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ОглавлениеEin Musketier im Keller
Nachdem ich Otto geschubst hatte, begann ich wieder, Die drei Musketiere zu lesen. Anfangs las ich langsam, Wort für Wort – es ergab kaum einen Sinn. Ich musste immerzu an Ottos Schlangenaugen denken. Aber zum Glück war das Buch auch dieses Mal spannend, und bald ging es schneller voran. Nach einem Kapitel war ich fast selbst zu einem Musketier geworden.
Nun stand ich vor dem Spiegel in der Stube. Ich war allein. Otto saß in unserem Zimmer und drehte bestimmt an seinem Globus. Und Klara briet irgendetwas in der Küche. Es roch nach Steckrüben. Igitt.
Ich betrachtete mich im Spiegel. Das Haar war zerzaust, die Hose hatte ein Loch am Knie. Ich band mir ein Geschirrhandtuch um den Hals. Dann malte ich mir mit einem Stück Kohle aus dem Kamin einen großen Bart unter die Nase. Ein bisschen ähnelte ich einem Musketier, aber irgendetwas war noch nicht richtig. Ich sah mir das Bild von Porthos auf dem Buchumschlag an. Irgendetwas war absolut falsch.
Die Haare.
Ich untersuchte den Nähkorb, aber darin lagen nur Nähnadeln, Garn und Knöpfe.
Ich guckte in die Kommode, aber dort war die Schere auch nicht.
Dann machte ich einen Abstecher in die Küche. Ohne Klara um Hilfe zu bitten, wühlte ich in den Schubladen herum. Und dort lag sie.
Schnell lief ich zurück zum Spiegel und betrachtete mich eine Weile. Traute ich mich? Vielleicht gab es Ärger, aber ich würde viel hübscher aussehen.
Ja, ich traute mich!
Zack. Zack. Zack. Dreimal schnappte die Schere zu, dann waren die Haare ab.
Mit dem Schwert in der Hand war ich draufgängerischer als ein Zug mit Blitzgeschwindigkeit. Nun war ich bereit für gefährliche Aufträge und grandiose Heldentaten, wie es im Buch hieß.
Klara hatte keine Ahnung, dass ein echter Musketier in der Stube stand, während sie in der Küche das Mittagessen zubereitete.
Alles war still, aber wir waren nicht allein. Graf Schwarzblut schlich in unserem Haus umher. Ich sah den Schatten seines Umhangs unter dem Esszimmertisch, wo er sich versteckte. Zur Deckung warf ich mich hinter das Sofa.
Mit schlurfenden Schritten näherte er sich. Schon viele Male zuvor hatte ich Jagd auf ihn gemacht, aber es war mir nie gelungen, ihn zu schnappen. Aber dieses Mal würde ich es schaffen. Ha! Ich würde dem grausamen Grafen nicht nur blutige Wunden, sondern auch ein blaues Auge verpassen. Dieses Mal würde ich ihn verprügeln, bis er nur noch ein kleines, um Gnade bettelndes Häufchen in der Ecke wäre.
Ich lag ganz still und wartete. Aber plötzlich hörte ich etwas anderes, nicht Graf Schwarzblut. Ich hörte Stimmen. Sie kamen aus dem Keller. Hatte der Graf dort unten Verbündete?
Es waren zwei Stimmen, ziemlich hell, die eine etwas dünner als die andere.
Ich legte den Kopf auf den Boden und lauschte. Ich konnte keine Wörter unterscheiden, aber dort unten sprach jemand, ganz klar.
Ich schlich mich in den Flur, öffnete die Kellertür und ging leise die Treppe hinunter – ganz vorsichtig, um mich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Jetzt hörte ich die Stimmen deutlicher, ein leises Plaudern. Und weinte da nicht auch jemand?
Unter meinem Fuß knarrte plötzlich laut eine Treppenstufe. Sofort schwiegen die Stimmen.
Ich beeilte mich, in den Keller hinunterzukommen. Hier befanden sich die Wäschemangel, Werkzeug und lauter altes Zeug. Aber von den Eigentümern irgendwelcher Stimmen keine Spur.
Die Haut auf meinen Armen kribbelte. Ich blieb stehen. Nicht ein Laut.
Ganz hinten gab es eine verschlossene Tür. Dahinter lag ein kleinerer Raum, in dem die Kartoffelhorde und die Marmeladengläser standen und wo der Speisenaufzug startete.
Langsam näherte ich mich der verschlossenen Tür. Wenn tatsächlich jemand gesprochen hatte, und daran gab es keinen Zweifel, musste er oder sie da drinnen sein.
Auf einmal ging in der Etage über mir die Haustür auf und ein Paar Absätze klicker-klackerten über die Holzdielen im Flur.
»Hallo? Ist jemand zu Hause?«
Es war Mama, die früher als gewöhnlich von der Arbeit in der Arztpraxis nach Hause gekommen war. Das passte im Grunde genommen ziemlich schlecht.
Ich blieb eine Weile stehen. Wenn ich die Verbündeten von Graf Schwarzblut im Keller zu fassen kriegen wollte, musste ich sehr schnell sein.
Aber Mama war schneller.
Sie öffnete die Kellertür, und ihr Blick fiel auf mich.
Im selben Moment kam sie die Treppe heruntergeschossen.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so schnell laufen konnte!
Aus irgendeinem Grund sah sie mich kaum an – ich glaube, sie bemerkte nicht einmal meine Haare.
»Was machst du hier unten?« Sie griff nach mir und schob mich weg.
»Hier hat jemand gesprochen.«
»Unsinn! Komm sofort wieder mit nach oben!«
»Aber die Stimmen?«
»Nach oben, habe ich gesagt!«
Mamas Stimme war aus Stahl. Ich wusste, dass gegen diese Stimme nichts auszurichten war. Ich musste warten, bis sie ihre normale Stimme wiederhatte.
Ich trottete nach oben. Aber sie blieb unten stehen.
»Kommst du nicht mit, Mama?«
»Geh in dein Zimmer.«
Ich betrat den Flur, ging aber nicht hoch in die erste Etage. Stattdessen verbarg ich mich hinter der halb geöffneten Tür, sodass sie mich nicht sehen konnte. Von dort aus beobachtete ich, was sie tat.
Zuerst stand sie ganz still. Gedankenverloren blickte sie sich um. Dann ging sie zu einem großen Schrank in der Ecke. Sie kickte ihre Klackerschuhe zur Seite und begann, den Schrank zur geschlossenen Tür zu ziehen. Offenbar war das ziemlich schwer, denn sie keuchte laut und ihre Haare hingen wirr zur Seite. Sonst war Mama immer frisch gekämmt und gebügelt, mit Lippenstift auf den Lippen – und nie auf den Zähnen.
Bald hatte sie den Schrank bis zur Tür bewegt. Sie stellte ihn direkt davor, sodass die Öffnung vollständig verdeckt war und niemand sehen konnte, dass sich dort eine Tür befand. Dann nahm sie die Schuhe in die Hand und ging schnell die Treppe hoch.
Ich schnellte vor und hoffte, sie würde nicht merken, dass ich spioniert hatte. Zum Glück machte sie nicht den Eindruck.
Erst jetzt sah sie mich richtig an.
»Ich habe mir ein bisschen die Haare geschnitten«, sagte ich – für den Fall, dass sie sich fragte, was passiert war.
»Gerda …«, sagte sie, merkwürdigerweise nicht mit ihrer Stahlstimme. Ihre Stimme klang eher nach Baumwolle. »Ist doch ganz schön, oder?« Ich versuchte, sie anzulächeln.
Sie lächelte nicht zurück, nahm nur meinen Arm und schob mich Richtung Küche, ohne ein Wort zu sagen.
Komisch, dass sie nicht wütend wurde. Es schien, als würde sie an etwas anderes denken. Und das tat ich auch. Ich dachte an die Stimmen. Wer sprach da unten im Keller? Waren es dieselben, die Lebensmittel aus unserer Speisekammer stahlen?