Читать книгу Bad Human - Maxima Hampel - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеEthan „Die Menschen glauben, dass die Spezies Mensch von Natur aus gut ist. Dass nicht der Mensch schlecht ist, sondern die Umgebung ihn schlecht macht. Doch das stimmt nicht. Der Mensch ist böse. Und er ist es, der seine Umgebung schlecht macht. Nicht die Luft ist schlecht, sondern die Abgase, die wir mit unseren Autos produzieren, machen sie schlecht. Nicht das Wasser ist schmutzig, sondern der Dreck, der ins Wasser gelangt, verschmutzt es. Nicht die Tabakpflanze ist schlecht, sondern die Zigarette, die durch Menschenhand daraus entsteht. Und auch Tiere sind nicht schlecht, sondern der Mensch macht sie schlecht, indem er Versuche an ihnen durchführt, nur um sicherzugehen, dass ihm selbst keine Gefahr droht, wenn er ein Medikament nimmt oder sich die Haare wäscht. Wieso hat sich die Weltbevölkerung noch nicht gegenseitig umgebracht, wenn doch jeder das Böse in sich hat? Ganz einfach. Stellen wir uns das Gute mal als eine Fähigkeit vor, und das Böse als eine Charaktereigenschaft, ähnlich wie zum Beispiel den Egoismus. Wir können Fähigkeiten lernen. Wir können unseren Charakter trainieren und formen. Doch eine Fähigkeit wird nie zu unserem Charakter, und die Tatsache, dass wir so veranlagt sind, wie wir es nun mal sind, können wir ebenso wenig ändern. Wir wissen, wie man sich ordentlich und höflich benimmt, genauso wie wir wissen, dass wir ins Gefängnis kommen, wenn wir jemanden umbringen. Wir haben gelernt, dass man alten Menschen über die Strasse hilft. Die Erfahrung lehrt uns, unseren Mitmenschen nicht immer unsere ungefilterte Meinung zu allem mitzuteilen. Die Erfahrung verändert folglich unsere Gewohnheiten. Nicht aber unseren Charakter! Ehepartner oder fest vergebene Menschen sind für unser Begehren tabu. Das alles und noch vieles mehr haben wir gelernt. Wir haben es gelernt. Aber es hat unseren wahren Charakter nicht verändert. Hinterfragen wir uns doch einmal selbst: Wieso tragt ihr die Einkaufstüten für eine alte Dame? Ist es, weil sie uns leidtut, oder weil uns ein schlechtes Gewissen plagt, wenn wir es nicht tun? Tun wir jemandem einen Gefallen, weil unser Herz es uns sagt? Oder tun wir diesen Gefallen, weil wir wissen, dass es richtig und höflich ist?“ Unser Lehrer, Mr. Smith, tritt ein paar Schritte auf mich zu. Seine Hände stützt er auf meinem Schreibtisch ab. Er hat die Ärmel seines dunkelroten Hemdes hochgekrempelt, deswegen kann ich seine muskulösen Arme sehen. Die blauen Adern sind deutlich sichtbar, ein Zeichen dafür, dass er seine Muskeln anspannt. Gerade hält er uns einen Vortrag über die Ideologie des Britisch World Service. Wir alle haben seine Worte schon Dutzende Male zuvor gehört, und doch fasziniert es jeden Einzelnen von uns immer wieder aufs Neue. Mittlerweile ist er mir so nahe, dass ich mir sicher bin, das Waschmittel seines dunkelgrünen Pollunders, welchen er über seinem Hemd trägt, riechen zu können. Lavendel. Mit der einen Hand fährt er sich über seinen stoppeligen Dreitagebart, während er fortfährt: „Ich tue all dies nicht, weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich ein guter Mensch sein will. Wäre ich ein guter, müsste ich kein guter sein wollen. Der Mensch ist von Natur aus böse. Und genau das hat der British World Service erkannt. Wenn wir die Welt also zu einem besseren oder wenigstens halbwegs erträglichen Ort machen wollen, so müssen wir zu den bösen Menschen dieser Welt ein Gleichgewicht schaffen. Doch wie soll das gehen, wo doch das Gegengewicht zum Bösen das Gute ist und es auf der Welt zu wenig davon gibt, um das viele Böse aufzuwiegen? Es klingt gewagt, aber so, wie man Bakterien mit Schimmelpilzen bekämpfen kann, kann man Böses der einen Art durch Böses der anderen Art aufwiegen und neutralisieren. Das ist unsere Philosophie. Die Philosophie des Gleichgewichts. Wer kann mir ein Beispiel für politisches Gleichgewicht nennen?“ Ich liebe dieses Thema und strecke meine Hand schneller als einen Karate-Fauststoss in die Höhe. „Ethan?“ Mr. Smith erteilt mir das Wort. „Das atomare Wettrüsten während des Kalten Kriegs ist ein Beispiel für politisches Gleichgewicht, welches seinen Zweck erfüllte“, schiesse ich ihm meine Antwort entgegen. „Ja“, Mr. Smith lächelt, „es hat funktioniert. Hätte aber auch daneben gehen können. Doch du hast recht, Ethan. Es ist ein gutes Beispiel, und es war alternativlos. Ungleichgewicht hätte den Kapitalismus zu Erpressern und den Kommunismus zu Erpressten gemacht. Wer kann mir ein aktuelles Beispiel für fehlendes Gleichgewicht nennen?“ Dieses Mal schiesst keine Hand nach oben. Und es findet sich auch keine Hand, die sich nur zögerlich und mit kleinen unsicheren Trippelschritten den Weg nach oben sucht. Es findet sich genau keine Hand, die bereit ist, sich zu melden. In unserer Klasse voller junger, enthusiastischer und wissbegieriger Rekruten des British World Service hat das eine hohe Aussagekraft. Denn keiner von uns hat einen IQ von unter 130. Mr. Smith scheint diesen Moment auszukosten. Er lässt seinen Blick durch die Klasse schweifen. Von links nach rechts, dann wieder zurück von rechts nach links. Von vorne bis hinten und wieder zurück nach vorne. Er lächelt. Ein ganz klein wenig provokativ. „Keiner von euch eine Idee?“ Wir sind nicht die Art von Klasse, die ernsthafte Fragen mit dummen Witzen beantwortet. Wir haben gelernt, dass alles seine Zeit hat. Und wir haben gelernt, ganz genau nachzudenken, bevor wir reden. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, die Zeit des anderen nicht mit Unnötigem oder gar mit Dummheit zu vergeuden. Und es sieht so aus, als sähe sich keiner von uns dazu im Stande, eine kluge und konstruktive Antwort beizutragen. „A-me-ri-ca first.“ Mr. Smith betont die Worte mit Genuss, Genauigkeit und Drama. Nicht zu viel. Und nicht zu wenig. „Was fällt den jungen Herren und Damen zu diesen Worten ein?“ Auch dieses mal schiessen oder kriechen keine Hände in die Höhe. Nicht, weil die Frage zu schwierig ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall, und niemand von uns will den Eindruck erwecken, durch die Beantwortung einer derart leichten Frage Wissen vorzutäuschen. Schliesslich und ohne sich vorher zu melden, fragt Brian aus der ersten Reihe: „Trump, das ist uns allen klar. Und wer ein solches Übergewicht hat, dem fehlt es natürlich an Gleichgewicht. Aber ich fürchte, ich erkenne die politische Dimension nicht, auf die Sie sicher anspielen.“ Nun also doch ein dummer Witz, wenn auch klug verpackt. Mr. Smith verzieht den rechten Mundwinkel um einige Millimeter. Was man aber nur erkennt, wenn man ganz genau hinschaut. Lächeln in homöopathischer Dosis nennen wir das. Mit langsamen Schritten positioniert er sich genau in der Mitte des Klassenzimmers. Mit Bedacht und ohne Hetze oder Emotionen nimmt er zwei Atemzüge und setzt dann zu seiner Erklärung an: „Während sich der Kommunismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten nahezu auf der gesamten Welt bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschafft hat, hat der Kapitalismus vereinzelt sehr bizarre Blüten hervorgebracht. Donald Trump, der heutige Präsident der Vereinigten Staaten, ist ein gutes Beispiel dafür. Als Geschäftsmann, der seine erste Millionen von seinem Vater geschenkt bekam, glänzt er weder durch intelligente Strategie noch durch atemberaubende Erfolge. Seinen im US-Wahlkampf als Argument benutzten milliardenschweren Reichtum kann er nicht belegen. Für Fleiss ist er ebenso wenig bekannt wie für ehrliches Geschäftsgebaren. Schlagzeilen hat er auch vor seiner Präsidentschaft nur mit grossmäuligen Versprechungen ohne jegliche Substanz gemacht. Durch von ihm angepriesene Investments haben Tausende von Anlegern Milliarden von Dollar verloren. Meine jungen Herren, verstehen Sie mich nicht falsch. Gegen den Kapitalismus ist nichts einzuwenden, gegen einige seiner zu Krebsgeschwüren mutierten Vertreter allerdings sehr wohl. Eine starke Nation wie die USA hält derart charakter-, stil- und skrupellose Geschäftemacher ohne Probleme aus. Gefährlich wird es erst, wenn ein solcher Mensch die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt und nicht davor zurückschreckt, die Position des mächtigsten Mannes der Welt zu seinem eigenen geschäftlichen Vorteil zu nutzen. Er unterhält Verbindungen zu korrupten Partnern und Geschäftsbeziehungen zu Gewaltherrschern auf der ganzen Welt. Als privater Geschäftsmann hat er millionenschwere Schulden bei Staaten und Regimen, die Feinde jener Regierung sind, die er in seiner offiziellen Funktion als Präsident vertritt. Er verbindet Geschäft und Politik in einer Weise, deren geringste Übel noch die Abwesenheit von Scham und Moral sind. Seine unstillbare Gier nach dem eigenen Vorteil ist eine Gefahr für die USA und die gesamte Welt.“ Mr. Smith schweigt. Wir schweigen. Und da gerade in diesem Moment auch kein anderes Geräusch zu hören ist, erweckt es fast den Eindruck, als schwiege ganz London. Mr. Smith ist ein Meister des Redens, ein Meister des Schweigens und ein Meister darin, für beides die richtige Zeit und die wirkungsvollste Dosis zu erkennen. Wir hatten uns gerade in eine kollektive Lähmung geschwiegen und aus Furcht vor unangebrachter Ruhestörung selbst das Atmen eingestellt, als Mr. Smith den genau richtigen Moment findet, die Stille mit einem silbenverliebt, sehr sorgfälltig betonten Wort zu beenden: „Gleichgewicht.“ Wir nutzen diesen kurzen Moment zum Atmen. Denn als gute Schüler dieses hervorragenden Lehrers erahnen wir bereits die nächste Pause. Mr. Smith schaut uns in die Augen. Jedem von uns. Der Reihe nach. Als würde kein nervöser Zeiger uns Sekunde und Sekunde von unserer Lebensuhr abziehen. Mit aller Zeit der Welt schaut er jedem von uns so tief in die Augen, als könne er zwei Zentimeter dahinter unsere Gedanken von einem Teleprompter ablesen. „Ohne Gleichgewicht wird es einseitig und brandgefährlich. Darum haben wir vom British World Service es uns zur Aufgabe gemacht, Ungleichgewichte zu suchen und durch kleine Änderungen oder Eingriffe zu korrigieren. Wenn sie klug ausgedacht sind, können schon kleine Aktionen sehr grosse Wirkung erzielen. Idealerweise sind diese Aktionen so klein, dass kaum jemand sie wahrnimmt. Im Gegensatz zu ihren Folgen.“ Gebannt durch seine Worte, habe ich dieses Mal unwillkürlich die Luft angehalten, bis Mr. Smith zu mir sagt: „Sie könne jetzt wieder atmen. Die Stunde ist hiermit beendet.“ Ich bleibe noch einen Moment sitzen und beobachte unseren Lehrer dabei, wie er zu seinem Schreibtisch zurückgeht und seine Unterlagen durchblättert. Ich packe meine Sachen ein und stehe von meinem Platz auf. Sobald ich meinen Rucksack über die Schulter geworfen habe, streiche ich mein weisses Hemd glatt. Hier im BWS trägt jeder das Gleiche: weisses Hemd, dazu eine schwarze Anzughose, und für besondere Tage haben wir ein passendes Jackett. Unser Outfit wird durch unsere graue Krawatte und die braunen Budapester abgerundet. Stil ist unser Markenzeichen. Eines davon. Ein anderes ist, dass niemand unsere Markenzeichen kennt. Denn wir und unsere Arbeit sind für die Weltöffentlichkeit unsichtbar. Nicht einmal der MI6 weiss über uns Bescheid. Wenn man mich fragt, ist da einiges schiefgelaufen. Der offizielle britische Geheimdienst hat das Gefühl, Bescheid zu wissen, nur weil er im Zweiten Weltkrieg mit Erfolg den Verschlüsselungsmechanismus der deutschen Geheimbotschaften geknackt hat. Genau genommen ist dieser Erfolg nicht dem Mi6 zuzuschreiben, sondern einer einzelnen Frau. Einer Frau, die damals vom BWS ins MI6 eingeschleust wurde. Also kam noch nicht mal dieser Erfolg wirklich vom Secret Intelligent Service. Aber das ist eine andere Geschichte.