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Kapitel 1 Sonnenspiele

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»Nicht vielseitig genug«, war mit Rotstift an den Rand gekritzelt. »Erweitern Sie Ihr Repertoire!«

Unter ihre Beurteilung hatte meine Professorin eine große »3« auf das Deckblatt der Mappe gemalt, als Note für das Semester. Schon als ich mich für den Studiengang entschieden hatte, wusste ich, dass Kunst nichts mit Noten zu tun hat, dennoch versetzte mir diese Bemerkung über mein »mangelndes Repertoire« einen Stich. Schnell zog ich den Reißverschluss meiner Ledermappe zu und schlug einen der vielen Campuswege ein, die zur Cafeteria der University of California führten.

Ich wollte mich mit meinen künftigen Mitbewohnerinnen treffen, die wie ich im Sommer an einem Lyrikkurs in Prag teilnahmen, zwei Fremde, mit denen ich bald auf engstem Raum zusammenleben würde. Zwar waren Lyrik und Schriftstellerei absolutes Neuland für mich, doch hatte ich mich in den charmanten Beinamen der Stadt verliebt. Schon die Architekturfotos, die ich in Zeitschriften über Prag gesehen hatte, verhießen eine in den USA ganz unbekannte Üppigkeit. Und noch mehr hatte mich der Slogan gefangen genommen, der auf der Kursbroschüre prangte: »Prag – die samtene Stadt«. Die Vorstellung einer aus Stoff gewebten Stadt faszinierte und verstörte mich zugleich, schien mir beinahe tabu zu sein – eine Stadt also, die ich auf meiner Haut spüren konnte.

Die Studenten waren in Dreiergruppen eingeteilt worden, und im Einführungsschreiben stand die Empfehlung, sich so früh wie möglich miteinander bekannt zu machen. Ich kannte weder Valerie noch Natasha, die beide Literaturwissenschaften studierten, obwohl ihr Fachbereich gleich im Gebäude nebenan untergebracht war. Wir hatten uns für diesen Nachmittag verabredet – vier Wochen vor unserer Abreise.

Die Sonne schien durch die dicken Kathedralenfenster der Old Main Hall, wurde durch die Ahornbäume und Palmen gefiltert und zeichnete ein Muster aus Licht auf meine Kleidung. Die Wärme drang an meine Haut, ich schwitzte. Und atmete tief ein, um die Anspannung aus meiner Brust zu vertreiben. Wenn mich etwas beunruhigte, hatte ich immer das Gefühl, mein Innerstes läge bloß, kam mir exponiert und verletzlich vor, wie eine Filmrolle, die versehentlich dem Licht ausgesetzt wird. Zwei fremde Frauen würden schon bald neben mir einschlafen, träumen und schreiben.

Ich setzte mir rasch die Sonnenbrille auf und sah beim Gehen auf den Boden.

Als Fotografin kannte ich mich mit Blenden aus, mit Filmempfindlichkeiten, Lichteffekten und Farbkontrasten. Ich hatte gelernt, wie man das Leben auf Fotopapier bannt, die Dunkelheit heller erscheinen lässt und Bilder retuschiert. Doch ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, jemandem in die Augen zu schauen und sich auszuliefern, sich dem Unbekannten hinzugeben. Wenn ich mir nur ordentlich die Haare kämmte oder das Gesicht noch sauberer schrubbte, so würde sich das am Ende auszahlen und mein Leben würde interessanter werden – das hatte ich zumindest bisher immer geglaubt. Meine Beziehung zu Grant, die nun schon sechs Monate dauerte, plätscherte so dahin, ohne Höhen und Tiefen. Gut, sie war beständig, aber das war auch schon alles. Irgendwo hatte ich gelesen, Wahnsinn definiere sich dadurch, dass man eine Sache ständig wiederholt und dennoch immer ein anderes Ergebnis erwartet. Dieser Sommer musste einfach anders werden – meinem Leben eine überraschende Wendung geben. Wenn ich doch nur wüsste, wie ich der Routine entkommen konnte. Alles loslassen, was ich kannte. Endlich ein Leben ohne Netz und doppelten Boden führen. Wer wäre ich dann? Würde es dieser Sommer mir verraten?

Über mir erstreckte sich ein Dach aus Palmen. Es hatte lange nicht mehr geregnet und das Gras knisterte unter meinen Füßen. Mit Riesenschritten näherte sich der Sommer und die Blumen waren alle schon verblüht. In Los Angeles vergingen die Jahreszeiten fast wie im Schnelldurchlauf, und selbst die fruchtbarsten Perioden währten nur kurz. Die Stadt folgte ihrer eigenen Uhr – ein Verwandter von Mutter Natur hatte das Ruder übernommen, wahrscheinlich ein Mann. Ich konnte die Luft schmecken: salzig und bitter zugleich, wie der Samen eines Mannes.

Dies war der Tod, der auf mich wartete, wenn ich nicht bald zu leben begann.

Als ich am Vortag Grants Appartement betrat, war mir vollauf bewusst, was für einen Glückstreffer ich mit ihm gelandet hatte. Trotzdem empfand ich eine seltsame Leere. Was bedeutete es schon, dass mich Grant zur Begrüßung mit Zärtlichkeiten überschüttete, mir ein Bad einließ und mich auf frische Laken bettete? Ob ich im Flur stand, mich in einer Wanne voller Wasser treiben ließ, das nach Jasmin duftete oder auf seinem Bett lag, ich kannte die Topographie unserer Leidenschaft schon, die Höhe ihrer Gipfel, und später zu Hause, noch leicht erhitzt und immer ein wenig benommen, die Einsamkeit ihrer Täler.

Eigentlich wollte ich nicht lange bleiben, änderte meine Meinung aber in dem Augenblick, als ich ihm gegenüberstand. Er befriedigte mich körperlich, und ich fühlte mich eher unbewusst zu ihm hingezogen, so wie manche Leute im Schlaf an den Kühlschrank gehen und sich am nächsten Morgen über die merkwürdigen Krümel in der Küche wundern.

Eine liebevolle Umarmung. Der Geruch nach frisch geduschter Haut. Das Haar glatt zurückgekämmt und noch feucht. Grants Begrüßung fiel so aus wie immer. In seinen Armen suchte ich nach Körpergeruch, als wollte ich dort auf einen anderen Mann stoßen: unter den Achseln, auf der Wölbung der Brust, hinter den Ohrläppchen. Ich hatte mich daran gewöhnt, auf nichts zu stoßen oder besser gesagt, auf nichts als Frische. Dass er nicht nach Tabak, Bier oder gar nach natürlichem Moschus roch, war mir eine Warnung: Niemals könnte ich mich in einen Mann verlieben, der keinen Eigengeruch besaß.

Ich hatte mich mittlerweile sogar an seine sterile Wohnung gewöhnt, in der es weder Poster von nackten Frauen gab, noch leere Flaschen, noch Musik- oder Filmsammlungen, so stolz zur Schau gestellt wie bei anderen Studenten. Dinge, die Aufschluss über ihre Träume gaben, aus denen zwar so gut wie nie etwas wurde, die ihnen aber immerhin einen gewissen Charakter verliehen. Ich hatte mich an das meiste in meinem Leben gewöhnt. Es kam mir abwegig vor, etwas vom Leben zu verlangen. Ich nahm einfach das, was ich bekam.

»Ich habe eine glatte Eins in diesem Semester«, sagte Grant. Er studierte mit großem Ehrgeiz Biologie und wollte später in die Forschung gehen.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Du bist wirklich fleißig. Deine Familie wird stolz auf dich sein.«

Grant legte den Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich heran, so dass mein Rucksack mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Seine Hand glitt über meinen Rücken, er küsste mich. »Manchmal frage ich mich, was wir zwei da eigentlich haben«, sagte er.

Es war das erste Mal, dass sich einer von uns an eine Definition unserer Beziehung wagte. Wir standen im Türrahmen. Ich trug Jeans und T-Shirt, er eine kurze Baumwollhose. Wir starrten beide auf den Boden und warteten auf meine Antwort.

Ich wusste aber keine.

Er hob mein Kinn und zog mein Gesicht nah zu sich heran. »Du brauchst nicht zu antworten«, sagte er mit einem Atem, der nach Minze duftete. »Ich habe nur laut gedacht.«

Er richtete seine vertrauensvollen blauen Augen wieder auf den Boden.

»Ich werde das vermissen«, sagte er.

Ich nahm an, er meinte unser Liebesleben. Sonst verbrachten wir kaum Zeit miteinander. Unsere gemeinsamen sechs Monate waren nichts Ernstes gewesen, wir sahen uns höchstens ein, zwei Abende in der Woche. Ich fragte mich, ob er je mit anderen Leuten ausging.

Er beugte sich vor und vergrub den Kopf auf Höhe des Bauches in meinem T-Shirt, seine Hände glitten unter den Stoff. Wie um ihn wegzustoßen, umfasste ich seinen Kopf. Dieses eine Mal wollte ich ihm widerstehen, doch mein Körper ließ mich im Stich, bog sich ihm schon entgegen. Unter seiner Zunge wurde mein Nabel angenehm warm. Meine Hände verkrallten sich in seinem dichten dunkelblonden Haarschopf, und ich atmete schneller. Er presste sich an mich, durch meine Jeans spürte ich seine Erektion. Ich wurde feucht vor Verlangen. Noch im Flur entledigte ich mich meiner Kleidung.

Er ließ mir ein heißes Bad ein und ich glitt routiniert und pflichtbewusst ins Wasser, um es schnell hinter mich zu bringen. Obwohl Grant das Bad als Geste der Gastfreundschaft präsentierte, erfasste ich instinktiv seinen eigentlichen Zweck: Es sollte mich vor dem Sex von Keimen befreien, mich ihm ebenbürtig machen.

Das heiße Wasser zwischen meinen Beinen brandmarkte mich, seine reinigende Wirkung nahm mir mehr, als sie mir gab. Träge trieb ich in der kleinen Porzellanwanne hin und her wie ein Stück Holz.

Ich malte mir einen schleimigen violett-grünen Teich aus, in den ich mein Geschlecht tauchen konnte.

»Komm, mach es jetzt gleich«, verlangte ich.

Meine Füße ruhten auf seinen muskulösen Waden, die den größten Teil meines Körpergewichts trugen.

»Warum die Eile?«

Einen Augenblick lang war ich verlegen. »Ich will dich einfach jetzt«, flüsterte ich.

Grant schloss die Augen, presste die Lippen auf meinen Mund und forderte mit der Zunge Einlass. Unsere Zungen trafen sich und verschmolzen in unseren Mündern ebenso vollkommen wie sich unsere Körper vereinten: als liebkosten wir das Spiegelbild unserer selbst. Ich ahnte Grants Atem voraus, die Neigung seines Kopfes, seine Zunge, die meine Lippen umspielte und sich sanft zurückzog, so dass ich mich in der Geborgenheit des Kusses entspannte, als schliefe ich und träumte einen zärtlichen, immer wiederkehrenden Traum.

Wir lagen auf seinem Bett. Er hatte eine weiße Kerze auf dem Nachttisch angezündet und das Licht gelöscht. Die Klimaanlage lief, es war kühl, und obwohl ich mich gerne zugedeckt hätte, tat ich es nicht. Grant sollte den Anblick unserer Körper im Kerzenlicht genießen können.

Meine Finger streichelten ihn durch den Stoff seiner Baumwollhose.

»Danielle«, sagte er und hob erneut mein Kinn, damit ich seinen Blick erwiderte. »Ich glaube fast, das könnte Liebe sein.«

Seine Unbestimmtheit beruhigte mich – und ich konnte ihm nur körperlich antworten. Ich öffnete seinen Gürtel und war erstaunt, wie hart er schon dadurch wurde, dass ich nur den Reißverschluss seiner Hose aufzog. Doch dies war keine Erwiderung seiner Liebe, keine Flucht zu ihm, sondern durch ihn hindurch.

»Du bist so leidenschaftlich«, sagte er. »Ich hätte nie gedacht, dass du so leidenschaftlich sein kannst.«

»Bei dir schon«, flüsterte ich und streifte seine Hose herunter.

Auf eine gewisse Weise bedauerte ich meine Leidenschaftlichkeit sogar. Warum konnte ich mich nicht damit zufrieden geben, netten, braven Sex zu haben, wie die meisten anderen auch? Nie konnte ich Ruhe finden, stille Momente mied ich, indem ich meinen Körper sprechen ließ.

Und dann tauchte sie auf. Mutter. Vor meinem inneren Auge. Sie beglückwünschte mich zu dieser Beziehung, die sie von Anfang an so gutgeheißen hatte. Schließlich besaß Grant die zeitlosen Qualitäten eines Kavaliers. Egal in welchem Jahrhundert, er wäre immer der Traum jeder Schwiegermutter gewesen. Manchmal gaukelte mir meine Erinnerung vor, Mutter habe mir Grant überhaupt erst vorgestellt und uns verkuppelt. Doch das stimmte nicht. In Wirklichkeit hatten wir uns online kennen gelernt. Unsere »zufällige« Begegnung war rein elektronisch gewesen. Wir waren ein Produkt der Technik, verkörperten eine kalkulierte Leidenschaft.

Ich bemühte mich, Mutter aus meinen Gedanken zu vertreiben und mich wieder ganz auf Grant zu konzentrieren. Die Härchen an seinen Schenkeln waren drahtig und dunkelblond wie sein Schamhaar. Sein Penis stemmte sich gegen den Stoff der karierten Boxershorts, als sehnte er sich nach Befreiung. Ich nahm ihn heraus und legte die Lippen um die zarte Haut. Ich leckte ihn, ließ meine Zunge auf und ab gleiten, anfangs sanft, dann fester, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und ihn einfach ganz in den Mund nahm. Sein Fleisch war straff und schmeckte nach gar nichts, es bebte unter jeder Liebkosung. Grant stöhnte: »Ja, Danielle. Das tut gut.«

Mein Puls beschleunigte sich und ich fühlte, wie sich kleine Schweißperlen auf meiner Haut bildeten.

Nun war er an der Reihe, mich zu verwöhnen. Seine Lippen liebkosten die Innenseiten meiner Schenkel, bis ich wieder feucht wurde. Ich öffnete mich unter seinem Mund, seine Zunge suchte sich entschlossen den Weg durch mein Schamhaar und drang in mich ein. Immer schneller stieß seine Zunge vor und zurück. Als er meine Beine weiter aufzwang und mit zwei Fingern in meine feuchte Höhle fuhr, bäumte ich mich ihm entgegen. Ich merkte, wie sich meine Gesäßbacken anspannten.

»Worauf wartest du?«, drängte ich.

»Noch nicht«, flüsterte er und leckte weiter, seinen Speichel mit meinem Saft vermischend.

Wir lagen in der 69er-Stellung, so dass wir uns gegenseitig streicheln und schmecken konnten. Ich kostete ihn aus, ließ die Spitze seines Geschlechts ganz in meine Mundhöhle gleiten, ein zarter Gipfel, den ich lecken und zu seiner vollen Größe anschwellen lassen konnte. Er spreizte die Beine ein wenig. Ich genoss es, ihn in der Hand zu haben, seinen Unterleib mit dem Atem abzugrasen, die prallen Hoden zu massieren, während ich an ihm saugte. Sein Körper zuckte über meinem Kopf vor Leidenschaft.

Seine Zunge erregte mich immer stärker. Ich konnte es kaum mehr erwarten, ihn in mir zu spüren. Wann würde er sich erbarmen? Endlich gab er seiner Begierde nach, und ich fühlte, wie mich eine lang ersehnte Ruhe überkam. Er packte mich an der Taille und drehte mich herum, presste seinen Körper auf meinen und drang in mich ein. Ich kreiste mit der Hüfte, bewegte meine Lenden vor und zurück, ließ ihn herein- und dann wieder hinausgleiten, ganz nach meinem Verlangen. Grant wartete kurz und fragte, ob es mir gefiel.

»Mehr als du dir vorstellen kannst«, flüsterte ich. »Hör nicht auf!«

Ich schlang meine Beine um ihn und bäumte mich ihm entgegen, bis er so tief in mir war, wie es nur ging. Mir kam der Gedanke, dass wir uns niemals näher kommen würden als jetzt. Diese körperliche Intimität war alles, was wir hatten.

Wir bewegten uns vor und zurück, bis ich zum Höhepunkt kam. Eine Welle diffuser Gefühle überflutete mich, während mein Kopf hin und her schlug und ich die schwach erleuchteten Umrisse des Schlafzimmers undeutlich wahrnahm. Ich kam mir seltsam beobachtet vor, als sehe uns jemand zu. Meine Schenkel nahmen Grant in die Zange, und er stieß immer wieder und wieder zu. Ich fuhr mir durch die blonden Haare, wusste nicht wohin mit meiner Lust und ließ mich schließlich erschöpft auf die Kissen fallen.

Er überraschte mich, indem er meine Beine griff und weit nach oben zog. Seine Bauchmuskeln spannten sich, als er immer fester zustieß. Es ging mir durch und durch, doch auch wenn ich seine Stöße kaum ertrug, ich beklagte mich nicht. Eher genoss ich das Gefühl, überwältigt zu werden. Ich legte die Hand auf seinen Rücken, kurz unterhalb des Nackens, und glitt mit den Fingern über den leichten Schweißfilm, der sich an der Wirbelsäule gebildet hatte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, er atmete stoßweise, Hals und Gesicht röteten sich vor Erregung. Gleich war er so weit.

Ich rutschte vom Bett, kniete mich hin und zog Grants Beine an den Rand der Matratze, damit ich ihn so befriedigen konnte, wie er es am liebsten mochte – mit dem Mund.

Es dauerte nicht lang, bis er kam. Schließlich stöhnte er ausgedehnt und genießerisch auf. Die Verletzlichkeit, die von ihm ausging, ließ mich erahnen, wie eine Frau während des Liebesakts klingen mochte.

Nach einer Weile schluckte ich, behielt aber seinen Ständer im Mund und spürte das Zittern und Pulsieren, bis er nass und müde auf meiner Zunge lag.

Wenn es vorbei war, war es vorbei. Willkommen zurück im Alltag. Erschöpft von unserer Vereinigung, rosig und für kurze Zeit befriedigt, boten wir ein gewöhnliches Bild. Bestand eine Beziehung etwa aus mehr?

Ein Schwall von Zärtlichkeiten, Küssen und Schweiß, der die Klippen unserer jungen, goldenen Körper hinablief – ein Standbild, ein lebloser Strom, der nirgendwo hinfloss. Wir waren zu einer Fassade aus Vitalität und Bewegung erstarrt.

Unsere Beziehung ähnelte einer Fototapete, war ein billiger Ersatz für etwas Wahrhaftiges, Lebendiges. Aber im Rahmen meines kleinen Lebens machte sie sich gut.

In gewisser Weise glichen wir uns sogar.

Die Cafeteria lag am Ende einer langen Treppe. Die Amerikaflagge vor dem Eingang hing trotz der leichten Brise schlaff herunter. Die Geräusche von raschelndem Papier, Rucksäcken, die auf- und abgesetzt wurden, und klingelnden Handys füllten das Gebäude. Helle Frauenstimmen hallten wie Gedanken im Flur wider, ab und zu durchbrochen von schrillem Gelächter und dem Quietschen von Gummisohlen.

Am Ende der Treppe blieb ich stehen. Unsere Familie hatte einen Hang zur Zerstreutheit, deshalb hatte ich mir auch angewöhnt, mich jederzeit zu vergewissern, ob heute nicht zufällig gestern oder morgen war. Die Chancen standen eins zu drei. Ein Tag verschwamm mit dem nächsten. Doch heute fühlte sich so an wie heute. Ich wusste, wer ich war und warum ich war. Ich konnte mich nur nicht mehr daran erinnern, woher verflixt noch mal ich diesen Mumm genommen hatte, mich für einen Auslandskurs einzuschreiben. Eigentlich konnte ich mich an fast gar nichts mehr erinnern, außer, dass ich gleich zwei Frauen traf, die mir unbekannt waren und mit denen ich den Sommer verbringen würde. Mit einer für mich ungewöhnlichen Zielstrebigkeit ging ich auf die Tische zu, Brust raus und Kinn hoch. Der Anflug eines Lächelns lag auf meinen Lippen.

Ich entdeckte Natasha sofort, sie saß allein am Tisch. Am Vortag hatte sie sich am Telefon mit »Nur Gutes, bitte!« gemeldet. Ihre Worte hingen noch in der Luft, Einladung und Schutzpanzer zugleich. Ich erkannte sie auch an dem smaragdfarbenen Schal, den sie mir beschrieben hatte. Ihr Gesicht wirkte offen, wie bei einer Schauspielerin, die noch geschminkt von der Bühne kommt, die Augen weit aufgerissen, als wolle sie unbedingt eine tragische Rolle spielen. Sie sah neugierig zu mir herüber und winkte, die Augenbrauen hochgezogen.

»Danielle?«, fragte sie, als ich ihr gegenüber auf den Stuhl glitt.

Ich nickte und stellte meine Mappe auf den Boden.

Unsere dritte Zimmergenossin war noch nicht aufgetaucht. Natasha musterte mich leicht erstaunt. Objektiv gesehen war die Beschreibung von mir (»groß, schlank, blond«) durchaus richtig, doch klang das wohl vielversprechender, als ich tatsächlich war. Es passierte mir oft, dass ich die Erwartungen nicht erfüllte.

Wollte ich denn meine Zeit wirklich mit jemandem verbringen, der von einem Ideal ausging?

Als sie so vor mir saß, eine junge Frau mit weinrotem Haar und erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen, konnte ich es mir durchaus vorstellen.

Ich musste Natasha einfach anstarren. Ihre Kleidung war eine schockierend schrille Kombination aus Protestbewegung und Renaissance. Hippierock und Bauernbluse. Rüschen. An jedem ihrer Finger prangte ein riesiger Ring mit astrologischen Symbolen und keltischen Kreuzen. Natashas lange rote Mähne war in zwei Zöpfe geteilt, in die violette Bänder geflochten waren. Als sie bemerkte, dass ich sie musterte, drehte sie sich so, dass ich ihr Profil betrachten konnte, instinktiv, wie ein Model. Sie wusste, dass ich fotografierte, und nahm vielleicht an, dass ich sie aus beiden Perspektiven sehen wollte.

Mit meinem praktischen Oxford-T-Shirt und der khakifarbenen knielangen Hose fühlte ich mich in einer Zeitschleife gefangen, wie ein Golf Caddie, der von einem raffaelischen Blumenkind interviewt wird.

Natasha warf einen Blick auf ihre Uhr, ein auffälliges Stück aus Markasit, dessen Armband mit winzigen Strasssteinen besetzt war. »Die kann mich mal!« Sie musste wohl Valerie meinen, unsere dritte Mitbewohnerin, die noch fehlte.

»Vielleicht ist sie im Verkehr stecken geblieben?« Ich trank einen großen Schluck Cappuccino und zog rasch die Lippen zurück, die Zunge war schon taub und verbrannt. Wie immer hatte der Barkeeper die Milch zu heiß geschäumt.

Natasha verdrehte die Augen und sah mich dann über den Tisch hinweg offen an. Ich fühlte mich wie der wichtigste Mensch auf Erden. »Hör mal. Ich weiß, dass wir uns gerade erst kennen gelernt haben, aber meiner Meinung nach ist es zu gefährlich, als Frau allein zu reisen.« Sie sprach übertrieben deutlich und langsam, als stünde sie in einer riesigen Grotte und warte auf ihr Echo. »Und wenn wir schon so verflucht viel Geld für den Flug ausgeben, was hältst du davon, wenn wir beide einfach schon früher hinfliegen, uns Eurorail-Tickets besorgen und so viel wie möglich anschauen?«

»Ja, also ... auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen.«

Sie sagte nichts, sondern nahm den Plastikdeckel ihres Bechers ab und schüttete zwei Beutelchen Zucker in ihren Eistee. »Sucre«, murmelte sie und sah auf.

»Ich hatte drei Jahre Französisch. Und du?«

»Deutsch.« Ich hatte kurzerhand beschlossen, meine spärlichen Französischkenntnisse gar nicht erst zu erwähnen, da ich fand, dass sie nicht zählten. Außerdem kam es mir so vor, als dränge sie mich zu einer Entscheidung, die ich noch gar nicht getroffen hatte.

Sie zog einen Schmollmund und sah dann unbeeindruckt zu Boden. »Pfftt!« Und warf die Zöpfe nach hinten. »Nach Deutschland wollte ich eigentlich nicht. Klar, was du machst, ist deine Sache. Ich fahre auf jeden Fall nur hin, wo es wunderschön und sehr romantisch ist. Meine Wahrsagerin meint, ich begegne diesen Sommer meinem Ritter in schimmernder Rüstung.«

Natasha grinste. Sie zog ihren Strohhalm aus dem Becher und drückte das Ende gegen die Zunge. Einsaugen, abklemmen, loslassen. Dann streckte sie ihre rosa Zunge heraus. Während ich ihr dabei zusah, wurde ich plötzlich rot und wandte den Blick ab.

»Haben Fotografen nicht immer ihre Kamera dabei?«, fragte sie und zog ein Büchlein mit einem chinesischen Blumenmuster auf dem Einband hervor. Sie ließ die Finger theatralisch über den zarten Stoff gleiten, als wäre sie von seinem Anblick vollkommen fasziniert. »Ich trage meine Werke immer bei mir. Zu meinen besten Gedichten haben mich ganz alltägliche Dinge inspiriert. Erwähnte ich schon, dass ich im Muse Magazine veröffentlicht wurde?«

Ich hatte noch nie vom Muse Magazine gehört, also schüttelte ich nur den Kopf. Gut, ich war ohnehin eher ein stiller Typ, aber bei Natasha spielte noch mehr mit. Ich hätte ihr meine Mappe zeigen können, doch in ihrer Gegenwart fühlte ich mich wie gelähmt – und dann fehlten mir die Worte. Es war, als sei sie der Quell aller Kraft und ließe mich in ihrem Bann wie versteinert zurück. Ich fragte mich sogar kurz, ob sie einer dieser Psycho-Vampire war, von denen ich gelesen hatte, die selbst keine Energie erzeugen können und daher andere anzapfen, um sich zu berauschen.

»Das Gedicht handelte von einer Ampel.« Sie lächelte philosophisch und legte den Kopf schief. »Es trägt den Titel ›Konfusion an einer Kreuzung‹.«

Treffender hätte ich meine Gedanken nicht beschreiben können. »Ich hatte eigentlich nicht vor, früher zu fahren«, murmelte ich und vermied erneut, ihr in die Augen zu schauen.

»Keine Lust auf Abenteuer? Mal was erleben?«

Einen Augenblick später bot sie mir an, mir ihr Eurorail-Buch zu leihen, das sie im Auto hatte, und lotste mich Richtung Tiefgarage.

Sobald wir aus der Cafeteria waren, zündete sich Natasha mit solch offensichtlichem Genuss eine Zigarette an, dass ich fast das Gefühl hatte, ihre Intimsphäre zu verletzen. »Was ist das denn?«, fragte sie und deutete auf meine Mappe.

»Nur ein paar Fotos.«

»Ui, kann ich sie sehen?«

»Na ja, sie sind nicht gerade neu und ...«

»Halt mal kurz«, sagte sie, ohne weiter auf meine Einwände einzugehen, und reichte mir ihre Zigarette. Sie schnappte sich die Mappe und öffnete den Reißverschluss.

»Wow!«, sagte sie und blätterte mit unerträglicher Langsamkeit von einem Bild zum nächsten. »Du bist wirklich gut. Mir kommt es fast so vor, als hätte ich ein paar davon schon mal gesehen. Wurdest du veröffentlicht?«

»Nein«, sagte ich verlegen. Diese Reaktion war mir nicht neu, ich hatte schon oft Kommentare über meinen »klassischen Blick« gehört. Ich deutete sie allerdings dahingehend, dass meine Fotos nicht besonders originell waren.

»Die meisten Studenten und Dozenten mögen meine Arbeit auf den ersten Blick«, erklärte ich. »Meiner Meinung nach ein todsicheres Zeichen für künstlerisches Versagen.«

»Sei doch froh. Besser als die Leute zu verschrecken«, sagte Natasha, stieg in ihr blaues Cabrio und gab mir die Mappe zurück. Meine Hände zitterten nervös. Ich reichte ihr die Zigarette, die ich eben so zögerlich entgegengenommen hatte und von der nun eine lange Spitze grauer Asche herabhing. Sie lächelte, klopfte leicht dagegen, so dass die Asche neben meinen Sandalen landete, und setzte die Zigarette an die Lippen.

»Wenn du aus Europa zurückkommst, wirst du es allen zeigen«, sagte sie. »Allerdings nur, wenn du dich auf den Zauber dieser fremden Welt auch wirklich einlässt.«

Tori Arnos’ schwere Klavierakkorde dröhnten aus den Lautsprechern, als Natasha davonfuhr, durch den offenen Spalt ihrer getönten Seitenfenster wehte Zigarettenrauch. Mein Blick fiel auf ihr Nummernschild: »Erlöse mich.«

Haut an Haut

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