Читать книгу Der perfekte Mantel - Meg Lukens Noonan - Страница 6
Kapitel 1
Die Wurzeln
ОглавлениеJohn Cutler sah von seinem Arbeitstisch auf, als Keith Lambert die Schneiderei im Erdgeschoss inmitten von Sydneys Bankenviertel betrat. Lambert, der gut gebaute 43-jährige Geschäftsführer eines Weinunternehmens mit den ebenmäßigen Gesichtszügen eines Nachrichtensprechers, war wie immer makellos gekleidet. Der Schneider erkannte Lamberts marineblauen Nadelstreifenanzug sofort, den er einige Jahre zuvor gefertigt hatte. Der Anzug saß immer noch hervorragend, stellte Cutler mit Genugtuung fest. Das Hemd aus bester Sea-Island-Baumwolle stammte ebenfalls von J. H. Cutler, genauso wie die Krawatte. Oh ja, an die leuchtende Stefano-Ricci-Seide mit dem aufwendigen blauen Medaillondruck erinnerte er sich besonders gut. Perfekt. Cutler begrüßte Lambert, der wie immer Rosie, seinen Jack-Russel-Terrier, auf dem Arm trug. Cutler machte das nichts aus. Er hatte sich an die Hündin gewöhnt.
Der Schneider legte seine schwere Schere ab und bat Lambert in das Beratungszimmer, das mit türkisblauen Wänden, edler Ledergarnitur und einem antiken Perserteppich an englische Herrenklubs erinnerte. Die Farben waren so gewählt worden, dass sie eine besondere Ruhe ausstrahlten. Sie trugen dazu bei, aufkommende Zweifel der Kunden zu zerstreuen, die sich darauf vorbereiteten, große Geldsummen auszugeben. Auch der Raumduft nach frisch geschnittenem Gras und Pfingstrosen, den Cutler gelegentlich versprühte, wenn er morgens das Geschäft öffnete, schien zu beruhigen.
Überall gab es stilvolle Kleinigkeiten zu entdecken wie die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien, die das ursprüngliche Geschäft von J. H. Cutler aus dem 19. Jahrhundert zeigten. In einer zylinderförmigen Glasvitrine lagen die alten Kassenbücher, wo einst die ersten Bestellungen bei seinem Urgroßvater verzeichnet wurden. Auch die Bildbände mit Abbildungen des Duke of Windsor, Cary Grant und anderer Stilikonen bestätigten den Männern, die hier ihre Einkleidungswünsche besprechen wollten, dass sie Teil einer glanzvollen Tradition wurden. Und sie hatten recht: John Cutler führte das Geschäft in vierter Generation.
Lambert machte es sich auf dem grünen Chesterfield-Sofa bequem und setzte die Hündin zu seinen Füßen ab. Cutler bemerkte, dass sein Kunde ziemlich gut aussah, wenn man bedachte, was er gerade durchgemacht hatte. Es war kein Geheimnis, dass eine schwierige Zeit hinter Lambert lag. Er hatte seinen Job als leitender Geschäftsführer der South Limited, einem der größten Weinproduzenten der Welt, verloren. Der Aufsichtsrat, zu dem auch sein Schwiegervater, der berühmte Milliardär und Gründer von Rosemount Estate Wines, Robert Oatley, gehörte, hatte ihn entlassen, als die Gewinne eingebrochen waren. Das war bester Stoff für eine Seifenoper, weshalb über dieses Familiendrama ausführlich in den Zeitungen und Nachrichtensendungen berichtet wurde. Wenn Lambert nicht darüber spräche, würde Cutler selbstverständlich nicht danach fragen. Zwischen Schneider und Kunde gibt es eine unausgesprochene Abmachung, die ähnlich der Beziehung zwischen Arzt und Patient vor allem auf Diskretion und Vertrauen beruht.
Lambert nahm den von Cutler angebotenen Kaffee an – für einen Scotch war es noch ein bisschen zu früh – und erklärte, warum er gekommen war. Er wollte einen neuen Mantel. Da er zukünftig mehr Zeit in Nordamerika verbringen würde, brauchte er Kleidung für echte Winter. In der folgenden Stunde versuchte Cutler, Lamberts Vorstellungen von dem Kleidungsstück zu ergründen. Bevor er einen Stil oder einen Stoff vorschlug, versuchte er immer zu verstehen, wie sein Kunde sich fühlte und wie er sich mit dem neuen Kleidungsstück fühlen wollte. Für Cutler bestand das Schneiderhandwerk nicht einfach im Verstecken von Bäuchen oder in der Begradigung hängender Schultern. Manchmal ging es darum, eine verwundete Seele zu stützen und einem Mann neues Selbstbewusstsein für die Welt zu geben, egal was diese Welt ihm entgegenwarf.
»Man kleidet die Psyche eines Mannes genauso wie seinen Körper«, sagte Cutler gern. »Wenn du einem Mann den falschen Anzug gibst, hast du als Schneider versagt.«
Das Gleiche ließe sich natürlich auch über Mäntel sagen. Es gab viele Möglichkeiten und jede kam einer anderen Aussage gleich. Lambert hätte sich beispielsweise für einen langen Chesterfield mit schickem Samtkragen entscheiden können, aber Cutler kannte Keith gut genug, um zu wissen, dass das zu formell wäre. Der Schneider hätte auch einen Polomantel mit Gurt vorschlagen können, wie er zuerst von britischen Offizieren der Kavallerie in Indien zum Warmhalten zwischen den Chukkas eines Polospiels getragen wurde. In Lamberts Fall könnte dies allerdings zu verwegen wirken. Viel zu sportlich hingegen wäre ein Düffelmantel, benannt nach der belgischen Stadt, in der der schwere Wolltwill hergestellt wird, den man traditionell für die Mäntel mit Knebelknopf verwendet. Bei einem Raglan mit den diagonalen Schulternähten würden die Schultern zu sehr hängen, ein Offiziersmantel wäre zu militärisch, ein Car Coat zu lässig.
Lambert erklärte Cutler, dass er sich einen lockeren Sitz wünsche, aber nicht zu locker. Der Mantel müsse gut zu transportieren und elegant, schnörkellos, klassisch sowie schlicht geschnitten sein. Cutler zeichnete einige Entwürfe. Lambert machte einige Vorschläge. Cutler äußerte seine Meinung, Lambert antwortete. Nach einigem Hin und Her hatte man sich geeinigt: Es sollte ein einreihiger Mantel mit eingefassten Seitentaschen und einem Kragen werden, der sich bei Kälte bis ganz nach oben zuknöpfen ließ.
In Sydney wurde Cutler nicht oft um die Anfertigung eines Übermantels gebeten, dafür war das Klima zu mild. Trotzdem war er der Aufgabe gewachsen. Er besaß vierzig Jahre Erfahrung und einen Abschluss von der besten Schneiderakademie der Welt. Die Zeitschrift Forbes hatte ihn sogar einen der besten Schneider weltweit genannt und in eine Reihe mit der Elite der Zunft in der berühmten Londoner Savile Row gestellt.
»Ich halte jenen Gentleman für den bestgekleideten, dessen Kleidung niemand beachtet.«/1
Anthony Trollope
An einem der seltenen wolkenlosen Oktobervormittage sitze ich in Londons West End in einem Taxi und stecke im Stau. Das Problem ist diesmal weder der übliche Verkehrskollaps noch eine Sperrung wegen der Fortbewegung königlicher Verwandtschaft oder eines Wohltätigkeitsrennens. Nein, die heutige Verzögerung wird von Schafen verursacht. Auf Erlass seiner Königlichen Hoheit, des Prince of Wales, befinden wir uns mitten in der British Wool Week, die die Savile Row mit einem Fest begeht. Die abgesperrte Straße wurde in einen Scheunenhof verwandelt, auf dem unter anderem eintausend Quadratmeter geschnittenes Gras, eine grob zusammengezimmerte Scheune und zwei Herden mit zweifellos verdutzten Schafen zu finden sind.
Als ich endlich beim Presseempfang im Restaurant Sartoria eintreffe, das als Hauptquartier der Veranstaltung dient, werden bereits die Begrüßungsreden gehalten. Ich finde noch einen Stehplatz in der hintersten Reihe in einem Meer von Männern in guten Wollanzügen. Die meisten Anzüge sind dunkel und einfarbig oder mit dezenten Nadelstreifen versehen, nur einige Männer fallen mit moosgrünen Plaidmustern und passenden Schiebermützen aus der Reihe – jene Art von Bekleidung, die förmlich nach Jagdhunden als Accessoires schreit. Ein Redner nach dem anderen hält seine Lobeshymne auf die Wolle, die Bauern und Prinz Charles, der als leidenschaftlicher Schafhalter bekannt ist.
Zehn Monate sind vergangen, seit die Geschäftsführer von Textil-unternehmen, Designer, Teppichhersteller und Händler auf den Klappstühlen in einer kühlen, zweihundert Jahre alten Fachwerkscheune in Cambridgeshire Platz genommen haben. Sie waren gekommen, um sich von Prinz Charles den Fünfjahresplan für die Campaign for Wool erklären zu lassen, die das angeschlagene Wollgeschäft des Commonwealth wiederbeleben sollte. Charles hatte seinen zweireihigen, kamelhaarfarbenen Mantel anbehalten, als er sich vor das kleine Publikum stellte. Hinter ihm waren große Heuballen und ein rotes Fuhrwerk mit Rohwolle zu sehen, während er die allgemeine Lage jenes Materials bedauerte, das über Jahrhunderte der ruhmreiche Motor der britischen Wirtschaft gewesen war. Die Kosten der Schafschur, sagte er, seien höher als der Preis, der für Wolle bezahlt werde. Der Bedarf sei stark zurückgegangen und die Bauern verkleinerten ihre Herden oder lösten sie ganz auf.
»Die Zukunft dieser wunderbaren Textilfaser sieht wirklich düster aus«, sagte Prinz Charles, der nach seinen Anmerkungen noch etwas Zeit im Gespräch mit den Anwesenden verbrachte, aber verschwand, bevor der Mutton Renaissance Club seinen berühmten Hammeleintopf servierte.
Die Mitglieder des Komitees, von denen an diesem Vormittag viele im Sartoria sind, haben seither hart an der Planung für die einwöchigen Werbeaktionen und Plakatkampagnen in ganz England gearbeitet, mit denen die Menschen daran erinnert werden sollen, dass Wolle ein warmes, natürliches, bequemes und nachhaltiges Material ist. Das Fest in der Savile Row ist dabei die wichtigste Veranstaltung – und vermutlich auch das Ereignis, bei dessen Vorbereitungen ordentlich aus der Laphroaig-Flasche nachgeschenkt wurde. (»Was sagst du da? Schafe? In der Savile Row? Blendende Idee, mein Lieber.«)
Noch vor Sonnenaufgang entließen an diesem Morgen Viehwaggons aus Devon in der südwestlichen Moorlandschaft Englands sechzig frisch gebadete und gebürstete Schafe auf ihre temporäre Weide in London. Es waren nicht einfach irgendwelche Schafe: Der eine Teil bestand aus der letzten in Großbritannien verbliebenen Herde der Bowmont-Schafe, die schottische Genforscher in den 1980ern aus Sächsischen Merinos und Weißen Shetlands gekreuzt hatten, um eine widerstandsfähige und besonders feinfaserige Rasse zu züchten. Der andere Teil bestand aus Exmoor Horns, eine gedrungene, uralte Rasse mit schwarzer Nase, elegant nach hinten geschwungenen Hörnern und langer, dichter weißer Wolle. Auch die Bauern hatte man für den Anlass herausgeputzt. Die beiden altehrwürdigen Schneidereien Huntsman und Anderson & Sheppard hatten sie (und ihre Hunde) mit maßgeschneiderter Bekleidung aus englischen Wollstoffen ausgestattet, die auf englischen Webstühlen gewebt worden waren.
»Das ist genau der richtige Stoff«, erläutert ein Geschäftsführer der Weberei im Sartoria. »Es ist der Stoff, den ein Gentleman vor Goretex und Polarfleece über sein Tweedjackett zog, um dann mit einem festen Paar Schuhe den Mount Everest zu besteigen.«
Der Satz wird mit Lachern bedacht, doch scheint gleichzeitig ein Hauch von Nostalgie wie feiner Nebel durch den Raum zu schweben, als hätte sie jemand mit einem feinen Zerstäuber versprüht.
Ich gehe hinaus, um mir die Herden anzusehen und ein Gefühl für die Savile Row zu bekommen, diese nur vierhundert Meter lange Seitenstraße, die für Männer mit einem Faible für handgefertigte Kleidung eine Bedeutung hat wie Cooperstown für Baseballfans und St. Andrews für Golfer. Heute haben etwa ein Dutzend der hier ansässigen Schneider ihre Läden für Besichtigungen geöffnet und mehrere haben kurze Vorträge über den einen oder anderen Aspekt ihres Geschäfts angekündigt. Dies ist, soweit ich weiß, eine extrem seltene Form der Selbstdarstellung für eine Gruppierung, die es die längste Zeit ihrer Geschichte vorzog, ihre Aktivitäten hinter zugezogenen Vorhängen und unauffälligen, verschlossenen Türen auszuüben. Von der Straße einsehbare Fenster hatte es bis 1969 nicht gegeben, als der unkonventionelle Designer Tommy Nutter ein Geschäft mit dem Schneidermeister Edward Sexton in der Hausnummer 35a eröffnete. Unterstützung erhielt er von Peter Brown, dem Geschäftsführer der Apple Corps der Beatles mit dem Hauptquartier auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Nutter war der Liebling des hippen London. Mick und Bianca Jagger, Twiggy, Elton John und John Lennon – der laut dem Autor und Historiker James Sherwood in den Nutter-Werkstätten unter dem Codenamen Susan bekannt war/2 – trugen seine charakteristischen dreiteiligen Anzüge mit den riesigen Reverskragen, enger Taille und weiten Hosen. Alle Beatles bis auf George Harrison trugen seine Kreationen auch auf dem Plattencover von Abbey Road. Als wären seine Modelle nicht schon Rebellion genug gegen die altehrwürdige Savile Row, erdreistete er sich auch noch, seine Waren in provokant gestalteten Schaufenstern auszustellen. Einmal waren dort zum Beispiel Phalluskerzen und ausgestopfte Ratten zu sehen. Gestaltet wurden die Auslagen von dem jungen Simon Doonan, der später der Kreativchef von Barneys werden sollte. Nutter erlaubte den Passanten nicht nur einen Blick in seinen verspiegelten Verkaufsraum, sondern er ermutigte sie sogar, hereinzukommen und sich umzuschauen.
Nutter starb 1992 infolge seiner Aids-Erkrankung. Wenn er noch lebte, wäre er sicher vom heutigen Spektakel in der Savile Row begeistert: Banker staksen in einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung durch die Menge. Touristen posieren in Jeans und Regenjacken vor einem Schild, auf dem »Achtung Schafe« steht. Knopflochschneider und Bügler machen ausgedehnte Zigarettenpausen vor ihren Arbeitsräumen im Souterrain. Die Fernsehteams scheinen nicht genug von Harry Parker zu bekommen, dem in Tweed gekleideten, rotwangigen Landwirt, der einen Heidenspaß dabei hat, seine Exmoor Horns vor den Kameras von einem Ende des schmalen Geheges zum anderen zu treiben. Am Ende der Straße auf einem abgesperrten, mit Rasen ausgelegten Karree trinken einige Leute Champagner in einem offenbar nur mit Einladung zugänglichen Viehwagen, der in leuchtendem Preußischblau gestrichen wurde.
Die Savile Row entstand in den 1730er-Jahren auf dem damaligen Grundbesitz des dritten Earl of Burlington, in der Gegend um die Piccadilly Street im damals noch vorwiegend ländlichen Londoner Stadtteil West End. Wie Richard Walker in The Savile Row Story: An Illustrated History beschreibt, war der weltmännische Lord Burlington ein Hobbyarchitekt, dessen Leidenschaft für das alte Rom sich in der Errichtung von Burlington House zeigte, seinem neopalladianischen Palast. Obwohl er wohlhabend und mit der reichen Erbin Dorothy Savile verheiratet war, wurde das Geld irgendwann wegen seiner Extravaganzen knapp. Der Lord war gezwungen, einen Teil seiner Ländereien zu erschließen. Er ließ einige Straßen bauen, darunter Old Burlington, Cork, Clifford, Boyle und später New Burlington und Savile, die er möglicherweise nach seiner Frau benannte, um sie über den Verkauf ihrer Gärten hinwegzutrösten. Lord Burlington überwachte persönlich den Bau der Stadthäuser, die schon bald von Aristokraten, Militärangehörigen und Ärzten bezogen wurden. Da sie natürlich angemessene Kleidung benötigten, ließen sich in der Umgebung Schneider mit ihren Werkstätten nieder.
Als West End boomte, hatten sich die Vorstellungen über die angemessene Kleidung eines Gentlemans gerade radikal gewandelt. Nach der Französischen Revolution wurde alles abgelehnt, was an die Maßlosigkeit und Ausschweifungen Ludwigs XVI. erinnerte. Darüber hinaus kam der klassische nackte Männerkörper wieder in Mode, wie er bei antiken griechischen Skulpturen zu sehen war, und der englische Adel entdeckte die freie Natur. An den Wochenenden zog man sich in die Landhäuser zurück, wo man viel Zeit mit Fuchsjagden, Wanderungen und anderen Aktivitäten verbrachte, die nach schnörkelloser und bequemer Kleidung verlangten. Als einige dieser Gutsherren begannen, ihre ländlichen Outfits auch in der Stadt zu tragen, verstärkten sie sogar unter weltmännischen Städtern das Verlangen nach gut geschnittener Bekleidung aus Stoffen in gedämpften Farben.
»Es passierte schnell«, schreibt Richard Walker. »Eben noch war der durchschnittliche Aristokrat in Samt und Spitze gehüllt, dann war er plötzlich in rustikaler Schlichtheit unterwegs.«/3
Ohne die Ablenkung durch Glanz und Glitzer stand die Figur des Mannes plötzlich im Mittelpunkt. Der Bedarf an qualifizierten Schneidern war groß. Mithilfe von Schnitttechniken und geschickt platzierter Polsterung konnten sie fast jedem – egal ob Hühnerbrust oder Kugelbauch – zu der heiß begehrten V-förmigen Silhouette verhelfen.
»In den Augen englischer Schneider war der perfekte Mann eine Mischung aus dem Gentleman vom Lande, der natürlichen Unschuld Adams und dem nackten Apollo«, fasst die Historikerin Anne Hollander in Anzug und Eros zusammen. »Die bekleidete Silhouette wurde nunmehr eine Abstraktion der Nacktheit. Das neue Idealbild des nackten Mannes wurde nicht mehr in Bronze oder Marmor, sondern mittels Wolle, Linnen und Leder dargestellt.«/4
Das Aushängeschild dieser klassizistischen Nüchternheit wurde schon bald ein junger Mann namens George »Beau« Brummell. Ian Kelly erzählt in der Biografie Beau Brummell: The Ultimate Man of Style/5 die Geschichte seines Aufstiegs zu einer Bekleidungslegende. Im Jahr 1793 traf der gut gebaute, am Eton-College ausgebildete Teenager zufällig mit dem Prince of Wales, dem späteren König Georg IV., zusammen. Der Prinz war so eingenommen von dem charismatischen Brummell, dass er dessen Aufnahme in sein persönliches Husarenregiment veranlasste. Der wenig anspruchsvolle Posten bestand vornehmlich im Tragen schnittiger Uniformen inklusive hoher, mit Quasten versehener Stiefel und der Begleitung des zukünftigen Königs bei seinen weinseligen Empfängen. Obwohl der Prinz doppelt so alt war wie Brummell, ließ er sich von ihm in Fragen des Stils und der Körperpflege beraten. Brummell kam dieser Aufgabe mit größtem Vergnügen nach, in der Regel mit dem ihm eigenen, bösartigen Humor. Es hieß, dass der sensible, pummelige Prinz sogar weinte, wenn Brummell ihm sagte, dass seine Hose nicht passe.
Brummell wurde zum Captain befördert, quittierte aber den Militärdienst, als sein Regiment in das unzivilisierte Manchester versetzt wurde. Er lebte von einer bescheidenen Erbschaft und verbrachte seine Zeit mit der Pflege und Präsentation seiner zurechtgemachten Erscheinung. In seinem Haus in der Chesterfield Street wurde er häufig von Bewunderern, darunter der Prinz, besucht, die ihn bei seinen alltäglichen Verrichtungen beobachteten. Brummell plädierte vor allem für Sauberkeit, was bei dem Dreck und Gestank im London des späten 18. Jahrhunderts ein durchaus radikaler Ansatz war. Er verbrachte mehrere Stunden mit Rasieren, Zähneputzen, Auszupfen von Haaren und Baden in heißem Wasser oder Milch und er schrubbte sich mit einer festen Bürste, bis er krebsrot war. (In Biografien wird vermutet, dass die Milchbäder zur Linderung der wunden Stellen dienten, die im frühen Stadium der Syphilis auftreten.) Nach seiner täglichen Toilette kleidete er sich an. Dabei lautete das Motto immer: Weniger ist mehr!
»Wer wirklich elegant sein will, sollte unbemerkt bleiben«, sagte er.
Brummells Alltagskleidung bestand aus einem einfachen, gut geschnittenen dunkelblauen Frack kombiniert mit gelbbraunen oder schwarzen Reithosen und hohen schwarzen Stiefeln, von denen Brummell gern behauptete, sie seien mit Champagner poliert worden. Er vervollständigte sein Outfit mit einer gestärkten Halsbinde aus Leinen, die über ein hochgeschlossenes weißes Hemd geknotet wurde. Brummell war so perfektionistisch, dass Dutzende zerknitterte Halsbinden auf dem Boden landeten, bis eine zu seiner Zufriedenheit gebunden war. Wenn er endlich aus der Tür trat, war er das viel bewunderte Abbild ungekünstelter Eleganz. Eine zufällige Begegnung mit Beau Brummell konnte einem entweder den Tag versüßen, falls er sich dazu herabließ, einen zu grüßen, oder verderben, wenn er den Mantel verspottete, den man trug, oder – noch schlimmer – jemanden komplett ignorierte./6
Bald handelte sich Brummell durch seinen schonungslosen Spott Ärger mit dem sensiblen, zunehmend pummeligen Prinzen ein. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war eine Bemerkung über dessen Gewicht. »Wer ist Ihr fetter Freund?«, fragte er den Begleiter des Prinzen, der in Hörweite war. (Brummell war nicht der Einzige, der die Leibesfülle des Prinzen thematisierte: Der Essayist Leigh Hunt saß zwei Jahre im Gefängnis, weil er den Prinzen unter anderem »einen korpulenten Mann in den Fünfzigern«/7 genannt hatte.) Verstoßen aus dem engeren Kreis des Prinzen und geplagt von immer höheren Spielschulden, floh Brummell nach Frankreich, wo er infolge seiner Syphiliserkrankung verrückt wurde, in eine Anstalt kam und dort mittellos starb.
Viele halten Brummell nicht nur für den ersten Promi der modernen Geschichte, sondern auch für einen Vorläufer jenes öffentlichen Verfalls, den wir mit einer bestimmten Art kometenhafter Berühmtheit in Verbindung bringen. Trotz seines unrühmlichen Endes war Brummells Einfluss enorm. Lord Byron stellte fest, dass es zu seinen Lebzeiten drei große Männer gegeben habe: ihn selbst, Napoleon und Beau Brummell – und der Größte von ihnen sei Brummell gewesen./8
Virginia Woolf war ebenfalls fasziniert von Brummell, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum. In einem Essay aus dem Jahr 1925 schrieb Woolf: »Ohne auch nur eine edle, bedeutende oder wertvolle Handlung vollbracht zu haben, machte er Eindruck; er steht für ein Symbol; sein Geist weilt immer noch unter uns.«/9
Seine offensichtlichste Hinterlassenschaft findet sich überall dort, wo es Männer mit Mänteln und Schlipsen gibt. Und doch bewirkte er viel mehr, als nur den Weg für moderne Bürokleidung zu ebnen: Er half auch, die landläufige Definition von Überlegenheit in einer Gesellschaft zu verändern, die von einem starren Ständesystem bestimmt war. »Seine Besonderheit lag ausschließlich in seiner Persönlichkeit und wurde weder durch Titel, geerbte Herrschaftshäuser, große Ländereien noch einen festen Wohnsitz gestützt«,/10 heißt es bei Hollander.
Brummells enorme Bekanntheit und großer Einfluss bewiesen, dass ein Mann sich nicht mehr durch Ränge und Titel definierte. Was man brauchte, war eine entschiedene Haltung – und einen exzellenten Schneider.
In den Fußstapfen von Mr. Brummell mache ich mich also auf den Weg durch die östliche Savile Row zu den von Lord Burlington gebauten Reihenhäusern, wo sich die ältesten Schneidereien der Straße befinden. Meine erste Station ist Henry Poole & Co in der Nummer 15. Ich weiß zwar, dass die Öffentlichkeit heute willkommen ist, aber als ich die große schwere Tür aufstoße, habe ich das Gefühl, dass mich gleich ein sehr bestimmter, aber furchtbar freundlicher Türsteher abweisen wird. Im Laden treffe ich auf Angus Cundey, den habichtsgesichtigen Firmenleiter, der tapfer die Besucher begrüßt – selbst jene unter uns, die aussehen, als könnten wir eine Reitjacke nicht von einer kugelsicheren Weste unterscheiden. Cundey, ein direkter Nachkomme jenes Mr. Poole, der das Geschäft 1806 eröffnete, steht neben einer niedrigen achteckigen Vitrine aus Walnussholz mit Messingbeschlägen, in der seidene Einstecktücher und glänzende Knöpfe ausgelegt sind. Hinter ihm stehen halbrunde Ledersessel vor einem Kamin, der von kopflosen Schaufensterpuppen mit bestickten Militärmänteln und Rüschenhemden flankiert wird. Neben der Feuerstelle hängen schwarze Brigg-Regenschirme an der Wand. (Das billigste Exemplar à la Mit Schirm, Charme und Melone mit einem Griff aus Whangee-Bambus kostet um die fünfhundert Dollar.) In einem anderen Wandregal werden glänzende Stahlschwerter präsentiert, die als Accessoires für einen Samtfrack gemietet oder gekauft werden können. Unauffällig in einer Ecke platziert, steht eine Jockeywaage aus viktorianischer Zeit. Die mit einem Ledersitz versehene Vorrichtung diente Poole zur dezenten Klärung von Disputen mit Kunden, die behaupteten, seit der letzten Anprobe nicht zugenommen zu haben.
Die anderen Wände sind voller verschnörkelter Bilderrahmen mit vergilbten Urkunden, die Poole als offiziellen Lieferanten für verschiedene internationale Königshäuser auszeichnen, von Kaiser Napoleon II. bis zum Maharadscha von Koch Bihar. Nahe der Tür hängt in einem kleinen Rahmen ein auf Mr. Poole ausgestellter, stornierter Scheck mit der Unterschrift von Charles Dickens, der, als er 1870 starb, seinem Schneider noch Geld schuldete. Darunter hängt eine typische Fotografie von Winston Churchill mit Fliege, schwarzem Jackett und gestreifter Hose. Henry Poole fertigte Abendgarderoben für Churchill und viele andere Würdenträger. Laut meinem Festtagsprogramm wird Angus Cundey uns auch gleich erzählen, wie es dazu kam, dass Henry Poole den Smoking erfand.
»Im Jahr 1865«, berichtet Cundey der um ihn gescharten Gruppe, »war der Prince of Wales es leid, jeden Abend einen Frack anzuziehen. Er suchte nach etwas weniger Formellem für Sandringham, den Landsitz der königlichen Familie.«
Henry Poole schneiderte für den Prinzen ein kurzes Smokingjackett aus Samt, das damals als so leger galt, dass es nur im Schutz des abgeschiedenen Landguts getragen werden konnte.
»Als James und Cora Brown-Potter, ein Ehepaar aus Tuxedo Park, New York, für ein Wochenende auf das Anwesen eingeladen wurden, erkundigte sich Mr. Potter nach angemessener Kleidung für den Besuch. Ihm wurde empfohlen, sich von Henry Poole ein Smokingjackett wie das des Prinzen schneidern zu lassen. Gesagt, getan. Nach seinem Besuch kehrte Mr. Potter in die USA zurück – mit Jackett, aber ohne Frau, die in England geblieben war, um Schauspielerin zu werden. Interessante Entscheidung …«, sagt Cundey und legt eine Kunstpause ein, um seinem Publikum Zeit zu geben, darüber nachzudenken, ob das Kleidungsstück wohl ein angemessener Tauschgegenstand für Mrs. Brown-Potter gewesen sein mag. »Als Mr. Potter in New York sein kurzes Smokingjackett trug, waren die Mitglieder des dortigen Tuxedo Club und andere Leute recht angetan und ließen sich selbst ein solches fertigen. So entstand der amerikanische Begriff ›Tuxedo‹ für Smoking.«
Von Henry Poole gehe ich die Straße hinunter bis zu Huntsman in der Savile Row 11. An dem schwarzen verschnörkelten Zaun aus Schmiedeeisen lehnt das rote Pashley-Kurierrad des Unternehmens. Es wird immer noch für örtliche Lieferungen benutzt und ist mit einem Korb ausgestattet, der groß genug für den Transport eines neuen Anzugs ist. In dem Geschäft steht der leitende Geschäftsführer Peter Smith, ein großer Mann mit strubbligem braunem Haar, neben einem etwas durchgesessenen Ledersofa. Es steht vor einem Marmorkamin, der zu beiden Seiten von zwei großen Hirschköpfen mit Geweihen flankiert wird. Die Atmosphäre des Raums gleicht einer Mischung aus privatem Jagdschlösschen und der Lobby einer exklusiven Bank. Ich frage Smith nach den Geweihen.
»Tja …«, sagt er und ist offensichtlich hocherfreut, jungfräuliche Ohren für eine Geschichte gefunden zu haben, die er bereits tausendmal erzählt haben muss. »Im Jahre 1921 kam ein Kunde herein und fragte, ob wir kurz auf sie aufpassen könnten, während er zu Tisch sei. Er kehrte nie zurück.« Nach sechs Monaten Wartezeit hängte der Schneider sie an die Wand.
Für das Geschäft war dies ein glücklicher Zufall, da es schon damals bei Mitgliedern der königlichen Familie und der konservativen Jagdgesellschaft für seine Reiterkleidung bekannt war. Huntsman-Pinks (die scharlachroten Reitjacken) und die patentierten, nahtlosen Reithosen wurden in einem Hinterzimmer angepasst, wo der Kunde rittlings auf einem gesattelten Holzpferd saß. Das Unternehmen war ebenfalls bekannt für seine gewagten karierten Tweedstoffe, die eigens für Huntsman in einer alten Textilfabrik auf der schottischen Insel Isle of Islay gefertigt wurden, sowie für seinen charakteristischen Kleidungsstil, der der Reitmode entlehnt war: ein Knopf, betonte, hochgezogene Schultern und stark taillierter Schnitt.
Clark Gable, Spencer Tracy, Gregory Peck und Rex Harrison waren begeisterte Träger dieses besonderen Schnitts. In den 1980ern entdeckten dann die Börsenmakler der Wall Street, dass die Huntsman-Silhouette ihre gelben Powerschlipse betonte, wobei es ihnen überhaupt nichts ausmachte, dass es sich hierbei um die teuerste Schneiderei der Savile Row handelte. (Sherman McCoy, die Hauptfigur in Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten, war ein klassischer Huntsman-Typ./11) Als Ridley Scott Der Mann, der niemals lebte drehte, suchte er nach der passenden Garderobe für den charmanten jordanischen Geheimdienstchef, gespielt von Mark Strong. Huntsman zeigte ihm einige Anzüge, die aus der Mitte der 1990er-Jahre stammten. Sie waren von einem arabischen Geschäftsmann bestellt (und bezahlt) worden, der dann aber verstarb, bevor er sie abholen konnte. Sie waren perfekt.
Ich gehe wieder hinaus, wo die in Tweed gekleideten Schäfer immer noch ihre Tiere in dem Gehege hin- und hertreiben. Mein nächster Halt ist Gieves & Hawkes, wo laut Festprogramm die Begehung der Werkstätten beginnt. Der große Laden in dem weißen georgianischen Eckhaus mit der Hausnummer 1 war früher der Hauptsitz der Royal Geographical Society und beherbergt heute das vereinte Unternehmen zweier erfolgreicher Schneider: Thomas Hawke, ein Mützenmacher, der sein Geschäft 1771 eröffnete, und James Gieve, der 1852 den Betrieb eines Marineausstatters übernahm. Beide waren erfolgreich mit Militär- und Expeditionsbekleidung und beide hatten ein besonderes Händchen für Innovationen. Die Firma Gieves Ltd. ließ sich ihre Rettungsweste patentieren, die eine aufblasbare Luftkammer hatte und – in der Annahme, es könne im kalten Wasser von Nutzen sein – eine Extratasche für Branntwein. Hawkes & Co. erfanden den mit Kork ausgekleideten Tropenhelm, der in der Folge zur unverzichtbaren Kopfbedeckung des weißen Jägers in heißen Gefilden wurde. Henry Morton Stanley trug einen dieser Helme, als er Dr. David Livingstone in Ujiji, Afrika, fand.
Andrew Goldberg, der kahlköpfige Geschäftsführer von Gieves & Hawkes, nimmt die Besucher in Empfang. Er führt uns in das hohe Atrium, das früher als Kartensaal der Geographical Society diente und heute die Konfektionskollektion beherbergt. Dann geht es durch kleinere Räume, wo Archivstücke der Schneiderei gezeigt werden. Hier gibt es mit Goldborten besetzte Ausgehjacken für Konteradmirale, Uniformjacken der Royal Air Force, mit Straußenfedern geschmückte Pelzmützen und Zweispitzhüte im Stil Captain Blights, der ebenfalls hier Kunde war. In Glasvitrinen werden neben Schwertern und Fliegermützen alte, mit Eselsohren versehene Kataloge ausgestellt, mit denen Marineoffiziere prüften, welche ihrer zahlreichen Uniformen sie wann zu tragen hatten. Zur Wahl standen Uniformen mit Namen wie Ball Dress, Ceremonial Blue Undress, Mess Dress und Tropical Mess Undress.
Goldberg führt die Besucher im Gänsemarsch eine enge Treppe hinunter in die Werkstatt, die zwar unter Straßenniveau liegt, aber dank des großen Fensters trotzdem lichtdurchflutet ist. Vom Bürgersteig aus können Fußgänger dabei zusehen, wie ein Dutzend Schneider an den Arbeitstischen schneidet, näht und bügelt.
»Bei uns kümmert sich jeweils ein Mitarbeiter um einen bestimmten Aspekt eines Kleidungsstücks. Die Knopflochmacher machen Knopflöcher, die Westenmacher Westen«, erklärt Goldberg. »Hier unten gibt es Schneider, die seit dreißig Jahren Kleidungsstücke für ein und dieselbe Person herstellen, obwohl sie sie noch nie zu Gesicht bekommen haben.«
Sie müssen den Kunden nicht sehen, weil der Prozess – wie in allen Maßschneidereien in der Savile Row – in zwei Schritte unterteilt ist. Oben werden die Maße genommen und dann auf Papier übertragen. An einer Wand hängen Hunderte braune Papiermuster für den Tag bereit, an dem ihre Besitzer für die Fertigung eines neuen Anzugs oder Mantels wiederkommen. Auf jedes Schnittmuster wurde mit schwarzem Filzstift ein Name gekritzelt. Ich stehe vor einem Muster mit der Aufschrift »HRH Queen of Tonga«. Obwohl ich keine Expertin bin, erkenne sogar ich, dass die Vorlage für die Königin einen beachtlichen Umfang aufweist.
Gieves & Hawkes hat Hunderte andere Könige und Königinnen ausgestattet, darunter König Georg III. und sogar den King of Pop: Michael Jacksons legendäre, goldverzierte Militärjacken wurden in dieser Werkstatt gefertigt. Die meisten Menschen jedoch, die hier oder bei anderen Maßschneidern ihre Kleidung anfertigen lassen, sind keine Mitglieder königlicher Familien. Es handelt sich um normale Männer (und ein paar Frauen) – bisweilen vielleicht ein bisschen übergewichtig oder mit leicht hängenden Schultern –, die gewillt sind, fast jeden Preis für ein Kleidungsstück zu bezahlen, in dem sie sich wohlfühlen.
»Es geht wirklich nicht um Geld«, sagt Goldberg. »Geld ist nur das Mittel. Sie wollen einen perfekt sitzenden Anzug.«
Ich verlasse Gieves & Hawkes und schlendere weiter in Richtung Anderson & Sheppard. Das Unternehmen war fast ein Jahrhundert lang eine feste Größe in der Savile Row, bis es 2005 wegen steigender Mieten in ein nahe gelegenes kleineres Geschäft in der Old Burlington Street umziehen musste. Als ich die Savile Row überquere und an den Schaf-gehegen vorbeikomme, duftet es nach warmem Heu und Wollwachs. Dann, kurz bevor ich um die Ecke in Richtung Burlington Gardens biege, rieche ich etwas anderes. Es ist ein vertrauter, aber schwer zu identifizierender Geruch – vielleicht Palisander mit einem Hauch von Tanne und Creamsicle? Er ruft Erinnerungen an Einkaufstouren mit meinen beiden Teenagertöchtern wach, beide in Aufregung ob der Verwandlungsversprechen von Pikeebaumwolle und künstlich abgenutztem Jeansstoff. Mir wird alles klar, als ich um die Ecke komme und die Trauben von Jugendlichen in Hoodies und mit Handys sehe, die Einkaufstüten mit dem schwarz-weißen Abbild eines gestählten männlichen Oberkörpers tragen: Es ist der Geruch von Abercrombie & Fitch.
Als dieser ehemalige amerikanische Jagd- und Expeditionsausstatter, der zu einem Händler sexuell aufgeladener Teenagerkleidung geworden war, 2005 bekannt gab, seine erste Filiale außerhalb Nordamerikas in einer fast dreihundert Jahre alten Villa an der Ecke zur Savile Row zu eröffnen, waren die langjährigen Mieter der Nachbarschaft geschockt.
»Ich gebe zu, dass ich entsetzt war«, sagte mir Angus Cundey von Henry Poole.
Während der eineinhalb Jahre, in denen der fast 1700 Quadratmeter große Innenraum den Bedürfnissen der neuen Mieter angepasst wurde, mussten Cundey und seine Kollegen täglich ein zweistöckiges Baugerüst passieren, das mit den charakteristischen Brust- und Bauchmuskeln der Marke zugepflastert war. Das ehemalige Queensberry House, das später eine Filiale der Bank of England und dann eine Jil-Sander-Boutique beherbergte, war eine knifflige Räumlichkeit. Die hellen Leuchten und weißen Wände der minimalistischen Sander-Filiale mussten entsorgt und die ehemaligen Banktresore zu Präsentationsnischen für T-Shirts und Jeans umgebaut werden. Die Wände entlang der großen Treppe mussten mit Mark Beards riesigen, auf altmodisch getrimmten Bildern halbnackter, muskulöser Sportler behängt und die Akustik der acht Meter hohen Räume mit 125 strategisch platzierten Lautsprechern entschärft werden, damit sich die A&F-typische Technomusik nicht in Gehörqualen verwandelt. Nachdem dann das Heer wunderschöner junger Verkäuferinnen und Verkäufer angestellt, die Elchgeweihe aufgehängt und die Zerstäuber mit dem A&F-Raumduft Fierce aufgefüllt waren, wurde das Geschäft am 22. März 2007 eröffnet.
Zweihundert Menschen standen an diesem Tag im kalten Regen in einer langen Schlange, die bis weit in die Savile Row reichte. Wahrscheinlich hörten sie schon die hämmernden Technobeats, während sie darauf warteten, zu dem mit Steinsäulen flankierten Portal zu gelangen und dann – vorbei an den beiden Türstehern mit freiem Oberkörper und verwaschenen, tief sitzenden Jeans – den Laden zu betreten. Wenn sich dann die Augen an die höhlenartige Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie die einhundert Dollar teuren Polohemden und zweihundert Dollar kostenden Jeans erwerben. Für kurze Zeit konnten sie sich fühlen wie Mitglieder eines exklusiven Klubs, in dem Zähne gerade und weiß waren und die gebräunten enthaarten Körper die Perfektion von Skulpturen besaßen.
Die willigen Käufer kamen auch am nächsten Tag, am übernächsten und am Tag danach. Die Wartezeit vor den Umkleidekabinen betrug manchmal 45 Minuten. Zuvor war das Unternehmen auf dem trägen amerikanischen Markt an einen toten Punkt gelangt. Durch den Erfolg in England wieder zum Leben erwacht, eröffnete es schon bald Filialen in Paris, Madrid, Singapur, Brüssel, Kopenhagen, Tokio, Hamburg, München, Düsseldorf, Hongkong und Mailand.
Nach dem ersten Schock versuchten die Schneider der Savile Row, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Das neue Geschäft brachte immerhin neue Laufkundschaft. Vielleicht würden einige A&F-Kunden ja irgendwann ihre Baggy Pants ausmustern und dann wissen, wohin sie zu gehen hatten. Schließlich hatte Mike Jeffries, der Flipflops tragende Firmenchef, sich bei Norton & Sons einen Anzug schneidern lassen.
»Die Leute, die zu Abercrombie & Fitch gehen, betreten unsere Geschäfte nicht«, sagte Barry Tulip, der Designchef von Gieves & Hawkes einem Reporter der British GQ. »Aber wir wünschen uns, dass sie durch das Fenster sehen und sagen: ›Meine Güte, das ist ja krass! Sobald ich mit Abercrombie fertig bin, werde ich erwachsen und gehe zu Gieves.‹«/12
Ich arbeite mich also durch die Menschentrauben vor Abercrombie & Fitch und gehe um die Ecke zu Anderson & Sheppard. Innen erwartet mich ein stiller Raum mit bernsteinfarbener Beleuchtung, die den Eindruck erweckt, als schaue man durch ein Glas mit Sherry. Die walnussbraunen Wände, das Parkett, die Radierungen von Jagdhunden, die einseitig abgeschatteten Wandlampen als Beleuchtung des nougatbraunen Marmorkamins – bei all dem will ich mich sofort auf das Ledersofa legen und mich in ein Buch über Ziergärtnerei oder Teewärmer vertiefen. Auf den Tischen nahe dem großen Fenster liegen offene Kassenbücher mit handschriftlichen Bestellungen von Rudolph Valentino, Marlene Dietrich, Duke Ellington und Fred Astaire, die allesamt Liebhaber der locker fallenden Anzüge von Anderson & Sheppard waren.
Über einen kurzen Korridor gelangt man in eine helle, von oben beleuchtete Werkstatt. Hier entwirft der Geschäftsführer und Schnittmeister der Firma, John Hitchcock, was viele für die Krönung der Maßschneiderei für Männer halten. Ralph Lauren und Tom Ford waren hier, um diesem schlanken und eleganten Schneider bei der Arbeit zuzusehen. Ford ließ sich hier sogar einen Anzug schneidern. Der Designer Alexander McQueen begann hier mit 16 Jahren seine Lehre und zu den Kunden der jüngeren Vergangenheit gehören Prinz Charles, Graydon Carter, Fran Lebowitz and Manolo Blahnik. Ich frage ihn, was er von der Nachbarschaft zu Abercrombie & Fitch hält.
»Einmal war ich schon dort. Ich dachte, ich sollte es mir ansehen«, sagt er. »Es ist nett, wirklich. Heute kann man alle jungen Mädchen fragen, wo die Savile Row ist. Vor ein paar Jahren hätten sie es nicht gewusst. Normalerweise steht dort ein junger Mann ohne Oberteil an der Tür. David und ich behalten unsere Hemden lieber an, oder?«, sagt er lachend zu David Walters, dem Zuschneider, der ebenfalls anwesend ist.
Abercrombie & Fitch ist in vielerlei Hinsicht die Antithese zu Anderson & Sheppard und den anderen alteingesessenen Schneidereien.
»Fast ihr gesamtes Geld geht ins Marketing: Absatzförderung, Pressearbeit, Werbung. Aber in die Produkte wird kaum Geld gesteckt«, erklärt mir Anda Rowland von Anderson & Sheppard. Rowland ist eine elegante rotblonde Frau und ehemalige Managerin der Christian-Dior-Parfüme. Sie erbte die Schneiderei 2005 von ihrem Vater, dem Milliardär Tiny Rowland. »Bei uns geht fast das gesamte Geld in das Produkt und so gut wie nichts ins Marketing.«
Den meisten klassischen Schneidern ist Marketing so fremd wie eine Jogginghose. Ihr Geschäft beruhte auf Mund-zu-Mund-Propaganda und/oder Tradition. Entweder gefiel einem ein Mantel, den man im Klub sah, und man fragte, wo er gemacht worden sei, oder man wurde vom Vater für den ersten Anzug zu einem Schneider mitgenommen, an den man nun lebenslang gebunden war. Was bei diesen Schneidern am ehesten der Werbung gleichkam, waren die gerahmten Referenzen der königlichen Familie. Selbst Etiketten in Kleidungsstücken galten als zu angeberisch. Bei Anderson & Sheppard werden Etiketten beispielsweise in die Innentaschen genäht, wo sie auch dann niemand sieht, wenn ein Mantel zufällig von einem Windstoß erfasst wird und aufgeht.
»Wer es weiß, weiß es«, lautet das Mantra der Savile Row. Bei Anderson & Sheppard musste man ohnehin nie marktschreierisch werden, weil es immer genügend zu tun gab.
»Um genau zu sein«, erklärte Hitchcock dazu in einer BBC-Dokumentation, »hatten wir eine Zeit lang sogar zu viele Aufträge. Es gab einfach zu viel Arbeit und wir stellten jemanden ein, der Kunden abwimmeln sollte.«/13
Doch dann änderte sich die Situation. Die Massenproduktion von Bekleidung, die nach dem Ersten Weltkrieg enorm an Bedeutung gewonnen hatte, nahm immer größere Ausmaße an. Wer einen annehmbaren Anzug haben wollte, brauchte keinen Schneider mehr. Die alte Garde war entsetzt. Ein Artikel auf der Titelseite der monatlich herausgegebenen Broschüre des Stoffhändlers Dormeuil brachte schon 1927 die Bedenken auf den Punkt: »Wer wahrhaftig equipiert werden möchte, benötigt Kleidung, die für ihn entworfen und gefertigt wird. Die Natur hat Individuen geschaffen. Maßschneider helfen bei der Erhaltung von Individualität. Man kann als Mann leben und sterben. Die Grabinschrift einer Person, deren Individualität vernichtet wurde, wird jedoch lauten: Geboren als Mann. Gestorben als Durchschnittsgröße 36.«
Aber es gab kein Zurück. Mit der Verbreitung der Massenproduktion änderte sich auch die Mode, und zwar vom robusten englischen Schnitt und seinem etwas weiteren nordamerikanischen Pendant, dem Ivy-Stil, zur engeren kontinentaleuropäischen Mode aus Italien, die ursprünglich durch das Unternehmen Brioni in Rom berühmt wurde. In einem Artikel der Zeitschrift Life von 1955 wurde die Einführung des schmal geschnittenen Brioni-Stils in amerikanischen Geschäften als »Falle für Männer«/14 bezeichnet, weil sie die vorhandene Kleidung veraltet aussehen lassen sollte.
Noch dominanter wurde Italiens Rolle in den späten 1970er- und 1980er-Jahren, als Giorgio Armanis locker fallende, bequeme Jacketts von Hollywoods Dreitagebart-Elite getragen wurden. Der Armani-Stil verband auch das »Anti-Establishment der Sechziger und die geldfixierten Achtziger. Der Träger schien gleichzeitig entspannter und mächtiger zu sein«, schrieb Woody Hochswender 1990 in einem Artikel über die italienische Modeikone in der New York Times. »Der Armani-Anzug«, fasste er zusammen, »war genau das Richtige für eine neue Generation von Männern, die nach einem Jahrzehnt der Antihaltung wieder in den Büroalltag zurückkehrte.«/15
Von der legeren Lockerheit bei Armani war es kein großer Sprung zum Casual Friday, der zum Ende der 1990er-Jahre eine Generation ansonsten intelligenter Männer hervorbrachte, für die »gut gekleidet« das Tragen einer sauberen Baumwollhose bedeutete. Es war keine große Hilfe, dass die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Ära in Bezug auf Bekleidung Blindgänger waren: Bill Gates sah man hauptsächlich in Outfits, die GQ als »nachlässigen Popperlook«/16 bezeichnete, während der verstorbene Steve Jobs eine Uniform aus Levi’s-501-Jeans und schwarzem Rollkragenpulli von Issey Miyake trug. (Wer konnte schon ahnen, dass beide wie Wall-Street-Yuppies erscheinen sollten im Vergleich zu dem nächsten Digitalmagnaten – Mister Hoodie Mark Zuckerberg.) In der Zwischenzeit ermöglichten Computer die Arbeit von zu Hause, sodass es keinen Grund mehr gab, den Schlafanzug auszuziehen, geschweige denn, ein Jackett oder gar einen Schlips zu tragen.
Die Welt der Maßschneider in Londons West End wurde zusätzlich durch zwei junge, stilprägende und imagebewusste Neuankömmlinge erschüttert: Richard James im Jahr 1992 und 1995 dann Ozwald Boateng. Beide brachen die ungeschriebenen Gesetze der Savile Row, indem sie sich mit berühmten Kunden schmückten und in die Öffentlichkeit gingen. James schaltete Werbungen in Hochglanzzeitschriften für Männer, während Boateng seine Konfektionskleidung auf dem Laufsteg der Paris Fashion Week zeigte. Wie vor ihnen schon Tommy Nutter interpretierten sie die klassische englische Schneiderkunst mit schrillen Farben und ungewöhnlichen Schnittmustern. Beunruhigt durch die Neuankömmlinge warfen die Schneider der alten Schule auch einen kritischen Blick auf die eigenen Werkstätten, wo ein Heer von Grauschöpfen saß. Die wenigen jungen Mitarbeiter blieben selten länger als ein oder zwei Jahre in der Savile Row. Die meisten von ihnen wollten berühmte Designer und keine anonymen »Hersteller« sein. Kaum jemand wollte die vielen Jahre investieren, die es braucht, um ein echter Experte für Hosen oder Mäntel zu werden. Und was die Schneider selbst betraf: Wer konnte sich schon einen Lehrling für so lange Zeit leisten?
Dann folgte der scharf kritisierte Diebstahl des Begriffs »bespoke«. Die Schneider waren der Meinung, dass dieses Wort ihnen gehörte, mit dem plötzlich alles – von Versicherungen bis zu Eiscreme – ausgezeichnet wurde. Noch schlimmer waren Händler, die das Gütesiegel der Savile Row missbrauchten, indem sie ihre Geschäfte in der Nachbarschaft eröffneten und bespoke Kleidung anboten, die in Wirklichkeit maschinell im Ausland hergestellt und dann nach London gebracht wurde. Es handelte sich dabei nicht unbedingt um schlechte Anzüge, aber die Schneider bestanden darauf, dass sie nicht den Kriterien der Savile Row entsprachen.
Es war an der Zeit, sich zu wehren. Unter der Führung von Mark Henderson, dem stellvertretenden Geschäftsführer von Gieves & Hawkes, entstand 2004 die Savile Row Bespoke Association. Die Schneider engagierten sogar eine PR-Agentur, was ein bemerkenswerter Schritt für einen Menschenschlag war, der das Rampenlicht mied. Sie sicherten sich die Markenrechte für die Bezeichnung »Savile Row Bespoke« und entwarfen ein Etikett, das ein Qualitätssiegel für maßgeschneiderte Kleidung sein sollte, ähnlich der französischen Appellation d’origine contrôlée für Wein und Käse. Nur ein Kleidungsstück, das den strengen Kriterien der Association entsprach, sollte dieses Gütesiegel erhalten. Dazu gehörte, dass es aus einem Geschäft stammen musste, in dem mehr als zweitausend Stoffe zur Auswahl standen und man von einem Stoffexperten beraten wurde. Darüber hinaus musste die Fertigung mindestens fünfzig Stunden Handarbeit, mehrere Anproben und ein individuell von einem Schnittmeister gefertigtes Muster umfassen, das dann von in England ansässigen Schneidern umgesetzt wurde.
Um der Überalterung in der eigenen Branche und fehlenden Qualifikationen entgegenzuwirken, startete die Association ein Ausbildungsprogramm, das jungen Menschen Maßband und Schere schmackhafter machen sollte. In Zusammenarbeit mit einem örtlichen College schufen sie einen Ausbildungsgang für Bespoke-Schneiderkunst. Nach Abschluss der Ausbildung konnten sich die Schüler für eine von der Association geförderte Lehrstelle in der Savile Row bewerben. Bei der Bezirksverwaltung beantragten sie außerdem, die Savile Row als Nationalerbe anzuerkennen und spezielle Gesetze zu ihrem Schutz zu erlassen.
»Während in unseren Räumlichkeiten Schneider arbeiten, befindet sich nur neunzig Meter entfernt die Bond Street mit den teuersten Einzelhandelsimmobilien der Welt. Wir mussten einen Weg finden, die Verdrängung zu verhindern«, erklärte mir Henderson. Nach langen Untersuchungen erklärte der Stadtrat von Westminster die Savile Row zu einer »Special Policy Area«, die exklusiv für Schneider reserviert bleiben sollte.
Weniger erfolgreich war der Versuch, das Wort »bespoke« rechtlich schützen zu lassen. Ein verärgerter Kunde hatte bei der britischen Werbeaufsicht ASA eine Schweizer Firma namens Sartoriani angezeigt, die ein kleines Büro mit Musterzimmer in der Savile Row 10 eröffnet hatte. Sartoriani warb für »bespoke Anzüge, die individuell nach Ihren persönlichen Maßen und Angaben hergestellt werden« und dabei nur ein Viertel des Preises kosteten, den man in den alteingesessenen Schneidereien bezahlen musste. Die Maße der Kunden wurden zwar tatsächlich in der Savile Row genommen, aber die Kleidungsstücke wurden in Deutschland maschinell zugeschnitten und genäht. (Sartoriani hatte dies nie anders dargestellt.) Dies sei nicht rechtens, hieß es in der Beschwerde, und mit Sicherheit auch nicht bespoke. Die Werbeaufsicht schlug sich auf die Seite des Anzugherstellers und stellte fest, dass »bespoke« für die meisten Menschen mittlerweile nur noch »für Sie gefertigt« bedeute. Es spiele keine Rolle, ob es sich um einen handgefertigten, fünftausend Dollar teuren Anzug aus der Savile Row oder um ein maschinell in China hergestelltes Produkt für vierhundert Dollar handele.
»Es geht hier um den Unterschied zwischen einem guten Gemälde und einem Nachdruck«, sagte der enttäuschte Henderson zu einem Reporter nach der Entscheidung.
Zu diesem Zeitpunkt wurde das Wort »bespoke« bereits als Modewort von allen möglichen Unternehmen genutzt. Plötzlich gab es bespoke Salatbüfetts, Vermögensanlagen, Fahrräder, Wanderungen, Muffins, Kopfhörer, Bettgestelle, Toilettensitze und sogar »Bespoke Hair Artisans« (in etwa: Haarkunsthandwerker). Die Besitzerin des entsprechenden Geschäfts in Edina, Minnesota, hatte es sogar geschafft, zwei Trendwörter im Namen unterzubringen. Eine Recherche zur Popularität des Wortes für einen Artikel im Wall Street Journal im Mai 2012 ergab, dass dem US-amerikanischen Patent- und Markenamt zu diesem Zeitpunkt 39 Anmeldungen und Registrierungen vorlagen, in denen das Wort vorkam./17 Vielleicht folgten einige der Antragsteller den Empfehlungen von Beratern, die bespoke Patentstrategien anboten.
Die echten Maßschneider hatten auch mit einer Konkurrenz zu kämpfen, die massenhaft Maßanzüge mit technischen Hilfsmitteln und billigen Arbeitskräften fertigte. Auf der New Yorker Madison Avenue wurde ein Flagship-Store des Unternehmens My.Suit eröffnet, das zum südkoreanischen Konzern BK House gehörte. Auf ihrer Internetseite konnten Kunden Anzüge für weniger als eintausend Dollar gestalten. Die mexikanische Fabrik des Unternehmens, in der eine Million Anzüge pro Jahr hergestellt werden konnte, fertigte dann den Anzug innerhalb von zwei Wochen den persönlichen Maßangaben entsprechend an.
»Das ist wie Bau-dir-deinen-Teddy für Erwachsene«,/18 sagte der stellvertretende Vertriebschef von James Hancock in einem Interview mit Women’s Wear Daily.
Die Firma Indochino.com, von zwei Kanadiern in Vancouver gegründet, bezeichnete sich als die »Option für schnelle Mode« bei maß-gefertigter Herrenbekleidung. Ihre Anzüge werden nach den vom Kunden übermittelten Maßen in einem Betrieb in Shanghai hergestellt. Es gibt weder einen persönlichen Berater noch ein Ladengeschäft.
Der gute Sitz eines Kleidungsstücks hängt natürlich davon ab, ob ein Kunde sich korrekt mit einem Maßband vermessen kann, was nicht leicht ist. Neue Technologien können die Fehler der Menschen beim Maßnehmen ausschalten. Die Körperscanner, eine Entwicklung aus der Spiele- und Sicherheitsbranche, wurden bereits bei traditionellen Bekleidungsgeschäften wie Brooks Brothers in Manhattan und neueren Geschäften wie Tailor Made in London eingeführt. Sie lieferten fast augenblicklich digitale Körperabbilder.
Tailor Made räumte auf seiner Internetseite ein, dass ihre Dienstleistungen nicht mit der Erfahrung oder den Produkten der Savile Row verglichen werden können: »Nichts kann das Aussehen, das Gefühl oder die Stofflichkeit von bespoke Anzügen übertreffen, aber wem bleibt heutzutage die Zeit für das aufwendige Maßnehmen und die zahlreichen Anproben? Am Ende bleibt es trotzdem nur ein Maßanzug.«/19
In der Zwischenzeit lieferten sich Softwareexperten einen Wettkampf, um ein Programm zu perfektionieren, das die Erfassung von Körpermaßen mit der Computerkamera im heimischen Wohnzimmer ermöglichte.
Die Schneider begriffen, dass sie ihre Geschichte viel besser erzählen mussten, wenn sie den Unterschied zwischen billiger Massenherstellung und ihren handgefertigten Produkten verdeutlichen wollten. Sie erstellten Internetseiten, engagierten Marketingberater und begannen sogar zu bloggen und zu twittern. Sie mussten sich als Luxusmarken etablieren und die weitverbreitete Meinung widerlegen, dass ihr Gewerbe im Sterben lag.
Ein Glücksfall war, dass sich ihre besonderen Qualitäten in der Wirtschaftskrise zu echten Verkaufsargumenten für eine Vielzahl an Produkten entwickelten: ihre Leidenschaft für Handwerk, die Verwendung nachhaltiger Materialien, die Konzentration auf regionale Produktion, die Möglichkeit, Waren individuell anzupassen, die Rückverfolgbarkeit der Materialien und selbst ihre Langsamkeit. Das US-amerikanische Unternehmen J. Crew zeigte zum Beispiel Videos über italienische Ledermanufakturen im Internet, die Schuhe für das amerikanische Label herstellten. Außerdem wurden die Textilfabriken genannt, die die Stoffe für die Kleidung produzierten. Auch die amerikanische Einrichtungskette Restoration Hardware wusste um die Attraktivität der Handwerkskunst und füllte ihre Kataloge mit handgefertigten Lampen, Tischen und schönen Fotostrecken von Eisen hämmernden Schmieden und Holz bearbeitenden Tischlern. West Elm, ein weiterer Möbelhändler, verbündete sich mit Etsy, einem Onlineversand für handgefertigte Produkte und Unikate. Patagonia führte seine »Footprint Chronicles« ein, die Kunden beispielsweise erlaubte, die komplette Herstellungskette einer Daunenjacke von der ungarischen Ente bis zu einem Lagerhaus in Nevada zurückzuverfolgen. Das Londoner Kaufhaus Marks & Spencer initiierte ein ähnliches Projekt namens String, mit dem die Herstellung jedes seiner Kleidungsstücke vom Rohstoff bis zum Endprodukt verfolgt werden konnte.
Zur gleichen Zeit betonten europäische Luxusmarken, von denen viele ihre Ursprünge im Handwerk hatten, in ihren Werbekampagnen diese Tradition. Gucci etablierte eine temporäre Handwerksecke in einem seiner Geschäfte, in der florentinische Lederarbeiter vor den Augen der Besucher Handtaschen herstellten. Ein Jahr darauf schickte Hermès für eine ähnliche Aktion eine Truppe von Lederarbeitern und Siebdruckern in ausgewählte Geschäfte auf der ganzen Welt.
Der zunehmend globale Vertrieb von Luxusprodukten schaffte auch einen Bedarf für Maßanfertigungen und Unikate. Wohlhabende Kunden suchten nach exquisiten Produkten, mit denen sie sich von den immer weiter verbreiteten Luxusmarken abgrenzen konnten.
»Massenluxus ist kein Luxus mehr, weil jeder es kaufen kann. Diese Dinge sind überall erhältlich und werden in enorm hohen Stückzahlen produziert. Bei echtem Luxus geht es um Seltenheit«,/20 sagte der Geschäftsführer der Savile-Row-Schneiderei Norton & Sons in einem Interview mit der South China Morning Post.
Sogar in China, wo Luxusartikel ein relativ neues Phänomen sind, wendeten sich enttäuschte Käufer von den großen Marken ab und suchten nach persönlich gestalteten Waren und Dienstleistungen. Dazu gehörten auch fesselnde Hintergrundgeschichten, die am besten mit einem piekfeinen britischen Akzent erzählt wurden. In einem Rausch von Anglophilie stürzten sich die Chinesen begeistert auf alles, was den Eindruck exzellenter Herkunft und guter Sachkenntnisse vermittelte. Dazu gehörten auch Polo, das in China zuletzt vor siebenhundert Jahren populär gewesen war, Kricket, Golf, Krocket, schottischer Whiskey, Luxusautos von Jaguar, viktorianische Eichenbüfetts, Internate und bespoke Kleidung.
Zusätzlich strömten sie zum Einkaufen nach England und Europa. Das London Luxury Quarter – ein Zusammenschluss von dreihundert Luxusgeschäften in West End inklusive Savile Row – gab bekannt, dass chinesische Touristen im Jahr 2010 fast tausend Dollar pro Einkauf ausgaben, eine Zahl, die den Vorjahreswert um 155 Prozent übertraf. Die zunehmend sachkundigen und immer anspruchsvolleren chinesischen Käufer pumpten in diesem Jahr 470 Millionen Dollar in die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs – zehnmal so viel wie 2007. Die Zahl der Visaanträge von chinesischen Staatsbürgern stieg um vierzig Prozent und wäre vermutlich noch höher gewesen, wenn die Regierung – wie vom Handel gefordert – das zehnseitige Formular vereinfacht hätte. Harrods und Selfridges verbuchten zweistellige Anstiege ihrer Verkaufszahlen, nachdem sie die chinesische Kreditkarte UnionPay akzeptiert und einen Mandarin sprechenden Verkäufer eingestellt hatten. Das britische Modehaus Burberry berichtete, dass 2010 dreißig Prozent der Käufe in ihren britischen Geschäften von chinesischen Kunden getätigt wurden. Das Unternehmen London Luxury bot Ausflüge zu Maßschneidern mit Privatchauffeur und einem Mandarin sprechenden Reiseführer an. Für zusätzliche 425 Dollar durften die Interessierten auch eine der Kellerwerkstätten betreten, um dort bei der Arbeit zuzusehen. Die Hilton-Hotelkette führte in vier ihrer Londoner Häuser einen chinesischen Willkommensservice ein, der Chinesisch sprechendes Personal, traditionelles chinesisches Frühstück, chinesisches Fernsehen, Tee und Hausschuhe beinhaltete. Das Marktforschungsunternehmen Global Blue fand durch eine Studie heraus, dass viele der chinesischen Europatouristen unzufrieden abreisten, weil sie nicht mehr Geld in der zur Verfügung stehenden Zeit hatten ausgeben können./21
Dann begaben sich die Chinesen auf eine Einkaufstour der besonderen Art. Bis 2012 hatten chinesische Firmen unter anderem die Unternehmen Aquascutum, Gieves & Hawkes, MG Rover, den Fußballklub Birmingham City und den Hersteller der typisch britischen Frühstückscerealien Weetabix gekauft.
Den Schneidern der Savile Row gefielen die meisten Dinge nicht, die um sie herum passierten, aber sie fanden auch Gründe für Optimismus. Ein Jahr nach meinem ersten Besuch im Jahr 2010 hatten zweihundert Schüler die Kurse am Newham College absolviert. Die dreißig besten arbeiteten als Lehrlinge der Savile Row Bespoke Association an der Seite von Meisterschneidern. Außerdem wurden die sogenannten Trunk Shows immer populärer, für die Schneider in die USA und noch weiter flogen, um Anproben in Hotels durchzuführen. Die Schneider berichteten, dass ihre Kunden nicht nur jünger als früher waren, sondern auch mit besseren Vorkenntnissen und genaueren Vorstellungen zu ihnen kamen, die sie Recherchen im Internet und der Fernsehserie Mad Men verdankten.
Zusätzlich führten die in Asien steigenden Kosten für Personal, Materialien und Transport sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich dazu, dass ein Interesse an lokaler Produktion und Rohmaterialien aus der Region geweckt wurde.
Mit der Hochzeit von Prinz William und Kate Middleton rückte auch die Bekleidungsindustrie des alten Englands in das Scheinwerferlicht. (Unter den Fernsehzuschauern weltweit waren geschätzte dreißig Millionen Chinesen.) Die Savile Row wurde mit Aufträgen von Männern überschwemmt, die es auf die Gästeliste geschafft hatten. Obwohl die Weltwirtschaft stagnierte, wuchs der Umsatz in der Savile Row um zehn Prozent und die Wollpreise in Australien erreichten Rekordniveau. Die altehrwürdige Schneiderei Gieves & Hawkes verwandelte sich durch eine umfassende Umstrukturierung in ein Warenhaus für Männerbekleidung mit mehreren Nischengeschäften.
Zu dem Shop-in-Shop-Konzept gehörten: eine Zweigstelle von Bentley’s; ein Londoner Händler von Vintage-Überseekoffern und Cocktail-Shakern aus den 1920ern; ein Salon namens Gentlemen’s Tonic, der sich auf klassische Nassrasuren spezialisiert hat; der Maßschuhhersteller Carréducker, hinter dem ein hippes Ehepaar steckt, das bei der Arbeit in einer Glaskabine beobachtet werden kann und von handgefertigten Leisten umgeben ist; eine Schuhputzstation, betrieben vom jungen Justin FitzPatrick, einem wahren Putzkünstler, den Experten als den Blogger The Shoe Snob kennen. Gieves & Hawkes wollten mehr als nur ein Geschäft sein. Sie wollten ein besonderes Erlebnis ermöglichen, das auf eine bestimmte Gruppe von Männern so verführerisch wirkte wie der neue amerikanische Nachbar Abercrombie & Fitch auf seine jüngere, weniger stilvolle, aber loyale Käuferschaft.
Ich verlasse Anderson & Sheppard, gehe bei Abercrombie & Fitch vorbei und bin wieder auf der Savile Row vor dem Viehwagen, wo ungefähr ein Dutzend Menschen mit Champagnerflöten steht. Ein junger Ordner in einer regenabweisenden Baumwolljacke und Wellington-Stiefeln verlagert sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Offensichtlich lässt seine Wachsamkeit nach. Hinter dem Lattenzaun kauen die Schafe mit gleichgültigen Mienen auf ihrem Heu herum.
Der Großteil der Straße liegt zwar im Schatten, doch die späte Nachmittagssonne lässt die weiße Fassade von Gieves & Hawkes hell strahlen und erleuchtet das kleinblättrige Efeu, das sich um die schwarze Eisenumzäunung rankt. Die Sonne scheint auf die dunkelblaue Markise mit dem schnörkellosen weißen Schriftzug, den Rundbogen vor dem Eingang mit der schweren schwarzen Holzflügeltür und auf die britische Flagge, die in der leichten Brise flattert. Ich gehe die Westseite der Straße hinunter, vorbei an Ben Sherman und Lanvin zu Ozwald Boateng, das große Geschäft an der Ecke Savile Row und Clifford Street, wo früher Anderson & Sheppard zu Hause waren. Ich spähe durch die Fenster in den gallerieartigen Laden. Über eine Wand erstreckt sich vom Boden bis zur Decke ein schwarzes Hochglanzregal. In jedem der einzeln beleuchteten Fächer liegen Männerhemden, flach zusammengelegt und nach der Intensität der Farben sortiert – von Selleriegrün bis Farngrün, Himmelblau bis Indigoblau und von Rosenrot bis Mohnrot. Im Schaufensterglas entdecke ich mein Spiegelbild. Mein Pulli, von dem ich glaubte, er habe einen modernen weiten Schnitt, ist in Wirklichkeit einfach nur riesig. Meine engen Hosen sind an den Knien ausgebeult.
Ich beschließe, noch eine kleine Runde in der Savile Row zu drehen, bevor die Schafe wieder auf ihre Wagen verladen und die alten viktorianischen Türen wieder verschlossen werden; bevor die Straße wieder das wird, was sie gestern war und morgen sein wird. Ich bleibe an einem kleinen Stand stehen, der extra für das Straßenfest errichtet wurde. Auf Tischen werden hier die einfachen Verarbeitungsschritte der Wolle repräsentiert: rohes Vlies, aufgewickeltes Zwirn und Stoffballen. Als ich wieder vor dem Geschäft von Huntsman stehe, schaue ich durch den schmiedeeisernen Zaun in die Kellerwerkstätten. Zwei ältere, kahlköpfige Schneider sitzen in der Nähe des großen Fensters, das viel Licht hereinlässt, obwohl es unter dem Straßenniveau liegt. Vor dem Schneider mit dem lavendelfarbenen Hemd liegt ein Kleidungsstück auf dem Schneidertisch. Der andere, bekleidet mit weißem Hemd und dunkler Weste, hat sein Werkstück auf dem Schoß liegen. Für einen Moment halten beide mit gesenkten Köpfen gleichzeitig ihre rechte Hand samt Nähnadel in die Höhe wie zwei Dirigenten, die gleich einem Orchester einen Einsatz geben.
Auf dem Gehweg kommt mir ein junger Mann mit kurz geschnittenem braunem Bart und Hornbrille entgegen. Ich bin mir fast sicher, dass er einen bespoke Anzug trägt. Es ist ein grau-schwarzes Stück im Prince of Wales Check, kombiniert mit einem braun-weißen Hemd und einer dunklen Seidenkrawatte. Dazu trägt er schwarze, glänzend geputzte Halbschuhe. Mir wird klar, dass ich diesen Mann mit seinem wunderschönen Anzug beneide – ihn und die anderen Männer mit ihren Anzügen.
Ich beneide sie um die Aufregung, die sie gefühlt haben müssen, als sie das Geschäft des ausgewählten Schneiders betraten und wussten, dass sie eine Bestellung aufgeben würden. Ich bin neidisch auf die Zeit, in der sie durch Bücher mit Stoffmustern blätterten und dabei die Vorzüge dieses rauen grauen oder jenes schweren blauen Tuchs abwogen. Ich beneide sie um den Nervenkitzel, den sie gefühlt haben müssen, als der Schneider hinter ihnen stehend das neue Jackett bereithielt, sie ihre Hände in die Ärmel gleiten ließen und dann fühlten, wie sich das Jackett sanft auf ihre Schultern legte und der Kragen passgenau um ihren Nacken. Außerdem bin ich neidisch auf jenen köstlichen Moment, als sie zum ersten Mal die Knöpfe schlossen, am Rockaufschlag zupften und feststellten: Ja, das sitzt perfekt.