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Unösterliche Freude

Chefarzt zu sein ist schwierig. Erstens musst du Leute anleiten, und das ist unangenehm, besonders für einen feinfühligen Menschen und besonders in einem Kreiskrankenhaus, wo kaum jemand für diesen Posten zur Verfügung steht. Zweitens gibt es im Krankenhaus diverse Vorfälle: Patienten stecken die Matratzen mit Zigarettenkippen in Brand, springen aus dem Fenster, beklauen die Schwestern, schreiben Beschwerden, sterben. Das Dach ist nicht dicht, die Rohre sind verstopft, das Licht fällt aus. Drittens, die Spielregeln ändern sich, du musst dich so anpassen, dass Mitarbeiter und Patienten möglichst wenig in Mitleidenschaft gezogen werden – sowohl durch die Verschlechterungen als auch durch die Verbesserungen. Viertens musst du dich mit der Obrigkeit auseinandersetzen und mit Feuerwehrleuten, der staatlichen Hygieneaufsicht und der staatlichen Drogenkontrolle. Daneben darf man nicht das Wesentliche vergessen: Ein Krankenhaus wie ein Unternehmen leitend, darf man niemals aus dem Blick verlieren, dass es nicht nur ein Unternehmen ist, nicht nur ein wirtschaftendes Subjekt.

Unsere Chefärztin, eine Frau von sechsundfünfzig Jahren, möchte Verbesserungen und nicht nur vom Staat diktierte Änderungen. Deshalb hat sie Unannehmlichkeiten, eine von ihnen hat vor kurzem die Aufmerksamkeit ganz Russlands erregt. Wir, drei Ärzte und einige Förderer des Krankenhauses, versuchten zu helfen – ihr und uns selbst. Als Teilnehmer der Ereignisse fühle ich mich berufen, zu erzählen, was geschehen ist.

1.

Am Freitag, den 29. Februar, eröffneten wir die kardiologische Abteilung (eine neue, für mehrere Kreise), und schon am nächsten Arbeitstag, einem Montag, wurde die Chefärztin ohne Begründung entlassen. Zur morgendlichen Konferenz kam der verkaterte Vertreter des Polizeimeisters und verlas einen Befehl. In den Zeitungen, in Radio, Fernsehen und Internet begann ein Aufruhr – initiiert wurde er von unseren Freunden, und er schwelte weiter. Am Dienstag erhielten wir eine Verordnung von der Miliz, die Kopien finanzieller Unterlagen herauszugeben – auf diese Weise erfuhren wir von einem durch uns begangenen Betrug besonders großen Ausmaßes. Die Angst vor einem Strafprozess löste sich schnell auf: Das an uns gesandte Papier erwies sich als Fälschung. Die entscheidende Rolle spielte die Regierungszeitung: Für den Donnerstag vereinbarten wir ein Treffen mit einer Bedeutenden Persönlichkeit. Ohne Frauenkleider anzulegen, machte ich mich mit einem von einem Förderer zur Verfügung gestellten Panzerwagen nach Moskau auf.

Ich will das Gespräch mit der Bedeutenden Persönlichkeit nicht in allen Einzelheiten beschreiben, ich kann nur sagen, dass die Position eines Kardiologen in einem Kreiskrankenhaus (tiefer kann man auf der Karriereleiter nicht sinken) sich als äußerst vorteilhaft erwies. Ich erzählte von der Chefärztin: Sie ist ehrlich und, was die Hauptsache ist, sie identifiziert sich mit den Ärzten und nicht mit der Obrigkeit – „Schließlich waren wir es, die den Soundso gerettet haben!“ Das Ergebnis ist bekannt: Dem Polizeimeister wurde der Rücktritt nahegelegt, über sein und der Chefärztin berufliches Schicksal sollte die Kreisversammlung der Abgeordneten entscheiden – selbst die Bedeutende Persönlichkeit kann nämlich einen demokratisch gewählten Polizeimeister nicht absetzen.

Die Woche war stürmisch, sogar weniger als eine Woche: vier Tage, das Telefon klingelte pausenlos, nur nachts wurde es leichter, und aufgrund des Charmes der Raserei, die uns gepackt hatte (Siegen! – und fragt nicht „zu welchem Zweck“), wurde unser eigentliches Anliegen aus den Augen verloren: die Patienten. „Jetzt könnt ihr die Beamten besser verstehen, bei denen ist das ständig so, deshalb haben sie keine Zeit für die Menschen“, sagte der Wohltäter. Eine ähnliche Hektik gibt es zwischen einem Todesfall und der Beerdigung – du machst da in zwei, drei Tagen sehr viel mehr durch als sonst. Leute kommen, drücken ihr Beileid aus, das ist notwendig, der eine fährt die Sterbeurkunde holen, die andere bäckt das Totenfeierbrot.

Sein Mitgefühl kann man auf unterschiedliche Weise ausdrücken, aber selbst ungesundes Mitgefühl ist besser als gesundes Fehlen von Mitgefühl, also danke, vielen Dank allen, inklusive S. Einst war er mein Freund, wir hatten uns seit acht Jahren nicht mehr gesehen. S. war erfolgreich, trinkt aber manchmal und schreibt mir dann sensible Briefe mit Zitaten von Wittgenstein und Saint-Exupéry. Folgenden Brief erhielt ich am Mittwochmorgen, den 5. März: „Mit Trauer und Schmerz im Herzen verfolge ich, was geschieht. Ich würde dir sehr gerne helfen und die Ereignisse von einem ganz anderen Standpunkt betrachten … Ruf mich doch einfach an. Das wird für dich einen großen Sieg im metaphysischen Sinn bedeuten. Wenn dir das aber vorläufig nicht möglich ist, nimm dieses Muster als Geschenk: Es wird dir Erfolg bringen, selbst wenn du es nur hin und wieder betrachtest. Die letzten drei Jahre, da ich mich fast ganz von den Geschäften zurückgezogen habe, verbringe ich damit, Muster zusammenzustellen. Ich umarme dich“, Unterschrift. In der angehängten Datei: ein schönes Muster (Streifen, Sterne). Ein Kollege, dem ich vorschlug, ihm eine Diagnose zu stellen, schloss eine psychische Störung aus: „Das ist irgendeine spirituelle Krankheit.“

„What a mess!“ – schreibt mein amerikanischer Coautor begeistert, er hat in der „Washington Post“ etwas über uns gelesen. Lange hatte er nichts von sich hören lassen: Er sollte die Kapitel unseres Buches für die amerikanische Ausgabe redigieren und ergänzen und war völlig von der Bildfläche verschwunden, aber jetzt ist er eben wiederaufgetaucht.

Auch unerwartete Ratschläge treffen ein. Mein ehemaliger Moskauer Nachbar, ein Biologe und Inhaber eines Lebensmittelgeschäfts, der, wie sich herausstellt, jetzt in Sachalin lebt, schreibt: „Früher oder später werden Sie die Vergeblichkeit Ihrer Bemühungen einsehen und sich aufmachen, die Äthiopier oder Philippiner zu behandeln – sie werden sehr viel dankbarer sein für das, was Sie für sie tun. Ich habe lange in beiden Ländern gelebt, sie sind von wunderbaren Menschen bevölkert.“

„Unösterliche Freude“ – diese Bezeichnung kam mir fast auf Anhieb, gemeint ist nicht die Freude über eine Begegnung oder ein erhaltenes Geschenk, die Berührung von etwas Höherem. Dasselbe muss Napoleon empfunden haben, als er in das leere Moskau einmarschierte. Die Abwesenheit von Widerstand: wie ein Messer, das in Butter fährt, oder nicht einmal in Butter, sondern in Öl. Die Hand, die den Schlag ausführt oder zum Händedruck ausgestreckt ist, bleibt im Leeren hängen.

Am Freitag, dem Tag nach dem Gespräch mit der Bedeutenden Persönlichkeit, nach der Abreise der Journalisten und dem Aufhören der Anrufe machte sich eine erschreckende Leere breit. Die Schlüssel vom Büro der Chefärztin wurden uns von niemandem gebracht, den Mitarbeitern wurden schwarz-weiße Kopien der Gratulationskarten zum achten März mit der Unterschrift des Polizeimeisters ausgegeben, der Gratulant selbst hatte sich in unbekannter Richtung verabschiedet. Offizielle Erklärungen zu den Rücktritten gab es nicht („Rufen Sie nach den Feiertagen an“), es wurde klar, dass die Burschen das Schwert nicht aus der Hand gäben, sondern – hast du nicht gesehen – mich für verrückt erklären und zwangsweise in die „Buschmanowka“, das psychiatrische Regionalkrankenhaus, stecken würden: Der Doktor hat einen schizophrenen Anfall oder was auch immer, sie würden sich schon was einfallen lassen. In diesem Zustand trifft er sich mit Präsidenten und Ministern, ruft Journalisten zusammen, setzt Beamte ab.

Doch erhielten wir gerade noch ein Fax (am siebten März, einem verkürzten Arbeitstag): die Antwort der Bedeutenden Persönlichkeit an die Regierungszeitung. Erleichterung trat ein, sie stecken mich nicht in die „Buschmanowka“. Die Gegenwart brach an – eine erschreckende Leere, der Zustand, in dem wir jetzt leben.

Die Leere materialisiert sich, und es heben sich einzelne Gestalten ab: ein paar Geschäftsleute, sehr mittelmäßig, und der Spiritus Rector unserer Stadt, die Konfidentin des Polizeimeisters, wir kennen sie schon lange. Sie leitet mehrere städtische Einrichtungen, in ihren Regalen stehen religiöse Bücher neben einem „Lehrbuch für Buchhaltung“ und dem „Gesetz zur örtlichen Selbstverwaltung“. Die Konfidentin hat großes Leid hinter sich, verfügt über angenehme Umgangsformen, eine Engelsstimme und macht aktiven Gebrauch von der Kirchensprache: Unsere Geschichte „führt sie in Versuchung“, „hindert sie daran, friedlich zu bleiben“. „Sie fürchten Gott nicht“, sage ich zu ihr. Und wirklich, sie fürchtet ihn nicht, sie findet vielmehr, er schulde ihr etwas für ihre Qualen: Lesen der geistlichen Literatur, stundenlanges Stehen in der Kirche, Einhalten der Fastenzeiten. Der Vorrat der Konfidentin an Bosheit ist frappierend. Sie war es, die in die Welt gesetzt hatte, wir stellten Versuche mit Menschen an, gebrauchten verbotene Präparate und probten die orange Revolution („sie kenne sich mit deren Methoden aus“). Auch die Journalisten halfen. Unsere Gegner erinnern sich wohl kaum an die „Dämonen“, selbst wenn sie sie gelesen haben, aber die Journalisten erinnern sich: Junge Leute tauchen in einer ruhigen Provinzstadt auf, um sie in die Luft zu sprengen. Da gibt es Benefizbälle, Damen der Obrigkeit, einen schwadronierenden Literaten und sogar einen Aristokraten – unseren Förderer („Wenn der Aristokrat für die Demokratie eintritt, ist er bezaubernd“).

Sie reden über uns im Fernsehen: Krankenzimmer Nr. 6, das Volk verharrt schweigend, Basmannyj-Justiz. Es ist einfacher, das Interessante zu übergehen: Die Chefärztin hat schon zweimal mit dem Polizeimeister prozessiert und beide Male gewonnen, die Ortsbewohner haben einen Brief geschrieben und sammeln Unterschriften. So eine Parteipresse – entschieden schlimmer als die Regierungszeitung. Man vergleicht uns mal mit Soros, mal mit YUKOS – was für eine Grundlage für Angriffe! Dazu steht etwas im „Iwan Denissowitsch“: „Aber nach dem Krieg schickte mir der englische Admiral, hol ihn der Teufel, ein denkwürdiges Geschenk. Zum Zeichen der Dankbarkeit. Ich wunderte mich und verfluchte ihn! …“

Es ist bekannt: Wenn man eine Million Affen an die Schreibmaschine setzt, wird bei einem von ihnen irgendwann ein Meisterwerk herauskommen. Die Affen haben den Vorteil: Sie drücken per Zufall auf die Tasten. „Soll ich mich mit allem auskennen?!“, ruft die junge Journalistin aus. Na klar, wenn du über alles schreiben willst. Einige Redaktionen schlugen uns vor, alles selbst darzustellen: „Sie haben einen guten Stil“ – das ist von dem, der es vorschlägt, nicht böse gemeint, sondern wie „Du bist groß, wechsle die Glühbirne aus“. Wir lehnten jedes Mal ab, nicht aus Arroganz – wir hatten schlicht keine Kraft dazu.

Viel dummes Zeug ist geredet worden über das, was bei uns los ist, trotz der einfachen Sachlage. Wir kämpfen nicht gegen die „Kräfte des Bösen“, gegen „Beamtenwillkür“ und so weiter – sondern nur gegen die, die uns an der Arbeit hindern. Wofür kämpfen wir? Für die Rückkehr der Chefärztin zur Arbeit. Sie lässt uns das machen, was wir wollen – die Patienten behandeln. Das hat keine politischen und fast keine wirtschaftlichen Gründe. Es gibt die Obrigkeit: ihr darf man nicht widersprechen, und das hat sie getan. Warum haben die Unterstützer scheinbar keine Angst? Oh doch, sie haben Angst, große sogar, aber sie kämpfen für dasselbe wie wir: für das Recht, ihr Leben zu leben. Zum Schlachtfeld wurde das Krankenhaus, das ist ihr Borodino – ein Dörflein, das niemandem etwas bedeutet außer uns, den Bewohnern dieses Borodino.

Die Liste derer, die im Netz ihre Unterstützung bekundet haben, beginnt so: Abramowa, Ajzenberg, Akimowa, Akulowa, Albaut, Aldaschin, Alexejew, Altowa, Amelina, Andrejew, Asarowa, Awerkijew, Awilowa … Aus Tschechow, Moskau, Lissabon, Washington, Kursk, Sankt Petersburg, Be’er Scheva – Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Unternehmer, Studenten, Wissenschaftler, Literaten. Tausend Unterschriften. Hat sich das ausgewirkt – wer weiß? Aber es tröstete ungemein und begeisterte uns: Egal, wie schnell du läufst und wie kräftig du ausholst, deine Fans helfen dir.

Wen verteidigen diese Menschen? Musste man ein solches Tamtam machen, weil eine Tante im Pensionsalter entlassen worden war? Die Antwort gab meine Freundin, die an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität lehrt: „Ich erkläre die vier Formen eines Verbs im Ivrit und weiß, dass Sie in dieser Zeit Patienten untersuchen. Wir beschäftigen uns mit ein und demselben.“ So dass die Antwort einfach ist: Diese Menschen verteidigen sich selbst. Natürlich ist es schrecklich, gegen die Inkarnation der Leere zu kämpfen, aber das ist der seltene Fall, da man unbedingt siegen muss. Die Leere droht uns zu verschlingen, uns zu unterwerfen – wie die sadistischen „Großväter“ in der Armee, wie die „Diebe“ im Lager das tun, und wir Grünschnäbel und Naivlinge wehren uns dagegen. Wir müssen siegen: Vom Resultat, einzig vom Resultat und nicht von dem Prozess – davon, als was für tolle Hechte wir uns aufführen – hängt das weitere Leben ab.

Es gibt viele Nebenthemen, beispielsweise folgendes: Wenn wir es schaffen, aber nur dank der Hilfe der hohen-höchsten Obrigkeit, kann man das als Sieg ansehen? Natürlich, selbstverständlich. Das Krankenhaus ist staatlich, wer, wenn nicht der Staat, muss ihm helfen? Frage: Und wie ist es mit Ihren Einheimischen, Ihren Patienten? Das kümmert mich nicht: Wir sind Ärzte und nicht Anführer einer Armee von Patienten. „Wie reagieren die einfachen Leute auf Ihre Aktionen?“ Es sterben weniger. Eine Alte kommt auf mich zu, wir haben sie vor ein paar Monaten zur Operation nach Moskau geschickt, es geht ihr sehr viel besser: „Ich habe gehört, man will Ihr Krankenhaus schließen. Können Sie mir Tabletten mit auf den Weg geben?“ Richtig: Sie ist klein, wir sind groß, wer muss wen verteidigen? Die Medikamente einnehmen und eine gesunde Lebensweise – das ist alles, was wir von den Menschen erwarten.

Professorenkollegen unterstützten uns ebenfalls, obwohl das für einige ungemütlich war. Sie verbringen viel Zeit in den Sitzungen der Wissenschaftlichen Räte, wir nicht, wir hatten uns hierher geflüchtet – um der Freiheit und Möglichkeit willen, alles nach unserer Überzeugung einzurichten. Die Medizin hat sich immer auf eine Autorität gestützt, früher gab es gar nichts anderes, während in der Mathematik die Autorität keine Rolle spielt. Allerdings geht auch die Medizin allmählich in diese Richtung.

Noch eine Kategorie derer, die Anteil nahmen: „die Helden Russlands“. Einer von ihnen, der wirklich mit einem Stern ausgezeichnet worden ist, öffnet mit einem Ruck die Tür zu unserem Sprechzimmer: „Warte, wir geben es ihnen!“ Er hatte schon seit dem Morgen getrunken. „Wir drücken sie runter, zwingen sie auf die Knie, nehmen sie von hinten.“

„Wer war das?“, fragt ein Kollege.

„Ein Held Russlands. Benja ist König, kein Vergleich mit uns, die auf der Nase die Brille und in der Seele den Herbst tragen.“

Helden und Journalisten und Professoren – alle setzten sich ein. Es sieht so aus, als sei ich nicht dankbar. Das stimmt nicht.

2.

Neue Ereignisse traten ein. Am vierzehnten März versammelten sich die Kreisabgeordneten. Der Vorsitzende, nicht nach hiesiger Manier stramm und braungebrannt, schlägt einen Kompromiss vor: eine Rüge für den Polizeimeister, Wiedereinsetzung der Chefärztin. Der Vorsitzende und seine Frau sind gute Menschen, schon früher haben sie sich um das Krankenhaus gekümmert – Geld gesammelt und Anteil genommen. Aber der war gerade vom Skilaufen aus den Alpen zurück, Rückflug, er ist müde, der Wechsel der Zeitzonen, er hatte sich nicht die Abgeordneten vorgenommen, mit denen er sich hätte absprechen müssen, und das Resultat war: Von fünfzehn Abgeordneten stimmten sechs mit Ja, die anderen waren dagegen. Der Vorsitzende wiederholt immer wieder: „Wir sind zu anständige Leute“, er hat an diesem Tag wohl anderthalb Kilo abgenommen.

Die Männer haben ihren eigenen Kopf. Woher kommt diese Unnachgiebigkeit, bei der ein Versöhnungsversuch als Schwäche und Signal zum Gegenangriff wahrgenommen wird? Der Polizeimeister erhält doch nur eine Rüge, die Chefärztin kehrt auf ihren Posten zurück, sie stünden da wie vorher. Aber der Vorsitzende lebte längst nicht mehr in der realen Zeit, in einer Situation, die sich ständig verändert, je nach dem, was du tust und sagst.

Das Gefühl realer Zeit – wenn sich auf einmal herausstellt, dass die fortgesetzte Vergangenheit zur abgeschlossenen Vergangenheit geworden ist, einfach zur Vergangenheit, an der man nichts mehr korrigieren oder ändern kann – kannte ich von meinem Treffen mit der Bedeutenden Persönlichkeit oder auch aus der Liebeserklärung Kittys und Lewins: Die Dauer ist außer Kraft gesetzt, man muss in eben diesem Augenblick Klugheit an den Tag legen, jetzt sofort. Die Tatsache, dass du klug, kompetent oder – anständig bist, gehört der Vergangenheit an, es erhöht die Chancen, dass du dich in der Gegenwart klug verhältst, in dem, was ist, aber es garantiert nichts.

Wieder sind wir die Verlierer – emigrieren oder bleiben? Wenn wir uns als Förderer des menschlichen Geschlechts gerieren wollen, müssen wir bis zum Schluss durchhalten, damit man später Straßen nach uns benennt, ansonsten sind wir frei in unseren Entscheidungen, wir sind nur Ärzte, wir wollten bessere Arbeitsbedingungen für uns schaffen, und das wäre fast gelungen. Wir machen uns daran, einen Brief zu schreiben, wundern uns, dass wir auf den vorigen keine Antwort erhalten haben, und sagen uns, dass die minimale Frist in Mittelrussland eine Woche beträgt. Eine ganz hohe Obrigkeit muss uns helfen.

„Mit dem Auftauchen dieses und jenem“, schreiben wir, „ist die allgemeine Todesrate im Krankenhaus auf die Hälfte gesunken, die nach einem Myokardinfarkt auf ein Sechstel“ – das entspricht der Wahrheit, obwohl es uns zum Hals heraushängt, dies zu betonen. Womit sollen wir uns in einem Jahr brüsten, wenn es mehr und schwerer erkrankte Patienten gibt? Im Moment, in diesem Tohuwabohu, haben sie fast aufgehört, krank zu sein. Aber die da sind, sehen in dem frisch renovierten Raum fehl am Platze aus: „Der Krieg beschmutzt die Uniformen und bringt Reih und Glied durcheinander.“ Es erfordert Anstrengung, um die Menschen in dieser Pracht von Fliesen, geraden Wänden und breiten, hellen Fenstern nicht deplatziert erscheinen zu lassen. Der Kollege hat zu tun, mir dienen unsere beiden Sprechzimmer – das große kardiologische und das kleine – zu Telefongesprächen und dem Verfassen von Bittschriften.

Eine ältere Frau mit Herzrhythmusstörungen, die vor nicht weniger als einer Woche aufgetreten sind, wird eingeliefert. Ich muss ihr den Sensor in die Speiseröhre einführen, um zu sehen, ob Thromben im Herzen sind, sie betäuben und ihr einen Stromschlag versetzen – um den Herzrhythmus wieder richtig einzustellen. All das haben wir im letzten Jahr Dutzende Male mit Vergnügen gemacht. Aber heute – wie soll ich da arbeiten, wenn die neue Chefin sich über jeden Misserfolg freut. Es wäre gut, wenn sich der Rhythmus von selbst normalisierte, während wir uns mit dem Apparat abmühen – und zack, das passiert tatsächlich, Sinusrhythmus. „Sehen Sie, wenigstens der Eine hat uns erhört.“

„Lästern Sie Gott nicht“, bittet der Kollege.

Ja, Entschuldigung. Wir sind sehr müde – das ist nicht der höchste Preis für die Selbständigkeit, aber fast alles, was wir bereit sind zu zahlen.

Wir verlassen das Krankenhaus und merken auf einmal, dass wir im gedemütigten Zustand besser in die Landschaft passen, und auch die Angst ist kleiner geworden. Und wohin sollen wir? Nach Tutajew, Kirzhach, Boldino? Überall dasselbe. Da wird dir klar, warum wir so ein mieses Leben und so eine gute Literatur haben.

Macht nichts, macht nichts, alles wird gut, uns braucht jemand: Dies ist nicht nur die Stadt der Beamten und Konfidentinnen, sondern auch die der sauberen alten Frauen, ihrer Enkelinnen und Enkel, die Stadt Swjatoslaw Richters, Sabolozkijs, meines Urgroßvaters M. M. Melentjew, der wehleidigen dicken Alten aus dem Haushaltswarenladen, der netten Lehrerin mit dem unklaren Auswuchs an der Aortenklappe, die Stadt der Künstler, des stillen gläubigen Alkoholikers mit dem Herzfehler, die Stadt Vater Schmains und die Stadt Zwetajewas.

3.

So musste es ja kommen: Auf einmal (am neunzehnten März) gab es einen fürchterlichen Sturm – eine Kommission, bestehend aus zehn Mann, inspizierte das Krankenhaus, und auf der Stelle prüften fünfzehn Revisoren auch gleich die Verwaltung. Der Durchzug fegte sowohl den Polizeimeister als auch den armen Vorsitzenden von seinem Posten. Und wie nebenbei erschien ein Jemand und las den Befehl vor: „die Chefärztin wiedereinsetzen“. Die Leere wurde erneut in die Zwischenzellräume gejagt. Sie würde sich leider noch rächen, aber der Erste Weltkrieg war für uns beendet. Il faut travailler – an die Arbeit!

In seinem Schlusswort vor den Kreisabgeordneten – nachzulesen in der Lokalzeitung – sagte der Polizeimeister: „Fremde sind in unser Haus gekommen und haben es zerstört …“ Was für ein Haus? Als wir anfingen, gab es noch nicht einmal einen Defibrillator. Hier hätte durchaus ein Haus stehen können … „Betreten des Rasens verboten!“ Dabei gibt es gar keinen Rasen, nur einen zertretenen Platz, wächst da überhaupt was?

Die Leere befasst sich mit der schönen Literatur. Ein großer anonymer Artikel, Überschrift: „Genozid im Kreismaßstab“. Ein rührender Beginn: „Man hat uns Russen immer vorgeworfen, wir setzten unser Leben für den Wohlstand anderer Völker aufs Spiel. Das liegt in der Natur der Seele des russischen Menschen, die von Traditionen und christlicher Liebe geprägt ist …“ Schon bald – little wonder – folgt eine Passage über die Fremden: „Die listigen Ankömmlinge gewöhnten sich an, die Gastfreundschaft des russischen Volkes auszunutzen, um ihre niedrigen und eigennützigen Ziele zu erreichen“, das war das Hauptthema.

Na endlich! Wie ist es in Russland als Jude – fragt mich eine Tante aus einer internationalen jüdischen Organisation, die denken nur an eins. Ich antworte: Schwierig, aber legal.

„Aus gierigem Interesse nutzen die Fremdlinge geschickt die Kräfte und Mittel des Staates, der durch die tausendjährigen Bemühungen des russischen Volkes geschaffen ward.“ Eine ganze Spalte in diesem Geiste. Weiter noch drei über das Krankenhaus, mit Zahlen, Datum der Anordnungen, Ein- und Ausgangsnummern, eine detaillierte Aufstellung, listenreiche Lügerei. Ein Mischmasch von allem – wie die Autoren im Schrank der Konfidentin. Warme Worte über den Polizeimeister („Enkel von Veteranen, Sohn eines Soldaten“) und eine Modulation in einer fernen Tonart – über A. P. Tschechow, die Rubrik „Warum ist die Staatsanwaltschaft blind“, ein bisschen über meinen Kollegen und mich („die Kardioinvestoren“, „die Möchtegern-Kardiologen“), und als es um die Bedeutende Persönlichkeit geht, um das, was sie antreibt: „eine antivölkische, antirussische Kraft, und die Macht, die hinter ihr steht, sind die Freimaurer“.

„Sie sind ungebildet“, sagen mir gutherzige Menschen. Ich würde es anders ausdrücken: Sie sind schlecht. Ungebildet, weil sie schlecht sind, und nicht umgekehrt. Ein Flegel wendet mit seinem Auto einen gefährlichen Trick an: Er fährt plötzlich von hinten dicht auf und blendet mit den Scheinwerfern: Platz da! Ist der auch ungebildet? „Der Klügere gibt nach, pfeif drauf …“ Gut, puh. Was heißt klüger: wenn jemand einen höheren Intelligenzquotienten hat, heißt das, er ist klüger? Das Dritte Rom ist dem Zweiten sehr viel näher als dem Ersten, wichtig ist nicht der Intellekt. Und ich habe Angst, diesen Gedanken zu vertiefen: Was, wenn eben diese Unnachgiebigkeit (nicht aus bösem Willen, sondern zum Zweck der Geschlossenheit), die ewige Bereitschaft, sich und andere zu opfern, und der Glaube an Worte die Polen und Franzosen und Deutschen besiegt haben? … Alles muss sich beruhigen, wir müssen viel arbeiten, wir müssen zusammenleben. Wir wollen, was geschah, Initiation nennen, ja? (Einige Jahre später kommt der neue Minister aus der Region zur Eröffnung der renovierten chirurgischen Station. Wir gehen auf die Straße, er mustert mich: „Sie wirken überhaupt nicht wie ein Kämpfer, nein.“ „Wie das …? Das fand der Polizeimeister auch.“ Wir blicken einander wieder aufmerksam an und gehen auseinander.)

„Unser Leben wird nie mehr so sein wie früher“, sage ich zu meinem Kollegen. „Die Tschebureki-Stube meiden wir – wissen Sie, wer da Chef ist? Kein Problem, dann essen wir eben Pelmeni. Wir emigrieren natürlich nicht, aber wir müssen unser Haus versichern, Häuser können brennen. Die haben das Papier gefälscht, stimmt’s? Und was haben die noch für Streiche in petto? Gehen Sie bloß nicht in diese Apotheke, lassen Sie das einfach, basta! Und die städtische ist geschlossen? Gut, dann morgen, da ist es auch billiger (eigentlich – ein und dasselbe). Lassen Sie das Haus bewachen und bauen Sie einen Zaun. An der Oka spazieren gehen ist nicht ratsam; wenn Sie unbedingt wollen, fahren wir nach Drakino, das ist eine andere Region – nur fünfzehn Kilometer, da ist es ebenfalls schön, und du triffst keinen. Warum überhaupt spazieren gehen? Wir können die Fenster öffnen, die Luft ist überall gut. Wie, sind wir wirklich Datschniki? Wir sind keine Datschniki. Wir gehören hierhin. Jetzt gehören wir dazu.“

März 2008

Kilometer 101

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