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WERNER

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Sie hatte seine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt. Werner stand still seitlich hinter dem Verschlag, der den Dienstboteneingang vor Schnee und Regen schützte. So was Hübsches, dachte er. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sich der junge Körper des Mädchens vor Kälte krümmte. Sie vergrub eine ihrer Hände in ihrer Manteltasche. Die andere, ohne Handschuh rotgefroren, trug zwei Pakete.

In einem Anflug von Mitleid lief Werner zum Tor, um nachzuschauen, warum sie nicht näher kam. Es war ihm, als fuhr sie wie in einem Schrecken zusammen.

»Heil Hitler«, stotterte sie verlegen. »Ich komme von Heiders Modeladen«, sagte bibbernd ihr Mund. »Bringe die Bestellung Ihrer Frau Mutter.«

»So, so«, erwiderte Werner und schluckte. Jetzt war er verlegen und wusste nicht recht, mit ihrer Vermutung umzugehen. »Dann wollen wir doch mal sehen…«, fiel ihm ein, nichts weiter.

Das Mädchen zögerte, den richtigen Karton auch nur anzudeuten. Vermutlich war sie an ein Botengeld gewöhnt, das er ihr freilich nicht geben konnte.

»Wenn du ein bisschen warten kannst…«, sagte er kühn, ohne zu wissen, was er damit bezweckte. Er wusste nur eines: Dieses Mädchen mit der feschen Kappe, die schräg über dem langen dunklen Haar saß, mit den dunklen Kulleraugen und den dunkelroten Socken, so rot, wie ihre Kappe, dieses Mädchen war das Abbild dessen, was er sich täglich anzuschauen vorstellen konnte.

In seinem Kopf wuchs blitzschnell ein kühner Plan.

»Sie wird gleich hier sein«, log er, genau wissend, wann die Frau des Hauses gedachte, zurück zu sein. Er gab ihr einen Wink und ging ein paar Schritte voraus. An der Ecke drehte er sich wieder um, ziemlich sicher, dass dieses schüchterne Kind ihm nicht so einfach folgen würde. Todsicher hat man ihr Gleiches eingeschärft wie ihm auch: Zurückhaltung.

»Du willst doch hier draußen nicht anfrieren?«

Ganz unbewusst zog er die rechte Braue hoch, was gewöhnlich wie eine freundliche Aufforderung wirkte. Sie schlug die Augen nieder, setzte aber einen Fuß vor den anderen, vorsichtig mit den Kartons jonglierend.

»Wenn wir schon mal hier sind, nehmen wir gleich den Hintereingang«, sagte er und gab seinem Gesicht einen hoffentlich verschlagenen Ausdruck. »Ist ja schließlich ein Botengang von dir, oder …?«

»Ich kann auch später noch einmal wiederkommen, wenn sie…«

»Nix da, es wird schon nicht so lange dauern wie der Endsieg.« Ob diese Bemerkung gut war? Er wusste es nicht, aber wenn er das Leben um ihn herum je richtig kapiert hat, dann waren diese Botengänger eher vorsichtig damit, auszuplaudern, was sie in herrschaftlichen Häusern erlebten. Auf jeden Fall musste er verhindern, dass sie doch noch einen Rückzieher machte. Er öffnete die Hintertür, ließ sie eintreten und ein paar Stufen tiefer steigen. Bei jeder Stufe zuckten ihre Füße, als wollte sie umkehren, doch die Wärme der Heizungsanlage, die er zu bedienen hatte, schlug ihnen gar zu wohlig entgegen. Ihm war, als entkrampfte sofort ihr Gesicht, und die Schultern streckten sich wieder jugendlich.

Werner griff beherzt nach den beiden Hutschachteln und ließ ihren Einwand nicht gelten. Sehr rasch führte er sie an der Tür vorbei, hinter der seine Bleibe war. Dann stieg er mutig die Treppe zum Vestibül hinauf.

Oben, noch ehe ihre Augen sich weiteten und wieder dieses Erstarren zu spüren war, reichte er ihr die Hand und sagte: »Ich bin Werner, und wer bist du?«

Und dann geschah das Unvorhersehbare. Beinahe prustete sie ihren Namen heraus, der doch gar keinen Grund zur Lächerlichkeit bot.

»Ich heiße Ilse.« Sie zupfte verlegen am Mantelkragen und gab ihrer Stimme einen belustigten Ton: »Ilse? Werner?« Ihm schien, als fragte sie etwas. Dass sie plötzlich aus ihrem kalt gefrorenen Gesicht strahlte wie der Morgenstern, kam keiner Frage gleich. »Da läuft gerade ein Film mit Ilse Werner, meinte ich…« Ihre Lippen bebten. »Verzeihung.«

»Gar nicht verziehen.« Werner fand immer mehr Gefallen an ihrer Natürlichkeit. »Wenn dir so viel an unseren beiden Namen liegt… Dann gehen wir gemeinsam in den Film…«

»Das darf ich nicht«, wiegelte sie ab. Vorerst musste er sich damit begnügen. Noch wollte er das süße Missverständnis, dem sie unterlag, nicht auflösen.

Im Vestibül angekommen, verschlug es Ilse den Atem. Das weiße Haus mit seinem Portal aus dorischen Säulen, mit schmückenden Kapitellen und Pilastern war nach der Meinung des jungen Herrn im Jugendstil errichtet, was Ilse schon wegen der Farbe nicht glauben konnte. Zeit, seine Weisheit anzuzweifeln, hatte sie nicht. Er erzählte gerade frei heraus, wie aufgeregt er war, als er in diesem Haus seine Bleibe bekommen habe — ein Glücksumstand in seiner Zwangslage. Etwas Besseres hätte er sich nie träumen lassen. Inzwischen wisse er, dass jeder Vorteil auch seinen Tribut fordere. Welchen Tribut einer wie er zu zahlen hatte, schien Ilse nicht klar zu sein. Und sie erfasste in ihrer Aufregung den Zweck nicht, den Werner verfolgt hatte.

Das Bild, das sich Ilse in der großen Vorhalle bot, verschlug ihr den Atem. Zwei prächtige Säulen am Treppenende strebten bis unters Dach und trugen eine Kuppel aus farbigem Glas, das jedem Licht den Schein der Sonne verlieh. Der Fußboden war — wie auch die Säulen — aus italienischem Marmor gearbeitet. Diese Pracht kannte Ilse nur von Bildern aus Schlössern und von Hotels, an denen sie immer verschämt vorbeigeschlendert war, wenn nicht, wie gerade heute, einmal ein Auftrag von dort kam. Die Treppe beschrieb einen Halbkreis, und die Stufen trugen dasselbe feine, rötliche Muster im sandfarbenen Marmor wie der Fußboden der Vorhalle. Hinter einer vorgelagerten Wand seitlich vom Portal auf einem Sockel drei kunstvolle Figuren aus weißem Porzellan.

»Ist das alles echt?«, platzte sie heraus und ärgert sich sofort über ihre naive Neugier.

»Ist es denn schön?«, fragte der junge Herr und lächelte verschlagen über Ilses Atemlosigkeit.

»Sehr!«

»Dann ist es auch echt.«

Sie drehte sich vor Bewunderung im Kreis und ihr wurde schwindelig davon. Dieses Haus ist ein Vermögen wert, dachte sie, und sie dachte, wie schön, dass sie so etwas auch einmal von innen sehen darf. »Es gehörte mal einem Juden«, sagte er so leise, dass sie kaum glaubte, richtig gehört zu haben. »Der ist jetzt über ’n Jordan…«

Für einen Moment war sie wie benommen. Jordan, wenn sie richtig gelernt hat bei Studienrat Wegener, floss der Jordan durch Indien. Aber so manch ein Zeitgenosse benutzte den heiligen Fluss als Sinnbild für Unwiederbringliches.

»Hier wohnt schließlich jetzt der Chef von den Focke-Wulf-Flugzeugwerken, draußen am Flugplatz. Weißt du, wo die FW190 montiert wird. Das ist ein Jagdflugzeug und Aufklärer für die Luftwaffe,... «

Seine Erklärung rührte Ilse nicht, das hatte er vermutlich aus ihren Augen lesen können oder wer weiß woher. Wohl deshalb fügte er vermutlich noch eine leidenschaftliche Verteidigung an: »Leuten mit so kriegswichtigen Aufgaben kann man nicht irgendeine Kaschemme anbieten…«

Hinter ihrer Stirn machte es klick. Sie musste schnell wieder gehen, durfte sich nicht zu lange allein mit dem jungen Herrn unterhalten. Was würde Mutter dazu sagen, oder gar Max? Was sollte man überhaupt von ihr denken?

Bevor sie das sagte, war er nach vorn gesprungen und hatte bereits die Tür zu einem der Räume geöffnet. Dabei war ihr aufgefallen, dass er leicht hinkte, nicht offensichtlich, vermutlich nur, wenn er einen Schmerz wahrnahm, aber seine Umwelt nicht.

Der Salon, wie Werner ihn nannte, war in jenem hellen Beige gehalten wie der Grundton des Marmors in der Vorhalle. Man spürte viel Geschmack und viel Geld hinter den Dingen. Mitten im Raum eine Polstergruppe aus feinstem Leder, mit Kissen bestückt. Die Accessoires des Raumes passten sich trefflich dem edlen Marmor an, aus dem auch der Tisch in der Mitte des Raumes bestand. Auch den Kamin zierte eine Kante aus farbigen Steinen. An der Wand links der Tür standen halbhohe Schränke mit Leuchtern. Zwischen den hohen Fenstern streckten sich schmale Vitrinen gefüllt mit Nippes und Büchern..

Vermutlich fühlte sie, dass er sie beobachtete, und wie er seine Augen auf ihren Nacken, auf ihren weißen Hals gerichtet hat. Beinahe wollte er seine Hand auf ihre Schulter legen, mehr noch, seine Lippen auf ihre Haut pressen, und wäre es nur die Haut ihrer Hände. Jeder andere Mann hätte es angesichts ihrer Verzückung genau so probiert, in genau dieser Reihenfolge. Und jeder andere hätte Worte hingehaucht, die eine Dienstbotin im Leben noch nie gehört hat.

Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich habe noch andere Aufträge zu… Ich meine, ich sollte jetzt gehen.«

Er wird sie nicht aufhalten dürfen, ohne später gescholten zu werden.

»Ich kann dir das Zeug nicht … ich meine, unsere Haushälterin ist auch noch nicht zurück.«

Das war nicht gelogen. Wer ein solches Haus besitzt, ist nicht nur reich an Mitteln, der hat auch Personal. Leider ist das im Moment einzig verfügbare Personal nicht so reich an Verführungskünsten, wie es — verflixt — viel besser wäre. Dafür war Werner Kaluza, wie er glaubte, offen für Inspirationen und Einfälle. Ihm war zwar beides nicht direkt in die Wiege gelegt worden. Im Gegenteil. Er weiß nicht einmal so genau, wo seine Wiege stand. Er weiß nur eines, seine Eltern sind zu Beginn des Krieges spurlos verschwunden. Man sagte hinter vorgehaltener Hand, sie seien umgekommen, und das habe damit zu tun, dass sie gegen etwas oder jemanden aufsässig geworden waren. Mehr konnte er aus den heimlichen Gesprächen, die andere Menschen führten, nicht heraushören. Seit fünf Jahren lebte er in diesem Haus in Einsamkeit. Hätte die Familie einen Sohn, es wäre vermutlich nicht weniger einsam für ihn. Ein solcher aber würde niemals mit einem Vortrag über Wohnqualität für eine Dienstbotin seinem Status Rechnung tragen wollen. Welcher junge Herr hatte das nötig? Warum begriff sie das nicht?

Ilse spürte das Unbehagen in Werner, deutete es aber gründlich falsch. Sie war bestrebt, ihre Starre zu überwinden. Junge Herrschaften waren unberechenbar. Dafür gab es genug Belege.

Abrupt drehte sie sich auf den Fersen um und griff hastig nach ihren Kartons, die Werner auf den Absatz am Geländer gelegt hatte.

Ehe sie konsequent werden konnte, kam, was sie befürchtet hatte. Er packte sie bei den Schultern, dass sie zu Tode erschrak. Sein Gesicht war jetzt direkt vor ihrem und seine Augen schienen sie zu durchbohren.

»Ich heiße Werner, bin der Hausbursche und wohne im Souterrain.«

Ilse glaubte, sie konnte Minuten lang keinen Muskel rühren. Als die Starre sie letztlich doch noch verließ, sagte sie endlich in ihrer kessen Art, die sofort abrufbar war, als sie sich unter Gleichen wusste: »Das will ich sehen.«

Dieses Souterrain war kein Verlies, in das man jemanden abschob, der es nicht anders verdient hatte. Aber auch kein Versteck wie das von Max.

Werners Bleibe war ein solides Zimmer mit Kanonenofen und Wasserhahn nebst Ausgussbecken. Mehr brauche er nicht, beteuerte er. Gutes Essen bekomme er schließlich auch.

Und dann erzählte er, dass er bald neunzehn werde und dass er seit November '44 beim Volkssturm wichtige Aufgaben erfülle. Sein Vormund habe es damals sofort für ihn «eingefädelt». Man wollte, dass er ein nützlicher und zuverlässiger Volksgenosse werde.

Ilses Achseln zuckten nichtssagend. Nicht anerkennend, nicht ablehnend. Dennoch war sie entschlossen, endlich zu gehen. Als er sie zwischen Tür und Angel fragte, ob sie ihm böse sei, dass er nicht gleich bemerkt habe, was sie über ihn geglaubt hatte, wurde sie keck: »Nicht, wenn du mit mir ins Kino gehst. Zu Ilse Werner.«

»Das ist mein Ding«, erwiderte er und hoffte, sie konnte nicht spüren, wie sein Herz in der Brust hämmerte.

Sie verabredeten sich für den kommenden Samstag, sofern der Volkssturm ihn nicht rufe.

Den Karton mit der Bestellung von der Frau des Hauses hatte sie Werner letztlich doch anvertraut. Das heißt, sie hatte ihn ihm aufgeschwatzt, um den Weg nicht noch einmal zurück zu müssen, nachdem sie im Hotel Berliner Hof war, das direkt auf ihrem Heimweg lag. Sie überquerte frohen Mutes die Promenade und tauchte ein in den winterruhigen Park, den sie schon zuvor durchschritten hatte. Jetzt sah sie die Welt ganz anders; nicht mehr so trist und grau. An den Sträuchern unterhalb der Stadtmauer glitzerten weiße Schneebeeren, als hätte sie ein Engel mit Diamanten bestückt. Mit einer Hand pflückte sie von den eiskalten, hart gefrorenen Beeren so viel sie konnte, füllte ihre Manteltasche damit und warf beim Weitergehen immer eine nach der anderen Beere, die sie Knallerbsen nannte, auf die Pflastersteine. Mit kleinem Jauchzen in der Brust trat sie übermütig auf eine jede, dass es unter ihren Schuhen nur so knackte. Jeden einzelnen Laut begleitete ein Wort in ihrem Kopf. Er…geht…mit …mir…ins…Kino…! Werner und Ilse…zu…Ilse…Werner…! Was für ein herrlicher Kriegstag…

Liebe, die auf Trümmern wächst

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