stadt offenbar aus.
Ilse hüpfte fröhlich über die zugefrorenen Pfützen. Bald war sie an der Unterführung in der Dresdener Straße. Unter der Brücke stand ein Soldat, über die Brücke rollte ein Güterzug mit schwerer Fracht vollbeladen in Richtung Ost. Vermutlich Kriegsmaterial, um dem Rückzug der deutschen Truppen, den nur Max mit freudiger Genugtuung quittiert hatte, wieder Einhalt zu gebieten.
Von der Unterführung aus hatte sie nur noch die Hälfte des Weges vor sich. Vorerst, denn die Kunden, zu denen sie am Nachmittag die Waren bringen musste, wohnten überall in der Stadt verteilt. Einige sogar außerhalb. Seit ihr Fahrrad kaputt war, waren die Wege besonders lang und besonders beschwerlich. Max hatte versprochen, das klapprige Rad zu reparieren, aber es fehlte etwas an der Bremse, was sie dem Händler nicht erklären konnte. Und weil Max nicht selber gehen konnte …
Schon wieder Max. Mutter würde ihr zürnen, wenn sie auch nur den Anschein erweckte, Max gehöre zu ihnen… Sie wusste zwar, dass er nachts oft nicht in seinem Versteck war. Aber so richtig wusste sie nicht, wovor er sich versteckte und was er auf dem Kerbholz hatte. Wenn er aber nachts aus dem Keller verschwand, dann musste er schließlich Freunde haben, die auch mal etwas für ihn besorgen könnten.
Es half nichts, ohne ihr Fahrrad musste sie für unbestimmte Zeit zu Fuß gehen. Die Groschen für die Bahn sparte sie auf. Für das, was ihr die Botengänge zusätzlich einbrachten — sofern es nette Kundschaft war — konnte sie vielleicht mal wieder eine Kinokarte kaufen. Die Zeit war zum Versauern. Sogar das Theater hatte man kürzlich eingestellt. Auf den Tanzboden durfte sie noch nicht. Welche Freude blieb ihr also…?
Wenn die Oberen nicht wollten, dass die Jugend sich vergnügt, würden sie in dieser unsicheren Zeit keine teuren Filme drehen. Dann würden auch Filmschauspieler wie Heinz Rühmann, Hans Albers, Willi Fritsch und die vielen anderen zu einer Kriegsaufgabe verpflichtet werden.
In den Kammerspielen lief gerade «Wir machen Musik« mit Ilse Werner und Viktor de Kowa.
Ilse, was für ein schöner Name…Erst recht Ilse Werner. Und wie die pfeifen kann…
Manchmal, wenn Mutter es erlaubte, hörte sie Radio. Das war bald so wie Kino, wenn der Kopf nur genug Phantasie hatte. Sie musste den Film unbedingt sehen — allein ihres Namens Ilse wegen, und überhaupt. Musik brachte stets romantische Gefühle.
Wenn sie ihre Haare so wie Mutter kämmen würde, sähe sie vielleicht etwas älter aus, und niemand würde Anstoß daran nehmen, wenn sie, noch nicht achtzehnjährig, allein in einem Liebesfilm saß.
Sie trafen sich am Kaiser-Wilhelm-Platz. Die Mutter schaute sich mehrmals um, als gingen sie beide auf Diebestour. Ilse atmete auf. Es waren heute nur vier Pakete. Drei Hutschachteln und eine Tüte mit irgendwelchen Kragen oder anderen Modeaccessoires. Also würde es heute nicht bis zur Sperrstunde dauern. Auf der Liste standen vier Adressen, zwei in der Dresdener Straße. Die würde sie zuerst erledigen. Eine in der Promenade hinter der Stadtmauer — vermutlich eine der Villen, wo es durchaus mal wieder einen Groschen zusätzlich gab. Und eine im Hotel Berliner Hof direkt an der Bahnhofsbrücke. Die wollte sie zuletzt anlaufen und dann über den Bahnhofsberg zurück nach Hause gehen.
Das Haus sah genauso aus, wie Ilse es in der Erinnerung hatte. Eine weiße Villa, beinahe im griechischen Stil. Leider kannte sie sich nicht aus mit den architektonischen Epochen und Stilen. Jedenfalls wurde das Eingangsportal von Säulen gesäumt, die bis unters Dach reichten. Die Mutter hatte ihr eingebläut, bei den Villen in der Promenade und noch an anderen Orten niemals an den herrschaftlichen Türen zu läuten, immer zuerst danach zu schauen, ob es Boteneingänge gab. Und den leidigen Gruß sollte sie auch niemals vergessen…
Über die Stadt senkte sich kalter Dunst. Morgen früh könnte die Welt wie verzuckert aussehen, was Ilse normalerweise liebte. Nur eben jetzt nicht mehr, seit die Kohlen knapp waren und das Brennholz schwand. Die Leute rieben sich die Hände und stampften mit den kalten Füßen härter auf als gewöhnlich. Auch Flüche krochen aus den dampfenden Mündern. Der Park war jetzt trist. Die Bäume kahl und die Menschen, die zu anderen Zeiten hier flanierten, hatten sich vermutlich in die leidlich warmen Stuben zurückgezogen.
Ilse kam am Zaun an und blieb stehen. Alle Villen — aufgereiht wie eine Perlenkette — hatten Zäune und schmale Vorgärten, in denen sommers bunte Blumen und gut beschnittene Buchsbäume, aber auch übel riechender Wacholder den Prunk der Häuser umrahmten. Von einem Dienstboteneingang war nichts zu sehen. Es waren aber zwei Klingelknöpfe vorhanden. Ob der, den sie drückte, überhaupt funktionierte, konnte sie hier draußen nicht ausmachen. Es rührte sich nichts. Sie schaute die Promenade entlang. Was tun?