Читать книгу Der perfekte Mantel - Meg Lukens Noonan - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеVor nicht allzu langer Zeit stieß ich auf die Internetseite von John H. Cutler, einem Schneider in vierter Generation aus Sydney, Australien. Die Seite war ausschließlich einem Mantel gewidmet, den Cutler für einen langjährigen Kunden angefertigt hatte. Der Mantel, schrieb er, sei das ultimative Beispiel für eine besondere Art der Maßschneiderei, die im Englischen als »bespoke« bezeichnet wird. Was genau »bespoke« bedeuten sollte, war mir damals nicht ganz klar, obwohl ich bemerkt hatte, dass der Begriff neuerdings immer häufiger benutzt wurde. Ich hatte Anzeigen für bespoke Fahrradtouren und Wellnessprogramme gesehen. Die Fluggesellschaft Virgin Atlantic ließ in der ersten Klasse Getränke mit sogenannten bespoke Eiswürfeln servieren, die nach dem Abbild des Gründers Sir Richard Branson geformt waren. Ich nahm an, der Begriff drücke auf etwas theatralische Art aus, dass eine bestimmte Sache den Wünschen des Kunden entspreche.
Im Grunde genommen stimmt das auch, aber es stellte sich heraus, dass »bespoke« eine konkretere Bedeutung hat und aus dem englischen Schneiderhandwerk des 17. Jahrhunderts stammt. Wenn jemand bei seinem Schneider ein Kleidungsstück in Auftrag geben wollte, suchte er sich zunächst einen Stoff aus, von dem er eine bestimmte Menge reservieren ließ. Dieser Stoff galt dann als »bespoken«, also besprochen. Von da an bezeichnete das Wort etwas ganz Bestimmtes: Es stand für Bekleidung, die von Anfang an nach den genauen Maßen und Wünschen einer Person gefertigt wurde.
Verständlicherweise sehen die Schneider auch vierhundert Jahre später »bespoke« noch als ihr Wort an. Es überraschte mich nicht, dass ihnen der neumodische Gebrauch des Wortes durch andere Geschäftszweige missfiel, die damit ihren Produkten oder Dienstleistungen die Anmutung der vornehmen britischen Oberschicht verleihen wollten. Besonders ärgerte es die Schneider, dass einige Bekleidungshersteller ihre Waren als »bespoke« bezeichneten, obwohl sie bestenfalls nur teilweise nach Maß gefertigt wurden.
Auf der Londoner Savile Row, der kleinen, weltweit als Drehkreuz für Luxusschneiderei bekannten Gasse, regte sich Protest gegen ein Unternehmen, das dort ein Geschäft eröffnet hatte. Die Firma fertigte ihre Anzüge in Deutschland nach Standardschnittmustern, die nur geringfügig angepasst wurden. Die Beschwerde, die verhindern sollte, dass die Firma ihre Waren »bespoke« nennen durfte, wurde allerdings von der britischen Werbeaufsichtsbehörde mit der Begründung abgewiesen, dass das Wort schon zu weitverbreitet sei, um seinen Gebrauch wieder einschränken zu können.
Während ich mir die blumigen Texte und bewegenden Bilder auf Cutlers Internetseite ansah, lief im Hintergrund Vivaldis ergreifendes Stabat mater. Dort war John Cutler zu sehen – ein silberhaariger Mann in den Sechzigern, der sich mit einem Maßband um den Hals auf einen Arbeitstisch stützte –, hier gab es Nahaufnahmen von Knöpfen, Fingerhüten und Nähnadeln, die wie klassische Stillleben ausgeleuchtet wurden. Das Bild einer Hand, die Nadel und Faden durch einen Stoff zog, erinnerte an die berühmte Gotteshand von Michelangelo. Und dann war da natürlich noch der Mantel, der zugeknöpft auf einer Schneiderpuppe drapiert aus jedem Blickwinkel abgelichtet worden war.
Dies war, las ich, der perfekte Mantel. Vom Entwurf bis zur Vollendung waren mehrere Monate vergangen und der Schneider hatte bei der Herstellung nur die feinsten Materialien verwendet. Der Mantel war aus Wolle gefertigt, die vom Vikunja, einem kleinen, dem Lama ähnlichen Tier, gewonnen worden war, das nur in den unwirtlichen Hochebenen der südamerikanischen Anden zu finden ist. Auf der Webseite wurde erklärt, dass dieses Material weicher, leichter und sehr viel seltener als Kaschmir sei und somit nicht nur der großartigste, sondern auch der teuerste Wollstoff der Welt.
Für das Innenfutter hatte Cutler beste italienische Seide von einem berühmten Designer aus Florenz besorgt. Die Knöpfe waren das Nonplusultra der Verschlussindustrie, hergestellt aus indischem Wasserbüffelhorn, in einer 150 Jahre alten englischen Knopffabrik. Auf der Innenseite des Mantels gab es sogar eine 18-Karat-Goldplakette, die derselbe Meistergraveur entworfen hatte, der auch im Auftrag der britischen Königsfamilie den Siegelring für Prinz Charles und die Einladungen für die Hochzeit von Charles und Diana hergestellt hatte.
Aber das war noch nicht alles. Der Schneider und seine beiden Werkstattkollegen hatten den gesamten Mantel Stich für Stich von Hand genäht.
»Ich habe den Mantel so hergestellt, als gäbe es keine Maschinen«, schrieb Cutler.
Das war offensichtlich selbst in der Welt der Maßschneiderei höchst ungewöhnlich. Auf der Seite wurde nicht verraten, wie viel der Mantel denn nun letztlich gekostet hatte – wohl aus Gründen des Anstands –, aber mit ein paar Klicks durch die Presseberichte ließ sich der Preis leicht herausfinden: Der Kunde hatte fünfzigtausend Dollar für diesen Mantel bezahlt.
Ich betrachtete die Fotos des marineblauen Mantels. Meine ungeschulten Augen sahen ein schlichtes, kastenförmiges und einreihiges Kleidungsstück, das genauso gut bei einem Räumungsverkauf bei Macy’s hätte hängen können. Ich war fassungslos und hatte jede Menge Fragen.
Warum sollte jemand so viel Geld für einen Stoffmantel ohne Gattungsmerkmal, also ohne Luxuslabel à la Tom Ford, Burberry Prorsum, Loro Piana, ausgeben? Was war so toll an dem Besitz eines so unscheinbaren Gegenstands, von dem nur der Besitzer und der Schneider wissen konnten, wie außergewöhnlich er ist? Wer brachte die Geduld auf, wochen- oder gar monatelang auf einen Mantel oder Anzug zu warten, den man eigentlich heute haben wollte? Wie überleben Maßschneider in Zeiten von sofortiger Bedürfnisbefriedigung und Übernachtversand? Und wer genau hat bei den derzeitigen finanziellen Turbulenzen fünfzigtausend Dollar für einen Wollmantel übrig?
Ich dachte immer noch über diesen Mantel nach, als ich einige Tage später die Wäsche verstaute und versuchte, die Klamotten meiner Teenagertochter in Schränke und Schubladen zu quetschen, die bereits bis zum Anschlag vollgestopft waren mit Kleidern, Blusen, Jeans, Röcken und Pullovern von Herstellern wie H&M, Target, ASOS und Forever 21. In meinem eigenen Kleiderschrank, der ebenfalls mit wenig spektakulären Klamotten überfüllt war, sah es nicht besser aus.
Was war das eigentlich alles? Ich befühlte die Stoffe und las die Etiketten. Viele Kleidungsstücke enthielten Polyester oder Ähnliches und fast alles war in China hergestellt worden. Ein Großteil sah schon ziemlich mitgenommen aus, aber das überraschte mich nicht mehr. Es handelte sich um Kleidungsstücke mit eingebautem Qualitätsverlust, die genauso gut ein Verfallsdatum hätten haben können wie eine Packung Hüttenkäse. Wenn Nähte aufgingen, sich Knötchen bildeten oder die Sachen aus der Mode kamen, würde ich – wenn ich die Zeit dafür fand – sie in große Plastiktüten packen und zum nächsten Secondhandladen bringen. Was wirklich gar nicht mehr tragbar war, würde ich in den Müll werfen.
Wie war es dazu gekommen? Wann war Kleidung zu einem Wegwerfartikel geworden?/1 Ich weiß, dass es in meiner Kindheit noch nicht so war. Wie so viele andere meiner Generation ging ich zweimal im Jahr mit meiner Mutter neue Kleidung kaufen – erst für den Frühling und Sommer, dann für den Herbst und Winter, was damals den beiden traditionellen Produktionszyklen der Designer und Hersteller von Bekleidung entsprach. In den späten 1980ern begann die Globalisierung diesen Rhythmus zu verändern. Um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, erneuerten jetzt einige Händler ihr Angebot häufiger. Gleichzeitig wurde ein Großteil der Produktion nach China und in andere Entwicklungsländer verlagert, wo es zahlreiche billige Arbeitskräfte gab, die den Bekleidungsherstellern Preissenkungen ermöglichten.
Währenddessen wurden die Design- und Herstellungsprozesse durch schnellere Kommunikationsmittel und computergesteuerte Maschinen beschleunigt. Plötzlich konnten Trendwenden mit atemberaubender Geschwindigkeit umgesetzt werden. Die Hersteller nannten dies die »Just-in-time-Produktion«: Mode, die in einer Woche auf einem Laufsteg auftauchte, konnte schon in der nächsten als billige Kopie produziert werden. Dank des Internets wussten Konsumenten außerdem immer schneller über Trends Bescheid und standen vor den Läden Schlange, um die neusten Waren abzugreifen.
Hersteller dieser sogenannten »Fast Fashion« wie das schwedische Unternehmen H&M, die spanische Kette Zara (die hauptsächlich in ihrer Heimat produzieren), die britische Firma Topshop und die US-amerikanische Kette Forever 21 haben uns und insbesondere unsere Töchter hervorragend darauf trainiert, unsere Einkaufsgewohnheiten der neuen Normalität anzupassen. Wir haben gelernt, dass – frei nach Ernest Hemingway – Shopping niemals ein Ende hat.
Uns wurde beigebracht, dass Kleidung, die wir heute in den Läden sehen, beim nächsten Besuch wahrscheinlich schon wieder verschwunden sein wird. Die mehr als 1700 Zara-Läden erhalten beispielsweise zweimal wöchentlich neue Ware. Einer Studie zufolge besucht der durchschnittliche Zara-Kunde die Geschäfte der Kette 17-mal pro Jahr, also ungefähr alle drei Wochen. Dank der kurzen Lebensdauer der Kollektionen und der hohen Abverkaufsraten enden nur wenige Artikel auf dem Grabbeltisch. Diese Strategie sorgt für gleichbleibend hohe Gewinne.
Die Käufer lernten: Wer zögert, verliert. Es blieb keine Zeit, um eine Anschaffung sorgfältig abzuwägen, zumal es auch nicht nötig ist, lange über den Kauf einer Zehn-Euro-Jeans bei Forever 21 nachzudenken. Man musste also weder finanziell noch emotional viel investieren, um ein Geschäft voller Freude über einen Kauf zu verlassen. Dieses Glücksgefühl mochte zwar nur von kurzer Dauer sein, aber die nächste Dosis war ja nie weit weg. Was machte es da schon, wenn unsere Pullover ausbeulten oder die Reißverschlüsse versagten? Das erlaubte uns doch nur, noch mehr Klamotten zu kaufen.
Dieses Einkaufsverhalten wie in einem Hamsterrad hat ernste Konsequenzen, die weit über fehlenden Stauraum in unseren Kleiderschränken hinausgehen. Für die Herstellung synthetischer Fasern werden Millionen Liter Öl benötigt und beim konventionellen Baumwollanbau werden riesige Mengen an Pestiziden eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen für die Textilarbeiter sind bei diesem Tag und Nacht andauernden Modewettlauf mit der Zeit miserabel, zudem sind sie permanent Giftstoffen ausgesetzt.
Gleichzeitig wird der Platz für unseren Müll knapp: Die Environmental Protection Agency gab bekannt, dass US-Amerikaner pro Jahr ungefähr 13 Millionen Tonnen Textilien entsorgen. Das ist viermal mehr als 1980 und nur ungefähr 15 Prozent davon werden recycelt. In Großbritannien herrscht mit ungefähr einer Million Tonnen pro Jahr ein ähnliches Verhältnis zwischen Weggeworfenem und Wiederverwendetem. Die angesammelten Kleiderberge auf unseren Müllkippen bestehen hauptsächlich aus biologisch nicht abbaubaren Kunststoffen, die auf Erdölbasis hergestellt werden. Die von uns entsorgten natürlichen Materialien werden zwar abgebaut, produzieren allerdings während des Zerfalls Methan, das vermutlich als Treibhausgas den Klimawandel beschleunigt.
Neben der Überfüllung unserer Müllkippen, der Ausbeutung unserer Ressourcen und der Vergiftung von Luft und Wasser hat die Schnell- lebigkeit der Mode auch dazu geführt, dass kaum jemand noch den Weg unserer Kleidung vom Rohmaterial bis zum fertigen Produkt nachvollziehen kann. Ich muss zugeben, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob die Sachen, die ich trage, während des Herstellungsprozesses jemals von einer Menschenhand berührt wurden. Vermutlich bin ich nicht die Einzige, die über die Entstehung ihrer Kleidung nichts weiß, ebenso wenig wie über die Produktion der Hackbällchen, die im Kühlfach des Supermarkts liegen. Der ständige Konsum hat uns auch von der Vorstellung entfernt, dass diese gekauften Waren etwas Besonderes sind. Durch die Allgegenwärtigkeit von Wegwerfkleidung denken viele von uns, dass zahlreiche dieser Dinge kaum noch etwas wert sind.
John Cutlers Vikunjamantel war jedoch offensichtlich etwas Dauerhaftes. Er war ein »Slow«-Mantel, die Antithese zu den Waren aus einem Einkaufszentrum. Der Mantel hatte mich nachdenklich gemacht.
Ich begann Bücher über diese spezielle Welt der Maßschneiderei zu lesen – hübsche Bücher voller Schwarz-Weiß-Fotos von eleganten Menschen wie dem Duke of Windsor, Fred Astaire oder Katharine Hepburn. Ich las über Schneider, Weber, Scherer und Siebdrucker, von denen es heute viele schwer haben. Ich kroch in den Kaninchenbau der Vergangenheit und begriff, dass die Geschichten über Textilien und Kleidung auf vielerlei Art die Geschichte der Menschheit widerspiegeln. Ich sah mir die Anzüge und Mäntel genau an, die Männer in Kinofilmen und im Fernsehen trugen, und entwickelte allmählich eine Nostalgie für etwas, das ich nie erlebt hatte.
Dann wurde mir klar, dass ich mir all dies wirklich gern selbst ansehen würde. Ich verschickte also jede Menge E-Mails und rief fast alle an, die irgendwie an der Herstellung von John Cutlers Vikunjamantel beteiligt gewesen waren, und fragte sie, ob ich sie besuchen könnte. Einige sagten sofort zu, andere zögerten. Ein paar von ihnen hielten mich vermutlich für ein bisschen verrückt. Letztlich sagten jedoch alle Ja und ich begann zu packen.
Nun ja, ehrlich gesagt ging ich zuerst neue Klamotten einkaufen. Dann begann ich zu packen.
Bei Platon heißt es: »Zuletzt begab ich mich zu den Handwerkern. Denn mir selbst war ich, um es gerade heraus zu sagen, Nichts zu wissen bewusst; von diesen aber wusste ich wenigstens, dass ich sie als Kenner von Vielem und Schönem finden würde. Und hierin ward ich nicht getäuscht; sondern sie verstanden Dinge, die ich nicht verstand, und insofern waren sie weiser als ich.«/2
Auf meinen Reisen begegneten mir tatsächlich weise Menschen. Ich fand auch einige Besessene, die unglaublich viel Zeit und Geld in ihre Kleidung investierten. Ich durfte hinter den Samtvorhang der Bespoke-Maßschneider blicken, wo »knowing, not showing« der inoffizielle Leitspruch ist. Ich traf Männer mit »einem geheimen Laster«, wie Tom Wolfe es nennt, der sich ein bisschen auskennt mit edlen Anzügen. Es waren Männer, die sich rühmen, Details wie funktionstüchtige Ärmelknöpfe und handvernähte Knopflöcher schon aus einiger Entfernung erkennen zu können.
Begleitet von einer bekannten Forscherin begab ich mich hoch hinauf in die peruanischen Anden auf der Suche nach den Vikunjas. Die schreckhaften, langhalsigen Tiere mit den großen Puppenaugen waren wegen ihrer wertvollen Wollhaare beinahe ausgerottet worden, bevor sie dank einer der bemerkenswertesten Arterhaltungsmaßnahmen des zwanzigsten Jahrhunderts vor dem fast sicheren Aussterben gerettet wurden. Ich reiste nach Florenz zu Stefano Ricci, dem legendären Seidenexperten und Designer luxuriöser Herrenbekleidung, von dem John Cutler den Stoff für das Innenfutter besorgt hatte. In England beobachtete ich, wie wunderschöner Stoff aus Kammgarn von den Webstühlen einer 150 Jahre alten Textilfabrik kam und wie mit Geräten aus viktorianischer Zeit marmorierte Büffelhornknöpfe modelliert und poliert wurden. Ich aß Meerschweinchen in Lima und Trüffel in der Toskana.
Ich beobachtete Schneider in ihren Kellerwerkstätten in der Londoner Savile Row bei der Arbeit. In Sydney traf ich John Cutler, dessen eigener Kleiderschrank eine museumsreife Sammlung handgefertigter, sorbetfarbener Kaschmirmäntel und Seidenhosen beinhaltet. Außerdem ging ich mit einigen seiner illustren Kunden essen, die zu meiner Erleichterung durchaus humorvoll mit ihren exzentrischen Gewohnheiten und der Sucht nach maßgeschneiderter Kleidung umgingen – insbesondere, wenn sie leicht beschwipst vom exzellenten Champagner waren. Schließlich sah ich mir auch den Vikunjamantel an, den ich über einer Sofalehne liegend in dem Penthouse eines Wolkenkratzers in Vancouver fand.
Ich entdeckte eine Welt, die in vielerlei Hinsicht genauso vom Aussterben bedroht ist wie die der Vikunjas noch vor wenigen Jahrzehnten. Für die Schneider und andere traditionelle Gewerbetreibende ist es schwer, junge Menschen für ihre Berufe zu gewinnen. Einerseits mangelt es an Lehrstellen und Ausbildungsmöglichkeiten, andererseits wollen ohnehin nur wenige junge Menschen jahrelang in glanzlosen Hinterzimmern schuften, um ein Handwerk bis zur Meisterschaft zu erlernen. Europäische Handelsgruppen haben mit großem Bedauern vorhergesagt, dass die heutigen Kunsthandwerker wie Weber, Punzer, Graveure, Schuhmacher und Schneider wohl die letzten ihrer Art sein werden.
Nichtsdestotrotz begegnete ich auch einigen Menschen, die erfolgreich sind. Sie hatten die unteren und mittleren Marktsegmente den fernen Megafabriken überlassen und sich auf die Luxuswelt konzentriert, die sich immer und immer wieder als erstaunlich stabile Nische erwies. In schwierigeren Zeiten wurden die Reichsten unter den Reichen – wie auch der Auftraggeber für den Vikunjamantel – sogar noch anspruchsvoller. Sie verlangten nach Waren in bester Qualität, nach Handwerkskunst von Fachleuten und vor allem nach Dingen, die niemand sonst haben konnte. All dies sind Eigenschaften der maßgeschneiderten, bespoke Bekleidung. Geschäftstüchtige Hersteller haben auch die Märkte der Entwicklungsländer ins Visier genommen, wo frisch gebackenen Millionären, von denen viele nur ein oder zwei Jahrzehnte zuvor noch in Mao-Anzügen gekleidet waren, klar wurde, dass sie sich ihrer neuen Rolle entsprechend einkleiden müssten.
Natürlich können sich die meisten Menschen keinen maßgefertigten Vikunjamantel für fünfzigtausend Dollar leisten – auch nicht die Version für sechstausend Dollar aus weit weniger mondäner Schafwolle. Der eine oder andere mag so viel Geld für ein extra angefertigtes Kleidungsstück schlichtweg als obszön empfinden. Trotzdem werden diese jahrhundertealten Gewerbe von genau jenen Individuen am Leben erhalten, die sich solchen Luxus leisten können und gewillt sind, ihr Geld auf diese Art und Weise auszugeben.
Als ich mich auf die Spuren des Mantels begab, wusste ich nichts über das Schneiderhandwerk. Der Höhepunkt meiner eigenen Nähversuche war ein Baumwollwickelkleid, das ich im Hauswirtschaftsunterricht in der siebten Klasse gemacht hatte. Zurückgekehrt bin ich von meinen Reisen voller Bewunderung für die talentierten, kunstfertigen Menschen und ihre Produkte aus Textilfasern, Stoffen und Garn. Ich beneide sie um die Befriedigung, die es ihnen bereiten muss, etwas von Grund auf zu erschaffen. Sie sind echte Macher, was immer weniger Menschen von sich behaupten können. Und sie wünschen sich nichts weiter, als das Glück zu haben, weitermachen zu dürfen. Ich wünsche ihnen das auch.