Читать книгу Über die Grenze - Майя Лунде, Maja Lunde - Страница 10
ОглавлениеVerstecken – aber nicht zum Spaß
Der Erste, der in den Flur hinunterkam, war Otto. Seine Haare standen nach allen Seiten ab, und er blinzelte, während er seine Brille aufsetzte.
Dann waren auch Mama und Papa da, in Nachthemd und Pyjama. Sie sahen auf einmal ganz klein aus. Beide zitterten in ihrem Nachtzeug.
»Geht nach oben«, sagte Papa leise zu mir und Otto. Es war etwas Blankes und Dunkles in seinen Augen, etwas, was ich noch nie gesehen hatte. Auch ich zitterte in meinem Pyjama.
Normalerweise hätte ich mich geweigert, aber nun tat ich, was er sagte – wegen dieser Augen. Otto und ich gingen nach oben, aber nicht in unser Zimmer. Stattdessen hockten wir uns auf die oberste Treppenstufe und sahen hinunter auf all das, was passierte.
»Wilhelmsen! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit! Machen Sie die Tür auf!«, schrien die da draußen.
Papa warf Mama einen schnellen Blick zu. Sie nickte unmerklich. Dann ging er zur Tür, nahm die Sicherheitskette ab und drehte den Schlüssel herum. Sekunden später rauschte ein ganzer Haufen Polizisten herein. Es waren so viele, dass ich sie auf die Schnelle nicht zählen konnte – vielleicht waren es zehn.
Sie liefen an Mama und Papa vorbei, teilten sich auf und verstreuten sich im ganzen Haus. Ein paar kamen die Treppe herauf.
Warum waren sie hier? Hatte vielleicht jemand herausgefunden, dass ich an die Rückseite unseres Einkaufladens »Lehrer Knutsen ist eine Kackawurst« geschrieben hatte – war das der Grund? Aber die Polizei nahm ja keine Kinder fest. Das war zum Glück verboten.
Und ganz offensichtlich war es nicht wegen »Lehrer Knutsen ist eine Kackawurst«, denn die Polizisten liefen an Otto und mir vorbei. Es war ganz klar, dass sie irgendetwas suchten. Oder irgendjemanden.
Sie waren überall zur gleichen Zeit. Einige liefen in unser Zimmer, andere auf den Dachboden, wieder andere in Mamas und Papas Schlafzimmer. Sie guckten in absolut jeden Verschlag und jeden Kleiderschrank und warfen und wühlten alles fürchterlich durcheinander. Es war fast, als würden sie Verstecken spielen – aber nicht zum Spaß. Denn immerzu schrien und brüllten sie mit gellenden Stimmen: »Keiner da! Die Küche ist klar! Dachboden ist leer!« Und solche Sachen.
Papa stand untätig herum und zitterte in seiner Pyjamahose. Auch Mama stand einfach da und sah zu, obwohl diese Leute mehr Unordnung machten als ich es je gemacht hatte, und Unordnung machte sie normalerweise ziemlich böse.
Dann verschwanden die Polizisten im Keller.
Mama griff nach Papas Hand. Ich bekam Herzklopfen, als ich die beiden Hände sah. Warum sagten sie nichts? Warum standen sie da und hielten einander an den Händen, während unser Haus auf den Kopf gestellt wurde? Und warum blieb die Polizei so lange im Keller?
Ich konnte hören, wie sie dort unten herumlärmten.
Lange.
Dann fielen mir plötzlich der Schrank und die Stimmen ein, die ich vor Schreck vergessen hatte. Und ich hoffte, hoffte mit meinem ganzen zehnjährigen Herzen, dass sie den Schrank nicht bewegen würden und dass die, die sich dort versteckten, ruhig waren.
Endlich kamen die Polizisten wieder herauf.
»Der Keller ist leer«, sagte einer von ihnen.
Ich atmete erleichtert auf.
Mama ließ Papas Hand los, weiter geschah nichts.
Die Polizisten bildeten einen Ring um sie.
Ich erkannte einen der Polizeibeamten. Er war bestimmt der Chef des Ganzen. Vor dem Krieg hatte er auf dem Marktplatz die Rede zum 17. Mai, unserem Nationalfeiertag gehalten. Da war er froh gewesen und hatte eine wehende Fahne in die Sonne gehalten. Nun war er einfach nur wütend.
Vor dem Krieg sagten die Erwachsenen, dass die Polizei auf uns aufpasste und Diebe einsperrte, damit wir in unserem Vaterland Norwegen sicher leben konnten. Aber das galt nicht mehr. Nun war die Polizei meist damit beschäftigt, das zu tun, was die Deutschen und die Nationale Sammlung bestimmten.
Der Polizeichef sah Mama und Papa einfach nur an, als würde er sie etwas mit den Augen fragen. Es war ohrenbetäubend still.
»Wo sind sie?«, fragte er plötzlich.
»Wer – sie?«, fragte Papa.
»Ich glaube, Sie wissen, von wem die Rede ist. Die jüdischen Kinder, die Sie verstecken.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«
Ja, natürlich hatte er das nicht. Alles war ein Missverständnis. Ganz klar. Es gab doch wohl keine Kinder, die bei uns versteckt wurden! Bald würden die Polizisten ihrer Wege fahren, und wir konnten ins Bett gehen und weiterschlafen. Oder vielleicht konnten wir zusammen in der Küche Kakao trinken. Das wäre gemütlich. Und morgen würde alles wieder so sein wie immer.
Aber da war dieser Schrank. Und das Reden im Keller … Ich wusste ja, dass mit unserem Haus und mit Mama und Papa zurzeit irgendetwas nicht ganz stimmte.
Plötzlich war es, als würde der Polizeichef hören, was ich dachte, denn er hob den Kopf und starrte mich und Otto an. Dann stieg er ein paar Treppenstufen hoch. Er zog die Lippen auseinander, als versuchte er zu lächeln.
»Kinder … Ihr wisst doch, dass man nicht lügen darf?«
»Halten Sie die Kinder da raus!«, rief Papa von unten.
Aber der Polizeichef fuhr fort, uns anzustarren.
»Habt ihr in letzter Zeit hier im Haus irgendwelche merkwürdigen Geräusche gehört oder etwas Seltsames gesehen?«
Otto kniff mich fest in den Arm. Das hieß wohl, ich sollte nichts sagen. Und das hatte ich schon lange begriffen.
»Nein, wir haben in letzter Zeit KEINE merkwürdigen Geräusche gehört oder etwas Seltsames im Haus gesehen«, erwiderte ich mit einer Stimme, von der ich hoffte, dass sie sehr sicher klang. Und dann schüttelte ich energisch den Kopf, um noch sicherer zu wirken.
Es hätte gutgehen können, aber ich konnte nichts für meinen Blick. Den hatte ich nicht im Griff. Ich konnte es nicht lassen, zur Kellertür hinzusehen. Denn ich wusste ja, dass dort unten jemand war. Der Polizeichef starrte mich an. Dann drehte er sich um und folgte meinem Blick.
»Dreht noch eine Runde im Keller«, sagte er zu seinen Leuten.