Читать книгу Schweizerspiegel - Meinrad Inglin - Страница 6

Оглавление

I

1

«Das ist unser äußerstes Angebot, Herr Oberst. Wir halten es aufrecht bis Samstag mittag, nachher werden wir anderweitige Verfügungen treffen.» Der Präsident der Baugenossenschaft, ein wohlgenährter, sorgfältig gekleideter Mann, verharrte in der leicht vorgebeugten Haltung, in der er diese Worte gesprochen hatte, und blickte den Oberst verbindlich lächelnd an.

Oberst Alfred Ammann schloß seine Ledermappe, rückte mit dem Stuhl etwas vom Tische weg und lächelte ebenfalls. Er wußte so genau wie der Präsident, wie wenig diese Frist zu bedeuten hatte, aber während er sonst in Verhandlungen eine gewisse geschäftliche Taktik anerkannte und ernsthaft darauf einging, stellte er sie jetzt bloß, da ihm die Sache selber zu wichtig war. «Anderweitige Verfügungen …», antwortete er mit ironischer Nachsicht, «die stehen Ihnen heute schon frei … Es handelt sich für Sie nicht darum, ob Sie überhaupt bauen wollen, sondern ob Sie auf meinem Platze bauen können.»

Der Präsident zuckte freundlich die Achsel und lehnte sich zurück.

«Herr Nationalrat», begann der Dritte am Tisch, Anwalt der Genossenschaft, ein klug aussehender jüngerer Mann, der von Ammanns Offiziersrang weniger hielt als von seiner politischen Stellung, mit Unrecht übrigens, «so rasch werden Sie kein solches Angebot mehr erhalten … und später … kein Mensch kann sagen, ob sich die Stadt nicht nach einer andern Seite hin ausdehnen wird. Heute wissen Sie noch so genau wie wir, daß ein altes Haus an einem solchen Platze nicht zu retten ist. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, was dieser feudale Sitz Sie jährlich kostet, aber wenn man unser Angebot bedenkt, wird kein Mensch glauben, daß Sie sich auf die Dauer so etwas leisten wollen.»

Ammann beachtete weder die Worte des Anwalts, noch den Anwalt selber. Er saß, den gelben Bürolehnstuhl füllend, die Beine nach der Art beleibter Leute bequem auseinandergestellt, die Unterlippe nachdenklich vorgeschoben, in stummer Sammlung da; es schien, als ob er sich im nächsten Augenblick entschließen werde. Er stand aber gelassen auf, griff nach seiner Mappe und reckte sich. Er war ein starkgebauter Mann von mittlerer Größe und unauffälliger Korpulenz, mit glattrasiertem, vollem Gesicht, kurzgeschorenem, dichtem, dunkelgrauem Haar und kräftig glänzenden, klugen Augen. «Schön, meine Herren», sagte er und nahm damit Abschied, «ich werde Ihnen wieder berichten.»

Er trat auf eine belebte Straße hinaus und hatte kaum die Richtung nach Hause eingeschlagen, als er auch schon gegrüßt wurde. Ein untersetzter, ebenfalls sehr wohlgenährter Mann hielt, die Straße querend, mit dem Rufe «Herr Oberst!» fröhlich gelaunt den Hut in der erhobenen Rechten. Ammann kehrte bei seinem Anblick sogleich sein wahres Wesen heraus, ein heiteres, leutseliges Wesen, das bei aller Intelligenz und männlichen Bestimmtheit am liebsten mit der ganzen Welt im Frieden lebte. Er gab den Gruß ebenso fröhlich zurück, indem er seinen breitkrempigen runden Filz auf burschikose Art weit ausladend zur Seite schwang, dann setzte er seinen Weg aufrecht und strammen Schrittes fort.

In einer stillern Seitenstraße ließ er sich Zeit und bedachte flüchtig seine Lage. Er war entschlossen, den Grundbesitz nun endlich zu verkaufen, aber irgend etwas ging in der Rechnung nicht auf, ein alter, widerstrebender Rest, den keine zahlenmäßige Bestimmung erfaßte. Dieser dunkle Widerstand, den er blindlings unterdrückt hatte, weil er gegen jede vernünftige Einsicht gerichtet schien, ließ ihn auch jetzt wieder ahnen, daß er mit dem Familiensitz mehr verkaufen werde als einen guten Bauplatz.

Er bog in eine leicht ansteigende, breite, geräuschvolle Straße ein und schlug eine strammere Gangart an, bis er die mäßige Höhe erreicht hatte. Eine mannshohe grüne Taxushecke, durch ein Gitter gegen die Straße hin abgeschlossen und von alten Parkbäumen überragt, unterbrach hier auf einer Länge von achtzig Schritten überraschend die linke Front der Häuser. Durch die Lücken der Baumkronen gewahrte man im Hintergrund die kahle Häuserreihe einer andern Straße. Ein kunstvolles, schmiedeeisernes Gittertor trennte die Hecke in der Mitte und gewährte durch seine schwarzen Ranken und Stäbe einen bescheidenen Blick ins Innere des stillen Gutes. Vom Gitter führten Sandsteinfliesen über einen Rasenstreifen zur kleinen Säulenvorhalle des Hauses, eines Herrenhauses aus dem 18. Jahrhundert, dessen edle Verhältnisse im Licht des späten Nachmittags sich hinter dem erst leicht verfärbten Herbstlaub eben noch erkennen ließen. Das Gut war im Jahre 1765 auf dieser kleinen flachen Höhe angelegt worden, mit freiem Gelände ringsum und mit dem Blick über die Stadt hin, aber vom Ende des folgenden Jahrhunderts an waren geschmacklose Miets- und Geschäftshäuser immer näher herangerückt, und jetzt hatten sie es erreicht, sie standen da, rings um diesen letzten sichtbaren Zeugen einer vornehmen bürgerlichen Kultur herum, geschlossen, anmaßend und überheblich.

Ammann, sein Besitzer, warf einen flüchtigen Blick durch das Tor, das längst nicht mehr geöffnet wurde und dessen Wappen auch nicht sein Wappen war, einen betont gleichgültigen Blick, dann trat er durch eine schmale Seitenpforte und stieß hinter sich das Gittertürchen unbedachtsam hart ins Schloß.

2

«Paul hat geschrieben», sagte Frau Barbara, als Ammann schon die Tür zum Büro öffnete. «Er kommt in acht Tagen heim.»

«In acht Tagen?!»

«Ja … das schreibt er», antwortete sie achselzuckend.

Ammann blickte eine Weile mit gerunzelter Stirn auf seine Frau, die sich vor einem offenen Wandschrank etwas zu schaffen machte, als ob die ganze Geschichte sie nichts anginge, dann legte er drinnen seine Mappe ab und trat wieder unter die Tür. «Du hast ihm doch geschrieben, daß …»

«Jaja, er weiß es schon», unterbrach sie ihn.

«So … ja, wenn dieser junge Herr meint, er könne sich noch einmal drücken, mit seinem Auslandsurlaub …»

«Drücken …!» erwiderte sie und blickte ihren Mann mit einer entschiedenen Kopfbewegung an. «Vielleicht kann er halt nicht früher fort.»

«Ja wahrscheinlich! Wenn man über ein Jahr lang gebummelt hat, ist es besonders schwer, zur rechten Zeit einzurücken. Er hat schon seinen letzten Wiederholungskurs versäumt … jetzt hört das auf!» Er trat in sein Büro und wechselte mit knappen, entschlossenen Bewegungen den Rock.

Er hatte auf Grund fortschrittlicher Anschauungen und mit kluger Einsicht in die veränderte Seelenlage der heranwachsenden Jugend seine vier Kinder nicht allzu streng erzogen, ja er hatte ihnen mehr Freiheiten gewährt, als ihm oft selber angemessen schien. Severin, sein Ältester, war dabei ein selbständiger Mann und frühzeitiger Familienvater geworden, Gertrud hatte von ihrem Mädchenalter an zu Vorwürfen kaum mehr Anlaß gegeben, Fred, der Jüngste, der noch mitten im Studium steckte, war ein lieber Kerl und verdiente alles Vertrauen; mit Paul aber klappte nun etwas nicht. Dieser intelligente, nach dem allgemeinen Urteil ungewöhnlich begabte junge Mann hatte Philologie studiert und sich nach dem Examen für ein Jahr ins Ausland begeben, «zur weiteren Ausbildung», was niemand allzu wörtlich nahm. Dieses Jahr war abgelaufen, aber statt daß der Herr Sohn inzwischen eine Stelle angenommen oder wenigstens zur rechten Zeit die Rückreise angetreten hätte, trieb er sich noch jetzt beschäftigungslos in München herum. Eine Anstellung stand ihm nun zwar durch die Vermittlung seines Onkels Gaston in Aussicht, aber daß er sich von seiner militärischen Pflicht ohne Grund noch einmal zu drücken suchte, hieß denn doch die väterliche Nachsicht auf eine harte Probe stellen.

Ammann legte ein Blatt vor sich hin, zückte die Feder und bedachte sich mit gesammelter Miene einen Augenblick, dann schrieb er, ohne zu stocken, mit kurzen, kräftigen Zügen: «Der Wiederholungskurs Deines Regiments beginnt am 6. Oktober. Ich erwarte von Dir, daß Du zur rechten Zeit heimkehrst. Mit Gruß Dein Vater.» Er adressierte den Umschlag an Herrn Dr. Paul Ammann, schrieb dick darüber «Expreß» und übergab ihn unverschlossen seiner Frau.

Damit war dieser Zwischenfall für ihn erledigt, er brannte sich eine Zigarre an, entfaltete das ausführliche Schriftstück mit dem Angebot der Genossenschaft und lehnte sich zurück, um die Angelegenheit noch einmal zu bedenken. Sein Blick ruhte auf einem Ölbild, das ihn längst nicht mehr abzulenken vermochte, einer sehr farbigen Darstellung von Bourbakis frierenden Soldaten und ihrer Entwaffnung durch die Schweizer Armee im Winter 1871. Dieses Bild, ein nüchterner Aktenschrank, der überladene Schreibtisch und eine Menge anderer Dinge paßten nach dem Urteil aller Kunstverständigen nicht in diesen Raum mit seiner schönen Stuckdecke, der zarten Landschaft über der Tür und dem prachtvollen alten Ofen. Er gab es zu, aber er hatte noch nie darunter gelitten. Dagegen kam seine Frau in den übrigen Räumen dem Stil des Hauses mit gutem Geschmack entgegen, er zollte ihr dafür alle Anerkennung und bezeugte wenigstens auf diese Art seinen Kunstsinn, den er als Eigentümer eines solchen Hauses denn doch nicht verleugnen durfte. Dieses Zugeständnis an den Geist verflossener Jahrhunderte und jener dunkle Widerstand beim Gedanken an den Hausverkauf hingen mit seiner Pflicht zur Repräsentation zusammen, und das nicht sehr ursprüngliche Gefühl dieser Pflicht war der einzige konservative Rückstand in seinem Wesen. Er war ein Mann seiner Zeit, ein Mann des Fortschritts, der Entwicklung, ein Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle, und da ihm für das Haus jetzt ein wirklich anständiger Preis geboten wurde, konnte er wohl auch diesen Rückstand überwinden und mit seiner Familie vorläufig die in Aussicht genommene Mietswohnung beziehen.

Diese Frage beschäftigte ihn vor allem, nachdem er zur Überzeugung gekommen war, daß die gebotene Summe einen angemessenen Preis darstelle und der Verkauf nicht länger hinausgezögert werden dürfe; ein abermaliger Aufschub blieb ein Wagnis, das wußte er so genau wie der vorwitzige junge Anwalt. Ein geeignetes älteres oder neues Haus nun war in der Stadt gegenwärtig nicht zu finden gewesen, und selber ein Haus zu bauen, schien ihm übereilt, bevor sich gewisse Verhältnisse abgeklärt hatten. So bot sich als einfachste Lösung noch immer die Miete einer ihm und seiner Frau bekannten Wohnung, die nächstes Jahr, auf den 1. April 1914, frei wurde, einer sehr geräumigen Fünfzimmerwohnung im Stockmeierschen Haus an der Dufourstraße.

«Barbara!»

Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer herüber, beugte sich leicht über das Schriftstück, das er ihr schweigend hingeschoben hatte, und begann es zu lesen, während er sie mit gelassener Neugier betrachtete. An der Summe blieb sie einen Augenblick hängen, das Folgende überflog sie nur, dann ging sie zum aufgehängten Rock, der wohl gebürstet werden mußte.

«Jaa …» sagte er gedehnt, «das ist mehr als ich erwartet hatte, offen gestanden. Jetzt heißt es zugreifen.»

«Und dann?» Sie hatte knapp angehalten und stand nun da, den Kopf etwas emporgeworfen, den lebhaften Blick auf ihren Mann gerichtet, sehr von oben herab, wie es schien, mit einer zugleich betrübten und herausfordernden Miene. Dieses beinah schroffe Auftreten, die bündige Frage und der beleidigte Anflug ihrer Miene waren Ammann vertraut; weder er noch die Kinder hatten unter ihrer herben Entschiedenheit jemals ernstlich gelitten. Es war ihre Art, keine mürrische, schlimme oder hochmütige, sondern eine gerade, im Grunde heitere und lebhafte Art. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren besaß sie das Temperament eines lebenskräftigen jungen Mädchens, nur konnte sie sich bis zum Äußersten beherrschen, aber freilich auch sprudelnd herausfahren, wenn es nötig war. Jetzt stand sie da vor ihrem Mann, eine dunkelgekleidete, große, vornehme Gestalt mit grauem, ehemals fast schwarzem Haar, mit einem vollen, mütterlichen, um Mund und Augen stolz bestimmten Gesicht von gesunder Farbe, und mit dem Ausdruck leicht gekränkter Würde, der sich bei ihr in solchen Fällen unweigerlich einstellte.

«Ich wäre für die Wohnung bei Stockmeiers», antwortete er ruhig. «Vorläufig würde uns das doch genügen …»

«Ich habe dir schon gesagt, es ist ein Zimmer zu wenig», erwiderte sie bedauernd. «Ein Wohnzimmer, ein Salon, ein Büro für dich, ein Schlafzimmer, Freds Zimmer … und wo soll dann Paul schlafen?»

«Paul wird nicht mehr in der Stadt wohnen, wenn er am Graberschen Institut ist.»

«Er ist noch nicht dort.»

«Jaja … da brauchen wir uns keine Sorge zu machen … Gaston hat mir versprochen …»

«Und wenn wir Gäste bekommen? Ein Gastzimmer haben wir dann auch nicht.»

«Ja … wenn du in der Stadt jetzt eine geeignete Sechszimmerwohnung findest … schon recht, aber … ich sehe vorläufig keine andere Lösung.»

Sie schüttelte unwillig den Kopf. «Ich würde am liebsten mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben», rief sie und ging mit dem Rock so bestimmten Schrittes hinaus, als ob sie nicht mehr wiederzukehren gedächte.

Ammann blieb mit einem nachdenklichen Lächeln sitzen. Sie schien sich mit dem Gedanken an die Mietswohnung ja nun abzufinden, das war die Hauptsache. Zum Verkauf des Hauses hatte sie niemals weder ja noch nein gesagt, und er hatte es auch nicht verlangt. Er wußte, daß sie ähnlich dachte wie er, sie war immer eine sehr vernünftige Frau gewesen, doch er begriff, daß ihr die Trennung von diesem Hause viel schwerer fallen mußte als ihm, und daß sie sich damit so wenig offen einverstanden erklären konnte wie etwa mit dem Tode des Vaters.

Inzwischen bürstete Frau Barbara den Rock, brachte ihn aber nicht zurück, sondern setzte sich damit an eines der Fenster, das noch einen geschlossenen Blick ins Innere des Gartens gewährte, und suchte mit dem Umstand fertig zu werden, daß die seit Jahren schwankende Lage sich jetzt entschied. Sie hatte mit ihrem Sinn für klare Verhältnisse irgendeine Entscheidung schließlich als das Wünschenswerteste bezeichnet. «Wenn man nur endlich wüßte, woran man ist!» Das war nach Unterredungen oft genug ihr letzter Schluß gewesen. Jetzt aber war sie dermaßen betroffen, als ob sie im Gegenteil heimlich gewünscht hätte, daß die Lage sich solange wie möglich nicht entscheiden möchte. Der Verkauf brachte nun zwar einen Haufen Geld ein, das sie sehr zu schätzen wußte; sie hatte ihr Leben lang im Wohlstand gelebt und gewisse verächtliche Redensarten über den Wert des Geldes immer mit einem Achselzucken abgetan. Aber die Schönheit dieses Familiensitzes, die unaufdringlich gewachsen und gereift war, die Erinnerungen, die sich für sie wie für jedes ihrer Kinder daran knüpften, das Gefühl der Häuslichkeit, das die zerstreute Familie hier doch immer wieder umschloß, dieses geheimnisvolle alles umfassende «Daheim», in dem sie wurzelte, konnte dies mit Geld erkauft werden? Sie hatte gegen die Entwicklung der Stadt nichts einzuwenden, so wenig wie gegen den Fortschritt überhaupt, den gesteigerten Verkehr, das zwanzigste Jahrhundert, die Macht der Zeit; sie fand es töricht, sich dagegen zu sperren, und sie galt in ihren Kreisen denn auch als fortschrittliche Frau. Sie hatte ja diese ganze Entwicklung miterlebt, sie hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gelitten. Aber warum kam man nicht schließlich an ein Ziel? Und warum konnte man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, wenn man genug davon hatte? Warum drängten sich diese häßlichen Häuser ausgerechnet um ihr Heim zusammen, warum mußte diese Zeit eine ganze Familie vertreiben, über ein schönes altes Gut rücksichtslos hinwegstampfen und ein nüchternes Allerweltshaus an seine Stelle setzen?

Frau Barbara wurde jetzt, wie sie noch immer allein im schon fast dunklen Zimmer saß und nicht daran dachte, Licht zu machen, von ihrer berühmten Vernunft und Einsicht wohl ein wenig verlassen. Sie blickte mit einer ungewohnten, traurig bittern Miene verloren durch das Fenster in den Garten hinab, der in einem seltsamen Zwielicht lag. Von den beiden Straßen her drang das Licht der grellen Laternen dunkelgoldig durch das gilbende Buchenlaub und lag in gedämpften Flecken auf dem Rasen. Im Hintergrund schufen Gebüsche ein dichtes Dunkel, doch war davor in der Dämmerung noch der Brunnen zu erkennen, und der dünne Silberstrahl schimmerte ein wenig, den der bronzene Faunskopf, unberührt vom nahen Getöse, arglos mit geblähten Backen ins Muschelbecken spie.

3

Professor Gaston Junod trat ins Wohnzimmer, Ammanns Schwager, ein sorgfältig gekleideter, stiller Mann von dreiundfünfzig Jahren mit gepflegtem Spitzbart, zurückgekämmtem weißgrauem Haar und sackigen Fältchen unter den halb geschlossenen Augen. Leise und freundlich begrüßte er die Hausfrau, dann blickte er sich flüchtig um, als ob er etwas suchte, und lobte schließlich die Rosen, die auf dem Tisch über den Rand einer Kristallvase hingen.

Er stammte aus Lausanne, seine Muttersprache war französisch, aber er drückte sich geläufig schweizerdeutsch aus, mit etwas gebrochenem Akzent und leichten Abweichungen ins Schriftdeutsche. Vor sechsundzwanzig Jahren, als Privatdozent für romanische Philologie an der Universität in Zürich, hatte er Ammanns älteste Schwester geheiratet und seither die Stadt nur noch vorübergehend verlassen. Seine Vorlesungen galten im gebildeten Publikum, das einem geistreichen Vertreter der neuern französischen Literatur den Vorzug gab, für langweilig, doch die jungen Romanisten schätzten ihn aus irgendeinem Grunde. In der Ammannschen Familie verkehrte er nur gelegentlich, aber als leidlicher Cellist hatte er bis zur Abreise Pauls regelmäßig an einem Streichquartett in diesem Hause teilgenommen und seither auch mit Severin und Gertrud zusammen Trio gespielt.

«Schön, diese Rosen!» sagte er beiläufig und schon bereit, den Grund seines Besuches zu erklären.

«Ja, nicht wahr, prachtvoll!» antwortete Frau Barbara erfreut und drehte sorgfältig die Vase, so daß er sich noch zur Frage verpflichtet fühlte, ob es eigene seien. «Jaja freilich», bestätigte sie lebhaft, «das sind noch eigene. Wir werden nicht mehr lange eigene Rosen haben.»

«So? Ja … soll es denn nun wirklich zum Verkauf kommen?»

«Es scheint!»

«Ach, das ist schade! Ich habe immer noch gehofft, Alfred werde … ja, so ein Haus, auf Abbruch, das tut mir nun wirklich leid …»

Frau Barbara zuckte die Achsel, bat ihn, Platz zu nehmen, und ließ rasch eine Flickarbeit von einem Nebentischchen verschwinden, während er fortfuhr, sein Bedauern auszudrücken; doch plötzlich trat sie näher an ihn heran und sagte vertraulich gedämpft, aber mit tiefer Überzeugung: «Ja, nicht wahr, es ist jammerschade! Jammerschade!»

Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte sich wiederum flüchtig und scheinbar verlegen um, doch eh er ein Wort geäußert hatte, war Frau Barbara schon an der Tür und rief ihren Mann herbei.

«Ah, Gaston, willkommen, willkommen!» rief Ammann beim Eintritt laut und freudig. «So, sieht man dich auch wieder einmal? Das ist schön!»

«Du bleibst doch zum Nachtessen!?» sagte Frau Barbara. «Wir sind allein …»

Professor Junod lehnte mit erhobenen Händen ängstlich ab, dann kam er sogleich auf den Anlaß seines Besuches zu sprechen. «Ich wollte dir nur mitteilen», begann er, zu seinem Schwager gewandt, «daß Paul sich nicht angemeldet hat. Wir hatten gestern Aufsichtsrat und …»

«So, jetzt nehmt erst einmal Platz!» unterbrach ihn Frau Barbara. «Trinkst du ein Glas Wein? Oder ein Schnäpschen?»

Professor Junod lehnte wiederum leise, aber entschieden ab und fuhr mit seinem Berichte sogleich fort. Er gehörte dem Aufsichtsrat des Graberschen Instituts an, einer sogenannten Schnellbleiche für künftige Maturanden, wo eine Lehrstelle für Deutsch ausgeschrieben war.

«Nicht angemeldet?» fragte Ammann finster.

«Ja, es sind eine ganze Anzahl Bewerbungen eingelaufen, ich habe sie durchgesehen, aber von Paul war nichts da. Nun, nicht wahr, was wollte ich machen … der Termin ist abgelaufen, die Besetzung ist dringend … ich habe nicht allein zu entscheiden, und ich konnte doch nicht …» Er lächelte fast schüchtern und schüttelte den Kopf.

«Selbstverständlich!» sagte Ammann entschieden. «So … hm … was fällt diesem Herrn eigentlich ein?» Er blickte zornig fragend auf seine Frau, die aber in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer verschwand.

«Es wäre für Paul ja ein ganz netter Anfang gewesen», fuhr Professor Junod fort, «aber ich weiß nicht, vielleicht hat er etwas anderes im Sinn … diese jungen Leute, mon dieu …»

«Wann ist der Termin abgelaufen?»

«Vorgestern … es stehen jetzt drei Bewerber in der engern Wahl … in der nächsten Sitzung müssen wir beschließen.»

«Und wenn Paul sich nun morgen abend noch anmelden würde … aber es ist ja nun zu spät, natürlich …»

«Oh, man könnte sehen … ich weiß nicht … ich müßte mit den Herren reden …»

«Paul kommt spätestens morgen abend heim», erklärte nun Ammann bestimmt, «er muß übermorgen in den Wiederholungskurs einrücken. Ich werde dafür sorgen, daß er sich sofort anmeldet.»

«Gut, ja, ich glaube … das wird schon gehen!»

«Schön! Nun höre, Gaston, du bleibst zum Nachtessen da, wir machen eine gute Flasche auf, ich werde gleich …» Er hatte sich, den einsetzenden Protest abwehrend, langsam erhoben, aber zugleich mit ihm erhob sich auch sein Schwager und ergriff seinen Arm, mit der Beteuerung, daß dies ganz ausgeschlossen sei, er bedauere außerordentlich, aber es gehe wirklich nicht.

Ammann ergab sich und bat ihn, wieder Platz zu nehmen, aber Junod nahm nun unerbittlich Abschied. Frau Barbara, von ihrem Mann herbeigerufen, wickelte rasch die Rosen aus der Kristallvase in ein Seidenpapier und drückte sie dem Professor, der sie kaum anzunehmen wagte, mit einem Gruß an seine Frau und der dringenden Einladung zu einem baldigen Besuch energisch in die Hand.

Unter der Haustür wandte sich Professor Junod noch einmal um und nickte mehrmals, dann ging er, den Rosenstrauß in der Rechten, mit einem Ausdruck des Bedauerns langsam und nachdenklich die Straße hinab.

4

Fred, der auch in den Wiederholungskurs einrücken mußte, kam am Abend vorher aus den Ferien zurück, die er bei Onkel Robert auf dem Lande verbracht hatte. Er ließ sich von Mama küssen, beantwortete Fragen und richtete Grüße aus, dann stieg er mit dem Koffer in sein Zimmer hinauf.

«Ich hab’ dir alles gerüstet», rief ihm die Mutter nach. «Der Tornister steht unter dem Stuhl, und Wäsche liegt auf dem Bett. Sieh nach, ob nichts fehlt! Und wenn du baden willst, sag’s!»

Er trat in sein Zimmer, das er fünf Wochen lang nicht mehr gesehen hatte, und blieb einen Augenblick stehen, ein großer Bursche mit einem sehr jugendlichen, fast knabenhaften Gesichte, das zu seiner ausgewachsenen Gestalt in einem eher liebenswürdigen als störenden Gegensatze stand, und mit kurzem, schlicht zur Seite gekämmtem braunem Haar. Das Zimmer sah ungewohnt ordentlich aus und duftete nach dem Kampfer, mit dem die sorgliche Mutter das Militärkleid vor Motten geschützt hatte. Der Waffenrock mit den weißen Korporalstreifen auf den Ärmeln hing an einer Stuhllehne neben dem Bett, auf dem Sitz lagen die gebügelten Hosen, und darauf ruhte genau in der Mitte, mit der Bataillonsnummer gegen den Beschauer, das Käppi.

Fred schlitterte den schweren Koffer in die Mitte des Zimmers, setzte sich das Käppi auf, das bei jeder Kopfbewegung noch immer wackelte, und warf es mit einem sauern Lächeln auf die Bettdecke, dann zog er den Tornister am Tragriemen unter dem Stuhl hervor, ließ ihn pendeln und warf ihn ebenfalls weg. Die Mißachtung dieser Dinge wog aber nicht sehr schwer, er war jedenfalls Korporal geworden und hatte gegen seine Einberufung zur Offiziersschule im nächsten Sommer nicht eben viel einzuwenden. Der Militärdienst stand jedem gesunden jungen Schweizer so unweigerlich bevor wie die Steuerpflicht, und was weiter geschah, war Papas Ratschluß; er fühlte sich zwar, nachdem seine erste Neugier in der Rekrutenschule verflogen war, nicht dazu geboren, aber er hegte auch keine entschiedene Abneigung dagegen, und da von seiner Zustimmung außerdem wenig abhing, mochte denn alles so weiterdauern.

Gemächlich begann er den Koffer auszupacken und stieß unter der ersten Wäscheschicht auf ein Buch, das er sogleich in die entfernteste Ecke schmiß. Diese Mißachtung wog schwerer. Es war Osers Taschenausgabe des Schweizerischen Obligationenrechts, die er aus Pflichtbewußtsein in die Ferien mitgenommen, aber nie geöffnet hatte. Während er Kleider und Wäsche gedankenlos auf zwei Stühle türmte, beschlich ihn ein dunkles Unbehagen, das mit dem Beschluß und der Notwendigkeit zusammenhing, seinen Eltern heut abend etwas sehr Unangenehmes zu gestehen.

Fred hatte sich nach einem ordentlichen Reifezeugnis zum Studium der Rechte entschlossen, nicht weil er sich dazu gedrängt fühlte, sondern weil man sich vor den Toren der Hochschule notwendigerweise für etwas entscheiden muß. Jetzt war ihm die Juristerei verleidet, er brachte für dieses ausgeklügelte Netz von Gesetzen und Rechten keine Anteilnahme mehr auf, und gegen die Politik hegte er eine heimliche, aber entschiedene Abneigung. Außerdem besaß er jenes flüssige Mundwerk nicht, das vielen seiner Studiengenossen eine erfolgreiche Laufbahn schon jetzt verbürgte, und so schien es ihm nach seinen zwei Semestern denn höchste Zeit, dies fruchtlose Bemühen aufzustecken. Er hatte den heutigen Abend bestimmt, um es Papa mitzuteilen. Morgen früh um neun Uhr würde er sich dann bereits bei seiner Einheit befinden, weit ab vom Sturm des Unwillens, den sein Geständnis im väterlichen Herzen verursachen mochte, und vorläufig sicher vor all den überflüssigen Fragen und Erklärungen, die einem derartigen Ereignis im weitern Familienkreise zu folgen pflegten. Er haßte es, wenn man die Wichtigkeit eines Vorfalles übertrieb, und es brauchte sehr wenig, um in ihm das Gefühl zu erwecken, daß wegen eines Fliegendrecks wieder einmal mit allen Glocken geläutet werde.

Im Koffer blieb eine Blechbüchse zurück, die er nun auch herausnahm und mit einem leisen, zwiespältigen Lächeln öffnete. Sie enthielt einen gebleichten Katzenschädel, den er auf einem Streifzug durch den Wald mit seinem Vetter Christian vor einem Fuchsbau gefunden hatte. Er trat damit vor einen mannshohen doppelten Kasten, dessen obere Hälfte hinter einem Glasfenster all jene merkwürdigen Dinge enthielt, die ein junger Gymnasiast und Liebhaber der Naturkunde zu finden und aufzubewahren pflegt. Hier waren Vogelnester, Mineralien, Versteinerungen, Skelette, Muscheln zur Schau gestellt, und zwei von Mutters kleinen Konfitürengläsern bargen in Spiritus eine Ringelnatter und einen Feuersalamander; in den Schubladen der untern Hälfte ruhten Käfer, Raupen, Schmetterlinge und gepreßte Pflanzen. Er legte das kleine Knochengebilde, dem der Unterkiefer fehlte, neben zwei andere Schädel und blieb mit einem schwankenden Gefühl vor dem offenen Kasten stehen. Er kam sich kindisch vor, und zugleich berührte ihn ein Hauch jener Liebe, mit der er damals diese Dinge zusammengetragen hatte. Seither war die Sammlung unberührt und bis zu dieser Stunde unbereichert geblieben, denn es war wirklich eine belanglose Sammlung, und nie hatte er ihr die Bedeutung beigemessen, die sie jetzt für ihn anzunehmen schien. Er konnte ja nicht einfach die Juristerei aufstecken, er mußte umsatteln, und er wußte durchaus nicht, welches Pferd er reiten sollte außer dem, das einst in anderer Gestalt sein Steckenpferd gewesen war.

Jetzt stand er aber da und erwog mit wachsenden Bedenken den Unterschied zwischen einer knabenhaften Liebhaberei und der Naturwissenschaft. Vielleicht würde er das Studium niemals bewältigen, das die ernsthafte Beschäftigung mit Mineralien, Schmetterlingen oder Pflanzen voraussetzte, und es war ihm fast unmöglich, sich auch nur als Lehrer der Naturkunde an der Mittelschule vorzustellen, geschweige denn als Dozent auf dem Hochschulkatheder. Was aber blieb ihm dann übrig?

Er trat an ein Fenster und blickte entmutigt über den Garten weg auf die von heimkehrenden Arbeitern, Ladentöchtern und Büroleuten geschäftig belebte Straße hinaus. Warum mußte man einen Beruf wählen, wenn man keine Lust dazu hatte? Warum konnte man nicht alles etwas leichter nehmen, bummeln, wenn man bummeln wollte, und auf die Examen pfeifen? Am Ende war es doch gleichgültig, was man vorstellte, und verhungern würde man kaum.

Er spann diese Möglichkeit weiter aus, aber schon nicht mehr ernsthaft; im Grunde war er weit entfernt davon, er besaß alle Vorbedingungen zu einem anständigen Leben und hatte keine Ursache, seinen Eltern Enttäuschungen zu bereiten, auch wenn er augenblicklich ein wenig in der Luft hing. Er wollte es in Teufels Namen mit der Naturwissenschaft versuchen, da es ohne Berufsstudium nun einmal nicht ging, und er blieb dabei, seinen Entschluß den Eltern beim Abendessen mitzuteilen.

Er bestellte sein Bad, zog sich aus und lief im Schlafanzug barfuß über die kühlen Steinfliesen ins dampfende Badezimmer.

Nach einer Weile kam langsam, mit einem gekränkten Ausdruck, Frau Barbara die Treppe herauf. Paul war nicht zurückgekehrt, er hätte längst hier sein müssen, und Papa war darüber so aufgebracht, wie sie ihn selten gesehen hatte. Ihr war unbehaglich zumute.

Als sie am Badezimmer vorbeikam, hörte sie Fred plätschern und blieb auflächelnd einen Augenblick stehen. «In einer Viertelstunde können wir essen, Fred!» rief sie und ging weiter in Freds Zimmer, wo sie mit einem liebevoll verurteilenden Kopfschütteln die Unordnung wahrnahm und sogleich aufzuräumen begann.

Sie war noch da, als Fred aus dem Bade kam. «Ordnung hast du im Rusgrund nicht gelernt!» sagte sie entschieden. «Hast du Papa schon gesehen? Ja, brauchst dich dann nicht zu wundern … er ist wütend.»

«Warum? Was ist los?»

«Paul hätte doch morgen auch einrücken müssen … jetzt ist er nicht heimgekommen. Und Papa hat ihm doch für eine Stelle sorgen wollen … da hat er sich nicht angemeldet. Ich finde, das ist wirklich nicht recht von Paul. Ich weiß nicht, was er im Kopf hat.»

Fred hatte sich mit einem Nagelscherchen auf den Bettrand gesetzt und hörte aufmerksam zu. Er wußte nichts von alledem, und Pauls Versäumnis machte ihm auch keinen besonderen Eindruck, aber er empfand sogleich eine Erleichterung seiner eigenen Lage. Wenn sich Papa in schlechter Laune befand, war es ausgeschlossen, ihm eben jetzt ein Geständnis zu machen. Er brauchte vorläufig nichts zu sagen. «Ach, vom Dienste drückt sich jeder, wenn er kann», antwortete er leichthin. «Und er hat ja seinen Doktor!»

«Jajaja, mit dem Doktor allein ist es nicht gemacht! Daraufhin gibt ihm niemand auch nur einen Rappen. Es laufen genug Doktoren herum … Aber zieh dich jetzt an, sonst kommst du noch zu spät zum Essen.»

«Ja … so geh du jetzt!» befahl er scherzhaft und drehte sie an den Schultern der Tür zu. «Hinaus!»

«Jaja, wird sich wohl machen!» rief sie heiter, entwand sich ihm und versorgte noch ein Wäschestück.

Er begann mit ihr zu raufen wie ein kleiner Junge und drängte sie allmählich zur Tür. Sie wehrte sich belustigt, kreischte unter seinen Griffen ein wenig auf und teilte ihm Püffe aus, dann schlüpfte sie hinaus und eilte mit einem glücklichen Lachen rasch und leicht die Treppe hinab.

5

Ammann begab sich in die Dufourstraße zu Stockmeier, kurz nachdem ein Regiment seiner Brigade den Wiederholungskurs ohne den Füsilier Paul Ammann angetreten hatte, und die Stelle am Graberschen Institut nach einem freundlich gewährten Aufschub besetzt worden war. Er ging im Zivilleben grundsätzlich zu Fuß, um sich Bewegung zu schaffen, und trat nach einem halbstündigen Gang neben Stockmeiers Lebensmittelgeschäft durch die Haustür, entschlossen, auf Paul keine Rücksicht mehr zu nehmen und die Wohnung im zweiten Stock endgültig zu mieten.

Er wurde von Leo empfangen, dem einzigen Sohn Stockmeiers, einem außerordentlich freundlichen, sorgfältig gekleideten, schon ziemlich fetten Burschen mit vollen Wangen und zurückgekämmtem öligem Haar. «Ich will gleich den Vater rufen, einen Augenblick bitte, Herr Oberst!» sagte Leo lächelnd und verließ die Wohnstube geräuschlos. Nach zwei Minuten schon kehrte er mit dem Bescheid zurück, der Vater werde sogleich kommen. «Darf ich Ihnen etwas anbieten, Herr Oberst?» fragte er eindringlich und erkundigte sich dann, als Ammann dankend ablehnte, nach Fred. «Ich muß in zehn Tagen auch einrücken, mit dem andern Regiment», erklärte er, immerfort lächelnd. «Wir haben zusammen die Rekrutenschule gemacht und ich hätte mit ihm auch in die Unteroffiziersschule einrücken sollen, aber dann war ich leider geschäftlich verhindert. So sind wir dann auseinandergekommen. Ich hoffe aber, daß ich die Schule im Frühling machen und dann im Sommer in die Aspirantenschule einrücken kann.»

«Soo, das ist recht, das kann Ihnen nichts schaden!» antwortete Ammann wohlwollend und etwas scherzhaft. Er hielt diesen Leo nicht gerade für einen auserwählten Soldaten und zweifelte einigermaßen an seiner Eignung zum Offizier, doch er besaß in diesen Dingen eine weitherzigere Auffassung als gewisse Herren von der Instruktion. Der junge Mann da mochte es immerhin versuchen.

«Ja, ich habe Freude am Militär», sagte Leo und fuhr dann fort, in einer so liebenswürdig aufdringlichen Art seine Dienstwilligkeit zu bezeugen, daß sein hoher Vorgesetzter ihn schließlich nach andern Dingen fragte.

Indessen erschien sein Vater, und sogleich zog sich Leo mit einem gewinnenden Lächeln und einer leichten Verbeugung diskret zurück.

Stockmeier, ein untersetzter, fester, kurzhalsiger, sehr beweglicher Fünfziger mit einer hübschen Glatze, aber im Nacken mit Haaren bis über den Kragenrand hinaus, erschien ebenfalls lächelnd; sein rundes Gesicht mit der knolligen Nase und den leicht zugekniffenen Augen besaß einen gewitzten, beinahe schlauen Ausdruck, der sich auch diesem Lächeln mitteilte, ohne es in seiner arglosen Freundlichkeit zu entstellen. Wie er in seinen Hausschuhen rasch und federnd auf Ammann zuging, mit einem erfreuten «Soo, grüezi, Herr Oberscht», rieb er noch verbindlich die Hände, nickte grüßend und streckte ihm die rundliche Rechte hin.

Als er den Zweck von Ammanns Besuch ohne Umschweife erfuhr, nahm sein Lächeln ein wenig ab, ohne ganz zu verschwinden, er hob die Brauen und setzte sich mit einem Ausdruck zuvorkommender Bereitschaft dem Besucher gegenüber.

Ammann selber zeigte eine leutselig heitere Miene, bewahrte aber jene Zurückhaltung, die er im Verkehr mit einfachen Leuten seinem öffentlichen Ansehen und seiner Stellung schuldig war. Stockmeier spürte diese Zurückhaltung genau, fand sie aber angemessen und benahm sich am Ende der friedlichen Verhandlung beinahe untertänig.

Sie wurden einig, der hohe Besucher mietete die Wohnung und nahm leutselig Abschied, Stockmeier öffnete ihm die Türe, half ihm draußen in den Überzieher und begleitete ihn bald zur Rechten, bald zur Linken, wie es sich eben ergab, eifrig und dienstbeflissen auf die Straße hinaus.

Ammann fühlte sich durch dieses Verhalten des Mannes geschmeichelt, doch nur an der Oberfläche. Er kannte diese Art von Bürgern; solange man ihr Vertrauen besaß, von ihnen gewählt wurde und ihre Interessen vertrat, war man ihr großer Mann, aber sobald man ihnen in die Quere kam, sank man unweigerlich in ihrer Achtung und konnte bei allen Verdiensten öffentlich aufgefordert werden, ihnen, schonend umschrieben, den Hobel auszublasen. Dies alles bildete für einen Volksvertreter noch keinen Grund zur Verachtung, man war daran gewöhnt.

Er überschritt die Seefeldstraße, bog in einen vom Verkehr unberührten Weg ein und stieg gemächlich den erst teilweise überbauten Riesbacher Hang hinan, um da oben ein zweites, nicht so wichtiges und dennoch viel schwierigeres Geschäft zu erledigen. Das Haus, dem er zustrebte, war schon von weitem zu sehen, ein nicht sehr geschmackvoller, aber solider und eigenwilliger Bau mit einer Gartenterrasse am Abhang, das Haus seines Schwagers und Divisionskommandanten Boßhart. In diesem Hause hatte er als junger Leutnant seine Frau kennengelernt, die Verbindung mit diesem Hause war für die Anfänge seiner Laufbahn entscheidend gewesen und hatte schließlich auch das Schicksal Gertruds bestimmt, seiner Tochter, die ihrem Gatten Albrecht Hartmann, einem Instruktionsoffizier, hier zum erstenmal begegnet war. Dennoch betrat er dieses Haus nur noch aus triftigen Gründen; er ging lieber nicht zu Boßhart, wenn er es vermeiden konnte. Diesmal handelte es sich um seinen Schwiegersohn Hartmann, der auf Neujahr 1914 das Kommando des Regiments erhalten sollte, das eben jetzt im Wiederholungskurs stand. Er war nicht damit einverstanden, es gab noch andere Lösungen.

Vor dem Hause hielt irgendein Dienstwagen, die Ordonnanz ging rauchend auf und ab, und im Hausgang hingen über den Säbeln zwei Majorsmützen von Artilleristen. Er ließ sich durch das Mädchen sogleich anmelden, betrat den Salon und war darauf gefaßt, eine halbe Stunde lang warten zu müssen. Aber kaum hatte er sich mit einer militärischen Zeitschrift an ein Fenster gesetzt, als der Divisionär durch eine Nebentür eintrat.

Boßhart war größer als Ammann, aber ebenso beleibt, doch stand dieser sozusagen zivile Umfang in keinem schlechten Verhältnis zur ganzen Gestalt, die in ihrer Breite und Mächtigkeit fast bedrückend wirkte. Eine solche Gestalt ist bei einem gutmütigen, freundlichen oder auch nur lässigen Mann erträglich, aber Boßhart erweckte den gegenteiligen Eindruck, er sah hart, unfreundlich und völlig beherrscht aus. Sein Kinn verschwand in einem kurz zugestutzten, grauen Bart, der sich auf den Wangen so undeutlich verlor, daß man nie genau wußte, ob der Mann rasiert war oder nicht. Eine auffallend schmale, hämisch wirkende Nase mit weiten dünnen Nüstern und zwei durchdringend klare, sachlich blickende Augen nahmen seinem Äußern schließlich jede Spur von Humor und Leutseligkeit. Es gab unter den rund zwanzigtausend Männern der Division vermutlich kaum einen, der ihn liebte, er wurde höchstens gefürchtet; dennoch besaß er das Zutrauen der ganzen Division in einem Maße wie keiner seiner Vorgänger.

Dieser Mann, seiner Stellung nach übrigens in jedem andern Lande vom Rang eines aktiven Generals, trat hier nun einem seiner Brigadekommandanten entgegen, der zudem sein Schwager war, aber nicht das geringste Zeichen von Wohlwollen erhellte seine Miene. Er gab Ammanns Gruß zurück und fragte knapp nach seinem Begehren.

«Ich möchte etwas mit dir besprechen, aber nachher», antwortete Ammann mit einer abwinkenden Handbewegung. «Du hast Artilleristen in Arbeit, wie ich gesehen habe, ich kann warten.»

«Das geht zu lange!» erwiderte Boßhart. «Es handelt sich um die kombinierte Brigadeübung im Unterland. Sie wissen nie, was sie hinter der Infanterie mit ihren Kanonen anstellen wollen. Von einem Zusammenspiel ist noch keine Rede … Also was ist los?» Seine Stimme klang einförmig, hart, klar, und wie immer beim Sprechen flog ihm ungewollt ein bissiger Zug um den Mund.

«Jaa … es ist wegen des Kommandowechsels», begann Ammann nach kurzem Zögern in einem mißlaunigen Ton. «Ich kann nicht für Hartmann eintreten … Es wird noch ein anderes Regimentskommando frei, und außerdem werden zwei Bataillonskommandanten befördert, von denen mir der eine, Meister, genau bekannt ist … ich hatte ihn damals schon als Kompagniekommandanten in meinem Bataillon und möchte ihn jetzt für das Regiment haben.»

«Was hast du gegen Hartmann?»

«Nichts Besonderes, aber er ist nicht mein Mann, obwohl er mein Schwiegersohn ist. Außerdem ist er unbeliebt.»

«Bei den Liberalen?»

Ammann schob mit gelassen verurteilender Miene die Unterlippe vor, ohne zu antworten; er kannte Boßharts Sticheleien gegen das Parteiwesen und gewisse andere Erscheinungen des politischen Lebens zu gut, um darauf einzugehen.

«Hartmann kann nicht ewig auf ein Kommando warten», erklärte Boßhart, ohne sich zu regen, «und Meister kommt vorläufig zum Divisionsstab. Den andern Herrn haben wir untertänigst der betreffenden hohen Kantonsregierung zur Verfügung zu stellen. Befehl von Bern. Nächstens werden die Regierungsräte ihre Truppen selber führen. Sonst noch etwas?»

«Nein!» antwortete Ammann mit militärischer Schärfe, obwohl er über den laufenden Wiederholungskurs und den gleich darauf beginnenden seines andern Regiments noch einiges zu fragen und zu melden hatte. Er nahm Abschied, knapp und kühl wie ein ungerecht behandelter junger Hauptmann.

«Immer derselbe!» dachte er, während er mit erzwungenem Gleichmut das Haus verließ. «Er bringt es nicht fertig, mit seinesgleichen auf eine menschenwürdige Art zu verkehren. Ein unausstehlicher Kerl, und wenn er noch einmal so tüchtig und noch einmal so gerecht wäre!»

Er schlug sich die Angelegenheit samt dem Divisionär aus dem Kopf und dachte auf dem Heimweg an andere unerledigte Dinge, so wie sie ihm eben einfielen, und es war ein ganzer Schwarm. Obwohl er seine Anwaltspraxis aufgegeben hatte, führte er ein sehr tätiges Leben. Parlamentstagungen in Bern, Fraktions- und Kommissionsberatungen, parteipolitische Aktionen, Verwaltungsratssitzungen, Brigadesorgen und taktische Kurse nahmen ihn fortwährend in Anspruch.

Indes er nun an einen seiner Fraktionskollegen dachte, trat ihm aber plötzlich die brutale Gestalt des Divisionärs wieder vor Augen. Jener Kollege hatte eines fröhlichen Abends scherzhafterweise angedeutet, mit einem Divisionär als Schwager sei es leicht, militärisch vorwärtszukommen. Er lächelte bitter bei diesem Gedanken. Als ob Boßhart ihn jemals ernstlich begünstigt hätte! Das Gegenteil wäre leichter zu beweisen gewesen. Nein, der Oberstbrigadier Ammann hatte alles sich selber zu verdanken, seiner eigenen Energie, seiner Intelligenz, seiner Fähigkeit zu klaren Dispositionen, seiner glücklichen Hand und schließlich, warum nicht, auch seinem menschlichen und bürgerlichen Ansehen. Dabei war er kein so ruppiger Kerl geworden, sondern ein menschenfreundlicher, demokratischer Mann geblieben, der seine Untergebenen achtete. Solche Männer hatte die Schweizer Armee nötig. Man konnte die hohen Führerstellen nicht ausschließlich Berufsoffizieren überlassen.

Mit diesem Boßhart hatte es freilich eine eigene Bewandtnis. Er besaß nichts von jenem Instruktorendünkel, in dem sich ein paar jüngere Herren gefielen, er gebärdete sich nicht einmal preußisch, wie Hartmann mit seiner Potsdamer Dienstzeit. Wenn er in diesem Sinne wenigstens ein Preuße gewesen wäre! Aber er war etwas ganz anderes, es ließ sich schwer begreifen was, und er besaß eine unheimliche Autorität. Sicher war nur, daß ihm jedes humane Gefühl abging, nicht zu reden von Leutseligkeit oder gar von Gemütlichkeit, obwohl er auch kein Asket war, sondern im Gegenteil gern gut aß, sogar schwere Mengen und, wenn es darauf ankam, ohne zu wanken den ganzen Divisionsstab unter den Tisch trank.

Ammann konnte diesen Mann nicht verstehen, er hatte ihn nie verstanden. «Er ist ein Unmensch, ein Scheusal!» dachte er und betrat verärgert sein schönes Haus.

6

Paul war endlich heimgekehrt, von der Mutter herzlich empfangen, vom Vater in einem kühlen, vorläufigen Tone kurz begrüßt, und jetzt trat er seit langer Zeit zum erstenmal wieder gemeinsam mit den Eltern zum Mittagessen an. Er war etwas kleiner als Fred, doch ebenso schlank, und glich in der Form seines intelligenten, magern Gesichtes am ehesten der Mutter; nur Severin, der Älteste, besaß Vaters Züge, während Fred mit seinem Knabengesicht überhaupt niemandem glich. Einigermaßen auffallend an Paul war seine müde Haltung, die auch in seiner Miene zum Ausdruck kam, doch konnte man im ersten Augenblick zweifeln, ob diese Müdigkeit echt oder gespielt war; sie hing kaum mit diesem gesunden, geschmeidigen Körper zusammen, war aber freilich echt und wurde nur vielleicht ein wenig unterstrichen. Mit lässigen Bewegungen nahm er am Tische Platz und ließ sich von Mama Suppe in den Teller schöpfen.

«Das ist ja gar nichts, da, noch einen halben Löffel voll!» sagte Frau Barbara liebevoll aufbegehrend, als er ihr den Teller entzog. «Du siehst ja aus, als ob du hättest hungern müssen. Hier wird jetzt wieder gegessen!» Sie sprach lebhaft und viel, und sie war entschlossen, die Spannung zwischen Vater und Sohn während des Essens entladen zu helfen, damit die beiden nicht am Ende unter vier Augen erst recht alles verdarben.

Paul erwartete die Auseinandersetzung ohne Angst, aber mit einem unbehaglichen Gefühl, und auch er wünschte sie eben jetzt herbei. Er hatte sicher damit gerechnet, zu Hause auf diese dicke Luft zu stoßen, sie gehörte zum Bilde des Vaters, in dessen Umgebung er nicht frei atmen zu können meinte. Es war die träge Luft eines engen Raumes, die von satten Bürgern ängstlich vor jedem frischen Zuge bewahrt wurde, die Luft seines Landes. Mama dagegen ragte für ihn über diesen Dunstkreis hinaus ins Menschliche, Mütterliche; er verehrte sie schweigend, er liebte sie, und dankbar spürte er jetzt ihren Beistand.

Ammann aß mit unfreundlicher Miene schweigend seine Suppe und vermied alles, was die Lage vorzeitig hätte entspannen können. Er wollte den eigenmächtigen jungen Herrn gleich nach dem Essen vornehmen und ihm gründlich die Meinung sagen. Dies war ihm nun fast ebenso peinlich wie seinem Sohn, und als seine Frau mit wenigen Worten die faule Sache angriff, ging er wider seinen eigenen Vorsatz darauf ein.

«Wir haben dich übrigens schon längst erwartet», begann Frau Barbara sehr entschieden. «Du hättest etwas früher heimkommen dürfen … Warum hast du nur so lange gewartet?»

Jetzt blickte Ammann mit streng forschender Miene seinem Sohn zum erstenmal voll ins Gesicht.

Paul machte eine müde Kopfbewegung, hob ein wenig die Achseln und sagte: «Ach …!» Das war alles. Er hätte leicht ein Dutzend glaubwürdiger Entschuldigungen finden können, aber es widerstrebte ihm, sich zu verstellen.

Der Vater antwortete nach kurzem Zögern mit einem kargen, aber scharfen Verweis und verharrte in seiner geladenen Haltung.

«Wenn du dich wenigstens für die Lehrstelle angemeldet hättest!» fuhr die Mutter fort. «Papa hat sich alle Mühe gegeben …»

Paul blickte die Mutter mit einem Ausdruck an, der ihm eigentümlich war, mit einem gequälten Lächeln, das um Schonung bat und zugleich offenbarte, wie nebensächlich oder gar langweilig ihm diese ganze Geschichte vorkam. «Ich kann doch nicht als Einpauker beginnen», sagte er leise. «Das ist widerwärtig … diese Schnellbleichen … Ich habe ja nichts gegen eine Anstellung, aber …» Jetzt log er doch, er hatte sehr viel dagegen; im selben Augenblick wurde ihm das bewußt, und er verstummte.

Die Mutter machte noch ein paar flüchtige Bemerkungen über die Notwendigkeit, daß man heutzutage halt schließlich einen Beruf ausüben und seinen Lebensunterhalt verdienen müsse; plötzlich aber gab sie dem Gespräch eine familiäre Wendung und drängte ihrem Manne sowohl wie Paul mit derart vertraulichen Zusprüchen noch einen Bissen vom Fleischgericht auf, als ob die verstimmende Angelegenheit ihre wirklichen Beziehungen gar nicht zu berühren vermöchte.

Indessen war Ammann nicht gewillt, es dabei bewenden zu lassen; er hielt den Trumpf, den er gegen den widerspenstigen jungen Herrn auszuspielen hatte, noch in der Hand. Sofort nach dem Essen erhob er sich und sagte leichthin, als ob ihm das nun eben so einfiele: «Am nächsten Montag beginnt dann übrigens noch ein Wiederholungskurs. Du wirst vom Kreiskommando ein persönliches Aufgebot dazu erhalten.»

«Ich habe doch Auslandsurlaub!» erwiderte Paul ein wenig auffahrend und ziemlich ärgerlich, aber Papa ging nun wortlos in sein Büro.

«Ach weißt du, das kann dir nichts schaden!» sagte die Mutter, während sie ein Fenster öffnete. «Diese vierzehn Tage … das tust du mir zulieb, und nachher ist auch Papa wieder zufrieden.» Als sie seine leidend verzogene Miene und unentschiedene Haltung gewahrte, ging sie rasch auf ihn zu und führte ihn am Arm hinaus. «Komm, wir gehen noch ein wenig in den Garten!»

Auf der Treppe blieb er stehen und sagte leise: «Ich möchte am liebsten gleich wieder abfahren. Ich ersticke hier …»

«Ach was, jetzt bleibst du da!» erwiderte sie bestimmt, drückte seinen Arm an sich und zog ihn weiter. «Solange wir noch hier wohnen, laß ich dich nicht mehr fort. Im Frühling ziehen wir aus. Das Haus ist verkauft. Auf Abbruch!»

Er blieb wiederum stehen. «Verkauft?» fragte er.

«Jaja, ich hab’ dir doch geschrieben, daß es dazu kommen werde», antwortete sie in einem so selbstverständlichen Tone, als ob es sich um das Alltäglichste handelte.

«Das ist nicht schlecht!» sagte er nachdenklich, während er neben ihr in den Garten hinausschlenderte, und gleich darauf begann er bitter zu grinsen. «Das sieht ihm ähnlich! Er hat nie gewußt, was er hier besaß, und daß es so etwas nicht zum zweitenmal gibt.»

Jetzt blieb die Mutter stehen. «Du hast gut reden», begann sie und schüttelte kräftig abweisend den Kopf. «Du weißt nicht, was uns dies alles gekostet hat, und was Papa dafür angeboten worden ist. Vor zehn, fünfzehn Jahren hat man sich das noch leisten können, aber heute, mitten in einem Geschäftsviertel …» Sie zählte ihm alle Gründe auf, die zum Verkauf geführt hatten, und schien mit Überzeugung ganz auf der Seite ihres Mannes zu stehen.

Paul ließ sich nicht überzeugen, er lächelte ironisch ergeben, aber am Ende sagte er, von einem andern Standpunkt aus allerdings, mit einer lässig abwinkenden Handbewegung: «Ach, schließlich ist es ja egal! Es geht sowieso alles dahin, und es hat keinen Zweck, in dieser Zeit noch etwas zu konservieren. Mir kann es jedenfalls egal sein.» Als die Mutter daraufhin mit enttäuschtem Ausdruck schwieg, nahm er ihren Arm. «Aber deinetwegen tut es mir leid, Mama!» sagte er aufrichtig. «Du hast doch hierher gehört! Für dich wird es nicht so leicht sein …»

«Nein, leicht ist es nicht!» erwiderte sie knapp. «Wir kommen in eine Mietswohnung, vorläufig.»

Sie gingen in der Wärme des klaren Mittags auf dem mittleren Weg über zerstreutes Herbstlaub bis zum spitz auslaufenden Ende des Gartens, wo man durch halbkahles Gesträuch zur Linken den grauen Asphalt der Straße und eilige Arbeiter gewahrte, die nach der Mittagspause in ihre Fabriken zurückkehrten. Aus der Gruppe, die eben daherkam, blickte ein breitschultriger Bursche zu ihnen herein; sie sahen plötzlich durch die Gitterstäbe sein verächtlich spähendes, dunkles Gesicht und hörten auch die häßliche Bemerkung, mit der er sich wieder den übrigen anschloß.

Schweigend kehrten sie um.

7

Frau Barbara ging aus, um Besuche zu machen. Früher hatte sie in einem solchen Fall anspannen lassen und sich in die Equipage gesetzt, doch in den Jahren des zunehmenden Autoverkehrs war das auffällige Gefährt abgeschafft worden; für ein Auto hatte Ammann sich inzwischen noch nicht entschließen können. Sie ging aber gern zu Fuß und fand es in Ordnung.

In der Dufourstraße trat sie neben einem Lebensmittelgeschäft durch die Haustür und wurde in der Stockmeierschen Wohnung vom Hausherrn mit überaus freundlicher Ehrfurcht begrüßt.

«Ja, also es tut mir außerordentlich leid, Frau Oberst», sagte Stockmeier, «aber es ist eine Fünfzimmerwohnung, nicht wahr, und ich kann da wirklich nichts machen …»

«So!» sagte Frau Barbara, die mit Stockmeier in dieser Angelegenheit ohne Erfolg telefonisch verkehrt hatte, und blickte bekümmert an ihm vorbei.

«Nicht wahr», fuhr Stockmeier fort, «das Separatzimmer im ersten Stock hier bewohnt mein Sohn, und … he he he …»

«Jaja, Sie können ihn nicht hinauswerfen, das ist selbstverständlich, aber … Sie haben mir noch von einem mittleren Mansardenzimmer gesprochen …»

«Jaa, Frau Oberst … zu Ihrer Wohnung gehören zwei Mansarden und eh … die mittlere Mansarde ist der größte Raum im Dachstock, ich könnte da nicht ohne weiteres … ja, ich habe doch mit dem Herrn Oberst fest ausgemacht, nicht wahr, für eine Fünfzimmerwohnung mit zwei Mansarden …»

Erst jetzt begriff Frau Barbara Stockmeiers Widerstand; dieser vorsichtige Geschäftsmann war also der Meinung, man versuche für sein Geld noch etwas mehr zu bekommen, als man vertragsmäßig erwarten konnte. Sie hatte nie daran gedacht und sagte ziemlich barsch: «Ich muß ein Zimmer mehr haben und werde Ihnen die Miete dafür besonders bezahlen.»

«Jaa, Frau Oberst, daas ist etwas anderes», antwortete er geschäftig. Er suchte sich also nicht einmal zu verstellen, und Frau Barbara blickte ihn beleidigt von oben herab an. Nach der bedächtig zögernden Erklärung, daß er die mittlere Mansarde bisher als Lagerraum benutzt habe und sie nicht einfach so hergeben könne, da es ihm überall an Platz fehle, ging er mit Vorbehalten darauf ein, und in wenigen Minuten hatte Frau Barbara das Mansardenzimmer gemietet.

Sie machte sich wieder auf den Weg, kaufte in einem Spielwarengeschäft einen aufrecht stehenden Bären und setzte sich schließlich doch in ein Mietauto, mit dem sie gegen Hottingen hinauf zu ihrer Tochter fuhr.

Das Haus, ein noch ziemlich neuer, herrschaftlicher Bau in etwas undeutlichem Stil, lag erhöht in einem kleinen Garten, durch den man auf einem Seitenpfad zum Haupteingang gelangte. Frau Barbara schritt durch die mit Marmor bekleidete kühle Halle freundlich nickend am Mädchen vorbei, das ihr geöffnet hatte, und wurde mit einem «Endlich!» von ihrer Tochter empfangen, die ihr langsam die Treppe hinab entgegenkam, langsamer, als sie es von Gertrud erwartete. Während sie Hut und Mantel ablegte und vor einem Spiegel flüchtig ihr Haar ordnete, befahl Gertrud dem Mädchen, den Tee anzugießen, dann betraten die Frauen das Wohnzimmer, einen behaglichen weiten Raum mit einem braunroten Perser, der einen bemalten Kachelofen, den Flügel, ein eichenes Büffet und die überall verteilten Blumen willig in seinen herbstlich warmen Ton aufnahm; nur der kleine, weißgedeckte Teetisch in der Ecke vor dem Sofa entzog sich ihm freundlich.

«Seit mehr als einer Woche bist du nicht mehr dagewesen, Mama», sagte Gertrud mit halb ernstlichem, halb scherzhaft kindlichem Vorwurf. Sie war so groß wie die Mutter, nur schlanker, biegsamer, aber nicht mager, eine stattliche Gestalt in einem unauffälligen Hauskleid. Ihr dunkelbraunes Haar floß in wenigen Wellen gelockert nach hinten in einen tiefsitzenden Knoten zusammen, ihr Gesicht war anziehend eigenwillig, ihre bräunlichen Augen hatten einen klugen, vertrauenerweckenden Blick.

«Ja, was meinst du, ich kann daheim auch nicht immer weglaufen», antwortete die Mutter und zählte rasch ein paar Gründe dafür auf, dann fragte sie, gesammelt und eine mehr als oberflächliche Antwort erwartend: «So, wie geht’s?»

«Hm!» machte Gertrud und zuckte die Achseln.

Die Mutter blickte sie forschend an, und wohl niemand außer ihr hätte in diesem aufgeschlossenen, jugendlich frischen Frauenantlitz so genau bestätigt gefunden, was sie vom ersten Augenblick des Wiedersehens an gespürt hatte, nämlich, daß es ihrer Tochter ohne ersichtlichen Grund noch immer an all dem Schwung und der Spannung fehlte, die sie sonst zu jeder gesunden Stunde selbstverständlich geäußert hatte. «Du siehst einfach schlecht aus», sagte sie vorwurfsvoll. «Nach zwei Monaten sollte man sich anders erholt haben.»

«Ach, Mama … ich habe mich wirklich erholt …»

«So geh doch mehr an die frische Luft! Reitest du denn nicht mehr?»

Gertrud schüttelte kurz und entschieden den Kopf, so entschieden, als ob sie überhaupt nie mehr zu reiten gedächte.

«Früher hast du den ganzen Sommer durch Tennis gespielt und bist fast jeden Tag ausgeritten … das hat dir doch so gut getan … man kann nicht nur immer daheim sitzen, Bücher lesen und Klavier spielen …»

Das Mädchen kam mit dem Teebrett, Gertrud erhob sich, nahm ihm die Kanne ab und ordnete den Tisch, während Frau Barbara leise ins Nebenzimmer ging und sich über die Kinder beugte, einen Knaben und ein achtwöchiges Mädchen, die in ihren Bettchen schliefen. Dem Knaben legte sie vorsichtig den Bären auf die Bettdecke. Gleich darauf trat Gertrud neben sie, die zwei Frauen blickten sich einen Augenblick lächelnd an und betrachteten dann mit demselben freudig gerührten Ausdruck den kleinen Schläfer, der ruhig atmend auf dem Rücken lag. «Er wird gleich erwachen», flüsterte Gertrud und zog sich zurück.

Frau Barbara trat zögernd vom Bette weg und schaute flüchtig noch einmal zum Mädchen hinüber, dann blieb sie in einer Ecke des Zimmers vor einem Diwan stehen, den sie hier noch nie bemerkt hatte, hob prüfend seine schwere, goldbestickte Decke und stutzte; unter der Decke erschien Gertruds feines, leinenes Bettzeug. «Wer schläft denn hier?» fragte sie aufblickend.

Gertrud, die schon unter der Tür stand, antwortete unsicher, mit einer Miene, die alles verriet, mit einem müden, hilflos verlegenen Lächeln: «Ich!»

Die Mutter kniff den Mund zusammen und setzte sich mit dem Ausdruck beleidigten Erstaunens an den Teetisch. «Man muß auch nicht gleich zu weit gehen», sagte sie verurteilend. «Ich habe mit Papa früher manchen Streit gehabt, aber deswegen bin ich ihm nie davongelaufen. Nicht häufiger als Albrecht daheim ist …» Sie schüttelte energisch den Kopf.

Gertrud goß umständlich Tee in die Tassen, während sie langsam die Fassung verlor. «Ich streite ja gar nicht mit ihm», erwiderte sie tonlos und setzte sich steif auf das Sofa neben die Mutter; ohne daß sie es verhindern konnte, überliefen ihr die feuchten Augen.

Frau Barbara blickte betroffen auf, dann zog sie die Tochter zu sich heran, und Gertrud barg schluchzend das Gesicht an ihrer Schulter.

Die Mutter blieb lange stumm, halb aus Absicht, halb aus Ratlosigkeit. Endlich aber bat sie leise, in dem behutsamen, raunenden Tone, den nur ihre Kinder kannten: «Du, sag’ es mir, rede!»

Gertrud konnte über das lang Verschlossene nicht so rasch reden, es schien ihr viel zu schwierig, und so begnügte sie sich damit, Mamas schonende Fragen bald zu verneinen, bald mit wenigen Worten undeutlich zu beantworten.

«Bist du auf jemand eifersüchtig?»

Gertrud schüttelte den Kopf.

«Quält er dich?»

«Jetzt nicht mehr!»

«Hm … ich habe Albrecht immer für einen ritterlichen Mann gehalten.»

«Ja … aber er ist nur ein Mann, immer nur der Mann …»

«Ja, Kind, du hast doch mit offenen Augen geheiratet … ein Berufsoffizier, mein Gott, du warst ja vernarrt in ihn, aber du mußt ihn doch gekannt haben …»

«Ja … aber mich nicht!»

Während die Mutter abermals verstummte, richtete Gertrud sich auf und schaute dann, schlaff zurückgelehnt, mit verschleiertem Blick hoffnungslos vor sich hin.

«Weißt du», begann Frau Barbara wieder und ergriff Gertruds Rechte, die kraftlos neben ihr auf dem Sofa lag, «manchmal ist man halt selber auch nicht ganz ohne Schuld … aber wenn man sich ausspricht und beide den guten Willen haben, einander zu verstehen, dann, sollte man wahrhaftig meinen …»

«Mama, ich habe alles versucht … aber … er hat so gar keinen innern Kontakt mit mir … ich lebe wie in einer andern Welt, und ich kann ihm das lange begreiflich machen … er versteht es nicht oder will es nicht verstehen … und dann kommt er doch immer und … und verlangt von mir … ohne Rücksicht …» Sie wurde wieder von innen her geschüttelt, legte die Stirn plötzlich noch einmal an Mamas Schulter und schluchzte laut: «… und ich kann doch nicht, ich kann es doch nicht!»

Die Mutter schwieg. Ihr Gesicht, das den stolz beherrschten Ausdruck sonst wie gestempelt trug, schien von allem Bewußtsein verlassen, ein schmerzlicher Gram, der sich allmählich in Zorn verwandelte, entstellte ihre Züge. Das Elend all der brüchigen Ehen, die sie aus eigener Anschauung kennengelernt oder aus Gesprächen erfahren hatte, stieg vor ihr auf, mit all den unaussprechlich beschämenden Folgen, die sich in jedem Fall ergaben, aus stumpfer Duldung, dauerndem Streit oder endlicher Scheidung; sie war ihm überall begegnet, kopfschüttelnd, verurteilend, mit erhobenem Kinn. Daß nun ihre eigene, liebevoll und sorgfältig erzogene Tochter nicht dem selbstverständlichen Glück in die Arme gelaufen sein sollte, sondern diesem Elend, war eine überraschende und furchtbare Enttäuschung, sie fand es kaum glaublich, und es machte sie wütend.

Inzwischen wurde der Tee vor ihnen kalt, und im Zimmer nebenan erwachte der Kleine. Er schlug die Augen auf, lauschte ein wenig, kroch unter der Decke hervor und entdeckte den Bären. «Es Bärli!» sagte er lächelnd, ergriff ihn und kletterte damit aus dem Bett. Freudestrahlend, den unverhofften Fund weit vor sich hingestreckt, um ihn Mama so rasch wie möglich zu zeigen, trippelte er im Hemd ins Wohnzimmer hinüber. Dort aber stutzte er befremdet und senkte das Ärmchen.

Gertrud fuhr auf und lief ihm so rasch entgegen, als ob er ihr wieder entgleiten könnte; sie hob ihn hoch an ihre Brust, legte ihr Gesicht an seine Wange und trug ihn eilig zurück.

8

Paul Ammann rückte mit bitterm Unwillen in den Wiederholungskurs ein. Die Füsiliere des Zuges, dem er zugeteilt wurde, waren Arbeiter, kaufmännische Angestellte, Handwerker; er brachte keine Anteilnahme für sie auf, so wenig wie für die Masse des Volkes, der sie angehörten, er hatte die Fühlung mit dem Volksganzen verloren. Er unterhielt im zivilen Leben Beziehungen zu Malern und Literaten, die diese Fühlung ebenfalls verloren hatten, und verbrachte seine geselligen Stunden in der internationalen Luft der Kaffeehäuser. Trotzdem besaß er einen hohen Begriff von dem, was er in seiner Sprache Volk nannte, aber diesem Begrifflag keine Anschauung zugrunde und dieses Volk hatte nichts zu tun mit dem wirklichen Volke, das aus Fabrikarbeitern, Kaufleuten, Bäckern, Nationalräten, Tramführern, Bauern und vielen andern unkünstlerischen und geistlosen Menschen bestand. Er hatte die Kluft, die ihn von diesem wirklichen Volke trennte, nie als Übel oder gar als Schuld empfunden; jetzt, da man ihn zurückgeholt und dank den Gesetzen seines Landes unter eben dieses Volk gesteckt hatte, litt er darunter.

Er stand in den Tagen der Einzelausbildung fremd und unglücklich zwischen seinen Landsleuten auf einer gemähten Wiese, glitt von Zeit zu Zeit in die Grundstellung, drehte sich, wenn der Korporal Drehungen befahl, wiederholte Gewehrgriff um Gewehrgriff und fühlte sich furchtbar angeödet. Sein Gruppenführer war der Korporal Egli, ein untersetzter, etwas krummbeiniger Mensch mit einem merkwürdigen Altweibergesicht von rosiger Farbe, einer billigen Brille auf der langen Nase und zurückgekämmtem dünnem Haar. Beim Einrücken hatte er noch vernünftig, ja gutmütig mit seinen Leuten gesprochen; jetzt sprühte er vor Energie, eine fremde Willenskraft schien von ihm Besitz genommen und ihn völlig verwandelt zu haben.

Diese fremde Kraft beherrschte ringsum im fahlen Morgenlicht auf den gemähten grünen Wiesen und braunen Stoppelfeldern die übenden Gruppen und Züge, sie war im Bataillon wirksam geworden, ja sie hatte das gesamte Regiment, das gemütlich eingerückt war, in ein straff bewegtes, lebendiges Ganzes verwandelt. Wie man die zerstreuten Bestandteile einer Maschine sammelt, ölt und zusammensetzt, so waren die Eingerückten gesammelt, ausgerüstet und zur Truppe zusammengefügt worden, und wie man mit einer bestimmten Kraft die Maschine dann antreibt, so war mit dem Einsatz jener Willenskraft auch die Truppe in Betrieb gesetzt worden, in den militärischen Dienstbetrieb. Der Regimentskommandant hatte gleichsam den Strom eingeschaltet, der Strom war in die Bataillonskommandanten und von ihnen in die Hauptleute gefahren, und die Hauptleute hatten ihn an ihre Zugführer und Unteroffiziere weitergeleitet, die ihn nun auf die Mannschaft einwirken ließen. Es gab von jedem Grade gute und weniger gute Empfänger, aber die Kraft dieses Stromes genügte, um jeden abweichenden Eigenwillen auszuschalten und das Ganze in jenen flotten Gang zu bringen, der schließlich die Kriegstüchtigkeit der Truppe zu erneuern und zu steigern hatte. Wer sich von diesem Strome widerstandslos ergreifen ließ und bereitwillig ausführte, was ihm auferlegt war, dem ging alles leicht von der Hand; wer ihm aber widerstrebte und sich vom Gang des Ganzen nur mitschleppen ließ, statt selber zu laufen, der wurde zum Knirschen gebracht wie ein falsch eingesetztes Maschinenteilchen.

«Kopf hoch! Brust heraus!» befahl Korporal Egli. «Noch einmal, Ammann … ach was, das ist doch keine Achtungstellung … he, so reißen Sie sich doch zusammen! Nein, das ist noch gar nichts … weiter üben!»

Nachdem der Hauptmann selber sich ärgerlich mit ihm beschäftigt und für seinen Mangel an Schneid auch den Korporal verantwortlich gemacht hatte, brüllte Egli ihn mit hochrotem Gesichte wütend an: «Ammann, Sie sind ein verdammter Schlappschwanz! Wenn Sie glauben, Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, weil Sie der Herr Doktor Ammann sind, so täuschen Sie sich. Nehmen Sie Stellung an! Hier haben Sie nicht mehr Rechte als andere auch, merken Sie sich das! … Lachen Sie nicht so dreckig, oder ich lasse Sie einsperren …!»

Paul preßte die Lippen zusammen, blickte mit emporgezogenen Augenbrauen in die Ferne und haßte den ehrlich entrüsteten kleinen Mann von Herzen.

Die zweite Dienstwoche schien ihm erträglicher, obwohl nun anstrengende Märsche und Übungen die Leistungsfähigkeit der Truppe auf die Probe stellten; die unangenehme Einzelausbildung hatte damit ihr ersehntes Ende gefunden, die Zeit verging rascher, und als auch die große Übung im Regimentsverband vor dem nahen Abbruch stand, begann er erleichtert aufzuatmen.

Er lief in der ausgebrochenen Schützenlinie seiner Kompagnie, die als Reserve zur Feuerunterstützung des Angriffs befohlen war, einen langgestreckten Hügel hinauf, während im Walde links davon zwei Bataillone in Linie bereitgestellt wurden. Am Rand der Höhe warf er sich hin und begann auf Kommando seine blinden Patronen zu verschießen. Vor ihm lag ein zweiter Hügel mit der markierten gegnerischen Stellung und einer schwarzen Zuschauermenge, von der sich in der klaren Morgenluft eine Gruppe höherer Offiziere und zwei Signalisten mit ihren manchmal aufblitzenden Instrumenten deutlich abhoben.

Paul wußte, daß sein Vater der Übung folgte und nachher das Defilieren abnehmen würde; er suchte ihn unter jenen Offizieren und erkannte ihn an seiner umfangreichen Gestalt und dem massigen Haupt mit der dreifach breit galonierten Mütze. Er zog das Gewehr an die Schulter und legte auf den Vater an. Es war eine unwillkürliche, halb spielerische, jedenfalls unbedachte Bewegung, und kaum hatte er Druckpunkt gefaßt, da schämte er sich, schoß anderswohin und lächelte verwundert über seinen eigenen Einfall. «Unsinn!» dachte er, während rechts und links von ihm die Schüsse knatterten und Verschlüsse riegelten. «Ich hasse ihn doch nicht? Er ist allerdings daran schuld, daß ich diese ganze Schweinerei da mitmachen mußte, aber er hat ja schließlich den Dienstzwang nicht selber eingeführt. Er ist überhaupt nichts aus sich selber, er ist nur eine Ausgeburt seiner abgestandenen Welt, über die er nicht hinaussieht, ein eingefleischter Schweizerbürger, den man besser abseits stehen läßt, da man ihn ja doch nicht ändern kann. Nein, ich hasse ihn nicht, er ist mir nur gleichgültig. Aber er sollte mich in Ruhe lassen, ich bin doch auch so anständig, nicht auf ihn zu schießen.»

Er lachte vor sich ins kurze Gras hinein, wälzte den Tornister, der ihm in den Nacken gerutscht war, seitlich auf die Erde und feuerte von Zeit zu Zeit einen Schuß ab, ohne das Gewehr auch nur anzuschlagen. «Vermutlich», dachte er ironisch grinsend, «würde ich ihn gar nicht getroffen haben. Unsereiner kann mit dem Schießprügel nichts anfangen, wir brauchen eine andere Waffe.»

Indessen hatte sich das Regiment da unten im Waldrand zum Angriff bereitgemacht und stürzte plötzlich unter Sturmsignalen mit Hurragebrüll auf das freie Gelände hinaus.

Die Reservekompagnie schoß ununterbrochen, bis die vordersten Linien die halbe Höhe des gegnerischen Hügels erreichten, dann stellte auch sie das Feuer ein und ging mit aufgepflanztem Bajonett ebenfalls auf den Hügel los; ehe sie aber den Hang erreichte, war oben die Stellung eingenommen, die Signalisten bliesen Gefechtsabbruch, die Bajonette wurden in die Scheiden gestoßen, der Feldweibel übernahm die Kompagnie, und die Offiziere gingen zur Kritik. Paul schob das Käppi auf den Hinterkopf, brannte sich eine Zigarette an und schlenderte, das Gewehr an der Laufmündung hinter sich herziehend, zum Sammelplatz, fest entschlossen, sich in Zukunft vor jedem Militärdienst rechtzeitig ins Ausland zu drücken.

Nachdem die Kompagnien auf freiem Felde eine Stunde geruht hatten, marschierten sie zur Sammlung des Bataillons und schließlich des Regiments auf die breite Landstraße, um vor dem Brigadekommandanten zu defilieren und den Rückmarsch nach Zürich anzutreten.

Oberst Ammann hatte statt eines regelrechten Defilierens in Paradeformation freilich nur den Taktschritt in Marschkolonne angeordnet. Er stand mit seinem Adjutanten und einem Generalstabsoffizier am Straßenrande bereit. Eine sichtbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, seine Bewegungen waren knapper als im Zivilleben, sein leutselig offenes, breites Gesicht zeigte einen beherrschten Ausdruck, und die kräftig schimmernden Augen verrieten statt der gewohnten Heiterkeit einen zielbewußten Willen. Er hatte den zivilen Menschen, der zur Bequemlichkeit neigte und sich gehen ließ, entschlossen abgestreift und war Soldat geworden.

Der Regimentskommandant, Oberstleutnant Fenner, kam dahergetrabt und meldete seinem Vorgesetzten die anmarschierende Truppe, dann stieg er aus dem Sattel und stellte sich neben Ammann in die Wiese. Fenner, ein großer, hagerer Mann mit einem gebräunten, knochigen Gesicht von mürrischem Aussehen und einem ungestutzten, über die Mundwinkel herabhängenden Schnurrbart, stammte aus einfachen Verhältnissen und war wegen seiner trockenen Sachlichkeit und seiner Geringschätzung aller Äußerlichkeiten bekannt. In seiner persönlichen Ausrüstung befliß er sich der strengsten Ordonnanz und trug eine sogenannte Briefträgermütze. Er galt als tüchtiger Offizier, ausdauernder Bergsteiger und sicherer Schütze. Ammann schätzte ihn hoch, nicht nur weil er ein zuverlässiger Führer, sondern weil er ein Mann aus dem Volke war und sein demokratisch einfaches, gerades Wesen auch als Offizier nie verleugnet hatte. Fenner seinerseits hielt von den Führereigenschaften seines Vorgesetzten nicht besonders viel, doch er achtete ihn als ruhigen, verständigen Mann, der jeder besseren Meinung zugänglich war und sich nicht, wie gewisse Generalstäbler, auf theoretische Ansichten oder persönliche Marotten versteifte.

Die vereinigten Bataillonsspiele zogen vorüber, schwenkten nach links und machten Front zur Straße, der Stab des vordersten Bataillons ritt vorbei, und nun rückte zu den Klängen des Defiliermarsches die lange Kolonne heran, Kompagnie um Kompagnie im Taktschritt, das Gewehr geschultert, das Gesicht dem Inspektor zugewandt.

Oberst Ammann wußte, wo sein Sohn Paul eingeteilt war, er suchte ihn dort in der Kolonne und sah ihn auch. Er sah sein bräunlich bleiches, verschlossenes Gesicht kurz auftauchen und empfand dunkel die Genugtuung, daß dieser rebellische junge Herr nun wieder fest in Reih und Glied gefügt war; er ließ sich dadurch aber keinen Augenblick vom gehobenen Bewußtsein der Aufgabe, die er hier im Namen des Landes erfüllte, zu einem väterlichen Gefühl ablenken. Sein ganzes Wesen befand sich in einem gesteigerten Zustande. Wie jeder fühlende Mensch durch ein eindrückliches Erlebnis über sich selber hinaus gehoben werden oder außer sich geraten kann, so war auch Ammann nicht mehr ganz er selber. Er stand regungslos da und blickte mit einer vor Ernst und Sammlung finstern Miene in die vorüberzuckenden Reihen der ihm zugewandten Gesichter. Vor jeder Fahne aber riß er seinen schweren Körper in die strammste Stellung, legte die rundliche Rechte an den Käppirand und grüßte das Feldzeichen mit einem langen, unerschütterlich gläubigen Blicke.

9

Fred sattelte im Wintersemester auf Naturwissenschaft um, ohne es seinen Eltern vorerst zu gestehen. Er schlug zu Hause nur eine neue Taktik ein, er murrte gelegentlich über diese langweilige Juristerei und brachte es soweit, daß der Vater ihn fragte, zu was er denn eigentlich Lust habe. Eines Abends nun, als ihm besondere Umstände einen leichten Rückzug ermöglichten, platzte er bei Tische mit dem Geständnis heraus. An diesem Abend wurden Severin, Gaston Junod und ein Freund Pauls zum Quartettspiel erwartet. Frau Barbara besprach während des Nachtessens mit Paul noch einmal die Bewirtung der Gäste, und um acht Uhr mochte bis zur Ankunft des einen oder andern nicht mehr viel fehlen. Da sagte denn Fred mit seinem kindlich schlauen Lächeln, die erste Geige werde gewiß der Herr Dr. Severin spielen, ein Jurist könne sich doch wohl nicht mit der Bratsche zufriedengeben. «Übrigens, Papa», fügte er leichthin bei, «wegen dieser Rechtsgelehrsamkeit … ich habe jetzt naturwissenschaftliche Fächer besetzt, die interessieren mich mehr.»

Ammann, der bereits das Abendblatt entfaltet und einen Artikel zu lesen begonnen hatte, ließ die Zeitung sinken und blickte seinen Jüngsten scheinbar verständnislos an. «Ja …», begann er dann gedehnt und voller Bedenken, schob mit leicht gerunzelter Stirn die Zeitung beiseite und schickte sich bedächtig an, nähere Erklärungen entgegenzunehmen. «Du hast also … Naturwissenschaft …? Hm, wie stellst du dir das in Zukunft vor?»

Fred, dem eben diese Erklärungen peinlich und unnütz erschienen, erwiderte, ohne die Fragen richtig zu beantworten, mit verdrießlicher Miene: «Ach, es hat ja keinen Wert, sich mit etwas herumzuschlagen, das einem verleidet ist. Und Naturwissenschaft … ich meine, es sind erst Anfangsgründe, nicht wahr … aber es bleiben einem doch mehr Möglichkeiten offen … vorläufig hören ja noch alle dieselben Vorlesungen, Mediziner, Mathematiker, Landwirte, Apotheker, und ich weiß nicht wer noch …»

In diesem Augenblick ertönte die Klingel. «Da kommt schon einer!» rief Frau Barbara. «Das ist Severin, der kommt immer zuerst.»

«Hm», machte Ammann, während Fred sich mit betonter Gelassenheit erhob, «ich habe ja prinzipiell nichts dagegen, nur … ich finde, es ist schade um deine zwei Semester … ja, schließlich mußt du selber wissen, was du willst …»

«Jaja!» sagte Fred mit einer erledigenden Handbewegung, schlenderte zur Tür und stieg draußen weit ausholend mit verschmitzter Miene in sein Zimmer hinauf.

«Paul, sieh doch nach, ob es droben warm genug ist, ich will dann nicht schuld sein, wenn ihr frieren müßt», sagte die Mutter.

Während Paul in den Musiksalon hinaufging, die vier Pulte an die hohe Stehlampe herantrug und die Noten auflegte, begrüßte Frau Barbara ihren ältesten Sohn Severin, der seinen Bratschenkasten behutsam abstellte und den Mantel auszog. «Wie geht’s den Kindern?» fragte sie schon nach den ersten flüchtigen Worten.

«Ja …», begann Severin mit ernster Miene und bedachte sich einen Augenblick, um die denkbar genaueste Auskunft zu erteilen, indessen er sorgfältig den spärlichen Schnee vom Mantel schüttelte, den Mantel zusammengelegt dem Dienstmädchen übergab und mit beiden Händen seinen Rockkragen zurechtrückte, «… bis auf den Ueli geht es allen ordentlich. Der Ueli hat sich gestern etwas erkältet und hustet jetzt ziemlich stark. Heut abend hatte er nun ein wenig Fieber, 37,5 als ich wegging. Anna macht ihm Wickel, obwohl ich nicht überzeugt bin, daß dies unbedingt das Richtige ist. Übrigens ist Anna an der ganzen Geschichte selber schuld, sie packt ja die Kinder ein, als ob wir schon mitten im kältesten Winter wären, und will nicht begreifen, daß man sie allmählich an die Kälte gewöhnen muß … Guten Abend, Papa!»

Ammann, der sich mit Freds Geständnis beschäftigt und schließlich den Vorsatz gefaßt hatte, weitere Aufklärungen zu verlangen, saß mit der Zeitung noch am Tische. «’n Abend, Severin!» sagte er in dem gewohnten lauten Tone, in dem er alle Welt zu begrüßen pflegte, und blickte spöttisch wohlwollend zu seinem Ältesten auf.

Von allen drei Brüdern glich Severin dem Vater am meisten, er besaß den selbstgewissen Ausdruck seines Gesichtes, seine lebenskräftigen Augen, nur ohne den heitern Schimmer, eher mit einer gewissen Schärfe im Blick, und dieselbe klare, feste Stimme. Er war seit sieben Jahren mit einem unscheinbaren, braven Wesen verheiratet, hatte fünf mustergültig erzogene Kinder und erweckte den Eindruck eines sehr soliden, gutbürgerlichen Vierzigers, obwohl er erst dreißig Jahre alt war.

«Hast du den Artikel da über den sozialen Ausgleich gelesen?» fragte Ammann, nachdem Severin sich gesetzt hatte, und hielt ihm mit demselben spöttischen Blick, mit dem er ihn begrüßt hatte, die Zeitung hin.

«Jaja, das beginnt nachgerade langweilig zu werden», antwortete Severin mit einer wegwerfenden Handbewegung, doch sogleich setzte er sich zurecht und begann laut, lebhaft und klar diese Frage von seinem eigenen Standpunkt aus zu erörtern, wie Ammann es erwartet hatte. Er verfocht in sozialpolitischen Dingen mit einem gewissen Ehrgeiz sehr oft seinen eigenen Standpunkt, der sich mit dem der Partei nicht immer deckte, aber die ältern Herren waren noch liberal genug, auch seine Meinung gelten zu lassen. Er hatte zur Genugtuung dieser ältern Garde, die sich um den politischen Nachwuchs einige Sorgen machte, bald nach seinem glänzenden juristischen Staatsexamen die liberale Jugend zu organisieren versucht und war dann später zum Redaktor der jüngsten publizistischen Gründung gewählt worden, des «Ostschweizers», der die besonderen lokalen und ostschweizerischen Interessen mit mehr sozialpolitischem Verständnis vertreten sollte, als es den Hauptorganen der eidgenössischen Partei möglich war oder gut schien. Er befand sich damit in einer allgemein geachteten, nicht sehr einflußreichen, aber anständig bezahlten Stellung.

«Hört doch auf!» rief Frau Barbara in heitrer Verzweiflung, als Severin fertig war und Ammann zur Entgegnung ansetzte. «Kaum haben sie einander gesehen, da fangen sie schon zu politisieren an! Ich finde, du kommst so selten hierher, Severin, daß man wahrhaftig über etwas Vernünftigeres reden könnte, wenn du schon einmal da bist. Und wollt ihr jetzt nicht wieder regelmäßig Quartett spielen wie früher? Oder Quintett? Gertrud käme gewiß auch gern!»

Ammann fügte sich lächelnd und brach seine Erwiderung mit einem scherzhaften «Und so weiter» ab, während Severin die neue Frage sogleich ernsthaft aufgriff. «Ja, Mama, ich bin sehr einverstanden! Es hat überhaupt keinen Sinn, nur dann und wann zu spielen, dabei kommt nichts heraus. Ich bin immer dafür eingetreten, daß man regelmäßig spielt. Aber man muß sich eben auf die Leute verlassen können. Ich weiß ja nicht, was mit Paul nun los ist, ob er dableibt oder … was tut er denn überhaupt jetzt?»

Ammann hob ein wenig die Schultern und machte mit der Rechten eine unbestimmte Bewegung.

«Weißt du, Papa», fuhr Severin fort, «ich muß schon sagen … ich an deiner Stelle würde mir das nicht gefallen lassen. Paul hat jetzt über ein Jahr lang gebummelt, und er wird bestimmt weiterbummeln, wenn man ihn nicht in den Senkel stellt …»

«Bitte, Severin, Papa hat sich alle Mühe gegeben, Paul eine Stelle zu verschaffen», warf die Mutter ein, während Ammann selber mit einem Anflug von Ärger die Zeitung zusammenfaltete.

«Jaja!» sagte Severin leichthin, als ob er diese Bemühung nicht ernst nähme, stand lässig auf und legte dem Vater, während er langsam dicht an ihm vorbeiging, mit einer nachsichtigen Gebärde die Rechte auf die Schulter. «Wir kennen ja unsern Papa. Er hat immer ein gutes Herz gehabt, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre …»

Ammann lachte kurz auf und musterte seinen gestrengen Herrn Sohn, der mit einem Blick auf die Uhr zu einem Fenster hinschlenderte, nun wieder so spöttisch belustigt, daß auch Frau Barbara zu lächeln begann.

«Man hat nicht nötig, sein gutes Herz zu verleugnen, wenn man solche Mustersöhne besitzt, nicht wahr», sagte Ammann mit aller Ironie. «Übrigens …» fügte er ernsthaft bei, «ich habe daran gedacht, ob man Paul nicht auf der Redaktion beschäftigen könnte. Du hast ja schon einmal davon gesprochen, einen Volontär einzustellen …»

«Bitte!» antwortete Severin mit einer einladenden Handbewegung auf den Vater, der Mitglied der Redaktionskommission war. «In erster Linie hat ja der hohe Rat zu entscheiden, wenn es sich um einen bezahlten Volontär handeln soll. In zweiter Linie wird das von Pauls Einverständnis abhängen. Ich meinerseits bin sehr einverstanden. Wir könnten nicht nur einen Volontär, sondern einen dritten Redaktor brauchen. Ich würde Paul sofort das Feuilleton abtreten, außerdem müßte er freilich in allen Ressorts mitarbeiten, besonders im Lokalen …»

«Jetzt kommt wieder einer!» rief Frau Barbara.

«Ich will einmal mit Paul darüber reden», sagte Ammann. «Das wäre gar keine so üble Lösung … Übrigens, das weißt du auch noch nicht: Fred hat umgesattelt. Auf Naturwissenschaft!»

«Soo …? Ach Gott, es weiß ja keiner mehr, was er will. Ich war allerdings nie überzeugt, daß aus Fred ein Jurist werden könnte … aber Naturwissenschaft! Hm! Wundert mich nur, wer ihm das in den Kopf gesetzt hat … Ja, da kommen beide miteinander, glaub’ ich … Zeit wär’s … ich will machen, daß wir anfangen können … Adieu, Papa! Vielleicht sehen wir uns nachher noch.»

«Gaston!» rief Ammann laut und fröhlich, streckte mit einer willkommen heißenden Gebärde den rechten Arm aus und erhob sich, um seinen Schwager Professor Gaston Junod zu begrüßen, der, noch halbwegs in die Begrüßung der Hausfrau verstrickt, mit kleinen Schritten unter die Türe trat und nicht genau wußte, wohin er sich mit seinem Cello wenden sollte.

Indessen stand draußen, bescheiden abwartend, ein schlanker junger Mann mit sympathischen Augen, dunklen, klugen Augen in auffallend schattigem Grunde, Albin Pfister, Pauls Freund. Als die Reihe an ihn kam, begrüßte er mit einiger Schüchternheit Frau Barbara und den Hausherrn, die ihn ihrerseits freundlich willkommen hießen. Gleich darauf blickte er mit einem offenen, freudigen Lächeln, das seine gesunde weiße Zahnreihe entblößte, Paul entgegen, der ihn rasch unter dem Arm faßte und die Treppe hinaufführte.

Fred kam aus seinem Zimmer in den Musiksalon herüber und begrüßte die Gäste. «Darf man zuhören?» fragte er.

«Bitte, wenn es dir Spaß macht!» antwortete Severin.

Fred setzte sich abseits in den bequemsten Stuhl, streckte seine langen Beine aus und verfolgte schmunzelnd die Vorbereitungen zum Quartettspiel, die in ihrer ernsthaften Umständlichkeit ihn immer belustigt und zugleich erwartungsvoll gestimmt hatten. Er verstand nichts von Musik, was er gelegentlich betonte, aber er konnte zwei Stunden lang hingegeben und mausestill zuhören. Er vernahm jetzt, daß die Spieler mit dem Quartett opus 64 Nr. 5 von Haydn beginnen wollten und freute sich darauf. Lächelnd sah er zu, wie sie die Instrumente stimmten. Paul gab den Ton an und Severin strich ein paarmal energisch über die Bratsche, während Junod, die Linke an der Schnecke seines Cellos, den Kopf mit dem gepflegten weißen Spitzbart horchend ein wenig zur Seite geneigt, die Brauen mit gespanntem Ausdruck hochgezogen, leise den Bogen über die Saiten führte. Albin Pfister wurde mit seiner Geige zuletzt fertig und schien sich dann etwas rasch zufrieden zu geben, aber Severin, der ihm aufmerksam zuhörte, sagte mit nachsichtiger Milde: «Das E ist zu tief.» Endlich waren sie bereit.

Die zweite Geige und die Bratsche setzten piano mit den Achteln des einfachen Begleitmotivs ein, und das Cello antwortete, aber schon nach den ersten drei Takten unterbrach Severin das Spiel, das gewiß von selber in den rechten Fluß gekommen wäre, mit der lauten Bemerkung: «Ja, aber wir wollen das doch miteinander machen … noch einmal, bitte!» Sie fingen zum zweitenmal an, und als die erste Geige einsetzen sollte, gab Severin mit dem Kopf ein Zeichen, was offenbar ganz unnötig war und Paul nur ärgerte. Trotzdem setzte Paul rechtzeitig ein und ließ noch warm beseelt das Thema mit dem innigen Aufschwung erklingen. Aber gleich darauf rief Severin laut «piano, piano», und schon bei den ersten Triolen unterbrach er das Spiel abermals: «Paul, du drängst fürchterlich. Es ist doch ein moderato, nicht wahr … ja, wollen wir nicht lieber noch einmal von Anfang an …?»

Fred runzelte die Stirn und dachte, während sie noch einmal anfingen: «Severin ist ekelhaft!»

Indessen kam das Spiel etwas in Fluß, und Severin unterbrach es nicht mehr, doch immer wieder verlangte er mit dringlicher Stimme ein piano, ein crescendo, bis plötzlich Paul noch mitten im ersten Satz nun seinerseits aufhörte und gereizt erwiderte: «So spiel doch du die erste Geige!» Severin antwortete sachlich, ohne sich im geringsten aufzuregen: «Ich bin sehr einverstanden, daß du die Führung übernimmst, aber du hast bis jetzt noch kein Wort zu äußern geruht, nicht wahr, und einer muß es halt schließlich tun. Ja, also was wollen wir jetzt … wir können ja meinetwegen bei E weiterfahren … übrigens, bitte, Paul!»

Sie fuhren bei E weiter, führten den Satz zu Ende und begannen gleich mit dem Adagio cantabile, aber sie hatten die innere Fühlung miteinander verloren, das Adagio erblühte nicht, und vor dem Menuett hielt Severin wieder einen Vortrag über das Tempo, in dem es gespielt werden sollte.

Fred erhob sich laut gähnend und schlenderte mit langen, dröhnenden Schritten hinaus.

10

Paul trat vor den Spiegel und kämmte sich das lange wellige Haar über den Kopf zurück, in unbestimmten Gedanken an Papas neuen Vorschlag, der ihn dauernd beschäftigte. «Ich bin ja beinah einverstanden, wenn ich ganz ehrlich sein will», dachte er, legte den Kamm beiseite und schaute fragend sein Spiegelbild an, zuerst noch, ohne es recht zu gewahren, dann genau und neugierig forschend. Das Gesicht gefiel ihm; es war länglich, doch nicht zu schmal, und hatte ein kräftig entwickeltes Kinn, wurde aber ganz von der Stirne beherrscht, der ausgeprägten, wohlgeformten Stirne des vorwiegend intellektuellen, um nicht zu sagen geistigen Menschen, während der weiche, volle Mund und die etwas tiefliegenden Augen den skeptisch müden Ausdruck besaßen, den er auch in seiner Haltung ein wenig hervorkehrte. «Bist du ein Journalist? Sieht ein Journalist so aus?» fragte er und begann sich über diese offenbar eitle Bespiegelung sogleich selber lustig zu machen, indem er an der Nasenwurzel die Haut runzelte, die Augen zukniff und bleckend die gepflegten Zähne entblößte: es war das lautlose, sarkastisch heitere Grinsen, mit dem er so manches zu verlachen pflegte.

«Na ja … ich werde mich aber doch nur mit dem Feuilleton beschäftigen, vielleicht läßt sich da etwas machen», dachte er, verlor das Gesicht wieder aus den Augen und trat weg. Er ging aus, ohne Hut und Schirm, nur im Regenmantel, obwohl ein feuchtes Geflock, halb Regen, halb Schnee, schräg zwischen den Häuserfronten herabglitt; auf der Rathausbrücke querte er die Limmat und stieg in die engen Gassen der Altstadt hinauf, wo Albin Pfister mit seiner Mutter den Dachstock eines schmutziggrauen Hauses bewohnte.

In Albins Zimmer, einem niedern Raum mit offenen Bücherregalen, warf sich Paul in einen alten Lehnstuhl und hatte nichts dagegen, daß Albin die schon benutzte Kaffeemaschine noch einmal in Betrieb setzte. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortete er achselzuckend, mit einem trüben Lächeln: «Hm … ich wollte, ich wäre in München geblieben. Aber als folgsamer Sohn bin ich heimgekehrt, nicht wahr … und jetzt bin ich lackiert, wie das vorauszusehen war. Erst steckt mich der Herr Oberst unter die Soldaten, und nun kommt selbstverständlich der Beruf dran, für den uns der liebe Gott erschaffen haben soll …»

«Höre, Paul, du solltest doch etwas veröffentlichen … auf mich hin, du darfst es wagen! Und wenn’s noch kein Meisterwerk ist, so wird es doch eine sehr, sehr achtbare Legitimation sein, nicht nur den Eltern gegenüber.»

Paul winkte ab und schwieg ein paar Sekunden mit einem bittern Ausdruck. «Was meinst du», fragte er dann zögernd, «wieviele dichten, bevor sie in einem bürgerlichen Berufe landen? Es gibt tausende allein im deutschen Sprachgebiet … und es gibt tausende von unveröffentlichten Manuskripten, an denen die Verfasser mit Herz und Seele hangen, obwohl niemals ein Hahn danach krähen wird. Es ist vermutlich schlimm für mich, daß mich das bedenklich stimmt …»

Albin schüttelte erheitert den Kopf. «Du hast das gefährliche Alter längst hinter dir. Du bist doch kein Gymnasiast mehr … Ich habe dieselben Zweifel durchgemacht und habe mich bis jetzt der öffentlichen Fron doch nicht unterworfen, obwohl bekanntlich auch noch kein Hahn nach mir kräht. Aber ich werde nicht unterkriechen.»

«Du hast gut reden, dir sitzt keiner auf dem Nacken, du bist unabhängig und kannst tun, was du willst, aber ich …» Er stockte und spürte beschämt, daß er gerade dies nicht hätte sagen dürfen.

Albin schwieg, mit einer kaum merklichen Vertiefung des traurig-heitern Ausdrucks, der seine ehrlichen Augen umlagerte. Er hatte nicht gut reden, ihm saß mehr auf dem Nacken als dem empfindsamen und übersättigten Sohne wohlhabender Eltern.

Albin Pfister tat das Hoffnungsloseste, was man in dieser nüchtern betriebsamen Welt tun konnte, um den allgemeinen Kampf ums Dasein mit Ehren zu bestehen, er beschränkte sich auf sein inneres Leben, und er dichtete. Er war überzeugt, daß ihm nichts anderes übrig blieb, er hatte sich nicht nur zu einem der üblichen Berufe untauglich erwiesen, er hatte schon unter der Notwendigkeit, nebenbei ein wenig Geld zu verdienen, auf eine scheinbar ganz unangemessene, fast krankhafte Art gelitten. Seit dem Tode seines Vaters, eines bescheidenen Antiquars, lebte er, die verständnislose und dennoch verehrte Mutter als beständigen Vorwurf neben sich, in diesem Dachstock, verzichtete auf Theater, Konzert und Kaffeehausbesuch, sparte sich die Zigaretten vom Munde und tat, was er mußte. Eine fragwürdige Haltung in den Augen der Welt, da kein sichtbarer Erfolg sie öffentlich rechtfertigte! Albin Pfister hatte mit einem schmalen ersten Gedichtband und ein paar Legenden, die in einer Zeitschrift erschienen waren, zu einem solchen Erfolg noch wenig Anlaß gegeben. Er vermied nach außen hin denn auch jede Andeutung seiner besonderen Lage. Von sich und seiner Arbeit sprach er kaum je aus eigenem Antrieb, und jenen sonst achtbaren Leuten, die ihn wohlwollend nach seinem Heimlichsten zu fragen pflegten, wich er entschlossen aus. Ein solcher Mensch hat nicht gut reden.

«Entschuldige, ich schwatze Kohl …» fuhr Paul leise fort und legte sich gequält die Rechte auf die Stirn. «Ich sollte es ja wissen … du hast’s viel schwerer …»

Albin winkte unwillig ab.

«Na ja … übrigens, um offen und ehrlich zu sein … was nun mich betrifft … ich habe jetzt das fatale Gefühl, daß ich im Begriffe bin, zu kapitulieren. Ich will jetzt … bitte, halte dich an der Stuhllehne …» Er wandte den Kopf ein wenig beiseite und deckte mit der Hand ironisch beschämt die Augen. «… ich will jetzt Journalist werden.»

Albin erhob sich und begann auf und ab zu gehen. «Du erwartest also, daß ich dir Besinnung predige?» fragte er lächelnd. «Ich fühle mich nicht berufen. Schließlich ist jeder zu seinem eigenen Umweg verdammt. Außerdem kommt es bekanntlich auf das Wie an, nicht auf das Was. Nur, wenn es sein muß … vielleicht daß man als Lehrer noch am anständigsten durchkäme …»

«Jaja, über den Journalismus sind wir einig, nicht wahr … aber ich werde nicht darin untertauchen, ich möchte ihn nur ein wenig beriechen. Höre, Albin! Ich könnte am ‹Ostschweizer› das Feuilleton übernehmen …» Und nun begann er dem Freunde eifrig seinen Plan zu entwickeln, einen Plan voll guter Einfälle und lobenswerter Absichten, der nur den einzigen kleinen Fehler hatte, daß er nicht der Redaktionspraxis, sondern dem Kopf eines hochzielenden jungen Mannes entsprang.

Albin hörte mit erzwungener Teilnahme zu, enttäuscht und heimlich bedrückt von diesem Eifer seines Freundes für eine Angelegenheit, über die sie noch gestern einträchtig die Achsel gezuckt hätten. Er sagte am Ende wenig dazu, und nachdem Paul ihn verlassen hatte, suchte er sich einzureden, daß dies alles an ihrem gegenseitigen Verhältnis nichts zu ändern vermöge. Aber die Enttäuschung verließ ihn nicht, und ein anderes, unangenehmes Gefühl gesellte sich rasch hinzu, eine leise Angst, die er bisher nicht wirklich gekannt hatte, die Angst des im Nebel kletternden Bergsteigers, der seinen Kameraden plötzlich eigenwillig einen neuen, ihm nicht erreichbaren Pfad einschlagen sieht.

11

Eine Woche später saß Paul als Redaktionsvolontär an seinem Arbeitstisch.

Der «Ostschweizer» erschien einmal täglich, kurz vor Mittag, im Umfang von sechs bis acht Seiten. Als verantwortliche Redaktoren zeichneten Dr. Severin Ammann und Erwin Schmid. Das Blatt stand unter der Aufsicht einer Redaktionskommission, die gelegentlich einen Leitartikel schickte. In einem Seitengäßchen des Limmatquais befand sich die mit der Herausgabe betraute Druckerei und Verlagsanstalt; der Redaktion hatte man im zweiten Stock desselben Hauses zwei Zimmer mit dem Blick auf die Limmat eingeräumt.

Severin war klug genug, die journalistische Erziehung des Bruders für den Anfang seinem Kollegen zu überlassen, und unter Schmids Augen hatte Paul in einem raucherfüllten, mit Zeitungen, Büchern und Broschüren unordentlich vollgestopften ehemaligen Wohnzimmer seine Tätigkeit denn auch aufgenommen. Mit Vergnügen bemerkte er das scheinbar planlose Durcheinander auf Schmids Arbeitstisch, und schon in den ersten Tagen, während er sich über diese Hilfsmittel des Geistes noch sarkastisch wunderte, bedrängten sich auch auf seinem Tische Leimtopf, Schere, Tintenfaß, Aschenbecher, Schreibpapier und Manuskripte; außerdem lagen unaufgeschnittene Broschüren da, die vielleicht auch er nicht aufschneiden würde, Stöße gelesener Zeitungen, die von Severin über Schmid zu ihm gelangt waren, und Bücher, Besprechungsexemplare, die zu lesen bis jetzt noch niemand Zeit gefunden hatte.

Von Anfang an wurden ihm die Einsendungen für das Feuilleton vorgelegt, in der Mehrzahl dilettantische Bemühungen, deren Wert nur ausnahmsweise dem geringen Honorar entsprach, das die Zeitung dafür bezahlen konnte; er las sie grinsend durch und mußte auf Schmids freundlich heitere Einsprache hin doch dies und jenes in den Setzraum befördern, weil es von einem Mitarbeiter stammte, den man nicht vor den Kopf stoßen durfte. Schmid und Severin warfen manchmal Ausschnitte aus andern Zeitungen vor ihn hin, mit der Aufforderung, sie für das Feuilleton entweder zu kürzen oder «etwas daraus zu machen», und es stand ihm nicht an, das zu verweigern. Zu seinem Mißvergnügen hatte Schmid auch den neuen Roman schon gewählt, der die laufende Kriminalgeschichte ablösen sollte; er stammte aus der Feder eines ausländischen Vielschreibers und kostete als Zweitdruck fünfzig Franken. Es zeigte sich, daß man für das Feuilleton kein Geld übrig hatte, und Pauls schöner Plan blieb vorläufig dort, wo er entstanden war.

Trotzdem ließ sich Paul noch nicht entmutigen, er schrieb kluge und witzige kleine Betrachtungen über literarische Gegenstände, die seiner Meinung nach brennend aktuell waren, und berichtete gewandt über Theateraufführungen und Konzerte. Dies vermochte ihn aber nach Severins Meinung nicht ernstlich genug zu beschäftigen, und bald wurden aus dem täglichen Zustrom von Nachrichten die unpolitischen seiner Hand anvertraut. Er hatte sie so rasch wie möglich auf ihre sprachliche Richtigkeit hin zu prüfen, allenfalls zu kürzen, gewisse Worte hervorzuheben und die Papierstreifen, auf die eine sparsame Agentur sie zusammengedrängt hatte, zerschnitten und mit Überschriften versehen dem Setzer zu übermitteln. Dabei erlebte er, daß Erwin Schmid seine sachlichen, oft wohl auch umständlichen Titel nachträglich durch auffälligere oder knappere ersetzte und ihm auf diese angenehme Art eine wichtige Lehre erteilte.

Zwischen Paul und Schmid entwickelte sich ein oberflächlich freundschaftliches Verhältnis, das seinen besonderen Grund in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen Severin hatte. «Lesen Sie seine Thronrede!» sagte Schmid, als sie am Silvesternachmittag, die fertige Neujahrsnummer vor sich, noch eine müßige Viertelstunde auf der Redaktion verbrachten. «Da zeigt er sich von einer besondern Seite. Sehr lesenswert!»

Paul nahm die Nummer zur Hand und begann Severins Neujahrsbetrachtung zu lesen. Der vier Spalten lange Artikel trug als Überschrift die neue Jahreszahl: 1914. «Warum sollten wir vor der Zukunft bangen?» fragte Severin im ersten Absatz. «Es liegt in unserer Hand, dem Staatsschiff seinen festen Kurs aufzuzwingen und damit den Schleier zu zerreißen, der unser Heute vom Morgen trennt. Mit der bei uns beliebten Schlafkappenpolitik kann dies allerdings nicht geschehen, so wenig wie wir damit der Drosselung des wirtschaftlichen Lebens begegnen konnten, die infolge der gespannten internationalen Lage unser Land so sehr in Mitleidenschaft gezogen hat. Indessen wollen wir nicht verhehlen, daß mit der von uns schon längst verlangten eidgenössischen Verwaltungsreform bereits ein starker Schritt in die Zukunft getan wird. Wir werden endlich ein politisches Departement mit einem ständigen Vorsteher haben und dadurch in die Lage versetzt sein, der Welt gegenüber kontinuierlich und mit ganz anderm Gewicht, als es bisher möglich war, aufzutreten. Nennen wir den Mann noch einmal, dem wir das Steuer in die Hand zu geben wünschen: es ist Bundesrat Hoffmann. Mit scharfem Geist und starkem Willen wird er für die Stellung kämpfen, die die älteste Demokratie der Welt zum mindesten in Europa einzunehmen berechtigt ist.»

Nach einer einläßlichen Betrachtung der außenpolitischen Lage fuhr Severin fort: «… diese blutigen Wirren auf dem Balkan und die damit verbundene politische Kraftprobe der zwei großen europäischen Interessentengruppen haben das Gespenst eines gewaltigen Krieges heraufbeschworen. Der Dreibund hat erreicht, was er erreichen wollte, während die Tripelentente eine empfindliche Niederlage erlitt. Die unmittelbare Folge davon war jene gegenseitige großartige Steigerung der Rüstungen, die der Sozialdemokratie so sehr auf die Nerven geht. Die Großmächte stehen heute bis an die Zähne bewaffnet da; ihre Rüstungsausgaben haben horrende Summen erreicht, die man sich vor wenigen Jahren noch nicht einmal träumen ließ. Das ist für alle Zaghaften und Unentschiedenen ein ungemütlicher Zustand. Die Stellung, die man vielfach auch bei uns dieser Lage gegenüber einnimmt, mag der ehrlichen Sorge um unser Land entspringen, das geben wir gern zu. Und wenn in unserm eigenen Lager, in unsern Parteiorganen, im Tone der Verurteilung, ja des Abscheus davon gesprochen wird, so mag auch dies seinen menschlichen Grund haben. Wir alle wollen ja den Frieden. Aber Gott behüte uns vor einem schlaffen und schläfrigen Frieden. Die Spannung, in der sich die Völker jetzt befinden, ist ein Lebenselement, das dem Aufstieg nur förderlich sein kann. Das eine Beispiel, Deutschlands Macht und Größe, sollte uns doch die Augen öffnen. Eine ungeheuer straffe Organisation und Konzentration hat das deutsche Volk zu einer Kraftentfaltung ohnegleichen geführt. Und wenn es zum Krieg kommen sollte, was wir nicht glauben, – sind nicht Völker durch Kriege groß geworden? Vergessen wir doch die Geschichte nicht! Wir bedauern das Unglück auch, das ein Krieg im Gefolge haben kann, aber wir sind nicht sentimental genug, um gegen notwendige Entscheidungen zu protestieren …»

Paul warf die Zeitung grinsend auf den Tisch.

«Gelesen?» fragte Schmid.

«Ja … merkwürdig! Seit wann gibt es denn solche Demokraten? Die ältern Herren sind doch so friedlich gesinnt! Hm … jaja, die deutsche Zucht … Nur schade, daß Severin nicht unter einem preußischen Feldweibel Dienst machen darf …»

«Ja, wie ist das, macht er überhaupt Dienst?» fragte Schmid. «Ich hab’ ihn noch nie in Uniform gesehen … er muß doch mindestens Hauptmann sein?»

«Nein, er hat einen zu dicken Hals, Struma … man sieht’s ihm kaum an, aber … er ist untauglich.»

Erwin Schmid war ein dreißigjähriger Mann von mittlerer Größe, mit leicht gewelltem, vollem Haar, das er manchmal gewohnheitsmäßig und etwas nervös nach hinten strich, mit einem blassen, wachen Gesicht und mit magern Händen, die an den Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers die jodfarbenen Spuren ungezählter Zigarettenreste trugen, das einzig Unsaubere am ganzen Mann. Seine Stimme schien immer leicht belegt, auf jeden Fall war sie klanglos, dazu sprach er hastig, leise, und oft durch einen kurzen Anfall von Heiserkeit oder Husten behindert, was ihn nicht abhielt, weiterzurauchen. Er war einer jener Journalisten, die über eine Theateraufführung ebenso flüssig zu schreiben wissen wie über eine neue Maschine oder einen Gesetzentwurf, nicht weil sie mehr davon verstehen als andere Sterbliche, sondern weil sie eine Schreibgewandtheit besitzen, die keiner menschlichen oder sachlichen Voraussetzungen mehr zu bedürfen scheint.

Severin hielt von seinem Kollegen nicht viel mehr als ein Baumeister von einem geschickten, etwas flatterhaften Hand-langer. Schmid seinerseits hielt Severins Art für laienhaft, trocken und langweilig, er war überzeugt, daß kein Mensch das Blatt lesen würde ohne den interessanten und schmissigen Zug, den er ihm täglich zu verleihen bestrebt war.

Nach Neujahr begann Severin sich mit der Erziehung seines Bruders ernstlicher zu befassen. Eines Nachmittags kam er mit dem feuchten Abzug einer für die folgende Nummer bereits gesetzten Seite aus seinem Büro herüber. Er kam aus einer saubern, musterhaft geordneten Schreibstube, in der alles seinen genau bestimmten Platz hatte, und wich unter der Tür wie gewöhnlich vor dem Rauch, der Schmids Bude erfüllte, ein wenig zurück. «Puh!» machte er angewidert. «Es ist mir unbegreiflich, wie man hier atmen kann … Paul, deine Buchbesprechung da können wir in dieser Form nicht bringen. Der Roman mag ja schlecht sein, aber … der Verfasser ist ein sehr eifriges Parteimitglied. Wir müssen Rücksicht nehmen … Jaja, du kannst nun lachen», fuhr er im selben ruhigen und festen Tone fort, als Paul höhnisch mitleidig vor sich hin zu lachen begann, «aber du bist im Irrtum, mein Lieber! Die Arbeit dieses Mannes für unsere Sache ist wichtiger als seine Schriftstellerei. Ich verlange nicht, daß du dein Urteil änderst, aber ich muß eine andere Besprechung bringen. Ferner, weil wir bei diesem Thema sind … der Inseratenchef hat reklamiert, die Kinos geben keine Inserate mehr auf, wenn wir jeden Film herunterreißen …»

Jetzt fuhr Paul auf. «Bitte, sieh dir diesen Kitsch doch selber an!» rief er ärgerlich.

«Zugegeben, jedoch … wir sind leider auf die Einnahmen aus dem Inseratenteil angewiesen … sehr bedauerlich! Aber man kann etwas verurteilen, ohne in deinen Ton zu fallen. Herr Schmid, sorgen Sie doch bitte dafür, daß wir künftig …»

Schmid, die rauchende Zigarette in der erhobenen Linken, drehte sich auf seinem Stuhl halbwegs herum, ohne den Stift vom Blatt zu nehmen, das er korrigierte, nickte hastig, mit einem leisen Lächeln, und wandte sich sofort wieder seiner Arbeit zu.

«Und dann möchte ich wirklich, daß im lokalen Teil etwas mehr geschähe», fuhr Severin fort. «Wir haben ja schon darüber gesprochen, nicht wahr … Wir sollten unbedingt in jedem Stadtteil einen zuverlässigen Gewährsmann haben …»

Schmid legte den Stift weg, drehte sich auf dem Stuhl herum und nahm eine sehr nachlässige Haltung an, hörte aber ernsthaft zu; die Beine weit auseinandergestellt, die Ellbogen auf den Knien, saß er vornübergebeugt da, blickte bald seine Zigarette, bald von unten her Severin an und blies sich immer wieder nachdenklich den Rauch unter die Nase. Paul saß auf der Stuhlkante, den Rücken tief angelehnt, die Beine ausgestreckt, eine spielerisch bewegte Zigarette zwischen den Lippen, durch deren gekräuseltes Rauchsäulchen er den Bruder kühl anblinzelte.

Severin stand in dem grauen Leinenkittel, den er zur Arbeit trug, aufrecht zwischen ihnen und ließ sich durch ihren Mangel an Haltung, der ihm ebenso mißfiel wie der zunehmende Rauch und die herrschende Unordnung, in seinen klaren und bestimmten Ausführungen nicht beirren. «Wenn in der Stadt irgendwas passiert, soll sich Paul gelegentlich auch selber hinbemühen, das kann ihm gar nichts schaden», fuhr er fort, während er die strengblickenden, klugen, dunklen Augen abwechselnd auf Schmid und seinen Bruder richtete.

Schmid stimmte dann und wann zu, indem er schweigend nickte oder ein bereitwilliges «Jaja», ein «Kann man machen», ein «Warum nicht» hören ließ, als ob es sich um das denkbar Einfachste handelte.

Nachdem Severin mit einem kräftigen, die Angelegenheit endgültig beschließenden «Schön!» sich ohne einen Schimmer von Freundlichkeit zurückgezogen hatte, verharrten die beiden regungslos in derselben Haltung und blickten sich mit nachdenklich heiterer Miene belustigt an.

In der Folge wurde im lokalen Teil etwas mehr geleistet, aber Paul versagte als Reporter. Eines Tages zum Beispiel brachte das Blatt eine ausführliche Polizeinachricht vom Einbruch in ein Kleidergeschäft.

«Darüber müssen wir morgen noch etwas bringen», sagte Schmid. «Bitte, gehen Sie doch rasch hin, und dann machen Sie ein hübsches kleines Artikelchen!»

Paul ging hin, kaufte sich anstandshalber eine Krawatte, stellte seine Fragen und sah sich um, dann kam er mit dem Bescheid zurück, daß die Polizeinachricht schon alles enthalten habe, was geschehen sei.

«Macht nichts, schreiben Sie etwas!» sagte Schmid.

Paul grinste lautlos, doch er war schon erfahren genug, um zu wissen, daß man mit der Feder aus nichts etwas machen kann, und so versuchte er es denn.

«Haben Sie’s?» fragte Schmid nach einer halben Stunde.

Aber Paul, der sein mühsam aus den Fingern gesogenes Aufsätzchen eben noch einmal durchlesen hatte, zerknitterte die Blätter entschlossen und warf sie in den Papierkorb. «Ach, es ist Mist!» sagte er ärgerlich.

«Nein, nein, halt, zeigen Sie her!» rief Schmid belustigt, nahm den Knäuel wieder heraus, glättete die Blätter und las sie. «Ja, das ist zu umständlich», sagte er lächelnd. «Die reinste Moralphilosophie! Hm … schadet nichts!» Er stellte noch ein paar Fragen und erklärte dann freundlich, während er bereits zu schreiben begann: «Schön, ich will’s machen.»

Abends las dann Paul im Abzug der ersten Seite erstaunt eine ausführliche Schilderung des Einbruchs, die neben nähern Angaben über die Örtlichkeit das schon Bekannte mit so gewandten neuen Wendungen wiederholte, daß man auch tatsächlich etwas Neues zu lesen glaubte.

So schritt seine journalistische Erziehung munter fort, und er unterzog sich ihr, schwankend zwischen der Hoffnung, schließlich doch seinen eigenen Plan durchsetzen zu können, und der Versuchung, die Feder hohnlächelnd hinzuwerfen.

12

Gertrud Hartmann stand mit ärgerlicher Miene am Telefon. «Aber Mama, ich hab’ dir doch gesagt …»

«Und wir machen es jetzt so!» erklärte Frau Barbara mit aller Entschiedenheit. «Severin und Gaston bringen zum Nachtessen ihre Frauen mit, und du kommst mit deinem Mann, nachher könnt ihr musizieren, und wer dann gehen will, kann wieder gehen … übermorgen!»

«Aber Mama, wenn du doch nicht die ganze Gesellschaft zusammenbringst, seh’ ich gar nicht ein …»

«Wir haben eine Woche lang darüber gestritten, nicht wahr, und jetzt finden wir halt, daß es so am besten geht. Wirf mir nicht wieder alles über den Haufen, sonst könnt ihr meinetwegen …»

«Hör’ Mama, ich komme rasch hinüber … auf Wiedersehen!» Gertrud hing den Hörer entschlossen an, sah nach den Kindern, die auf der Terrasse an der Sonne schliefen, gab dem Mädchen ihre Anweisungen und machte sich auf den Weg.

Es war Mitte März, vor zwei Tagen hatte es noch geschneit, in den Gärten ruhte unverändert die harte Wintererde, und die Bäume waren kahl wie im Januar; dennoch lag jetzt ein warmer, klarer Frühlingstag über der Stadt, der Schnee war geschmolzen, der leicht erregte See schimmerte bläulich grün, und dahinter in der südlichen Ferne erschien unter dem blauen Himmel die fleckenlos weiße Kette der tiefverschneiten Alpen. «Föhn!» dachte Gertrud, als sie über die Quaibrücke schritt, verzögerte den Gang ein wenig und schaute nach den Bergen; dabei stieß sie fast mit einem Bummler zusammen und schlug sofort wieder ihre gewohnte Gangart an.

Sie wanderte mit ihren ausgiebigen, freien, leicht federnden Schritten weiter dem See entlang. Dieses bloße Schreiten war ihr eine Lust, und der schöne Tag, der den trüben Winter zwar nach allen Erfahrungen nicht beendete, aber endlich den Frühling sichtbar verhieß, machte sie heiter. «Wenn es doch immer so wäre!» dachte sie aufatmend. «Wenn man doch immer so frei und ledig wandern könnte, fort von allem, in die schöne Welt hinaus!» Aber sogleich fielen ihr die Kinder ein, die daheim auf der Terrasse schliefen, und mit den Kindern tauchte der ganze Lebenskreis auf, in den sie verflochten war. Sie würde ihm niemals entrinnen können, die Menschen schleppten ja alle ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihren Besitz und ihre Stellung wie Blei an den Füßen mit. Es gab nur eine innere Freiheit, die äußere mußte eine Sehnsucht bleiben und war oft nicht einmal ein ernstlicher Wunsch. Sie wünschte wohl, mit beiden Kindern, eins im rechten, eins im linken Arm, ungebunden fortzuwandern und eine neue Luft zu atmen, aber sie würde doch nicht alles aufgeben können. Den gesicherten Verhältnissen, den Gewohnheiten ihres gepflegten Lebens, dieser Stadt, die sie allen Städten der Welt vorzog, und schließlich den Eltern würde sie wohl niemals davonlaufen wollen.

Ohne anzuhalten schaute sie erfreut den Möwen zu, von denen einige bettelnd über der Quaimauer flatterten oder sich leichtfüßig auf der Mauer niederließen, die Flügel ordneten und aufmerksam herumblickten, während andere hoch über dem Wasser in der klaren Luft mit mühelosem Schwunge kreuzten.

«Wenn ich kein Mensch sein müßte, möchte ich eine Möwe sein, nur um so herrlich fliegen zu können», dachte sie. «Der Mensch ist und bleibt ein schwerfälliges Wesen, auch wenn er das Leben noch so meistert. Was ist doch Mama für eine überlegene, selbständige Person, aber wie ist sie an alles gebunden und wie quält sie sich jetzt wieder!»

Während sie vom Seeufer abbog, begann sie über Mamas Plan nachzudenken und überlegte, ob es nicht auf eine andere Art ginge. Mama wollte vor der Übersiedlung in die Mietswohnung noch einmal die Ammannsche Verwandtschaft in den alten Räumen versammeln. Die Einladung war bedacht und ausführlich besprochen worden, aber dabei hatte sich gezeigt, daß diese Verwandtschaft kaum mehr unter ein Dach zu bringen war. Die persönlichen Anlagen und Eigenheiten ihrer Mitglieder hatten sich im Lauf der Jahre unmerklich verstärkt. Da war die Verwandtschaft im Rusgrund mit ihrem Oberhaupt Onkel Robert, einem noch halb bäuerischen Landwirt, der auch in einem städtischen Salon den Rock auszog, wenn es ihm paßte, und der mit einem vornehmen, auf Haltung so erpichten Offizier wie Hartmann nur schwer in Einklang zu bringen war. Ferner hatte der kultivierte, stille Professor Junod mit Onkel Robert gar nichts gemein, so wenig übrigens wie mit Frau Barbaras Bruder, dem Oberstdivisionär Boßhart, der sich bei geselligen Anlässen höchstens langweilte, wenn er nicht gifteln oder trinken konnte. Eine größere Anzahl guter Flaschen würde zwar die männlichen Gegensätze gegen Mitternacht vielleicht aufzutauen vermögen, aber dann blieben immer noch die Frauen, und außerdem war der Hausfrau das Mittel unsympathisch. Zudem würde Paul sich wahrscheinlich drücken, vielleicht auch Fred, der in Gesellschaften mit merkwürdig feinem Gefühl das Unechte und Gezwungene spürte. Am ehesten konnte noch Severin bestehen; mit seiner Frau hingegen ließ sich wenig anfangen. Papa und Mama selber nahmen eine gewisse humane Mitte ein und wären wohl imstande gewesen, ohne Verstellung nach allen Seiten hin anzuknüpfen, aber offenbar hatten sich nun zu ihrem Ärger die Widerstände stärker erwiesen als ihr guter Wille.

Gertrud war in dieser Beziehung unbedenklicher als die Mutter, sie hätte ohne weiteres die ganze Verwandtschaft eingeladen und mit einem gewissen Trotz den Sieg des gesellig Anständigen über alles persönlich Trennende erwartet; als sie aber im Wohnzimmer neben Mama saß und von neuen Schwierigkeiten erfuhr, verzichtete sie achselzuckend auf eigene Ratschläge.

«Es ist immer dieselbe Geschichte, geh mir weg!» rief Mama mißgelaunt. «Man bringt heute vor lauter Empfindlichkeiten und Rücksichten kein halbes Dutzend Leute mehr zusammen. Übrigens …» Sie fuhr, den Kopf schüttelnd, etwas leiser fort: «… die andern sind nicht allein schuld … mein Bruder wäre gekommen, dafür hätt’ ich gesorgt … aber Papa hat etwas gegen ihn, etwas Militärisches, denk’ ich, und jetzt … ach, ich mag gar nicht mehr davon reden. Die Männer sind in dieser Beziehung um kein Haar besser als wir.»

«Ach herrjeh, Mama!» rief Gertrud heiter zustimmend.

«Jetzt, nicht wahr», fuhr Frau Barbara lebhaft fort, «trommelt halt Paul einfach das Quartett oder Quintett zusammen, und weil es das letztemal ist, daß ihr hier spielen könnt, verbinden wir es mit einem Nachtessen, und dazu bringt jedes seine andere Hälfte mit …»

«So ist die Musik doch auch einmal für etwas gut!» rief Gertrud mit betonter Befriedigung und im kindlichen Tonfall, in den sie der Mutter gegenüber zum Spaß noch manchmal verfiel.

Frau Barbara, die ihrer Tochter schon mehr als einmal geraten hatte, wieder zu reiten und Tennis zu spielen wie früher, statt immer am Klavier zu sitzen und Bücher zu lesen, überhörte die Anspielung geflissentlich. «Vielleicht kann ich dann die Rusgrund-Verwandten am andern oder übernächsten Tag noch einladen», fuhr sie fort. «Schuldig wären wir’s ihnen, Fred fährt ja fast jeden freien Tag hinauf … aber ich weiß es noch nicht, es wird zuletzt wohl eine Hetzerei geben … vorläufig bleibt’s beim andern. Und dann bringt Paul auch seinen Freund zum Nachtessen mit, den Herrn Pfister …»

«So? Ja, das scheint ein netter Kerl zu sein, nicht? Ich habe seine Gedichte gelesen und möchte ihn ganz gern näher kennenlernen …»

«Was macht die Madame? Ist ihr das neue Mädchen noch nicht davongelaufen?» ‹Madame› nannte Frau Barbara ironischerweise die alte Frau Hartmann, Gertruds Schwiegermutter, die mit schwer erträglichen Eigenheiten im Hartmannschen Hause den zweiten Stock bewohnte.

«Ach, was macht sie! Kürzlich hat sie einen Nachmittag lang gejammert, weil die Putzfrau statt am Samstag erst am Montag kommen konnte … und dabei gab es ja natürlich in der ganzen Wohnung kein Stäubchen, das sie nicht schon selber entdeckt und durch das Zimmermädchen hatte wegputzen lassen. Ich geh’ lieber gar nicht mehr hinauf, wenn ich nicht muß.»

Sie plauderten noch eine Weile um den Punkt herum, der Gertrud hergeführt hatte. Seit jenem Auftritt im Hartmannschen Hause, wo die Mutter am unrichtigen Ort auf ein Bett gestoßen war, hatten sie über das eheliche Mißverhältnis nicht mehr ernstlich gesprochen. Frau Barbara hatte sich mit Andeutungen begnügen müssen und daraus entnommen, daß zwischen Gertrud und ihrem Mann zwar kein offener Krieg, aber auch kein Frieden herrsche, sondern eine Art von Waffenstillstand. Dies war nach ihrer Meinung «gar nichts» und konnte höchstens zu gegenseitiger Gleichgültigkeit führen, was noch weniger war, während doch nur eine endgültige Versöhnung in Frage kam. Diese Versöhnung wünschte sie leidenschaftlich herbei, sie glaubte fest an ihre Möglichkeit und war entschlossen, die Vermittlung zu übernehmen, wenn die beiden es nicht selber fertig brachten. Der gesellige Abend nun konnte ihr eine Gelegenheit dazu bieten, jedenfalls würde sie die Entzweiten wieder einmal nebeneinander vor sich haben.

Gertrud war sich über diese Absicht Mamas völlig klar, und sie merkte auch, daß Mama aus eigenem Antrieb jetzt nichts mehr davon antönen würde, weil sie es ja überhaupt nicht in Frage gestellt zu haben wünschte. So mußte sie denn selber den heiklen Punkt noch einmal berühren, doch tat sie es erst beim Aufbruch und auch dann nur vorsichtig aus dem Hinterhalt: «Ich komme dann etwas früher, Mama, dann kann ich dir noch ein wenig helfen, gelt!»

«Was, früher! Ich habe Hilfe genug. Ihr kommt beide miteinander auf sieben Uhr!»

«Mama … höre, ich weiß wirklich nicht, was mein Mann dabei …»

«Ich will nichts mehr davon hören, fertig jetzt, adieu!» Frau Barbara schob ihre Tochter kurzerhand auf die Treppe, verhielt sich mit beiden Händen die Ohren und kehrte in die Stube zurück.

Gertrud blieb verdrossen auf der Treppe stehen, dann ging sie zögernd hinab, durchwandelte den Garten, in dem sie jedes Winkelchen kannte und liebte, gab sich dem vertrauten Anblick des Hauses hin, in dem sie aufgewachsen war, und spürte, daß sie noch immer mit ganzer Seele daran hing. Es war ein Stück ihres «Reiches», ihres ganz persönlichen innern Reiches, zu dem ihr Mann keinen Zutritt fand; bald, wenn das Haus in Schutt und Staub zusammenbrach, würde sie trauern wie um den Verlust eines geliebten Wesens. Was hatte ihr Mann hier zu tun, da es galt, im Kreise der Angehörigen davon Abschied zu nehmen!

Zu Hause verbrachte Gertrud den Rest des Nachmittags mit den Kindern im Freien, beförderte nach Sonnenuntergang die Kleine ins Bett und wechselte im Wohnzimmer dem Knaben die weiße Wolljacke. «Aber Schatz, was bisch du für es Drecksöili, lueg au da!» sagte sie liebevoll scheltend und zeigte ihm die Ärmel, die er sich draußen beschmutzt hatte.

In diesem Augenblick, kurz vor dem Nachtessen, hörte sie die Haustür zufallen und ihren Mann im Erdgeschoß den Gang durchschreiten. Sie würde ihn an seinem lässig taktmäßigen, fest auftretenden Schritte unter Hunderten erkannt haben. Auf der Treppe ließ er, wie sie es erwartete, die Spitze der Säbelscheide zwei-, dreimal gegen die Stufen klopfen, dann schritt er etwas gemächlicher, doch immer noch genau so fest auftretend, zum Garderobenständer; jetzt hing er den Säbel auf und stülpte mit einem leichten Schlag die Mütze darüber, jetzt stand er vor der Tür, zog sich auf beiden Seiten die Bluse herunter und drehte im engen Kragen kurz den Hals hin und her. Sie sah ihn vor sich, noch eh er eintrat, sie kannte die geringste seiner Bewegungen und wußte voraus, wie er sich nun beim Eintritt verhalten würde.

Er trat ein, ein großer, kräftig schlanker Mann von dreiundvierzig Jahren, in dunkler Reithose, tadellos sitzenden Stiefeln und eng anliegender blauer Uniformbluse, mit einem gesunden, von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, dessen Ausdruck in seiner Mischung von sportlicher Derbheit, herrischer Kühle und männlicher Intelligenz nicht nur von guter Abkunft, sondern von wirklicher Rasse zeugte. Mit einem leisen, überlegenen, ironisch forschenden Lächeln näherte er sich gelassen seiner Frau, nickte leicht, als er ihre gleichgültige Miene gewahrte, und lachte dem Albrechtli zu, der ihm entgegenlief.

«Pape, i ha schon en Sumervogel gseh», plauderte der Kleine lebhaft und schloß sein Fäustchen fest um den Karabiner des Säbeltragriemens, der von Papas linker Hüfte herabhing.

«Soo?» machte Papa teilnehmend und strich ihm über das dunkelblonde Haar, dann fragte er schon etwas gleichgültiger, während er beiseiteblickend die eingegangenen Briefe und Zeitungen musterte: «Ja und dänn? Häsch en gfange?» Ohne sich um die Antwort zu kümmern, nahm er am Tische Platz, ließ den Knaben, der den Tragriemen nicht freigab, auf seinem Knie reiten und entfaltete eine Zeitung.

Gertrud ging schweigend hinaus. Sie suchte immer von neuem, ihren Widerwillen gegen diesen Mann zu unterdrücken und hoffte jedesmal irgendeine freundliche Änderung an ihm wahrzunehmen, aber bei seinem Anblick fühlte sie sich unweigerlich immer wieder abgestoßen. Sie gab sich Mühe, ihn nur von seiner besten Seite zu sehen, weil sie friedlich mit ihm auskommen wollte, aber sie bemerkte mit einer Schärfe, die ihr selber nicht geheuer vorkam, seinen hintersten Fehler, ja sie wurde gegen ihren guten Willen schon durch Nichtigkeiten gereizt, an denen er, wie sie genau wußte, unschuldig war. Das ironischüberlegene Lächeln, das seine schmalen, kühlen Augen besonders dann umspielte, wenn sie ihre Abneigung nicht zu verbergen wußte, und die beständige unerschütterliche Sicherheit seines Auftretens empörten sie. Nach den peinlichsten Vorfällen benahm er sich so, als ob alles in Ordnung wäre, und nie zeigte er vor ihr die geringste Verlegenheit, auch wenn er unmittelbar Grund dazu hatte. Oft wünschte sie, ihn richtig böse zu sehen, ihn schimpfen und fluchen zu hören, aber er beherrschte sich, und dieser Beherrschung gegenüber war sie machtlos.

Hartmann hatte bei seinem Eintritt auf den ersten Blick erkannt, daß Gertruds «Verstimmung» nicht gewichen war, und infolgedessen hatte auch er die Haltung nicht geändert, die er seiner Frau gegenüber seit Monaten einnahm. Über den eigentlichen Grund dieser Verstimmung war er sich nicht klar. Nach seiner Meinung hing sie mit Gertruds gegenwärtiger Vorliebe für Dinge und Anschauungen zusammen, zu denen er kein Verhältnis gewinnen konnte, für das «Innenleben», für Musik, schöngeistige Bücher, Gedichte. In einer der selten gewordenen Aussprachen hatte sie erklärt, daß sie ihm nicht entgegen zu kommen vermöge, wenn er so gar keine Beziehung zu ihrem innern Leben finde, und daß der Weg zu ihr nicht über den Körper, sondern über die Seele führe. «Warum versuchst du nicht wenigstens, mich zu verstehen? Du hast keine Ahnung, wie es in mir drin aussieht, du lebst in deinem alten Tramp weiter, und ich kann verhungern neben dir.» Das waren ihre Worte gewesen, ziemlich dunkle und etwas prätentiöse Worte. Er hielt das für eine Laune, für eine Art von persönlicher Mode. Das einzig Rätselhafte daran schien ihm ihre dauernd und hartnäckig verstimmende Wirkung, im übrigen aber waren Launen eine allgemein weibliche Schwäche, gegen die man mit Vernunft und Logik nichts ausrichten konnte. Schließlich mußte dies alles ein Ende nehmen oder doch seine Vorherrschaft verlieren, und dann würde Gertrud wieder mit ihm ausreiten, an Pferden und Hunden Freude haben, Rennen besuchen und die forsche, frische Frau sein, für die er sie im Grunde hielt. Er war entschlossen, bis dahin auszuharren, sich keine Blöße zu geben, der Sache nicht mehr Gewicht zu verleihen als sie besaß und, die «kritischen Augenblicke» ausgenommen, Gertrud ruhig ihrer Laune zu überlassen.

Beim Nachtessen, während sie sich wie immer mit dem Kleinen beschäftigte, saß er in seiner gewohnten Haltung, die ihm auch zu Hause keine Nachlässigkeit erlaubte, an der obern Schmalseite und richtete bald ein mahnendes Wort an Albrechtli, bald ein höfliches an seine Frau.

Gertrud sah ihn, ohne besonders nach ihm hin zu blicken, sie sah, wie er sich mit der breiten Brust in der eng anliegenden Bluse leicht nach vorn neigte und sorgfältig einen Bissen zum Munde führte, sie sah sein gesundes, sicheres, im Lampenschein rötlich braun schimmerndes Gesicht, das auch jetzt mit keiner Miene die Unerträglichkeit dieser Lage zugestand, und sie blieb kalt wie immer. Heimlich wünschte sie wohl, daß er mit der Demut des Leidenden, die das heillose Zerwürfnis ihn doch gelehrt haben müßte, ihre Hand ergreifen und sagen würde, daß er es nicht länger ertrage und daß er versuchen wolle, sie zu verstehen. Aber sie wußte, daß er höchstens auf eine unverschämt mannhafte Art zärtlich werden konnte, um etwas zu erlangen, was ihm nicht zukam, aber niemals imstande war, mit jenem menschlichen Zugeständnis ihr Inneres anzurufen.

«Iß jetzt, Schatzi, gäll!» mahnte sie den Kleinen, dessen Gegenwart bei Tisch ihr die gemeinsamen Mahlzeiten allein noch erträglich machte.

Albrechtli löffelte etwas eifriger in seinem Brei, aber da er genug hatte, begann er bald wieder gruchsend hin und her zu rutschen, faßte den Löffel falsch an und schielte zum Papa hinüber.

«Männchen! Stillsitzen und ausessen!» rief Hartmann in einem scherzhaften hochdeutschen Befehlston.

Gertrud fand das lächerlich, und als er ihr gleich darauf mit der Frage «Butter?» höflich die Schale anbot, nahm sie daran Anstoß, daß er nicht das schweizerdeutsche Wort «Anke» brauchte. «Er verfälscht alles, es ist alles gemacht an ihm, seine Haltung, sein Standesbewußtsein, seine Ausdrücke, er ist nicht einmal mehr ein rechter Schweizer.» Daß eben diese Haltung ihr einst Eindruck gemacht hatte, davon wußte sie nichts mehr.

Als er sich vom Tische erhob, klingelte sie dem Mädchen, und als er zur Türe schritt, sagte sie gleichgültig: «Du bist dann auf übermorgen bei Mama zum Nachtessen eingeladen.»

Er hielt an und richtete einen erstaunt fragenden Seitenblick auf seine Frau.

«Wir spielen Quintett, nicht wahr», erklärte sie, um einen Ton zu heftig. «Severin und Professor Junod bringen ihre Frauen zum Nachtessen mit … und dann kommt noch ein Herr Pfister … nachher spielen wir bis mindestens um elf Uhr.»

«Hm … was habe ich dabei zu tun?» fragte er, unwillig über diese offenbar nur halbe Auskunft, und schüttelte knapp den Kopf.

«Mach ganz wie du willst, es zwingt dich niemand!» antwortete sie achselzuckend und hob den Knaben vom Stuhl.

«Ich würde mich schwerlich zwingen lassen», erwiderte er. «Aber das dürfte etwas anders gemeint sein, vermute ich. Wegen der Musik wird Mama mich nicht einladen …»

Das Mädchen kam, um das Geschirr abzuräumen.

Hartmann wartete, auf- und abgehend, bis es fertig war, dann trat er vor Gertrud hin, die Hände in den Seitentaschen der Bluse, und erklärte mit spöttischer Ruhe: «Schön, wir werden übermorgen zusammen hinfahren.»

Sie wandte sich schweigend von ihm ab und begann ein paar Dinge vom Eßtisch zu versorgen, während er gelassen hinausging.

13

Frau Barbara wollte ihre Gäste nicht, wie es üblich war, vor dem Essen im Salon einpferchen, um sie dort ohne rechten Anschluß unter gezwungenen Gesprächen auf den Ruf zu Tische wie auf eine Erlösung warten zu lassen, sondern sie hatte von Anfang an die Tür zum Eßzimmer weit geöffnet, auf dem Büffet hinter der festlich gedeckten Tafel für die Herren eine Reihe von Schnäpsen bereitgestellt und Fred mit der Bedienung beauftragt. Fred stand nun verschmitzt lächelnd vor diesen Flaschen und schien die Veranstaltung nicht besonders ernst nehmen zu wollen. Den ersten zwei Herren, die sich von ihm ein Gläschen einschenken ließen, Paul und Albin Pfister, stellte er sich als Barmaid vor und riet ihnen zu unmöglichen Cocktails, dann benutzte er eine Serviette als Schurz und begann den Ruf nachzuahmen, der in Bahnhöfen den Zügen entlang erschallt. «Büffet!» rief er mit verstellter, hoher Stimme und blickte in den Salon hinein, wo sich die kleine Gesellschaft nach den ersten Begrüßungen noch unentschieden durcheinander bewegte.

Oberstleutnant Hartmann trat dort, nachdem er seine Runde beendet hatte, lächelnd wieder zu seinem Schwiegervater. Er trug zur schwarzen Gehhose den dunklen Waffenrock mit den zwei schimmernden Knopfreihen und dem roten Kragen, der mit dem winzigen weißen Saum des darunter verborgenen Leinenkragens seinen gebräunten Hals hoch und eng umschloß. Mit einem leisen, freundlich ironischen Lächeln trat er auf Ammann zu.

Ammann, seit Neujahr sein Vorgesetzter, blickte ihm mit einem ähnlichen Lächeln entgegen, dessen Ironie freilich an Spott grenzte, da ihn sein höherer Grad der Rücksicht enthob, die Hartmann dem Brigadier immerhin schuldete. «Du bist ein eleganter Kerl», sagte dies Lächeln, «ein Berufssoldat, ein schneidiger Offizier, während ich in deinen Augen nur ein militärischer Laie und heraufgekommener Bürger bin, aber bilde dir ja nicht ein, mein Lieber, daß die militärische Tätigkeit und das Führertalent mit der Eleganz, dem Schneid und dem Beruf zusammenhängen; indessen fühle ich mich durch deinen Hochmut nicht betupft, er läßt mich im Gegenteil völlig kalt, und außerdem bin ich überlegen genug, deine wirklichen guten Eigenschaften anzuerkennen.»

Hartmann las dies alles im Gesicht seines Vorgesetzten, und seine eigene Miene enthielt schon die Antwort darauf. «Ich weiß, daß du so über mich denkst», sagte diese Miene, «und es tut mir leid, daß du ein so dicker, schwerfälliger Kerl bist, daß ich dir den Beruf und manches andere voraushabe, und daß du dich deshalb ein wenig verteidigen mußt, aber ich kann mich nicht ändern, lieber Schwiegerpapa, und im übrigen bin ja auch ich bereit, dich anzuerkennen.»

Während dieser stummen Auseinandersetzung wechselten sie ein paar scherzhafte Worte, und erst als sie auf eine städtische Angelegenheit zu sprechen kamen, begannen sie ernstlich und unbefangen miteinander zu reden.

In ihrer Nähe standen Severin und Professor Junod vor ihren Frauen, die sich nebeneinander auf das Sofa gesetzt hatten. Severin sprach in seinem belehrenden Tonfall auf Junod ein, der mit schief gesenktem Kopf und emporgezogenen Brauen ungläubig lächelnd Severins breite Füße betrachtete. Die Frauen hörten einen Augenblick zu, dann setzten sie, noch eh er zu Ende war, ihr eigenes Gespräch über irgendeinen häuslichen Gegenstand fort.

Indessen führte Albin Pfister seinen Freund am Arm von den Schnäpsen weg zur nächsten Fensternische. «Wenn ich das vorausgesehen hätte, würdest du mich nicht erwischt haben», sagte er mißmutig.

«Was, erwischt!» widersprach Paul. «Ich habe dir gesagt, du sollest bitte auch gleich zum Nachtessen kommen …»

«Das ist eine ausgewachsene Soiree, die Damen sind in Toilette, die Herren im Smoking. Ich bin der einzige, der keinen Smoking trägt, und du hättest wissen können, daß ich keinen habe.»

«Du mein Gott, das ist doch alles so furchtbar gleichgültig!» erwiderte Paul gequält, mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Albin schwieg trübe lächelnd, er fühlte sich nicht verstanden und fand es daher sinnlos, länger zu streiten; als aber Paul fortfuhr, sich zu verteidigen und diese ganze Veranstaltung als Komödie zu bezeichnen, versuchte er noch einmal, sich begreiflich zu machen. «Gewiß, es ist an und für sich ganz gleichgültig», sagte er ruhig. «Ein Smoking imponiert mir vielleicht noch weniger als dir. Aber ich bin gewohnt …»

«Gertrud, komm, hilf mir!» rief Paul seiner Schwester zu, die durch das Eßzimmer ging. Er nahm mit einer versöhnlichen Gebärde Albins Arm und erklärte, als Gertrud vor ihm stand: «Albin ist unglücklich, daß er keinen Smoking trägt, und läßt’s mich entgelten, weil ich daran schuld bin. Bitte beurteile das Verbrechen!»

Albin empfing von Gertrud sofort wieder den Eindruck, den er bei der Begrüßung empfangen hatte und den fast alle Menschen kannten, die mit ihr in Berührung kamen, den Eindruck einer frischen, offenen und warmherzigen jungen Frau, der man schon nach dem ersten kräftigen Händedruck Vertrauen und Sympathie unmöglich versagen kann. «Ich bin nicht unglücklich», erklärte er lächelnd und blickte in ihre freundlich teilnehmende Miene, «aber man soll sich den Formen einer Gesellschaft, in der man verkehren will, anpassen, sonst bleibt man besser zu Hause …»

«Aber», warf Paul ein, «es wird dir hier doch kein Mensch übelnehmen, daß du …»

«Ja, gewiß, man wird Rücksicht nehmen, aber das ist es ja eben! Daß man gerade auf den Gast Rücksicht nehmen muß, der nicht zur Familie gehört, das ist für diesen Gast doch einigermaßen peinlich, oder er müßte in gesellschaftlicher Beziehung eine dicke Haut haben; ich habe aber eine dünne, leider, sonst käme ich vermutlich über die Nichtigkeit hinweg. Du hättest es mir beizeiten mitteilen müssen.»

«Das finde ich auch», sagte Gertrud ernsthaft. «Herr Pfister hat ganz recht.»

Paul, der überzeugt gewesen war, daß Gertrud seinen Freund lachend beruhigen werde, blickte sie mit betontem Erstaunen an, dann verbeugte er sich plötzlich mit einem müde ergebenen Lächeln und schlenderte weg.

«Übrigens», fuhr Gertrud fort, «in diesem Fall, glaube ich … Sie sind doch hier kein Fremder. Papa, Mama und meine Brüder kennen Sie so gut …»

«Ja … aber wir wollen nicht mehr davon reden, ich bin schon beruhigt, daß mich wenigstens jemand begreift …»

«Paul ist manchmal etwas unberechenbar», sagte sie heiter verurteilend und wollte noch etwas hinzufügen, als beim Büffet eine laute Bewegung entstand. Fred schlug dort knallend die Absätze zusammen und meldete sich dem Oberstleutnant, der neben Ammann aus dem Salon herüberkam, mit gespannter Miene als Schnapswache an. Gertrud betrachtete ihn lachend.

«Unser neuer Regimentskommandant!» sagte Albin leise und blickte mit einem schwankenden Lächeln auf Hartmann.

«Sind Sie denn auch beim Militär?» fragte Gertrud.

Albin nickte bedauernd. «Übrigens nur als gewöhnlicher Füsilier», sagte er. «Paul und ich gehören zur selben Kompagnie.»

«Merkwürdig! Ich kann Sie mir nicht bewaffnet vorstellen.»

«Soo …?» sagte er scherzhaft beleidigt.

«Ich meine …» erklärte sie heiter und ein wenig verlegen, «trotzdem Sie …»

Er kam ihr rasch zu Hilfe. «Ja, ich bin gesund und besitze den nötigen Brustumfang. Aber … es ist wirklich kein Vergnügen für mich.»

«Das kann ich mir denken!»

In diesem Augenblick bat Frau Barbara die Gesellschaft zu Tische, nicht allzu freundlich, eher mit der leicht besorgten Miene einer Hausfrau, die bis zuletzt an den Vorbereitungen zum Essen teilgenommen und gewiß noch etwas Ärgerliches erlebt hat. Sie trug ein unauffälliges dunkles Kleid und als einzigen Schmuck eine alte silberne Filigrankette im Halsausschnitt, aber das vornehm Würdige ihrer Erscheinung kam dabei vollkommen zum Ausdruck. Während sie mit kaum merklichen Hinweisen jedem der Gäste seinen Platz andeutete, bat Fred feierlich um seine Entlassung als Schnapswache und machte, nachdem er sich abgemeldet hatte, militärisch rechtsumkehrt. «Mach keine Faxen, Fred!» sagte sie halb unwillig, halb belustigt, und schob ihn zu seinem Stuhl.

«Man muß sich üben», antwortete Fred, immer mit einer Spitze gegen Hartmann, der als scharfer Drillmeister bekannt war. «Es gibt ja nächstens Krieg, nicht wahr, und wenn wir die Drehungen nicht können, sind wir verloren.»

Diese Bemerkung entfachte sofort ein allgemeines, lebhaftes Gespräch, wie es zu dieser Zeit überall entstand, wo das Wort Krieg fiel. Man lebte im Frühling 1914, die Öffentlichkeit in ganz Europa wurde von der wachsenden Spannung offen oder heimlich ergriffen, und die Presse war voll von Gewitterzeichen. Dabei kam den meisten Menschen der Gedanke an die Möglichkeit eines «großen Weltkrieges» ungeheuerlich, ja verrückt vor. Die bürgerlichen Realpolitiker, die das Unheil fast mit offenen Augen kommen sahen, glaubten an keine Gefahr, sie waren trotz den wirtschaftlichen Nöten noch immer blind vor Stolz auf den Fortschritt und die Sicherheit ihrer Welt. Niemand freilich wäre imstande gewesen, die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß vorherzusagen oder auch nur zu ahnen. Die Vorstellungen der Menschen vom «Krieg» waren noch durch die Erinnerung an 1870, an den Russisch-Japanischen und den jüngsten Krieg auf dem Balkan beherrscht.

«Ach, jedes zweite oder dritte Jahr einmal, solang ich mich erinnere, redet man davon, daß es Krieg geben werde», sagte Klara, die Frau des Professors, nachdem schon die verschiedensten Ansichten geäußert worden waren. «Die Männer sind immer gleich Feuer und Flamme, aber … ich sehe nicht ein, warum es ausgerechnet dieses oder nächstes Jahr Krieg geben soll.» Sie war mit der lockeren Fülle ihres angegrauten Haares, den lebhaften Augen und ausgeglichenen Zügen eine noch immer schöne, an Gestalt ebenso stattliche Frau wie ihre Schwägerin, doch weniger herb, lässiger in der Haltung und im ganzen liebenswürdiger.

Ihrer friedlichen Meinung widersprachen sofort drei oder vier Stimmen, wobei Severins laute und klare Belehrung den Sieg davontrug. «Tatsache ist», sagte Severin, «daß Rußland mit der Mobilisation begonnen hat. Ein Staat wie Rußland aber mobilisiert nicht zu seinem Vergnügen oder nur so probeweise, wie es allerdings behauptet wird, eine Riesenarmee. Und daß Deutschland zuschaut, bis es angegriffen wird, ist auch nicht denkbar.»

«Denkt über den Krieg, wie ihr wollt», erklärte Frau Barbara, «aber mir will es nicht in den Kopf, daß in unserm Zeitalter noch zivilisierte Völker übereinander herfallen könnten.»

«Aber Mama», widersprach Severin, «was meinst du denn, warum diese Völker Millionen um Millionen für Kriegsrüstungen ausgeben, und …»

«Die Völker? Ich denke die Regierungen!» warf Paul ein.

«… und warum zum Beispiel Frankreich jetzt die dreijährige Dienstzeit einführt, das zivilisierte Frankreich?» fuhr Severin fort, ohne Pauls Einwurf zu beachten.

In diesem Augenblick begann Professor Junod zu reden, der sich an der einen Schmalseite des Tisches bisher schweigend über seine Suppe gebeugt und sorgfältig Löffel um Löffel zwischen Spitzbart und Schnurrbart hineinbefördert hatte. «Frankreich kann nicht ruhig zusehen, wie man es in Berlin treibt, das ist ganz klar», sagte er mit seiner trockenen Stimme so ungewohnt laut, daß alle hinsahen. «Frankreich befindet sich in der Verteidigung. Das französische Volk aber wird von sich aus niemals Krieg anfangen.»

«Jaa, Gaston …» rief Ammann von der anderen Schmalseite her zweifelnd und durch Junods Eifer belustigt, «ich weiß nicht … das Volk möchte für 1870 im Grunde doch Revanche haben …»

«Und nachher müssen die Deutschen wieder Revanche haben», sagte Frau Barbara, ehe Junod antworten konnte, und bewegte entschieden den Kopf hin und her. «Ich finde es einfach unwürdig, daß man sich nicht friedlich verständigen kann.»

«Die Deutschen werden nach einem Kriege kaum in den Fall kommen, Revanche zu verlangen», bemerkte Hartmann lächelnd.

«Ah voilà!» rief Junod mit einer knappen Handbewegung gegen den Oberstleutnant und schien nun fortan auf jede weitere Bemerkung verzichten zu wollen. Aber im nächsten Augenblick behauptete er, daß die angebliche russische Mobilisation von den Deutschen erfunden worden sei, die einen Vorwand für ihre eigenen militärischen Machenschaften brauchten.

«Aber Gaston!» rief Ammann ernsthaft. «Man gibt es ja in Rußland offen zu, daß mobilisiert wird. Die Verstärkungen der russischen Armee an den Westgrenzen haben nichts mehr mit Manöver zu tun; man baut die rückwärtigen Verbindungen aus, Eisenbahnen werden angelegt und so weiter … nein, nein, Erfindungen sind das nicht.»

«Es läßt sich in der Presse genau verfolgen», sagte Severin mit einem Achselzucken. «Die ‹Germania› hat vorgestern wieder klipp und klar erklärt, was jetzt in Rußland geschieht; die Meldung ist auch von unserer Agentur gebracht worden.»

«Übrigens», fuhr Ammann fort, «was man von diesem Herrn Suchomlinow hört, dem russischen Kriegsminister, klingt deutlich genug. ‹Wir sind bereit!› erklärt der Kriegsminister, und das russische Heer ist nach seiner Überzeugung ganz einfach unüberwindlich …»

Auf diese Art ging es noch eine Weile fort, aber schließlich kamen zwischen einzelnen Tischnachbarn wieder friedlichere Gegenstände zur Sprache. Ammann gab sich, strahlend vor Zufriedenheit, bei aller Teilnahme an der Unterhaltung doch in behaglicher Breite dem Genuß der guten Dinge hin, und gelegentlich, während er verständnisvoll kauend die mächtigen Kinnladen bewegte, nickte er seiner Frau anerkennend zu. Frau Barbara saß zur Rechten ihres Mannes, oder vielmehr thronte sie dort, aufrecht, wachsam und immer bereit, das Gespräch zu lenken, dem Aufwartmädchen einen Wink zu geben, einen Gast zu ermuntern. Nichts entging ihr, und was sie besonders zu sehen wünschte, zeigte ihr der hohe, in einen schmalen Goldrahmen gefaßte Wandspiegel, dem sie schräg gegenüber saß. Gertrud, fand sie, brachte ihre Gestalt in dem einfachen blauen Abendkleid mit dem breiten, nicht sehr tiefen Ausschnitt anständig zur Geltung; dieser Ausschnitt entsprach ihren geraden, breiten Schultern, die zum kräftig schlanken, bestimmt ansetzenden Hals beinahe im rechten Winkel standen. So etwas durfte man zeigen. Das Haar trug sie wie immer in mäßig hohen, lockern Wellen, die beide Schläfen frei ließen. Sie sah hübsch aus neben ihrem Mann, der seinerseits jeden Vergleich aushielt, und zwar nicht nur hier. Mama war überzeugt, daß es in der ganzen Stadt Zürich ein so vornehmes, stattliches Paar nicht zum zweitenmal gab, und sie wäre zuversichtlich, ja glücklich gewesen, wenn sie die sichern Anzeichen des Unheils jetzt nicht mit eigenen Augen wahrgenommen hätte. Hartmann benahm sich hier seiner Frau gegenüber so liebenswürdig, wie man es nur wünschen konnte, aber Gertrud schien das kalt zu lassen, sie sprach mit ihm offenbar kein Wort mehr als nötig war. Auf ihrem sympathischen, nicht ganz vollkommenen Gesichte lag, durch ihre angeregte Lebhaftigkeit und das vielfach gespiegelte Licht hervorgerufen, ein lebendiger Glanz, der es schön machte, aber wenn sie ihrem Mann antworten mußte, wich dieser Glanz für Augenblicke einer kühlen Gleichgültigkeit. Sobald sie sich dann wieder mit Albin Pfister unterhielt, ihrem Nachbarn zur Rechten, strahlte sie vor liebenswürdiger Anteilnahme, ja vor Herzlichkeit.

Dies war immerhin kaum auffallend in einer Gesellschaft, die den Mangel an Liebenswürdigkeit zwischen Ehegatten mit der abstumpfenden Gewohnheit des täglichen Umganges aus eigener Erfahrung zu entschuldigen vermochte. Für die Mutter aber war es von schmerzender Deutlichkeit; sie fand Gertruds Benehmen unpassend und grollte beinahe auch diesem jungen Pfister noch, den sie als klugen, bescheidenen, durchaus ehrenhaften Mann kennengelernt hatte.

Der Abschluß befriedigte sie nicht, sie hatte mehr erwartet. Aber der eigentliche Grund ihrer Unzufriedenheit bestand in der Tatsache dieses Abschlusses selber. Sie hatte gehofft, der gesellige Abend werde ihr darüber hinweghelfen, wie eine Leichenfeier dem Trauernden vom blinden Schmerz zur Einsicht in das allgemein Gesetzmäßige seines Verlustes hinüberhilft; doch das Gegenteil war der Fall. Niemand erwähnte den Anlaß der Veranstaltung, obwohl jedermann wußte, daß in vierzehn Tagen das Haus erbarmungslos niedergerissen wurde. «Es ist ihnen gleichgültig, sie wissen, was wir dafür gelöst haben», dachte sie. «Was aber in Wirklichkeit niedergerissen wird und was wir alles verlieren, das wissen sie nicht.»

Sie täuschte sich, es war ihnen nicht gleichgültig; das Bewußtsein, daß man hier in einem dem Untergang geweihten Hause zum Abschied um die gemeinsame Tafel versammelt war, lagerte vielmehr über der ganzen Runde, und am Ende, als Champagner eingeschenkt wurde, kam es denn auch zur Sprache. Professor Junod setzte zu einem kleinen Toast an, in dem er Frau Barbara als die Spenderin des festlichen Mahles ehrte und sie hochleben ließ als die Seele dieses Hauses, das nun wie eine überreife Schale von ihr abfallen werde. «Die Form zerfällt, wie alle Form», schloß er, «aber der gute Geist, der sie beseelt hat, lebt unverändert weiter in der Herrin, die auch in Zukunft die Hausherrin sein wird.»

Bald nach ihm sagte Hartmann ein paar Worte; im Gegensatz zu Junod, der mit schüchtern verbindlichem Lächeln unter wiederholten leichten Verbeugungen sich während der ganzen Rede an Frau Barbara gewandt hatte, schaute er, ohne seine Haltung zu ändern, mit sachlich ernster Miene ungezwungen vor sich hin. «Das Haus Ammann», fuhr er nach einer knappen Einleitung fort, «ist mir immer als eine Verkörperung des guten schweizerischen Bürgertums erschienen, zu dem wir schließlich alle gehören. Seine Tugenden haben sich in diesem Hause bewährt, und bewähren sich immer noch. Das Kleinbürgerliche, das ihm gelegentlich anhaftet, ist hier überwunden. Dieses Bürgertum ist heute der sichtbarste Ausdruck der Nation. Manche schweizerische Tradition ist im Absterben. Die Tradition unseres Bürgertums ist im Wachsen begriffen, sie hat die Zukunft für sich. Mehr kann man nicht haben wollen. In diesem Sinne trinke ich auf die Zukunft des Hauses Ammann.»

Frau Barbara spürte eine flüchtige Regung von Stolz, aber im Tiefern blieb sie unberührt. Sie dachte nicht daran, etwas zu verkörpern, sie hielt sich an die unmittelbare Wirklichkeit, in der sie lebte, und schaute diese Wirklichkeit viel nüchterner an als die fabelnden Männer. Das Gerede von zerfallender Form, von Zukunft und wachsender Tradition lenkte ihren Blick nicht vorwärts, sondern zurück, und statt von heiterer Zuversicht war sie von der trüben Ahnung erfüllt, daß hier eher etwas ende, eine Ammannsche Epoche sozusagen, eine glänzende Epoche, deren Fortsetzung auf jeden Fall problematisch geworden war. «Redet ihr nur, aber verkauft sind wir halt doch!» dachte sie.

Dagegen geriet Ammann selber in eine sehr gehobene Stimmung. Er konnte in diesem Augenblick seine Hochachtung vor Hartmann nicht verbergen. «Albrecht!» rief er schallend, mit strahlender Miene, schwenkte ihm weit ausladend das schäumend volle Glas entgegen und trank es auf einen Zug aus. Gleich darauf begann er zu reden, während ihm der Schwiegersohn das Glas wieder füllte. «Wir wollen in dieser Stunde nicht nur an uns denken, meine Lieben», rief er mit heiterer Überzeugung, «sondern an die Gesamtheit des Vaterlandes. Wir dürfen mit uns zufrieden sein, es ist wahr, und wir sind stolz darauf, aber wir wollen nicht vergessen, wem wir alle unser Wohlergehen und unsere Sicherheit zu verdanken haben. Von der Zukunft des Vaterlandes, die ihrerseits in der allgemeinen Zukunft beschlossen liegt, hängt auch die unsere ab. Die allgemeine Zukunft aber würde uns wohl ebenso staunenswert vorkommen wie unsern Vätern oder Großvätern die Gegenwart. Die Entwicklung geht weiter, und mag es auch gelegentlich zu vorübergehendem Stillstand kommen, ein Rückfall ist nicht mehr denkbar, der Fortschritt ist unaufhaltsam, der Weg liegt vor allen Völkern offen. Im Glauben und Vertrauen auf diese Zukunft wollen wir unsere Gläser leeren!»

Die Gesellschaft griff zu den Champagnerkelchen. Nur Frau Barbara regte sich nicht; mit niedergeschlagenen Augen saß sie aufrecht da und zögerte. Die meisten bemerkten es und stutzten. Sie zögerte einen Augenblick, dann, während fast alle schon tranken, erhob sie das Glas langsam, mit verschlossener Miene, und nippte daran.

Nach dem Ende des Mahles regte sich ein gewisser Widerstand gegen die Teilung der Gesellschaft. «Ach, ihr braucht jetzt nicht gleich wegzulaufen, ihr werdet noch genug musizieren können!» sagte Frau Barbara. Da auch Severin dieser Meinung war, mußten sich die Spieler noch ein wenig gedulden. Fred aber fand es sinnlos, hier die Zeit zu verplaudern, da doch das Quintett beisammen und die Instrumente zur Stelle waren, er begann Gertrud heimliche Winke zu geben, stieß Paul in die Seite und entfernte sich schließlich zuerst. Mit einiger List gelang es dann auch Paul, Gertrud und Albin, unauffällig in den Musiksalon zu entweichen.

Gertrud begann in einer Anwandlung von Übermut auf dem glänzenden, glatten Parkett zu tanzen.

«Hast du schon so etwas gehört?» fragte Paul grinsend und faßte Albin am Arm. «Der Fortschritt ist unaufhaltsam … ein Rückfall ist nicht mehr denkbar … und dann die Zukunft, die Zukunft! Unglaublich! Überhaupt … ich achte ja Mama sehr hoch, nicht wahr, aber … ein solcher Abend ist doch eine üble Geschichte.»

«Ich weiß nicht … ich habe es ganz hübsch gefunden», antwortete Albin, während er mit lächelnden Augen den spielerisch leichten Bewegungen Gertruds folgte.

Paul blickte ihn spöttisch erstaunt an, dann schlenderte er achselzuckend von ihm weg, um seinen Geigenkasten zu öffnen.

Gertrud tanzte zum Flügel hin, setzte sich und schlug ein paar Akkorde an, dann drehte sie sich auf dem Stuhl herum, legte die Hände in den Schoß und fragte betrübt: «Aber was machen wir jetzt, wenn die andern nicht kommen?»

«Ich lotse sie schon noch herauf, nur keine Angst!» erklärte Fred, der diensteifrig die Pulte gestellt hatte.

«Wir könnten ja inzwischen das Largo aus dem Bach-Konzert da spielen», sagte Paul. Er hatte das Konzert in d-moll für zwei Violinen und Klavier hervorgeholt und legte die Stimmen auf. «Albin und ich kennen den Satz, und du spielst ihn vom Blatt, wenn du ihn nicht kennst.»

Gertrud blätterte ihre Stimme durch und war einverstanden, die Geiger stimmten ihre Instrumente, dann spielten sie das Largo, sorgfältig, andächtig, mit aller Ehrfurcht vor dem erlauchten Namen. Als sie es beendet hatten, allargando und mit großem Ton, drehte Gertrud sich langsam herum und blickte die zwei Geiger an. «Das ist wundervoll!» sagte sie leise.

Paul nickte ironisch zustimmend.

«Und wie das hier klingt!» sagte Albin. «Wir haben es ohne Begleitung auf meiner Bude gespielt, erinnerst du dich? Das ist ein Unterschied!»

«Ja … in vierzehn Tagen werden hier andere Töne erklingen», antwortete er bitter. «Es wird prasseln, splittern, krachen …»

«Ach Gott!» unterbrach ihn Gertrud unwillig.

«Und in einem Jahr», fuhr Paul mit grimmiger Genugtuung fort, «werden an dieser Stelle vielleicht ein paar Engroskrämer einander übers Ohr hauen … vielleicht wird man auch Strohhüte fabrizieren, oder es werden hier Maschinen kreischen, es wird nach Schweiß und Öl stinken … kurz, es lebe der Fortschritt! Abbasso la musica!»

«Ach was, ihr zieht nicht in die Wüste!»

«Zum Stockmeier! Dort wird es anders tönen, wenn wir überhaupt noch spielen sollten, was ich bezweifle …»

«Dann wird bei mir gespielt!» rief Gertrud aufwallend. «Überhaupt …» Sie zögerte einen Augenblick, ein zartes Rot glühte auf ihren Wangen, dann erklärte sie entschlossen: «Nächstesmal spielen wir bei mir. Und zwar kommst du zuerst einmal mit Herrn Pfister, dann wollen wir doch dies ganze Konzert probieren, ihr könnt es ein wenig üben! Sind Sie einverstanden, Herr Pfister?»

«Sehr gern!» antwortete Albin. «Wenn Sie nicht zu große Hoffnungen auf mich setzen. Ich bin ein Pfuscher.»

Sie hielt den Kopf schief und schielte ihn von der Seite her ungläubig an. «Ich habe Sie soeben gehört», sagte sie leise. «Das war nicht gepfuscht.»

In diesem Augenblick stieß Fred die Tür auf und verkündete triumphierend: «Sie kommen!»

Severin und Professor Junod traten ein, holten sogleich ihre Instrumente und setzten sich vor die Pulte, auf denen die Stimmen zum Klavier-Quintett von Schumann bereit lagen. Alle kannten das Werk, jeder hatte seine Stimme geübt, und die ersten zwei Sätze gelangen denn auch. Severin, der sich eben noch über politische Fragen ereifert hatte, war zum Glück nicht recht dabei und verzichtete auf Kritik. Fred war zufrieden. In den letzten zwei Sätzen begann es zu hapern, da und dort wurden Mißklänge laut, doch brachten sie alles zu einem guten Ende. Es war Mitternacht.

Severin erhob sich und entspannte den Bogen, Professor Junod stand auch auf. In diesem Augenblick kam Fred vom Notenschrank her und legte eine aufgeschlagene Stimme vor jeden der vier Streicher hin. «Spielt das da noch!» bat er. Es war ein Streichquartett von Mozart, das «Jagdquartett», das er sich gemerkt hatte. «Ach, es ist zu spät, Fred!» sagte Severin unwillig. «Wir können sie da unten nicht so lange warten lassen.» Fred widersprach und wurde sogleich von Gertrud unterstützt, die über die wartende Gesellschaft nicht im geringsten beunruhigt schien. Professor Junod zog bedauernd die Brauen hoch und sah nach der Uhr. Schließlich einigten sie sich auf Pauls Vorschlag, wenigstens den langsamen Satz noch zu spielen.

Sie rückten mehr gegen die Mitte, Gertrud schloß den Flügel und nahm in einer Ecke Platz. Fred, der den Leuchterschein, in dem sie bis jetzt gespielt hatten, nicht angenehm fand, stellte trotz Severins Bemerkung, man möge doch keine Geschichten mehr machen, die Stehlampe zwischen die Pulte. Während die Spieler ihre Instrumente stimmten, ging er zum Schalter. Einen Augenblick stand noch alles im hellsten Lichte, weiße Möbel aus dem Zeitalter Louis XVI. mit geraden zierlichen Beinen, der kunstreiche, von einem Meister der Dynastie Pfau gebaute Ofen mit den Geßner-Idyllen in zartem Blau und Weiß, die gelbe Seide der Wände, auf der sich in ovalen Rähmchen Schattenrisse von Komponisten abhoben, die unaufdringlich schöne Stuckdecke, dieser ganze wohlgestaltete Raum, in dem ein verehrungswürdiger, von der Umwelt schon überwundener Geist bis heute lebendig geblieben war. Fred drehte das Licht ab, schlich mit scherzhaft übertriebener Vorsicht auf den Fußspitzen zu seinem Stuhl und ließ sich lautlos nieder.

Die Spieler rückten die Stühle zurecht, strichen das aufgeschlagene Notenheft glatt, räusperten sich und saßen nun schweigend da, ein paar gespannte, stille Sekunden lang, die Fred immer besonders genoß. Die hohe Stehlampe mit dem großen goldgelben Schirm strahlte inmitten des dämmernden Salons einen warmen Strom von Licht auf die Gruppe hinab, die Notenblätter leuchteten, die braunen Instrumente schimmerten, auf den andächtig gesammelten Gesichtern lag gedämpft derselbe lebendige Schein, und als die vier Streicher langsam den Bogen hoben, schien es unmöglich, daß nun etwas anderes ertönen könnte als reinste Musik.

Die Anfangsfigur erklang, ein leises, schmerzliches Aufatmen und ergebenes Hinsinken, ein paar Noten nur, die doch das ganze Adagio im Kern zu enthalten scheinen; die erste Geige erweiterte sie zum Thema und sang sie schon heimlich verklärt zum Grundton zurück.

In diesem Augenblick trat Frau Barbara ein. Sie kam aus einer lärmigen Unterhaltung über den schweizerischen Generalstab, die von den zwei Männern unter dem Einfluß des Weines in einem merkwürdigen Wechsel von unnachgiebiger Überzeugung und lauter Fröhlichkeit geführt wurde, während die verlassenen, müde plaudernden Frauen wiederholt mit unterdrücktem Gähnen nach der Uhr geblickt hatten. Sie war über das lange Ausbleiben der Musikanten entrüstet. Mit grollender Miene trat sie ein, entschlossen, dem eigenmächtigen Gebaren ein Ende zu machen.

Gertrud beugte sich erschrocken vor, hob wie zur Abwehr die verschlungenen Hände vor die Brust und schaute Mama flehend an. Fred runzelte mit einem bösen Ausdruck die Stirn.

Frau Barbara warf den ersten Blick auf Gertrud, den zweiten auf Fred, dann stutzte sie, sah nach den Spielern hin und stand, ihren Groll beherrschend, mit gekränkter Miene da. Die Anfangsfigur erklang jetzt wehmütig aufatmend in der Oktave, und gleich darauf begann das allen Schmerz verklärende Singen der ersten Geige.

Frau Barbara setzte sich auf den nächsten Stuhl. Eine Weile saß sie noch sehr aufrecht, aber ihre Miene entspannte sich, und als die Geige das Thema wieder aufnahm, neigte sie mit gesenktem Blick ein wenig den Kopf.

Beruhigt spielten die Streicher den Satz zu Ende, mit aller Hingabe an seine unbeschreibliche Innigkeit und im mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, daß die Seele des Meisters hier zum letztenmal in einem Raume sang, der ihr bei aller Unvollkommenheit der Musikanten doch eine bescheidene Heimat gewesen war.

Schweizerspiegel

Подняться наверх