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Den Alltag revolutionieren

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Auf der Fahrt zur Arbeit rauschten an Ralphs Wagen die selben Gesichter wie eh und je vorbei. Für viele von ihnen war heute wohl auch eh und je. Mit glasigen Augen schauten sie geradeaus und an allem vorbei, während sie den Bürgersteig entlang flogen. Wahrscheinlich chatteten sie vor ihrem inneren Auge mit Fremden, überflogen gleichzeitig Nachrichten und schauten ein Fußballspiel. Für sich genommen boten diese Tätigkeiten wohl nicht mehr genug Unterhaltungswert, um die Menschen effektiv von der Sinnlosigkeit ihres Tuns abzulenken. Ein Jammer, wie viel Aufwand der Rechner sich noch bei der Befriedigung des Einzelnen machte. Wieso hatte man die Implantate nicht gleich mit Dopaminpumpen versehen? Wahrscheinlich, damit die Leute wenigstens in der Auswahl ihrer Unterhaltung noch eine Herausforderung erleben durften. Wirklich aufzugehen schien dieses Konzept aber nicht – keiner der vorbeihuschenden Menschen sah auch nur annähernd glücklich aus. Aus den meisten älteren Gesichtern sprachen Stress und Aggression, als würden ihre Träger zu einem Ziel hetzen, das sie gar nicht erreichen wollten, und dabei wiederholt in Hundehaufen treten. Die jüngeren Erwachsenen, die überhaupt so langsam gingen, dass man in ihren Gesichtszügen komplexere Emotionen hätte erkennen können, schienen über solche gar nicht zu verfügen und strahlten erwartungslose Leere in die Umgebung ab. Wahrscheinlich warteten sie darauf, dass die nächste App fertig geladen war, um dann in der „echten“ Welt schwebende Münzen zu sammeln oder zum gefühlt tausendsten Mal zu Zombies gewordene Menschen in einer postapokalyptischen Version der Stadt niederzumetzeln. Ralph fragte sich, wie viele dieser Menschen wohl nur auf der Straße waren, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Es war ja längst nicht mehr so, dass jeder einem Beruf nachging – dank der fortschreitenden Automatisierung war das nicht mehr nötig. Um die paar Verwaltungs- und Wartungsaufgaben, die noch nicht maschinell erledigt wurden, raufte sich ausschließlich die alte Generation, die sich angesichts der drohenden Frührente mit einer horrenden Menge Freizeit konfrontiert sah und gerne ein wenig mehr Geld in der Tasche hatte als der Rest. Nicht, dass sie darum beneidet wurde. Für die neu Herangewachsenen war Arbeit bereits ein Gedankenkonstrukt vergangener Tage. Sie widmeten ihre gesamte Zeit und ihr Grundeinkommen dem Medien- und Lebensmittelkonsum. Erfüllend konnte das alles nicht sein. Ralph wollte verächtlich schnauben, brachte aber nur einen enttäuschten Seufzer zustande. Er nippte an seiner Kaffeeflasche. Das war noch echtes Glück: Das Zerfließen der gelösten Röstung auf seiner Zunge, das gemächlich durch seine Nasenwindungen aufsteigende Aroma, der aufrüttelnde Kontrastpunkt im Bohnengeschmack – pure Sinnlichkeit, die Ralph ein paar Zentimeter in den Fahrersitz sinken ließ, während seine Gedanken sich weiterhin wälzten.

Das kam eben dabei heraus, wenn man den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben abnahm. Das einzig Menschliche, was zur Überlebenssicherung noch beitrug, waren ein paar Wartungsarbeiter, angestellt bei StultOS Enterprises - dem Unternehmen, das den Zentralrechner beheimatete. Einer dieser Angestellten war Ralph. Er hatte den Job mit 20 angenommen, damit man ihm kein Implantat einsetzte; die Arbeiter durften nicht von eventuellen Fehlfunktionen des Rechners getroffen werden. Inzwischen war er 49. Seit nunmehr 29 Jahren bügelte er tagtäglich kleine Systemfehler aus, die der Rechner simulierte, um ihn zu beschäftigen. Für ihn immer noch besser als Nichtstun, wenn auch nicht gerade eine Lebensaufgabe.

Auf diese Weise behält der Mensch letztendlich stets die Kontrolle, hatten führende Politiker bei der Inbetriebnahme des Rechners verkündet, um anschließend zu kündigen. Da sie keiner mehr brauchte, konnten sie sich mit ihrer beachtlichen Rente einen schönen Lebtag machen. Saßen wahrscheinlich jetzt noch den ganzen Tag herum und surften im Internet. Verkehrten vielleicht ab und zu mit ihren Ehepartnern. Ralph rümpfte die Nase. Ihren Ehepartnern, die ihnen aufgrund übereinstimmender Persönlichkeitsprofile vermittelt worden waren. Romantiker mochten das Seelenverwandtschaft nennen, Ralph nannte es oberflächlichen Schwachsinn. Inzwischen war es so weit gekommen, dass der Durchschnittsbürger auf die Straße gehen konnte und von Menschen umgeben war, die zu 98 % seine Ansichten und Interessen teilten. Da reichten ein Blickkontakt, ein bisschen Vermittlungshilfe der Implantate und schon war eine neue Beziehung geboren. Natürlich kam es dabei vor allem auf Nachwuchs an, der Zentralrechner hatte ja stets den Fortbestand der Menschheit im Auge. Dort auf dem Gehweg lief gerade einer dieser Zukunftsgaranten. Verwahrlost blickte er umher, während er an den Händen seiner Eltern mehr über den Bürgersteig geschleift als geführt wurde. Einen Moment streifte der flehende Blick dieses Geschöpfes Ralphs Gesicht. Ralph wollte ihm die Wertschätzung vermitteln, die es so sehr zu vermissen schien, und gleichzeitig seine Abscheu über die Vernachlässigung des Kindes ausdrücken. Die Synthese beider Gefühlsbekundungen war eine angewiderte Grimasse mit hochgezogenen Mundwinkeln, bei deren Anblick sich der Junge verschreckt abwandte. Na ja, einen Versuch war es wert gewesen. Das Kind wurde aus Ralphs Sichtfeld gezogen und er nahm seine Gedanken wieder auf.

Ja… auch er war mal jung gewesen. Aber auf die Vergangenheits-Schiene wollte Ralph jetzt nicht geraten. Seine Ideale hatten sich eben gewandelt, was konnte er dafür, dass sein junges Ich noch so unerfüllbare Ansprüche gestellt… genug davon. Kinder und Jugendliche tickte heutzutage anders, was wohl an der Erziehung lag. Sprösslinge wie der Junge von eben wurden erst in Kindertagesstätten, später in allgemeinen Schulen von Erziehern umsorgt, bis sie mit 21 ihr eigenes Implantat bekamen. Ein großer Tag für die ganze Familie – ihr Liebling war nun erwachsen. Bereit, das Leben zu genießen und weitere Nachkommen zu zeugen, dazwischen die Zeit totzuschlagen und irgendwann von der Bildfläche zu verschwinden. Einen Moment weiteten sich Ralphs Augen erkenntnisvoll. War der Mensch endlich am Ziel seiner evolutionären Laufbahn? Ungehinderte Reproduktion, automatische Überlebenssicherung, Spaß auf Abruf - Der Traum eines jeden Tiers! Was wollte man mehr? Wieso war es Ralph nicht genug?

Ach ja. Weil er Wert auf Menschenwürde legte.

Und weil er noch mehr Kaffee brauchte. Ralphs Hand streckte sich dem Getränk entgegen, aber ein Unglück kam ihr zuvor. Die Trägheit der gut gefüllten 1-Liter-Flasche ließ sie aus dem zu niedrigen Getränkehalter des Wagens gleiten, als Ralph unvermittelt ein Bremsmanöver seines Vorfahrers imitieren musste. Der nicht festgeschraubte Deckel verblieb einen Moment in der Schwebe, während die restliche Flasche von ihrem Eigengewicht nach unten gezogen wurde. Dabei ließ sie eine Kaffeesäule in der Luft stehen, die sich über das Armaturenbrett des Autos verteilte. Die Flasche erreichte den Wagenboden, kreiste ein wenig um sich selbst, verlangsamte sich und kam schließlich liegend zur Ruhe. Ralphs Blick, der dem Gefäß fassungslos gefolgt war, verharrte eine Weile auf diesem Desaster. Dann richtete er sich auf das Auto vor ihm. Unglaublich, was dieser Fahrer sich erlaubte. Er schlug einige Male erbost auf die Hupe, bevor er besagten Fahrer auf der Rückbank seines Wagens sitzend dösen sah. Ein automatisches Fahrzeug also. Dreckstechnik. Missmutig betrachtete er den verlockend duftenden Kaffee, der in braunen Bahnen das Armaturenbrett herunterlief, um die Brillenablage zu füllen. Er fand sich an die Überschwemmung von Valigia erinnert, von der er bei seinem Morgengeschäft gelesen hatte.

„Ein Bremsmanöver bescheidener Ausmaße hat gerade Boden und Brillenablage des Armaturenbretts von Ralph Hannig in einer Weise verunreinigt, die eine weitere Benutzung erheblich erschwert. Augenzeugen registrierten einen Anstieg des Kaffeepegels einer nahe gestandenen Kaffeeflasche über übliche Werte hinaus. Der Kaffee wurde anderorts aufgefangen. Ralph Hannig hat die Koordination von Aufwischarbeiten umgehend eingeleitet. Die Situation ist unter Kontrolle und es besteht keinerlei Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr.“

Ralph musste widerwillig grinsen, während er den Kaffee mit Taschentüchern aufzutupfen versuchte. Diese Aussage war ungefähr so interessant formuliert wie der Zeitungsartikel. Was für lächerliche Floskeln der Zentralrechner gebraucht hatte. Was hatte er eigentlich sagen – oder eben verschweigen - wollen?

„Infrastruktur und Gebäude in einem Ausmaß beschädigt, das weitere Benutzung ausschließt.“

Sollte das heißen, dass die Stadt zerstört war? Oder einzelne Gebäude? Das musste ein verdammt großer Fluss sein, wenn er mehr als ein paar Gerätehütten am Ufer weggeschwemmt hatte. Aber warum hatte der Rechner es für nötig gehalten, so vehement eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu dementieren? Das musste ja fast das Gegenteil bedeuten. Ralph sah geistesabwesend aus dem Wagen und gähnte. Diese Leute da draußen… was ihnen wohl alles vorenthalten wurde? Er ließ seinen Blick über das farblose Fußvolk schweifen. Der homo connectus in seinem natürlichen Umfeld. Umgeben von Fassaden aus Glas, Beton und Haut. Ruhelos, orientierungslos, freudlos. Immer auf der Zielgeraden, aber eigentlich auf der Flucht vor der Leere, die er selbst verbreitet. Seinen Schafskopf starr nach vorne gerichtet, hetzt er… Schafskopf?! Ralphs Augen weiteten sich. Tatsächlich. Menschen mit Schafsköpfen, die in irgendwelche Richtungen stolperten. Paketroboter, die sich durch die Masse schlängelten. Hauswände, die sich in Bewegung setzten, näher kamen. Es begann zu krachen, die Luft spannte sich und schnalzte um Ralphs Wagen. Sein Kopf fuhr nach oben. Es begann Zeitungen zu regnen. Die losen Blätter schälten sich aus dem steril weißen Himmel, wirbelten in wirren Bahnen abwärts und verwandelten die Straße in eine Bleiwüste. Schlagzeilen klatschten gegen Ralphs Windschutzscheibe. „Nichts.“ „Unterhaltung.“ „Wach auf.“ „Die Ampel ist grün.“ Ralph blinzelte. Die Zeitungen waren verschwunden. Er blickte aus dem Seitenfenster. Die Schafsköpfe waren noch da. Er blickte durch die Frontscheibe. Sein Vorausfahrer war weg. Eine grüne Ampel forderte ihn auf, Gas zu geben. Hinter ihm ertönte laute Hupenmusik. Die vernetzten Fahrzeuge kommunizierten untereinander, um mit ihren Tröten Akkordfolgen erklingen zu lassen. Harmonien aktueller Popsongs. Menschen auf den Bürgersteigen begannen mit den Beinen zu wippen und wild zu tanzen, rissen sich dabei die Kleidung vom Leib. Sie grölten irgendwelche Liedtexte aus den Charts und machten Affengeräusche. Was sollte das? Eine tsunamiartige Wasserwelle näherte sich jetzt vom Horizont und überschwemmte die Straße. Eine mitgerissene Gerätehütte hielt direkt auf Ralphs Wagen zu. Der Aufprall ließ ihn heftig aufschrecken. Mit springendem Herz schnappte er nach Luft. Er brauchte eine Weile, bis er wieder klar sehen konnte. Das Hochwasser war offenbar weg, die tanzenden Menschen auch, ebenso die Schafsköpfe. Es hetzten wieder normale Bürger die Bürgersteige entlang. An ihren Hinterköpfen glänzten eingebettete Metallknöpfe. Der einzige von außen sichtbare Teil ihrer Implantate – er sorgte für die Temperaturdifferenz in den thermogalvanischen Zellen. Widerlich kalt schimmernd zogen die silbernen Punkte vorbei. Ralph starrte ihnen mit hängendem Mund nach, bis das anhaltende Hupkonzert wieder zu ihm durchdrang. Er rieb sich erst einmal die Augen. Um den richtigen Gang einzulegen und das Gaspedal zu finden, brauchte er eine Weile. Hatte er gerade Tagträume gehabt? Es ging wohl wieder los - schon eine Stunde nach dem Aufstehen. Diese Müdigkeit, die ihn seit einiger Zeit immer öfter unerwartet angriff, konnte er nicht mit ausreichend Schlaf vertreiben. Es war keine gewöhnliche Schläfrigkeit. Das einzige, was dagegen ein wenig half, war Kaffee. Ralph griff zu der gefallenen Flasche und trank die paar Schlücke, die den fatalen Sturz überstanden hatten. Viel zu wenig. Er versuchte, sein Gehirn mit irgendwelchen Gedanken von der Müdigkeit abzulenken. Er würde mehr über diese überschwemmte Kleinstadt, Valigia, herausfinden müssen. Am Besten in den Logdateien des Zentralrechners, der zeichnete ja alles auf, was in der Welt so geschah.

Ralph entwarf einen Plan: Er würde sich im Büro verstecken, den Abzug seiner Mitarbeiter abwarten und dann im Geheimen die Protokolle des Rechners inspizieren. Wie in Hollywood-Filmen. Mangelnde Koffein-Konzentration ließ seine Gehirnzellen unterschlagen, dass er mithilfe seines Wartungstablets eigentlich von überall auf die Datei zugreifen konnte und dazu nicht an seinem Arbeitsplatz sein musste. Ralph versuchte, seinem Aufmerksamkeitsverlust mit einem herzhaften Gähnen entgegenzuwirken, verpasste dabei aber die richtige Abzweigung. Im Halbschlaf und unter zunehmender Verwirrung navigierte er seinen Wagen durch das Büroviertel. Die Glasfassaden verschwammen mit der Menschenmasse zu grauen Schlieren, die an seinem Wagen vorbeiflossen. Ralph stemmte seine Augen auf und starrte angestrengt umher, mal in den hellgrauen Himmel, mal auf die anthrazitgraue Straße. Seine Wahrnehmung trübte sich rapide, bald konnte er die Grautöne nicht mehr auseinander halten. War das noch Asphalt unter seinem Wagen? Er wusste es nicht, es war unmöglich, zu unterscheiden. Orientierungslos glitt er durch die verschwimmende graue Masse, fand keinerlei Anhaltspunkte. Doch, da. Eckcafé. Bremsen. Er torkelte aus seinem Wagen und lief gegen eine Glastür. Verdammt, er brauchte jetzt wirklich Kaffee. Als er erfolgreich die Tür passiert hatte, steuerte er direkt auf die Theke zu.

„Drei Tassen Esprse…Essrps…Espresso. Bitte.“

„Äh… Das wäre ein Viertelliter. Sind Sie sich sicher?“

„Was? Dann sechs Tassen.“

„Ich… Ich gebe ihnen einen Becher.“

„Danke.“

„Das wären dann zwölf Euro fünfzig.“

Missmutig klatschte Ralph irgendwelche Geldscheine auf die Theke. Für die Summe bekam er im Supermarkt eine ganze Tüte Kaffeebohnen! Der Becher war in vier Zügen geleert. Ralphs Wahrnehmung besserte sich schlagartig. Trotzdem würde das kaum bis zum Feierabend reichen. Was war nur los mit seinem Kopf? Dieser übermäßige Koffeinkonsum konnte keine Dauerlösung sein, auch, wenn der Kaffee einfach himmlisch schmeckte. Ralph trat zurück auf die Straße und sah sich um. Obwohl er die Umgebung wieder klar erkennen konnte, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Da musste die Navigation seines Tablets Abhilfe schaffen. Die behauptete, er wäre 3,4 Kilometer von seinem Ziel entfernt. Ralph seufzte. So viel Weg und so viel Geld für so wenig Kaffee. Er tippte angesichts der Uhrzeit eine entschuldigende Kurznachricht an seinen Chef und machte sich auf den Weg zum Unternehmen.

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