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Fred erwachte in der neuen Wohnung an der Dufourstraße zur gewohnten Zeit mit schwerem Kopf und einem faden Geschmack im Munde. Sogleich trat ihm das wüste Bild einer Studentenkneipe vor Augen, an der er teilgenommen hatte. «Es ist gewiß schon Mittag», dachte er, blinzelte argwöhnisch in die graue Helle des Zimmers und tastete nach der Taschenuhr. Der Zeiger stand auf sieben. Erschrocken hielt er die Uhr ans Ohr, denn entweder war sie stehengeblieben oder es mußte sieben Uhr abends sein. Die Uhr tickte regelmäßig. Er begann angestrengt darüber nachzudenken, ob es Morgen oder Abend sei, bis er die ihm schon wohlbekannten Geräusche des Milchwagens und den Pfiff des kursmäßig von der nahen Schifflände abgehenden Dampfers hörte. Es war sieben Uhr morgens. Er wunderte sich, daß er trotz seinem Bierdusel so früh erwacht war, aber plötzlich fiel ihm der Grund ein, und in diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Es war die Abschiedskneipe gewesen, an der er aus lauter Freude über den Schluß des Wintersemesters, eines unerquicklichen, sehr zweifelhaften Semesters, sich beinahe betrunken und dabei doch den Entschluß nicht aufgegeben hatte, am nächsten Morgen früh aufs Land zu fahren. Dieser Entschluß hatte ihn geweckt, und der Gedanke an die unmittelbar bevorstehenden Ferientage beim Onkel Robert im Rusgrund durchfuhr ihn jetzt aufheiternd wie ein unverhoffter Sonnenstrahl. Schmunzelnd sprang er aus dem Bett, und eine gute Stunde darauf, nachdem er gebadet und gefrühstückt hatte, stieg er am Stadelhofer Bahnhof schon völlig frisch und unternehmungslustig in den Zug.
Auf der ganzen Fahrt dachte er nur noch daran, ob ihn Christian wohl am Bahnhof erwarte und ob im Rusgrund alles beim alten geblieben sei. Er sah sich mit dem Vetter beim Haus vorfahren, die Laufhündin Fineli trabte wedelnd um das Gefährt, Martha und Lisi kamen herbeigelaufen, vor dem Haus hing Wäsche, der Knecht Bärädi sah neugierig vom Stall herüber, und die Sonne schien, wie sie in der Stadt nicht scheinen konnte. Gegen das Ende der Fahrt erkannte er eine alte Eiche wieder, die nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt war, und als das Stationsgebäude selber in Sicht kam, entdeckte er, den Kopf unter dem offenen Fenster, Christians Einspänner. Den Vetter sah er dort neben einem großgewachsenen Mann, den er erst in der Nähe als Christians älteren Bruder Karl erkannte. Er stieg aus und schüttelte beiden kräftig die Hand.
«So, wieder ein Semester erledigt?» fragte Karl, während Christian sich um Freds Koffer bekümmerte.
Karl erwartete einen in wenigen Minuten fälligen Zug, um in die Stadt zu fahren. Er war ein dreißigjähriger, großer, grobschlächtig gebauter Mann in soliden Schuhen, mit einem weißen Kragen über dem farbig gestreiften Hemd und einer peinlich geknüpften bunten Krawatte. Er hatte dem Bauerngewerbe den Rücken gekehrt, weil es «keine Aussichten» bot, und sich nach einem kaufmännischen Examen allmählich «in den Handel hineingearbeitet». Dabei war er eifrig bestrebt, seine allgemeine Bildung zu fördern, er besuchte Hochschulkurse, lernte Sprachen und verfolgte in den Zeitungen aufmerksam den Lauf der Welt. Er wollte vorwärtskommen. Seine Beziehungen, besonders die verwandtschaftlichen zum Nationalrat und Brigadekommandanten Ammann, nützte er anständig, aber entschlossen aus, er besaß einflußreiche Freunde unter den liberalen Parteigenossen und war Offizier, Hauptmann in einem Landbataillon, das er in zwei, drei Jahren zu befehligen hoffte.
Fred war sich nicht ganz klar, wie er ihn zu beurteilen hatte, er schätzte ihn als ehrlichen und anständigen Menschen, fand aber seinen Bildungseifer und seine Strebsamkeit unsympathisch. Im Verkehr mit ihm beschränkte er sich auf einen freundlich ironischen Ton, den Karl ebenfalls ironisch beantwortete, obwohl er vor dem gesellschaftlich gebildeten Stadtbürger, dem Akademiker, dem Sohne seines einflußreichen Onkels im Grunde eine naive Hochachtung hegte.
«Ja, unsereiner muß an die Arbeit, wenn andere Leute in die Ferien fahren», sagte Karl, wobei er über diese Tatsache nicht eben unglücklich aussah.
«Dafür bringst du es auch zu etwas!» erwiderte Fred mit geheuchelter Achtung.
«Jaja, schon recht, du wirst ja auch nicht im Rusgrund hängen bleiben.»
«Das wär’ mir noch lang nicht das Letzte. Ich habe genug von der Stadt.»
«In den Ferien! Wir werden uns aber am Ende doch häufiger in der Stadt treffen als auf dem Lande … Im Sommer rückst du in die Aspirantenschule ein, nicht?»
«Es scheint!»
«Das wird ein anderer Betrieb als in den Wiederholungskursen, du wirst schon sehen. Wenn Hartmann Schulkommandant ist …» In diesem Augenblick fuhr der Zug ein, aber Karl schien ihn gar nicht zu beachten, er sprach ruhig weiter, indessen ein paar Fahrgäste aus- und einstiegen, dann streckte er plötzlich seine breite Rechte aus, drückte Fred sehr bestimmt und kräftig die Hand, nickte Christian flüchtig zu und bestieg ohne Hast ein Abteil, dessen Tür der Zugführer bereits geschlossen hatte.
Fred und Christian gingen zum Einspänner und fuhren sogleich los, eben als sich der Zug nach der entgegengesetzten Richtung ebenfalls in Bewegung setzte. Karl stand am Fenster und winkte maßvoll mit der flach erhobenen Hand, Fred winkte auch, aber ausgelassen, indem er aufstand und den Arm schwenkte, dann verloren sie einander aus den Augen.
Die Straße zog sich außerhalb der Ortschaft zwischen Wiesen und jungbelaubten Obstbäumen gegen einen langgestreckten, oben bewaldeten Höhenzug hin, den sie in einer weit ausgreifenden Schleife gemächlich erklomm. Die zwei Vettern saßen bequem zurückgelehnt nebeneinander; den Koffer hatte Christian hinten aufgeschnallt, und über den Bock hinweg lenkte er «Sepp», einen braunen Wallach, der hier auf ebener Strecke einen stampfenden Trab angeschlagen hatte. Zu beiden Seiten der Straße waren Arbeiter damit beschäftigt, hohe Stangen aufzustellen. Fred erfuhr, daß die Straße auf ein Schützenfest hin mit Wimpeln versehen werde, und als sie den Fuß der Höhe erreichten, bemerkte er, daß auch am nahen Schießstand Leute an der Arbeit waren.
«Wir müssen den Stand erweitern», erklärte Christian, «es ist ein kantonales Fest, wir würden da mit unsern zehn Scheiben bei weitem nicht auskommen.»
«Jaso, da bist du natürlich auch beteiligt», sagte Fred lächelnd.
«Ja, es hat jeder etwas übernehmen müssen. Wir haben hier noch nie ein Kantonales durchgeführt, und das gibt mehr zu tun, als man sich vorstellt. Die Komitees sind schon lang an der Arbeit. Ich habe zwar vorläufig noch nicht viel zu tun, ich bin beim Schießkomitee, aber … es gibt doch Sitzungen, und … schließlich muß alles klappen.»
«Wie manches Komitee gibt es denn da? Ich habe keine Ahnung, wie so etwas zustande kommt.»
«Ja … an der Spitze steht das Organisationskomitee, nicht wahr … und dann gibt es also ein Schießkomitee, das den Plan aufstellen, das eigentliche Schießen durchführen und die Abrechnung machen muß … dann ein Baukomitee, das jetzt eben an der Arbeit ist … hinter dem Stand wird noch eine Festhütte für etwa dreitausend Personen gebaut, damit fangen sie nächstens auch an … die Budenstadt kommt auf beide Straßenseiten. Dann gibt es noch ein Komitee für die Sammlung von Ehrengaben, ein Dekorations-, ein Empfangs- und ein Pressekomitee, ein Wirtschafts- und ein Unterhaltungskomitee, ein Finanzkomitee, ein Komitee für den Sanitätsdienst, für Unterkunft, Polizeiaufsicht, Verkehr …»
«Hör auf!»
«Jaja, das muß so organisiert sein, sonst geht’s schief. Wir rechnen mit einer Beteiligung von viertausend Schützen, bei einer Plansumme von zweihunderttausend Franken. Das Fest dauert zehn Tage …»
Fred hörte aufmerksam zu, wunderte sich, stellte Fragen und zeigte eine Anteilnahme, die ihm eben noch fern gelegen hatte. Ein Schützenfest war für ihn bis jetzt höchstens ein patriotischer Rummel gewesen wie alle derartigen Anlässe, ein Ausdruck jener plebejischen Betriebsamkeit, die von intellektuellen und höher gebildeten städtischen Kreisen als «schweizerische Festseuche» verurteilt und verspottet wurde. Jetzt, da er Christian ernsthaft und einsichtig davon reden hörte, begann auch er das kommende Fest unmerklich für eine große und wichtige Aufgabe zu halten.
Christian war ein einfacher und tüchtiger junger Mann, der mit seinem Vater zusammen die Landwirtschaft betrieb. Obwohl er, von den Schulen abgesehen, nie eine andere als bäuerliche Tätigkeit ausgeübt hatte, unterschied er sich doch von den ganz ursprünglichen Bauern der Landkantone, er war im sozialen Sinne geweckter, im Auffassen rascher und im Denken beweglicher, er war loser in der Erde verwurzelt als jene und stand schon auf der Schwelle zum Bürgertum. Seinesgleichen gab es unter kleinen Handwerkern, Arbeitern und im Umkreis der Städte auch unter Bauern zu Tausenden; sie fielen nicht auf und traten persönlich nur wenig hervor, aber sie bildeten eine für die Zukunft des Volkes entscheidende Schicht, sie stellten eine von der Erde nicht mehr gebundene und von Vorurteilen noch nicht ernstlich gehemmte Kraft dar, mit der alles möglich schien. Die tüchtigsten Handwerker, Aufseher, Vorarbeiter, die zuverlässigsten Eisenbahner, die brauchbarsten Soldaten und Unteroffiziere stammten aus der jungen Generation dieser Mittelschicht, wie denn übrigens auch Christian als einer der fähigsten Korporale seiner Kompagnie galt. Er war ein wenig kleiner als Fred, doch stämmiger, ein gesunder, kräftig gebauter Bursche mit krausem dunkelblondem Haar, gleichmütig blickenden Augen und leicht hervortretenden Backenknochen. Seinem Wesen nach schien er nicht eben heiter, er besaß einen ernsten, manchmal fast mürrischen Ausdruck und lachte selten laut, obwohl er sich über nichts zu beklagen hatte und allerdings auch kaum jemals klagte. Im Wagen neben Fred taute er nun etwas auf oder er verbarg doch die verhältnismäßig gute Laune nicht, die ihn im Grunde erfüllte.
Als sie plaudernd die halbe Höhe erreicht hatten, stand der Wallach plötzlich still. «Hü!» rief Christian, schüttelte das Leitseil und griff nach der Geißel, aber Fred hielt ihn zurück. «Laß ihn doch ein bißchen stehen!» bat er. Er fand es lustig, daß Sepp aus eigenem Ermessen hier anhielt.
«Er probiert nur etwas, der faule Hagel, er hat schon ganz andere Fuder da hinaufgezogen», sagte Christian, doch fügte er sich und zog die Bremse an, worauf Sepp befriedigt den Kopf senkte und aufwarf.
Sie saßen im Schatten der Berglehne, nahe am Waldrand, während die auslaufenden Hänge unter ihnen und das weite Land zu ihrer Rechten im klaren Licht der Frühlingssonne lagen.
«Weißt du, mir ist sauwohl, trotzdem ich gestern beinah einen Klapf hatte», gestand Fred und blickte seinen kurz und trocken auflachenden Vetter vergnügt an. Christian war für ihn die Hauptperson im Rusgrund. Das Schlichte, Anständige und Echte an ihm war ihm sympathisch, in seiner Nähe pfiff er auf das städtische Gehaben, und sein geringster Freundschaftsbeweis ging ihm näher als die lauteste Kameradschaftsbezeugung seiner Studiengenossen.
«Hü!» rief Christian nach einer Weile und löste die Bremse, worauf Sepp sich mit einem Ruck ins Geschirr legte und sogleich rüstig ausschritt. Vor der etwas steileren Strecke durch den Wald aber stiegen die Vettern aus und gingen neben dem Wagen bis auf die Höhe, wo sie von der breiten Straße bald in einen leicht abfallenden Fahrweg einbogen. Auf diesem noch morgenfeuchten, von hohen Böschungen gesäumten Weg, über dem die Tannäste sich oft von beiden Seiten her zusammenschlossen, begann der Gaul zu traben. «Jetzt will er heim», sagte Christian und drehte die Bremse fester an.
Es war denn auch die letzte Strecke, es war der Heimweg. Als sie zum Waldrand hinausfuhren, öffnete sich wie ein großer grüner Mutterschoß eine weite Mulde vor ihnen, und mitten darin eingebettet, von Bäumen halb verdeckt, lagen Haus und Stall. Fred stieß vor Übermut einen Laut aus, der ein Jauchzer sein sollte, aber nur ein heiserer Schrei war; er konnte gar nicht jauchzen. Christian lächelte über die freudige Erregung seines Vetters still vor sich hin, doch Fred bemerkte es nicht; während sie in die Mulde hineinfuhren, saß er, die Hände vergessen zwischen den Knien, mit kindlich strahlendem Gesicht aufrecht und schweigend da.
In der Nähe des Gehöftes war vorerst kein anderes Lebewesen zu entdecken als ein Huhn, das sich von seiner Schar zu weit entfernt hatte und beim Nahen des Einspänners wackelnd davonrannte. Gleich darauf aber meldete sich drüben beim Stall mit kräftiger Stimme Plutus, ein Appenzeller Sennenhund, und als sie vor dem mächtigen Riegelhaus anhielten, kam wirklich Fineli dahergetrabt, eine weiß und gelb gefleckte Schweizer Laufhündin. Fineli begrüßte ihren Herrn mit ein paar Trillern, dann schwieg sie und musterte aufmerksam den Gast; sobald aber Fred sie anrief, erkannte sie ihn und schwang freudig die Rute.
Tante Marie, die Hausfrau, kam zum Empfang herab und hieß den Gast willkommen, mit dem freundlich offenen Lächeln, mit dem sie ihn immer empfangen hatte, das aber nach seiner Erfahrung rasch und endgültig wieder hinter einer bald herben, wachen, bald mütterlich besorgten Miene zu verschwinden pflegte. Es war eine etwas untersetzte, noch kaum recht ergraute Frau, die nicht eben viel vorstellte, aber «Haare auf den Zähnen» hatte und ziemlich scharf, doch gerecht und ohne Launen regierte.
Unter einem offenen Fenster des ersten Stockes stand gerötet und lachend Lisi, ihre jüngere Tochter, und winkte scherzhaft ausgelassen mit einer Küchenschürze.
«Jaja! Gib du auf die Suppe acht!» rief die Frau, während sie Fred zur Haustür begleitete.
Im dritten Stock beugte sich die etwas blassere Martha über eine Fensterbrüstung und schaute unbemerkt mit einem stillen Lächeln auf den Vetter hinab.
Nachdem Fred die Hausinsassen kurz begrüßt und in seinem Zimmer auf Tante Maries Verlangen seine Kleider aus dem Koffer genommen hatte, damit sie keine Falten bekämen, begab er sich schmunzelnd zum Mittagessen in die große Stube. Hier richtete er seine Grüße aus und beantwortete eine Menge Fragen, bis Lisi die Suppenschüssel hereintrug und die Familie sich um den Tisch versammelte. Der Augenblick kam, wo das Gespräch plötzlich verstummte und alle Tischgenossen mit gesammelter Miene ein wenig den Kopf senkten, ein kurzer, stiller Augenblick, dem Fred sich ernsthaft fügte, obwohl er wußte, daß sie diesen Brauch nur der Frau zuliebe noch beibehielten. Dann aber wurde das Gespräch sofort wieder lebhaft aufgenommen, und Fred mußte nach allen Seiten hin alle möglichen Auskünfte erteilen. Man wollte wissen, wie es bei der Zügleten zugegangen sei, ob es ihnen in der neuen Wohnung gefalle, was mit den Möbeln geschehen sei, was Mama zum Verkauf gesagt habe, ob sie auf das Schützenfest hin wohl einmal alle zusammen hieher kämen, und dergleichen mehr.
«Hast du den Karl am Bahnhof noch gesehen?» fragte Onkel Robert, der durch seine mächtige Gestalt, seine Haltung und die Art seines Essens den Tisch durchaus beherrschte. Er saß in Hemdärmeln an der obern Schmalseite und ließ sich in seiner Beschäftigung, die ihn sehr in Anspruch nahm, nicht ernstlich stören. Ab und zu warf er eine Frage hin oder hörte mit halbem Ohr auf eine Antwort, sonst aber hantierte er, unaufhörlich kauend, mit Messer und Gabel, und wenn er etwa einen besonders großen, energisch angestochenen Fleischbrocken zwischen die Zähne gesteckt hatte, legte er die Unterarme so auf die Tischkante, daß Messer und Gabel aus seinen klobigen Fäusten in die Luft ragten, indessen er den Brocken mit nach innen gewandtem Blicke prüfend zerkaute. Dazu schnaufte er hörbar durch die Nase, wie ihm denn das ganze Tischvergnügen eine gewisse Mühe zu bereiten schien. Sein großes rotes Gesicht mit den buschigen blonden Brauen und dem außerordentlich kräftigen Kinn glich in den Hauptzügen dem seines Bruders Alfred, aber es befand sich hier gleichsam noch im Rohzustand und strotzte vor Gesundheit. Ein richtiger Bauer, der täglich selber Hand anlegte, war freilich auch Onkel Robert nicht mehr, er fuhr als Viehhändler im Land herum, war Mitglied des Kantonsrats und warb vor Wahlen unter der Bauernschaft für die Liste derselben fortschrittlichen Partei, der auch sein Bruder angehörte.
Fred bejahte die Frage nach Karl eifrig, was den Vater Ammann sichtlich befriedigte.
«Er bekommt in der Stadt jetzt eine sehr gute Stelle», bemerkte Frau Marie mit offener Genugtuung.
«Weißt du», rief Lisi lebhaft, «wenn Karl in der Stadt wohnt, kommen wir dann auch mehr nach Zürich.»
«Und im letzten Wiederholungskurs … habt ihr einander nie gesehen?» fragte Onkel Robert.
«Doch, ich hab ihn gesehen, aber er mich nicht», antwortete Fred. «So ein Hauptmann hoch zu Roß», fügte er scherzhaft verächtlich bei, «sieht sich nach dem Gewürm fremder Korporale überhaupt gar nicht um, nicht wahr!»
«Hähää!» machte der Alte heiser und strahlend vor Vergnügen.
«Du kommst doch jetzt auch in die Offiziersschule, nicht?» fragte Tante Marie. «Ja … wie lange ist es schon her, daß Karl die Offiziersschule gemacht hat!»
Das Gespräch drehte sich weiter um Karl, die ganze Familie war stolz auf ihn. Fred mußte ein wenig Achtung heucheln, um sie nicht zu verletzen, er kannte ihre Gesinnung und konnte sich sehr gut in ihre Lage hineindenken. Für sie war der Rusgrund kein Paradies, sondern ein abgelegenes Bauerngut mit einigen Kartoffeläckern, etwas Wald und Grasland für fünfzehn bis zwanzig Kühe, deren Milchertrag sich beim besten Willen nicht mehr steigern ließ. Zwar waren sie wohlhabend, da sie immer tätig und sparsam gelebt und außerdem ordentlich am Viehhandel verdient hatten, aber dies Leben war karg und einförmig, es führte nirgendshin und ließ sich auch nicht abschütteln. Dabei gewahrten sie ringsum auf allen Gebieten gewaltigen Fortschritt, großartige Möglichkeiten und wachsenden Reichtum, eine blühende Stadt lag ihnen vor der Nase, und zu den guten Kreisen dieser Stadt gehörte ihre eigene Verwandtschaft.
Fred fand es begreiflich, daß sie unter solchen Umständen ihren Blick nicht genügsam auf der eigenen, ewig gleichen Scholle ruhen ließen, sondern vom Leben der Zeit gefesselt wurden. Er hütete sich aber, seine eigene Meinung über diese Zeit preiszugeben, sie hätten ihn kaum verstanden, und außerdem konnte er nicht darauf schwören. Sicher war nur, daß er selber das fortschrittliche städtische Leben als «faulen Zauber» empfand, während ihn dies ländliche Dasein und Beharren unbegreiflich anzog; daß er mit seiner paradiesischen Faulenzerei auf etwas merkwürdige Art an diesem Dasein teilzunehmen pflegte, gestand er gern zu.
Nach dem Essen zog er sogleich die Kniehosen an und ging hinaus, um sich ein wenig umzuschauen und mit der Zurückhaltung des Genießers allmählich von dieser geliebten Welt Besitz zu ergreifen. Er unterhielt sich mit dem Stallknecht Bärädi, einem jungen Urschweizer aus dem Muotatal, dessen richtiger Name Bernhardin Schelbert war, begrüßte den Appenzeller Plutus, der immer dicker wurde, und versuchte umsonst, sich einem alten Kater in Erinnerung zu rufen; er schlenderte durch den Stall, zu den Schweinen, zum Hühnervolk, und erst nach dem Vieruhrkaffee, den wieder die ganze Familie gemeinsam einnahm, schlug er die Richtung auf das nahe Tobel ein. Dieses Tobel, eine tiefe, dicht bewaldete Bachschlucht, die den Rusgrund gegen Osten begrenzte, hatte Fred schon dutzendmal durchstreift, ohne es ganz zu ergründen, es barg undurchdringliche Dickichte, Teiche, kleine Wasserfälle, Fuchsbaue, weiche Moosböden, Farnhaine, Bruchhalden, merkwürdige Felsgebilde und noch manches Unerforschte.
Als er kurz vor dem Nachtessen zurückkehrte, war er bereits mit einer Neuigkeit für Christian geladen, er hatte einen Dachsbau mit frisch ausgeworfener Erde entdeckt; zu seiner Enttäuschung erfuhr er dann bei Tische, daß Christian, der im Herbst jeweilen das Jagdpatent löste, nicht nur diesen Bau kannte, sondern sogar den Dachs selber schon gesehen hatte.
Er ging frühzeitig zu Bett, er war müde, und die zwei Basen, die gewöhnlich erst abends «etwas von ihm hatten», mußten sich bis zum nächsten Abend gedulden. Eine Weile lag er noch wach im breiten Bauernbett und freute sich, daß er wieder da war. Man hatte ihm das Gastzimmer mit dem Blick gegen Osten überlassen und das zweite Bett daraus entfernt, es war eine sehr geräumige Kammer, die mit ihrem naturbraunen Getäfer jeden schönen Morgen stundenlang goldhell und warm in der Sonne lag. Ihm gegenüber an der Wand hing das Brustbild seines Großvaters Johann Gottlieb Ammann. Das offenbar schlecht gemalte Gesicht sah etwas leer aus, verriet aber doch eine gewisse brutale Lebenskraft und eine äußere Ähnlichkeit mit Onkel Robert. Papa glich ihm kaum; vielleicht hatte er ähnliche Augen, aber die Augen des Johann Gottlieb waren dem Maler vermutlich mißlungen, sie starrten mit einem eher tierischen als menschlichen Blicke dunkel unter den Brauen hervor.
Fred wußte von seinem Großvater nur, daß er aus einem Dorf des Zürcher Oberlandes stammte, eine schöne, wohlhabende junge Witwe geheiratet und gleich darauf den Rusgrund erworben hatte. Hier also waren seine Kinder zur Welt gekommen, vier Söhne und drei Töchter, soviel er sich erinnerte; von den Töchtern lebte nur noch Tante Klara, von den Söhnen war einer früh gestorben, ein anderer nach Amerika ausgewandert. Papa und Onkel Robert bildeten also auf diesem Stammbaum die zwei starken Seitenäste, die den Fortbestand des Geschlechtes Ammann aus dem Rusgrund gesichert hatten.
«Merkwürdig, es sind doch zwei so ganz verschiedene Menschen», dachte Fred. «Sie müssen nicht viel Gemeinsames mitbekommen haben, jeder hat früh seine eigene Richtung eingeschlagen und der Abstand ist noch größer geworden. Onkel Robert hat eine Unterwaldnerin geheiratet, die ihr eigenes Blut mitbrachte, und aus dieser Verbindung sind wieder völlig andere Menschen hervorgegangen, die sich voneinander abermals unterscheiden und ihre eigenen Richtungen einschlagen. Und erst auf unserer Seite! Papa ist nach dem Studium in der Stadt geblieben und hat eine Tochter aus vornehmen städtischen Kreisen geheiratet, die von ganz anderer Seite herkam als er. Was hat wohl Mama noch alles mitbringen müssen, daß wir faulen Äpfel, Paul und ich, so weit entfernt vom großväterlichen Baumstamm niederfallen konnten. Ist das nun ein Gewinn oder ein Verlust? Zwar gleichen ja auch wir einander gar nicht, Paul hat ausschließlich geistige Interessen, während ich … weiß der Teufel! Gertrud gleicht der Mama, ihre Kinder haben bestimmt kein Ammannsches Blut mehr, und mit Lisi und Martha hat sie schon gar nichts gemein, obwohl das ihre Kusinen sind. Aber Severin ist wieder ein Ammann, wenn auch ein städtischer; ob er wohl noch einen großväterlichen Zug besitzt? Oder vielleicht gibt es gar keine Züge, die unverändert durchgehen, alles wandelt sich fortwährend von Mensch zu Mensch. Es sind ja tausend Variationen möglich … oder vielmehr unbegrenzt viele … oder doch nicht unbegrenzt? Wird aus unserm Blute wieder einmal ein Typ wie der Großvater entstehen? Wenn man ausrechnen könnte, daß … ach Quatsch, man kann die Menschen nicht ausrechnen, das fehlte noch, da würden diese verdammten Mathematiker … sie würden sagen, daß in der dritten oder vierten Generation notwendigerweise … das wären Severins Kinder, meine Neffen und Nichten … es ist lächerlich, daß mein Bruder mich zum Onkel macht … man kann sich nicht wehren …»
Er merkte, daß sich seine Gedanken zu verwirren begannen und daß er jetzt schlafen könnte, aber irgend etwas schien ihm so wichtig, daß er es sich vor dem Einschlafen noch rasch klarmachen wollte, er wußte nur nicht mehr genau was, und strengte sich an, um es zu finden. «Die Variationen», dachte er schläfrig, «sind also unbegrenzt … man kann sich nicht dagegen wehren … aber wieso denn … ja, richtig, unbegrenzt, aber wie ein unbegrenztes Netz … ich bin ein Knötchen in diesem Netz … doch so einfach ist das nicht mit den Gesetzen, meine Herren Wissenschaftler … wenn ihr ausgerechnet habt, an welchem Punkt des Netzes ich mich notwendigerweise befinden muß … Punkt 2465 AH3 … werde ich euch vordemonstrieren … ich werde zurückturnen bis zu Christian, eine Bauerntochter heiraten und eine große rückläufige Bewegung … bis zum Großvater zurück … Prost Johann Gottlieb, deine schöne Witwe soll leben … gestatte mir, dein Enkel … wir stellen jetzt alles auf den Kopf …»
Bei diesem Unsinn mußte er lachen, öffnete blinzelnd noch einmal die Lider und merkte, daß er das Licht nicht gelöscht hatte. Er drehte es ab, blickte in der Dunkelheit ironisch nach dem Bilde hin, auf dem nur mehr das verschwommene Rund des Gesichtes zu erkennen war, und glaubte zu sehen, wie der alte Johann Gottlieb im Schutze der Dämmerung jetzt auch zu lachen begann. «Lach du nur!» dachte er belustigt, drückte den Kopf ins Kissen und sank schmunzelnd in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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Frau Marie blickte kurz vor dem Nachtessen durch ein Küchenfenster ihrem Gast entgegen, der mit lässig hängenden Armen und schweren, wiegenden Schritten wie ein Bauer auf das Haus zukam, ungekämmt, ohne Hut, ohne Kragen, mit aufgekrempelten Hemdärmeln, beschmutzten Strümpfen und dreckigen Schuhen. «Wie der wieder aussieht!» dachte sie erschrocken und begann sich Vorwürfe zu machen.
«Fred», sagte sie, als er die Treppe heraufkam, «um Gottes willen, wie siehst du aus! Nein, so darfst du dich wirklich nicht vernachlässigen … wenn Mama dich sähe, wir müßten uns ja schämen! Gib doch etwas mehr acht und tramp nicht in jeden Dreck hinein!»
Fred blickte scheinbar erstaunt auf die besorgte kleine Frau hinab, ließ sie ruhig ausreden und erwiderte dann, mit einem unschuldigen Blick auf seine Schuhe und Strümpfe: «Hm, es hat am Morgen geregnet, nicht wahr … Christian sieht genau so aus …»
«Das ist nicht dasselbe! Christian muß arbeiten und kann nicht besser aussehen … aber für dich schickt sich das nicht …»
«Wieso nicht? Was sich für Christian schickt …»
«Ach, das weißt du selber auch! Mama hat dich nicht so gut erzogen, damit du jetzt …»
«Hör auf, Tante, mach keine Geschichten! Dreck hin, Dreck her, mir ist wohl dabei, und du mußt jetzt wieder in die Küche, sonst brennen dir die Erdäpfel an!» Damit legte er den Arm um ihre Schultern und schob die wohlwollend Aufbegehrende mit sanfter Gewalt in die Küche zurück.
Fred hatte sich in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft im Rusgrund wirklich verändert, und es war ein Zufall, daß Tante Marie es erst heute bemerkte. Er hatte die Sorge um sein Äußeres aufgegeben, unterschied sich nicht mehr allzusehr von den übrigen Bewohnern und nahm an verschiedenen Arbeiten teil. Dabei hatte er ohne jede Absicht seinen Vetter nachzuahmen begonnen. Er nahm lange, ruhige Schritte, wobei er sich infolge seiner Größe zu wiegen begann, und wurde wortkarg, was ihm ohnehin nahe lag.
Gleichmütig, mit einem stummen Nicken, kam er jetzt auch zum Nachtessen, setzte sich breitspurig hin und war bereit, gelegentlich ein Wort über das Wetter zu sagen; aber Christian, der nachmittags im Dorf gewesen war, meldete eine Neuigkeit, die sofort eine ungewohnt lebhafte Unterhaltung zur Folge hatte, und außerdem lag ein Brief von Mama neben seinem Teller. «Dein Vater hält dann am offiziellen Tag die Festrede», sagte Christian. «Ich hab’ es heute vernommen.»
Fred blickte ihn nur kurz und forschend an.
«Soso?» sagte Onkel Robert lebhaft. «Jää, reden kann er, das muß man ihm lassen …»
«Uh, dann kommt ihr doch einmal alle zusammen hieher!» rief Lisi.
«Habt ihr keine eigenen Redner, daß ihr sie müßt von Zürich kommen lassen?» fragte Fred.
«Bei einem Kantonalen hält am offiziellen Tag immer ein Regierungsrat oder ein Nationalrat die Rede», erklärte Christian. «Das ist immer so gewesen. Und dann ist er ja auch Ehrenmitglied des Kantonalverbandes … und als Bürger unserer Gemeinde, nicht wahr … er ist da wirklich als erster in Betracht gekommen.»
«Man könnte gar keinen Geeignetern finden», bemerkte Onkel Robert mit Überzeugung. «So, das freut mich, daß er zugesagt hat …»
Das nahende Schützenfest wurde weiterbesprochen, die Mädchen machten Pläne, und Christian erzählte vom Stand der Vorarbeiten.
Fred hörte nur mit halbem Ohr zu; er wurde beim Gedanken an den Brief, den er in den Hosensack gesteckt und dabei zerknüllt hatte, von trüben Ahnungen erfüllt. Nach dem Essen schlenderte er in den aufheiternden Abend hinaus und wunderte sich, wie hell es noch war. Er hatte während des verflossenen Regenwetters gar nicht bemerkt, daß die Tage so rasch zunahmen. Zerstreut ging er den Fahrweg hinauf und gedachte den Brief bei der Abzweigung eines gewissen schmalen Pfades zu öffnen, aber als er dort ankam, folgte er zuerst noch ein wenig diesem hübschen kleinen Pfade durch die Wiesen und stellte fest, daß in den letzten Tagen das Gras doch stark gewachsen war. Er gelangte zu einem Graben, an dem Christian und der Knecht im Nachwinter gearbeitet hatten, und sah mit Befriedigung, daß er den Zweck erfüllte. Das Grundwasser, das nach einer Regenzeit an dieser Stelle sonst immer durchgesickert und in die Wiese hineingeflossen war, sammelte sich jetzt in diesem Graben und fand weiter unten einen natürlichen Abfluß. Er kehrte um und schlenderte dem Stall zu, wo Bärädi auf einer Handorgel übte. Während er mit trübem Lächeln auf die Wiederholung einer Figur hörte, zu der sich der richtige Baß nicht finden wollte, öffnete er nachlässig den Brief.
«Mein Lieber», schrieb Mama, «ich möchte Dich nur rasch daran erinnern, daß Du vor dem Beginn des Sommersemesters noch zum Schneider mußt. Bitte, komm nicht wieder erst am letzten Tage heim, gelt! Dein Aufgebot zur Offiziersschule ist gekommen, ich schicke es Dir nicht nach, weil ich Dich nämlich allernächstens erwarte, Schatz. (Daß Du dann mitten aus dem Semester heraus einrücken mußt, finde ich nicht grad vorteilhaft.) Nach meiner Berechnung bist Du jetzt auch mit den Hemden und Socken zu Ende, mehr hast Du ja nicht mitnehmen wollen. Also! Gestern war Tante Klara hier und hat sich nach Dir erkundigt …»
Fred steckte den Brief wieder in den Hosensack; die paar Familiennachrichten sparte er sich auf. Mit dem finstern Ausdruck, den sein Gesicht während des Lesens angenommen hatte, ging er noch ein paar Schritte und blieb dann vor der im Grase liegenden Hündin stehen, die ihn mit der Rute wedelnd begrüßte; zerstreut sah er zu, wie sie, den Kopf seitlich zur Erde gedreht, mit den Zähnen einen Knochen bearbeitete.
Indessen kamen die Mädchen vom Hause herüber. Lisi schlich sich von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände über die Augen. Er rührte sich zunächst nicht, aber dann griff er plötzlich zurück, so daß sie kreischend auswich. «Fred, du machst ein Gesicht wie sieben Tag Regenwetter», rief sie, kam wieder heran und faßte ihn unter dem Arm. «Hast du schlimme Nachrichten bekommen?» Nun trat auch Martha rasch auf ihn zu und faßte ihn unter dem andern Arm, was sie aus eigenem Antrieb, ohne Lisis Beispiel, niemals getan hätte.
«Ach … heim sollt ich wieder!» antwortete er verdrossen. «Saublöd!»
Die Mädchen suchten ihn aufzuheitern, und als sie vor dem Stall zum Knechte kamen, der beim Nahen der Gruppe seinen geläufigsten Ländler angestimmt hatte, begann sich Lisi am vetterlichen Arm zu wiegen. Lisi war ein impulsives, bei jeder Gelegenheit hell auflachendes, lebenslustiges Geschöpf von ansehnlicher Größe, mit einem hübschen, rötlich glühenden Gesichtchen und braunblonden Haaren, die sich häufig in Unordnung befanden und ihr dann ein fröhlich wildes Aussehen verliehen. Neben dieser vollblütigen Schwester entwickelte Martha in Freds Gegenwart auch ihrerseits eine gewisse Lebhaftigkeit, die oft rührend wirkte, da sie nicht einem natürlichen Temperament entsprang, sondern ihrem instinktiven Wunsch, den Vetter mit denselben Mitteln an sich zu ziehen wie Lisi. Ihre bescheidene persönliche Anziehungskraft und ihr besonderer Reiz beruhten aber auf dem Gegenteil. Sie war eine schlanke, stille Gestalt mit braunem, immer sehr ordentlich getragenem Haar und einem länglichen, dunkeläugigen, etwas blassen Gesicht, das am häufigsten einen mütterlich ernsten Ausdruck zeigte, wie sie denn unter gewohnten Umständen auch ein häuslich braves und arbeitsames Wesen an den Tag legte.
Außer diesen Eigenschaften hatte weder Martha noch Lisi einem Städter gegenüber viel einzusetzen. Sie waren keine Bauernmädchen mehr, deren Ursprünglichkeit den Mangel an Bildung aufwiegt, sie hatten ein welsches Institut besucht, französisch gelernt und an Tanzkursen teilgenommen, sie trugen zum Ausgang Kleider nach der Mode, Stöckelschuhe und seidene Strümpfe, und wenn sie von der Zukunft träumten, fiel ihnen kein Bauernhof ein, sondern die Stadt. In diesen Anfängen waren sie steckengeblieben. Ihre geistigen Bedürfnisse gingen nicht über das Allgemeinste hinaus, das die Öffentlichkeit ihnen bot. Sie gehörten zu jener Volksmasse, über die man in höher gebildeten Kreisen die Nase rümpfte, und ein Intellektueller wie ihr Vetter Paul, der die Menschen ausschließlich nach dem Grad ihrer geistigen Kultur beurteilte, wußte nichts mit ihnen anzufangen; nach seiner Meinung waren sie langweilige Provinzgänse. Fred urteilte anders und hatte sein natürliches Wohlgefallen an ihnen.
«Kommt, wir gehen auf die Heubühne!» rief Lisi, begeistert von diesem Einfall. «Es sind neue Bretter drauf, es ist schön glatt, wie gemacht zum Tanzen.»
«Ach nein, Lisi!» widersprach Martha. «Ihr fallt noch herunter!»
Aber Lisi ließ sich nicht abhalten und schob den Vetter, der ihr gutmütig folgte, auf die fest anliegende, mächtige Heuleiter.
Martha zauderte mit bekümmerter Miene einen Augenblick, dann stieg sie hinter den beiden auch hinauf.
Die anderthalb Meter breite Brücke lag unter dem Dachfirst, in der Längsrichtung des Gadens. Auf der einen Seite war der Heustock bereits verschwunden, und hier gähnte jetzt eine dunkle Tiefe; auf der andern Seite aber lag noch soviel Heu, daß man es wagen durfte, hinabzuspringen.
Lisi tanzte mit Fred auf der Brücke hin, aber Fred war nicht zum Tanzen aufgelegt und trieb nur Unsinn, er hielt sich die Tänzerin scherzhaft weit vom Leibe und hüpfte mit krummen Beinen wie ein Frosch tolpatschig um sie herum, als ob er sein Lebtag noch nie getanzt hätte.
«He nein, Fred, tu doch nicht so dumm!» rief Lisi. «Hast du gehört? Wenn du nicht recht tanzen willst, werf ich dich ins Heu hinunter!»
«Oder ich dich!» erwiderte Fred und packte sie an.
Lisi kniff ihn so kräftig in beide Arme, daß er sie fahren ließ, und rannte, von ihm verfolgt, die Brücke entlang, sprang aber plötzlich mit einem fröhlichen Schrei auf den Heustock hinunter. Fred sprang sogleich hinter ihr her, und gleich darauf wagte auch Martha den Sprung.
Lisi aber glitt, eh Fred sie fassen konnte, vom Heu hinab und rannte zur Leiter, auf der sie knapp vor dem hitzig werdenden Verfolger die Brücke wieder erreichte.
Martha glitt vom Stock hinab und blieb unten. «Tut doch nicht wie Kinder!» rief sie. «Ihr fallt sicher noch herunter!»
Aber die Jagd ging weiter, Lisi rannte bis zur Mitte der Brücke, dann sprang sie abermals hinab, und Fred ließ nicht auf sich warten. Als Kinder hatten sie das unzählige Male wiederholt und beim Sprung entzückt aufschreiend eine grauslich wohlige Beklemmung erlebt. Es war auch jetzt noch ein Vergnügen, man spürte im Fallen einen merkwürdigen, kitzligen Druck in der Zwerchfellgegend und plumpste nach der fröhlich bangen Spannung so tief ins Heu hinein, daß man ordentlich Mühe hatte, sich wieder hinauszuarbeiten. Lisi blieb nun jedenfalls stecken, bis der Vetter bei ihr war, ob sie sich nun ergeben wollte oder nicht. Unter seinen strafenden Griffen wieherte sie zuerst wie eine junge Stute, dann gab sie die Abwehr auf, begann zu wimmern und schien bereit, alles auf sich zu nehmen.
Fred drückte sie tief ins Heu hinein, schnaufte sich aus und hielt die Erschöpfte nieder. So verharrten sie eine Weile, das Heu knisterte leise, und der trockene Staub, den sie aufgewirbelt hatten, drang ihnen in die Nase. Auf einmal spürte Fred auf seinem Kopfe Lisis Hand, die über sein Haar zurückfuhr und mit sanftem Druck auf seinem Nacken verweilte.
Martha stand atemlos lauschend unten in der Dunkelheit. «Lisi!» rief sie gedämpft. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie zu der Stelle, über der das Heu knisterte, aber der Stock war zu hoch, man konnte weder hinaufklettern noch etwas sehen. Da lief sie aufgeregt zum hintern Tor hinaus und dem Hause zu, als ob sie dort Hilfe zu holen gedächte, aber auf halbem Weg begann sie zu zögern und änderte plötzlich die Richtung. Sie bog nach Westen ab, in die Wiese hinein, die von der Abendröte über dem nahen Bergwald schon kein Licht mehr empfing, und schlich mit feuchten Augen durch die Dämmerung; es schien ihr gleichgültig, daß sie dabei das schönste Gras zertrat.
Am nächsten Morgen unternahm Fred schon früh eine letzte Forschungsreise durch das Rustobel hinab. In den oberen Teilen hielt er sich nicht auf, aber weiter unten, wo er selten gewesen war, drang er nur langsam und neugierig spähend vorwärts. Das Tobel wurde breiter, die Hänge waren weniger steil, aber noch ebenso dicht bewachsen, und wo sich Lichtungen öffneten, hatte man wieder reihenweise junge Tännchen angepflanzt. Manchmal kam ein schmaler Pfad von der Wiese herab, lief dem Bach entlang und verlor sich. In der Nähe von Bauernhöfen gab es am Hang oft häßliche nackte Stellen, die von allem möglichen Kehricht übersät waren. Eine solche Ablage umging Fred oben auf der Wiese und bemerkte dabei, daß er nicht mehr weit von einem Weiler entfernt war, dessen Hausdächer man auf beiden Seiten des Tobels zwischen den Obstbäumen gewahrte. Er stieg wieder hinab, folgte dem Bach noch eine Weile und wollte dann gemächlich umkehren; da entdeckte er eine von Kindern angelegte, aber verlotterte kleine Wassermühle. Am Rade fehlten zwei Schaufeln, eine der Seitenstützen, auf denen sich die Achse gedreht hatte, war zerbrochen, und das Kanälchen, das dem Rad vom Bach her Wasser zugeleitet, ließ sich im versandeten Geröll nur noch erraten. Der Schaden war aber nicht unheilbar. Fred stellte vor allem eine neue Seitenstütze her, legte die Achse wieder auf und trieb das Rad mit dem Finger an; es drehte sich. Jetzt mußte kanalisiert werden, und zwar so, daß das Wasser am Ende genau auf die Radschaufeln hinabfiel. Vorsichtig reinigte und verdichtete er die noch vorhandene Fallschwelle, dann grub er nach rückwärts den alten Kanal wieder auf und öffnete ihn schließlich mit großer Spannung gegen den Bach hin. Das Wasser strömte in das Kanalbett, floß rasch zur Schwelle, fiel hinab – das Rad drehte sich. Fred sah strahlend zu, das Rad drehte sich unter dem Fall und hörte nicht auf, sich zu drehen. Er betrachtete es lange und aus verschiedenen Entfernungen, dann begann er den Kanal auszubauen und befestigte die nachgiebigen Kiesdämme mit großen würfelförmigen Steinen, die er weit herum zusammensuchte.
Endlich mußte er umkehren, man war im Rusgrund pünktlich mit dem Mittagessen, und er wollte nicht am letzten Tage noch zu spät kommen. Statt nun aber den bequemen Fußweg durch die Wiese hinauf einzuschlagen, kehrte er durch das Tobel zurück. «So, Schluß, es ist zu Ende!» dachte er, und dieser Gedanke, den er am Morgen noch gewaltsam unterschlagen hatte, ließ ihn nicht mehr los. Weiter oben, an einem der steilen Hänge, glitt er aus und hielt sich, um schneller vorwärtszukommen, von nun an mehr an das Bachufer, wobei er unbekümmert durch das Wasser watete, wenn ihm hohes Geröll den Weg versperrte. Am Horizont seiner Vorstellungen tauchte die Stadt auf mit ihrer Hatz und ihrem Lärm, mit Hörsälen, Laboratorien, achselzuckenden Professoren und studentischem Komment, mit ihrer geschniegelten Gesellschaft und mit der Kaserne, dieser öden Drillanstalt, wo er bald wieder den Hampelmann spielen mußte. «Hol’s der Teufel! Warum bleib ich nicht einfach hier?»
Er sprang in diesem Augenblick von einem Block auf den nächsten hinüber, glitt aus, stürzte heftig hin und spürte im rechten Fuß einen so rasenden Schmerz, als ob man ihm mit einem Messer das Gelenk durchstieße. «Verflucht, oh verflucht!» stöhnte er laut, mit verkniffener Miene, und blieb regungslos liegen, die Stirn eiskalt umhaucht. Nach ein paar bangen Minuten erholte er sich ein wenig und versuchte vorsichtig, seine unbequeme Lage zu ändern, aber kaum bewegte er den Fuß, ja noch eh er ihn bewegte, beim bloßen Versuch schon, spürte er denselben Schmerz im Gelenk, einen unverschämt plötzlichen, stechenden Schmerz. Er blieb nun eine Weile liegen, so wie er eben lag, und begann sich mit dem Gedanken abzufinden, daß er den Fuß verstaucht, ausgerenkt oder gebrochen hatte. «Soso … aha … na ja!» sagte er kleinlaut.
Indessen begann der Fuß offenbar anzuschwellen und einen immer heftiger spannenden Druck auf den Schuh auszuüben. «Ich muß den Schuh ausziehen», dachte Fred, und versuchte es, aber nur einmal. «Verdammt, verdammt, ich kann doch nicht hier liegenbleiben!» Er begann zu rufen. «Heh! Heh! … Uuui! Heh … Hilfe!» Sowie er «Hilfe» rief, kam ihm das lächerlich vor, er schämte sich, er hatte sein Lebtag noch nie um Hilfe gerufen. Und man schrie doch wegen eines schmerzenden Fußes nicht um Hilfe! «Heh … heh da!» rief er noch ein paarmal, doch war nun offenbar niemand da oben auf den Wiesen, und im Rusgrundhaus konnte man ihn unmöglich hören. «Quatsch!» sagte er ärgerlich. Es war ihm klar, daß er allein hier fortkommen mußte.
Er biß die Zähne zusammen und begann sogleich mit wütender Miene auf den drei heilen Gliedern aus dem Geröll zu kriechen, wobei er das rechte Bein wie einen toten Gegenstand hinter sich her zog und dem heftigen Schmerz, den er bei jedem Anstoßen des Fußes empfand, die ganze erzürnte Kraft seiner Verachtung entgegensetzte. Auf diese Art schleppte er sich im Verlauf einer halben Stunde schräg den Hang hinauf und setzte sich oben erschöpft auf die Böschung. Nach kurzer Rast dachte er an den Brief, den er Mama schreiben mußte. «Liebe Mama, Deiner Aufforderung kann ich leider nicht Folge leisten, ich bleibe vorläufig im Rusgrund.» So gedachte er anzufangen; dann wollte er ein paar allgemeine Gründe dafür anführen, ferner sein ungeheures Bedauern ausdrücken, daß er vermutlich weder das Semester noch die Offiziersschule besuchen könne, und erst ganz am Schluß so nebenbei den Unfall erwähnen. Schmunzelnd legte er sich das zurecht, dann fällte er mit dem Taschenmesser in mühsamer Arbeit die zwei jungen Eschenstämmchen, die er sich beim Hinaufkriechen zum Ziel gesetzt hatte, und benutzte sie auf dem Heimweg als Krücken, wobei ihn die Achselhöhlen bald mehr zu schmerzen begannen als der nun ruhig hängende Fuß.
Er kam vor das Haus, sehr müde, und wurde zuerst von Christian entdeckt.
«Was hast du angestellt?» fragte Christian besorgt.
«Ich bin ein wenig ausgeglitscht … nicht der Rede wert.»
«Häng dich mir da an den Rücken! Ich trag dich die Treppe hinauf …»
«Ja, eigentlich könnte ich selber …» antwortete er zögernd, doch er konnte nicht mehr selber, er war erschöpft, und da sich Christian ohne viel Worte bereitstellte, machte auch er keine Umstände, schlang ihm von hinten die Arme um die Schultern und ließ sich tragen.
Im Hause selbst aber entstand eine ziemliche Aufregung, die Mädchen empfingen ihn mit Schreckensrufen, die in eine Flut von Fragen und Mitleidsbeteuerungen übergingen, die Hausfrau rief Jesus, Maria und Josef an, schickte Christian sogleich mit dem Wagen ins Dorf zum Arzt und erteilte den Töchtern unwirsche Befehle. «Aech, macht doch keine Geschichten!» rief Fred, ernstlich geärgert, und noch als er geborgen in seiner Kammer lag, verwahrte er sich gegen die verschiedenen, seiner Ansicht nach übertriebenen Maßnahmen, die Tante Marie für nötig hielt.
Nach zwei Stunden wurde ihm von einem ältern freundlichen Landarzt der Fuß wieder eingerenkt, was er leicht erbleichend, aber lautlos ertrug. Darauflag er denn als Patient am hellen Nachmittag in seinem buntgeblümten breiten Bett, das rechte Bein auf etwas erhöhtem Lager, den immer noch anschwellenden Fuß in einem Verband mit essigsaurer Tonerde, und begann das Ereignis zu bedenken, eher neugierig als mißmutig, wie einen listigen kleinen Zufall, der die Weiche plötzlich anders stellt als die unentrinnbaren Mächte der Eltern, des Vaterlandes und der Hochschule es haben wollten. «Man muß nur ein bißchen den Fuß verrenken», dachte er belustigt, «dann fällt alles um, was uns lenkt. Was gäbe es für ein Geschrei, wenn ich ohne diesen nichtigen Anlaß fünf Wochen aus meiner Karriere streichen würde! Am Fleisch und Bein hängt alles!» In der Frühe des zweiten Tages, als die Rusgrundsonne hinter den waldigen Hängen heraufkam und seine Kammer erfüllte, stellte er schmunzelnd fest, daß er an diesem Tage unbedingt unter allen Umständen wieder in Zürich sein mußte.
Am nächsten Morgen erfuhr er zu seiner Überraschung freilich, daß vor einem kranken Fuß denn doch nicht alles umgefallen war. Mama nämlich, die seinen Brief gar nicht erst beantwortete, kam, von Gertrud und dem Hausarzt begleitet, in einem geräumigen Mietauto, einem Sechsplätzer, ganz einfach hierher gefahren. Er wurde sorgfältig in die Stadt zurück befördert und nach einer Röntgenaufnahme des Fußes wieder in sein eigenes Bett gesteckt. Indessen fand er sich damit ab. Gertrud hatte bei der Heimfahrt versprochen, ihn zu ihrer neuesten Hausmusik im Wagen abzuholen, sobald der Arzt es erlauben würde, außerdem mußte man ihn auch hier in Ruhe lassen, und die Übersiedlung änderte nichts an der belustigenden Tatsache, daß ein geschwollener Fuß sich stärker erwies als die Notwendigkeit der akademischen Bildung und der Ruf des Vaterlandes.
3
Gertrud hatte bald das Streichquartett, bald die zwei Geiger zum Spiel ins Hartmannsche Haus geladen und war dabei mit Albin Pfister freundschaftlich vertraut geworden; dieser Mensch «interessierte» sie desto mehr, je näher sie ihn kennenlernte, und sie dachte in ihrer gesellschaftlichen Unbefangenheit gar nicht daran, aus konventionellen oder anderen Gründen sich den Umgang mit ihm zu versagen. Ihren Bekannten gegenüber gestand sie denn auch unbedenklich, dieser Pfister sei ein «heillos sympathischer und flotter Kerl». Sie wußte nicht oder noch nicht, was sie zu verschweigen gehabt hätte.
Eines Abends, nachdem die zwei Geiger zum Schluß ein Duo gespielt hatten, fragte sie Albin, an ein früheres Gespräch anknüpfend, plötzlich leise und lebhaft: «Haben Sie mir das Verzeichnis mitgebracht?»
Albin bewegte mit einem ratlosen Lächeln langsam den Kopf, indes seine Hände mit dem Violinbogen zu spielen begannen, den er eben entspannt hatte. «Überlegt habe ich es mir lange», sagte er, «aber … ich kann Ihnen nicht so viel Bücher aufschreiben, wie ich gerne möchte, Sie würden niemals alles lesen … und eine Auswahl zu treffen, ist furchtbar schwierig …»
«Ich will aber alles lesen!» rief Gertrud und erhob sich. «Schreiben Sie alles auf, was Sie …»
«Gertrud, mach dir doch keine Illusionen!» sagte Paul mit einer müden Handbewegung, während er seine Geige, ein altes französisches Instrument, sorgfältig einhüllte. «Du würdest das unmöglich verdauen …»
«Ach was!» rief Gertrud betrübt und ärgerlich zugleich.
«Das möchte ich nicht behaupten», sagte Albin lächelnd, «aber … Sie haben mich gebeten, von Pauls und meinem eigenen Maßstab auszugehen. Dieser Maßstab beruht aber auf einer jahrelangen intensiven Lektüre, die durchaus nicht planmäßig vor sich gegangen ist, sondern scheinbar willkürlich, in Wirklichkeit aber, wie ich überzeugt bin, nach einem geheimen persönlichen Gesetz … ja, nach einem Gesetz, dem, grob gesagt, im Materiellen ungefähr das Gesetz unsrer Ernährung entspricht …»
«Jawohl!» rief Paul, dem dieser Gedanke gefiel. «Genau so! Und nun stell dir vor: du bist klein und hungrig und verlangst jetzt dieselben Speisen und Getränke, die uns während zehn Jahren groß und satt gemacht haben. All das verlangst du auf einmal und hoffst uns dadurch einzuholen …»
«Mein Gott, wie kompliziert!» erwiderte Gertrud unwillig. «Man will ein paar Bücher lesen und …»
«Ein paar Bücher … das ist wieder etwas anderes. Lies aber bitte das Hauptwerk von Schopenhauer, den ganzen Nietzsche, die gesammelten oder meinetwegen ausgewählten Werke von Dostojewski, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, Flaubert, Zola und so weiter. Lies das alles ohne die besondere innere Bereitschaft, die jeder einzelne dieser Autoren verlangt, um verstanden oder erlebt zu werden, und du wirst dich am Ende übergeben müssen …»
«So hab ich’s also endgültig verpaßt und bleibe eine dumme Kuh», antwortete sie gereizt.
«Nein, so kommen wir nirgends hin», sagte Albin entschieden. «Und du übertreibst, Paul. Frau Hartmann hat auch Voraussetzungen, nur andere als wir, und …» Er wandte sich an Gertrud. «… Sie kennen Ibsen, Zola und haben auch von den Russen dies und jenes gelesen … ich werde Ihnen doch ein Verzeichnis machen, wenn Sie mir einen Blick in Ihren Bücherschrank gestatten wollen …»
«Ja, bitte kommen Sie!» Ohne Paul weiter zu beachten, ging sie Albin voran in den kleinen Salon. Hier ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen. «Ach, Paul macht mich immer ganz mutlos», sagte sie finster. «Ich mag nicht mehr von solchen Dingen reden, wenn er dabei ist …»
«Ja, Paul ist ein Skeptiker. Es gibt Dinge, die ich jetzt auch nicht mehr ohne weiteres mit ihm bereden möchte …»
«Nicht wahr?» sagte sie lebhaft. «Mir ist manches … ich will nicht sagen heilig, aber doch so wichtig, daß ich seine Glossen darüber einfach taktlos finde und in Zukunft überhaupt nichts mehr sagen werde … Ja, also das sind die paar Bücher, die ich besonders gern habe … die im Wohnzimmer haben Sie ja schon gesehen …»
Albin stand vor einem kleinen nußbraunen Schrank mit Glastüren und warf nach kurzer Musterung einen erstaunten Blick auf Gertrud, den sie neugierig lächelnd auffing. «Baudelaire, Mallarmé, Maeterlinck …?» fragte er und fuhr dann mit wachsendem Erstaunen fort: «Rilke, George, Hofmannsthal … Ja, aber … davon haben Sie mir nie etwas gesagt! Ich dachte immer, Sie … ja …»
«Jaja, ich sei so eine durchschnittliche Romanratte», ergänzte sie, erhob sich rasch und trat neben ihn. «Sehen Sie, hier …»
«Nein, gewiß nicht! Aber Sie stellten sich so ahnungslos … Ja, das ist ein wundervolles Buch!»
«Warum soll ich davon schwatzen! Ich habe auch mein Refugium …»
«Hm … wir sind den Frauen gegenüber Pedanten, wenn wir glauben, sie brauchten ebenso lange Umwege wie wir, um zu solchen Büchern …» Er brach plötzlich ab, zog einen schmalen Band heraus und sagte beschämt lächelnd: «Aber das gehört nicht hieher, leider!» Auf dem hellgrauen Kartondeckel stand schwarz gedruckt: Albin Pfister, Sonette.
«Für mich gehört es hieher!» erwiderte sie, nahm ihm das Buch weg und schob es wieder hinein. «Kennen Sie das hier?» fragte sie rasch und hielt ihm einen andern Band vor Augen. «Diese Gedichte hab’ ich furchtbar gern …»
Sie standen neben einander zwischen den geöffneten Glastüren, unterhielten sich über die Bücher und fanden immer wieder etwas, das sie beide als bedeutsam oder besonders schön empfunden hatten. Ihre Gesichter waren gerötet vor Wärme und Lebhaftigkeit und ihre Augen strahlten dasselbe freudige Verständnis aus. Albin begann mit wachsendem Eifer davon zu sprechen, welche Haltung dieser neuen Dichtung zugrunde liege, worin ihr Neues bestehe, warum man sie nicht mit den literarischen Erscheinungen der Dekadenz verwechseln dürfe, und wie sie im Begriff sei, den Naturalismus zu überwinden.
An alle diese Erörterungen erinnerte sich Gertrud später nicht mehr, ihr prägte sich nur ein, wie Albin aus sich heraustrat, wie eine klar bestimmte männliche Begeisterung aus seinen ehrlichen Augen leuchtete, wie sein ganzes bescheidenes Wesen etwas kräftig Überzeugendes annahm, und wie sie selber dabei die merkwürdige, durchaus körperliche Empfindung hatte, den Boden des Salons unter ihren Füßen zu verlieren, wie sie sich dann plötzlich gegen diesen Mann zu wehren begann und dem Gespräch ein unerwartetes, kühles Ende bereitete, das sie lange nachher noch beschämend und unverständlich fand. Auch Albin wußte später kaum mehr, was er alles gesagt hatte. Er sah in der Erinnerung an diese Stunde nur Gertruds kräftig schlanke Gestalt, wie sie gleich groß, frei und grad zu seiner Rechten stand, wie sie sich auf ein Knie niederließ, um ein Buch vom untersten Brett zu nehmen, und mühelos neben ihm wieder auffuhr, wie sie zurücktretend sich schief herabbückte, um einen Titel zu lesen, und dabei auf eine ganz besondere Art den Nacken bog, er sah ihren leicht über eine Buchseite gebeugten Kopf und das locker den Scheitel überfließende Haar, er sah ihr nahes, lebhaft glühendes Gesicht und immer wieder die Vertrauen und Liebe erweckenden Augen, die erst am Ende erschrocken zu wissen schienen, was über alle Worte hinaus zwischen ihnen vorging.
Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrten, lehnte Hartmann am Flügel, die Rechte mit einer flüchtig gefalteten Zeitung neben sich auf die Kante gestützt, im straffen Gesicht einen Ausdruck verhaltenen Zornes, den Gertrud genau kannte. Er stand vor seinem ungleichen Schwager Paul, der mit ernster Miene sehr bequem in einem ledernen Klubstuhl saß, warf den Eintretenden einen kurzen Blick zu und beantwortete dann irgendeine Frage; mit der Begrüßung Albins übereilte er sich nicht. Gertrud bezog seinen Ausdruck, ja seine bloße Gegenwart zuerst unwillkürlich auf sich und Albin, erkannte aber an der Art seines Blickes sogleich, daß ihn etwas anderes beschäftigte.
Paul begann seine Schwester spöttisch zu mustern, während Albin und der Hausherr mit einem knappen Händedruck sich höflich begrüßten.
«Was ist los?» fragte Gertrud mit gemachtem Erstaunen.
«In Österreich ist ein Ehepaar erschossen worden», antwortete Paul achselzuckend. «Zufällig waren es kaiserliche Hoheiten.»
Hartmann streifte Paul mit einem verächtlichen Blick und gab seiner Frau mit einem Hinweis auf die Nachricht das Zeitungsblatt.
«Mein Gott, das ist ja furchtbar!» sagte Gertrud leise. «Der Thronfolger …»
«Ein Zufall wäre noch viel abscheulicher», sagte Hartmann mit schrägem Blick auf Paul. «Wenn man sich vorstellt, daß irgendein Schuft zufällig einen Erzherzog erschießt … unerträglich ist nur das eigentlich Sinnlose … aber hier handelt es sich um ein politisches Attentat, das ist klar!»
«Furchtbar!» wiederholte Gertrud, während sie das Blatt an Albin weitergab. «Ein neunzehnjähriger Lyzeumsschüler … wie kommt der dazu …»
«Steht in der Meldung», antwortete Hartmann. «Unter dem Einfluß der oppositionellen bosnischen Politik. Es beruht dort alles auf gewissen nationalen Gegensätzen …»
«Sarajevo, ist das …?»
«Die Hauptstadt von Bosnien. In der Meldung eines andern Blattes werden bereits die Serben verdächtigt …»
Paul erhob sich gemächlich und trat zu Albin. «So … wollen wir …?»
Albin nickte und begann Abschied zu nehmen.
«Also wie steht’s mit dem Quartett?» fragte Gertrud, während sie die beiden in den Garten hinab begleitete. «Wollt ihr hieher kommen, oder …?»
«Ach, ich weiß nicht … Junod hat etwas gemunkelt, daß wir bei ihm spielen sollen», antwortete Paul. «Das wird ja natürlich furchtbar kompliziert, aber … wir wollen vorläufig lieber nichts verabreden …»
«Hat’s jetzt nicht gedonnert?» fragte Gertrud und hielt auf dem Gartenweg an.
«Wo? Es ist ja eine ganz klare Nacht! Irgendein Auto oder ein Tramwagen …»
«Ja wahrhaftig … man sieht die Sterne … man ist wie geblendet, wenn man aus dem Licht kommt … ja, gut’ Nacht, Paul, ich lasse Papa und Mama grüßen … gut’ Nacht, Herr Pfister!»
Albin, der seit der Begrüßung Hartmanns kein Wort mehr gesprochen hatte, erkannte in der Dämmerung ihre Hand nicht und zögerte eine Sekunde, dann wünschte er etwas undeutlich gute Nacht und folgte eilig seinem Freunde.
Gertrud blieb zwischen den jungen Blautannen, die den Weg säumten, mit gespannter Miene einen Augenblick stehen, dann kehrte sie rasch in die Wohnstube zurück. Ihren Mann hörte sie in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehen. Leise trat sie in die verdunkelte Kinderstube, wo sie ihr Lager eingerichtet hatte. Es war bald halb zwölf Uhr, die Kinder, die gegen zehn Uhr wach gewesen waren, schliefen ruhig. Mit derselben gespannten Miene wie im Garten, nur um einen Zug gequälter, blieb sie vor dem Bette stehen, tat ein paar ziellose Schritte und blieb wiederum stehen, raffte aber endlich, als ob alles Nachdenken ja doch zu keinem vernünftigen Schlusse führen könnte, ein paar Gegenstände auf dem Toilettentisch zusammen und begab sich damit in das gemeinsame Schlafzimmer.
Eine Viertelstunde darauf trat Hartmann ein und begann nach einem kurzen, forschenden Blick auf seine Frau sogleich die Uniformbluse aufzuknöpfen. «Es ist schwer, mit deinem Bruder ein vernünftiges Gespräch zu führen», sagte er so ruhig und selbstverständlich, als ob er nicht wochenlang allein in diesem Zimmer geschlafen hätte. «Er hat mir gegenüber so eine Art von Ressentiment … ich weiß nie, was hinter seinen Worten steckt … und dieser Mord ist doch wirklich kein Anlaß zu Journalistenwitzen.»
«Ja … er ist oft merkwürdig», antwortete sie, ohne genau zu erfassen, was in Frage stand. Mit einer Hand hielt sie noch immer den Saum des Linnens, das sie bei seinem Eintritt bis unter das Kinn hinaufgezogen hatte. Sie vermied seinen Blick, schaute zur Decke empor, von einem tiefen, dunklen Ernst erfüllt, und erkannte nur an seiner unverfänglichen Bemerkung und am Ton seiner Stimme, wie sehr er bemüht war, ihr jede Verlegenheit zu ersparen. Dankbar ging sie darauf ein.
Es wurde eine der unruhigsten und verworrensten Nächte, die sie seit langem erlebt hatte. Sie fand keinen rechten Schlaf, mußte zweimal hinaus, um die Kinder zu beruhigen, und wurde im Halbschlummer von Träumen geplagt, die sie nach dem Aufwachen noch ängstigten. Ihre Unterhaltung mit Albin vor dem Bücherschrank und das Ereignis in Sarajevo vermischten sich darin auf die unsinnigste Art, aber mit einer so heillosen Entschiedenheit, daß sie künftig das Wort Sarajevo nie mehr hören konnte, ohne an Albin zu denken. Schon beim ersten Versuch, einen Fetzen dieser Traumfolge festzuhalten, erschrak sie, weil der Mörder durchaus nicht der junge Lyzeumsschüler war, sondern Albin Pfister, der lächelnd mit einem Ordonnanzrevolver auf sie zielte und gleich darauf den Erzherzog erschoß. Der Erschossene wurde eilig weggetragen, war aber nicht mehr der Erzherzog, sondern irgendein Mann in Uniform.
Am Morgen, nachdem Hartmann weggefahren war, stand sie in den Unterkleidern mit offenem Haar und übernächtigen Augen trostlos vor dem Spiegel und kam sich so elend und verwüstet vor wie nie in ihrem Leben.
4
Die Beschäftigung mit den Kindern und die übrigen Pflichten des Tages verhalfen Gertrud immer wieder zu einem notdürftigen äußern Gleichgewicht, aber sie spürte, daß sie einem Zustand entgegentrieb, in dem sie sich nicht mehr würde beherrschen können. Dieser Gedanke erschreckte sie mehr als alles andere, und das Bedürfnis, sich auszusprechen, wuchs derart, daß sie stundenlang suchte und überlegte, wem sie sich anvertrauen könnte. Sie merkte erst jetzt, wie oberflächlich sie nach der Bekanntschaft mit Hartmann fast alle ihre Freundschaften begründet hatte. In dieser Not schrieb sie an Susi Brunner, eine Freundin aus ihrer Mädchenzeit, die seit drei Jahren mit einem Angestellten in Bern verheiratet war. Susi lebte in ihrer Erinnerung als kleine, frische Gestalt von wachem, anschmiegsamem Wesen und einer gewissen vertrauensseligen Offenheit, die zu erwidern man gern bereit war.
Schon drei Tage nach der Einladung holte Gertrud die junge Frau im Hauptbahnhof ab und fuhr mit ihr nach Hause. Ihr erster Eindruck war zwiespältig, aber sie bemühte sich, kein Urteil zu fällen, bevor sie ihr ruhig gegenübersitzen würde. Nach dem Sturm des Wiedersehens während der Heimfahrt ließ sie Susi für eine Viertelstunde allein und erwartete sie dann in der Wohnstube zum Tee. Sie hatte sich eben überzeugt, daß die Kleinen noch schliefen, und die Tür zum Kinderzimmer sorgfältig geschlossen, als Susi eintrat.
Gertrud bemerkte zuerst, daß sie das Kleid gewechselt hatte, aber in diesem formlosen grünen Umhang noch ebenso unvorteilhaft aussah wie im Reisekleid. Sie war dicker geworden und schien infolgedessen noch kleiner als sonst, auch ihr früher etwas spitzmausiges Gesicht war voller und unbestimmter, doch in ihren Bewegungen und in den fröhlich zudringlichen Augen äußerte sich ihr Wesen noch auf die alte lebhafte Art.
Mit einem freudig aufleuchtenden Lächeln trat sie rasch herein, ergriff mit beiden Händen Gertruds linken Oberarm, schmiegte sich an und begann sogleich im Ton eines erregten kleinen Mädchens hemmungslos zu plaudern. «Ach Trudi, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut, daß wir uns endlich, endlich wiedersehen. Ich habe ja entsetzlich viel an dich gedacht und wäre schon lange gern gekommen, wenn du nur ein Zeichen getan hättest. Aber ich mußte ja denken, du habest mich ganz vergessen, und ich getraute mir nicht, dich zu uns einzuladen; wir hatten ja zuerst auch nur ein paar Zimmer. Aber jetzt sind wir umgezogen, du, es ist eine ganz entzückende Wohnung und wir können sehr gut ein Gastzimmer einrichten, du mußt unbedingt diesen Sommer noch kommen …»
«Wollen wir nicht zuerst Tee trinken?» fragte Gertrud lächelnd, legte den Arm um ihre Mitte und führte sie zum kleinen Tisch.
Susi folgte kichernd, drehte sich aber plötzlich wieder der Freundin zu und sagte verzweifelt: «Weißt du, ich habe furchtbar zugenommen, es ist entsetzlich, ich weiß gar nicht was machen. Nach dem Heiri ging es noch, aber nach dem Hansli bin ich einfach immer dicker geworden, da und da und da, ach überall, du siehst es ja …» Sie zupfte mit trübseliger Miene über all den betreffenden Körperstellen so drollig an ihrem Kleid, daß Gertrud laut auflachen mußte.
«Ach ja, du lachst mich nun auch noch aus», sagte sie traurig, fuhr aber Gertrud plötzlich scherzhaft heftig an: «Was machst denn auch du? Dir sieht man ja gar nichts an, du bist immer noch …»
«Ho je, Susi, das meinst du nur! Aber komm jetzt, wir wollen uns doch setzen … so … wieviel Zucker nimmst du? Zwei, gern. Nein, nein, ich bin auch schwerer geworden. Aber ich habe immer etwas Sport getrieben, weißt du. Übrigens … was hat das zu bedeuten! Etwas schwerer oder leichter … darauf kommt es doch nicht an.»
«Ja, du hast gut reden, aber wenn du so wärest wie ich … die Männer sehen ja so darauf, es ist abscheulich. Meiner behauptet zwar immer, ich sei gar nicht dick, aber ich merke doch ganz genau … ach Gott, Trudi, ich habe dir ja noch so viel zu sagen … und auf deinen bin ich furchtbar gespannt, ich kenne ihn ja noch gar nicht. Er ist Oberstleutnant, gelt? Ich habe eigentlich ein wenig Angst vor ihm. Meiner ist ja nur Angestellter, aber er verdient doch schön, und weißt du, er kann halt lieb sein, wenn er will, ja jeh! Aber es ist nicht mehr wie am Anfang … die Leidenschaft verfliegt bei den Männern. Wenn er abends ausgegangen ist und dann so heimkommt, und ich bin noch wach und hab’ ihn erwartet, und er dann … weißt du … hast du das mit deinem nicht auch schon erlebt, daß er dann …» Sie fiel jetzt in einen gedämpften, hastigen Ton, beugte sich vor und schaute vertraulich lauernd zu ihrer Freundin auf.
Gertrud blickte ernüchtert ins Leere und wußte schon jetzt, daß sie niemals imstande sein würde, sich Susi anzuvertrauen. «Und ich habe sie für eine ganze Woche eingeladen!» dachte sie bestürzt. «Wie werde ich das gute Geschöpf wieder los?»
Im weiteren Verlauf des Nachmittags stellte sie sich auf eine bestimmte, etwas gönnerhafte Haltung ein, die ihr erlaubte, Anteilnahme an Susis Geständnissen zu verraten, ohne sich zu vergeben oder sie gar erwidern zu müssen.
Abends, als sie im Begriffe war, Susi ihrem Manne vorzustellen, ertappte sie sich auf einer Regung, die sie sogleich entschlossen bekämpfte: Sie schämte sich dieser Freundin. Sie sah voraus, daß Hartmann das schlampige, schwatzhafte Weibchen kühl verachten, aber ihm dennoch zuvorkommend und freundlich begegnen werde. «Er soll sie nicht verachten, er hat kein Recht dazu, es ist lauter Dünkel und Überheblichkeit», dachte sie und behandelte dann Susi bei Tische mit Absicht besonders freundschaftlich; aber zugleich wunderte und ärgerte sie sich, wie affektiert sich dies einst so natürliche Wesen vor Hartmanns Augen benahm. Nach dem Essen fing sie einen kurzen, ironischen Seitenblick ihres Mannes auf, den sie genau verstand. «Ach was, es geht dich gar nichts an!» dachte sie trotzend und fuhr in der Folge fort, Susi gegen ihr eigenes Gefühl mit aller Herzlichkeit zu behandeln.
Indessen trat ein häusliches Ereignis ein, das ihr sonst wenig zu schaffen machte, unter den Umständen aber, mit denen es zusammentraf, ihre Geduld auf die letzte Probe stellte. Herr und Frau Frey von Wurzach, Verwandte ihres Mannes, die ein Gut auf dem Lande bewohnten, meldeten sich zu einem kurzen Aufenthalt im Hartmannschen Hause an und wollten noch rechtzeitig zum Abendessen eintreffen. Gertrud mußte sie notgedrungen bei der Schwiegermama im oberen Stock unterbringen, aber sie kannte die damit verbundenen Schwierigkeiten zu gut, um vor der Heimkehr ihres Mannes auch nur einen Finger zu rühren. Fast gleichzeitig empfing sie die Einladung «zu einer kleinen musikalischen Soiree» auf diesen Abend bei Professor Junod. Ihr erster und einziger Gedanke dabei war, daß sie dort mit Albin Pfister zusammentreffen werde. Sie begann sogleich aufgeregt zu überlegen, ob sie der Einladung folgen solle oder nicht, sah aber voraus, daß diese Überlegung zu keinem vernünftigen Schlusse führen konnte, und stellte in nervöser Hilflosigkeit alles auf die Laune des letzten Augenblicks ab.
Hartmann, der seine Verwandten schon in der Stadt getroffen hatte, kam kurz vor dem Nachtessen mit ihnen angefahren. Gertrud führte die Gäste vorläufig ins Wohnzimmer und nahm sogleich ihren Mann beiseite. «Es ist dann noch nichts bereit!» sagte sie ziemlich heftig, als ob Hartmann daran schuld wäre. «Ich kann Susi nicht hinauswerfen, nicht wahr, und mit Mama kannst du meinetwegen selber reden.»
«Aber ich bitte dich! Willy sagte mir doch, daß er sich bei dir angemeldet hat.»
«Ach, ich mag nicht mit Mama streiten … und überhaupt, ich hab’ mich schon genug geärgert.»
«Schön, dann werden wir beide zusammen nach dem Essen die Sache bei Mama in Ordnung bringen!» erwiderte er mit unbewegter Miene in einem kalt abschließenden Ton und wandte sich ab.
«Nein, nein, jetzt, jetzt muß sie in Ordnung gebracht werden! Nach dem Essen kannst du bei Mama nichts anfangen, sie läßt dich gar nicht herein … und nachher hab’ ich auch keine Zeit mehr …»
«Wieso keine Zeit mehr?»
«Weil ich ausgehe.»
«Hm, erlaubst du … das ist kein sehr geeigneter Abend, um auszugehen … das verschiebst du doch besser!»
«Ich kann es nicht verschieben, es handelt sich nicht um mich allein …»
«Aha, Musik also? Hm!» Er blickte sie von der Seite her verächtlich forschend an.
Sie kehrte ihm mit einer entschiedenen Wendung schweigend den Rücken zu und lief weg. Einen Augenblick vorher hätte sie noch nicht zu sagen vermocht, wie sie den heutigen Abend verbringen werde; sie hatte ohne jede Überlegung geantwortet.
Hartmann schaute ihr einen Augenblick finster nach, wobei seine rotbraunen Kinnbacken über dem Uniformkragen in eine leise mahlende Bewegung gerieten, dann ging er rasch entschlossen zu Mama hinauf.
Die alte Frau Hartmann bewohnte mit zwei Dienstboten den oberen Stock und führte ein peinlich geregeltes, von tausend eingebildeten Plagen heimgesuchtes Dasein. Sie begann den Tag um acht Uhr mit merkwürdigen Turnübungen und einem darauf folgenden warmen Bad, dann kehrte sie ins Bett zurück und nahm das Frühstück ein, bis Fräulein Keller, eine wohlgenährte fröhliche Person mit einem goldenen Klemmer im rosigen Gesicht, zur Massage aus der Stadt eintraf. Gegen zehn Uhr erhob sie sich, und etwa eine Stunde darauf, nachdem sie von der Masseuse noch frisiert worden war, erschien sie in der häuslichen Öffentlichkeit. Von diesem Augenblick an bis zur Nachmittagsstunde, in der sie sich zur Ruhe hinlegte, erlebte sie fast nichts als Ärger und Sorgen, besonders im Hinblick auf Küche und Mittagessen. Vor dem Tee begann sie «Ordnung zu machen», eine Beschäftigung, die sich auf den hintersten Knopf erstreckte, und zum Tee selber empfing sie dann gelegentlich ihren Sohn oder die Schwiegertochter mit einem der Kinder. (Mit beiden Kindern zugleich durfte Gertrud nie erscheinen, da sich der Knabe sonst angeblich der Aufsicht entzog und fürchterliche Dinge anstellte.) Häufig fuhr sie daraufin die Stadt, um dies und jenes einzukaufen, wobei sie durch ihr umständliches Nörgeln und ihre Unentschlossenheit sich jedem Ladenmädchen unvergeßlich einprägte. Sogleich nach dem Nachtessen erschien Fräulein Keller wieder, der Massage folgten ausgedehnte Waschungen, und um zehn Uhr endlich begab die geplagte Frau sich seufzend zur Ruhe.
Als ihr Sohn eintrat, kam sie aus der Küche gelaufen, eine weißhaarige, noch immer sehr stattliche Erscheinung mit großen, anklagenden Augen in einem abgenutzten, leichenblaß gepuderten Gesichte. «Albrecht!?» rief sie mit erhobenen Händen, flehend und fragend zugleich, erschrocken über seinen Eintritt zu dieser ungewohnten Stunde.
«Guten Abend, Mama!» grüßte Hartmann. «Wie geht’s dir?»
«Ach, Albrecht, quäl mich nicht lange!» rief sie. «Sag mir lieber, was dich herführt!»
«Nichts von Bedeutung! Willy und Mathild sind da und lassen dich grüßen.»
«Albrecht, ich kann sie nicht empfangen, mein Gott … es ist ja viel zu spät, das weißt du doch … du machst ihnen das begreiflich, gelt, sei so gut! Und ich kann auch nicht hinunterkommen …»
Hartmann, der Mama jederzeit mit Geduld und Höflichkeit behandelte, nickte beruhigend. «Das sollst du auch gar nicht», sagte er. «Ich wollte dich nur bitten, uns das Gastzimmer zur Verfügung zu stellen …»
«Albrecht!!»
«Du wirst nicht das geringste damit zu tun haben, Mama, das kann ich dir versichern …»
«Nichts damit zu tun haben! Mein Gott, Albrecht, du hast ja keine Ahnung, was ein Haushalt ist. Und ich habe doch nur zwei Mädchen …!»
«Was soll ich machen, Mama? Unser Gastzimmer ist besetzt, Gertrud hat eine Freundin eingeladen. Soll ich Willy und Mathild wieder fortschicken?»
«Warum muß denn Gertrud eine Freundin einladen! Sie weiß doch …»
Hartmann entgegnete nun nichts mehr, er blickte Mama nur mit betrübter Miene an und wartete geduldig aufihre Zusage. Als die Frau dies merkte, rang sie die Hände, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und kehrte hastig in die Küche zurück. Hartmann hörte sie verzweifelt klagen, weil in ihrer Abwesenheit die Köchin den Salat angerichtet hatte. «Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, Sie sollen warten!» rief sie. «Jetzt haben Sie’s verpfuscht …»
Als sie wieder herauskam, mit der Absicht, den Sohn in die Wohnstube zu führen, um ihm dort die Schwierigkeiten klarzumachen, trat Hartmann den Rückzug an. «Also danke, Mama!» sagte er rasch. «Ich werde es so anordnen, und du wirst gar nichts davon merken. Auf Wiedersehen!» Er nickte mit freundlicher Miene und zog schnell die Korridortüre hinter sich zu.
«Albrecht! Ihr richtet mich zugrunde!» rief sie ihm nach.
Er traf die neuen Gäste im Eßzimmer und wurde von seinem Vetter Willy sogleich in ein Gespräch über militärische Dinge verwickelt, im Augenblick, als von der andern Seite her Gertrud und Susi eintraten.
Gertrud stellte zuerst die Frauen einander vor. Susi streckte mit freudig bereitem, etwas schwärmerischem Lächeln rasch und ahnungslos die Hand aus, erlebte aber zu ihrem unaussprechlichen Ärger, daß die junge Frau auf diese herzhafte Art nicht einging.
Frau Mathilde war eine sehr aufrechte, schlanke Gestalt mit einem regelmäßigen Gesicht von strenger, offenbar bewußter Schönheit und mit prachtvollen, mild leuchtenden Schultern im flaumigen Rahmen einer weit zurückgeschobenen Boa. Ohne Susi mehr als die schlaffen Finger und ein kühles Nicken zu gönnen, wandte sie sich mit einer Bemerkung über den Reitunfall eines bekannten Offiziers an Gertrud, wobei sie mit der erhobenen, leicht aus dem Handgelenk fallenden Rechten lässig das eine Ende der Boa liebkoste. «Ich finde es bedauerlich», sagte sie. «Aber er hätte dieses Pferd niemals reiten dürfen, und man hat ihn ja auch vorher gewarnt.»
Gertrud empfand das Verhalten Mathildes als eine Beleidigung ihrer Freundin und war empört, aber zugleich ärgerte sie sich über Susis plebejische Zudringlichkeit. «Ach, das kann schließlich jedem passieren», erwiderte sie gereizt und wandte sich ab, um etwas zu flüchtig auch Susi und Herrn Frey einander vorzustellen.
Hauptmann Frey von Wurzach, ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit hohem, schmalem Schädel, spärlichem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer langen, steil abfallenden Nase gebärdete sich auch im Zivil durchaus als Offizier. Sein Rock war eng in die Taille geschnitten; er trug ihn zugeknöpft, hatte die Hände flach in die Seitentaschen geschoben und hielt sich äußerst gerade. Der hohe, steife Kragen erlaubte ihm nicht, den Hals frei hin und her zu drehen; wenn er sich im Gespräch nach rechts oder links zu wenden hatte, drehte er zugleich mit dem Kopf auch den Oberkörper herum. Vor Susi nahm er die Hände aus den Taschen, führte mit zusammengerückten Absätzen eine sehr knappe Verbeugung aus und sagte mit einem Lächeln, das Gertrud arrogant fand, völlig unbeteiligt: «Sehr angenehm!»
«Du kannst Willy gratulieren, Gertrud, er kommt zum Generalstab», bemerkte Hartmann mit der unentschiedenen, leicht ironischen Miene, die seine wahre Meinung weder recht verbarg noch preisgab.
«Na ja, dem entgeht man nicht», sagte Willy auf Gertruds kühl anerkennende Kopfbewegung überlegen lächelnd. Er hatte eine hohe, etwas näselnde Stimme, einen gemacht schneidigen Tonfall und die Gewohnheit, seine Mundart, die ihm nicht genügte, fortwährend mit hochdeutschen Brocken zu vermengen.
Nachdem die kleine Gesellschaft sich zum Essen hingesetzt hatte, nahm das Gespräch bald die unvermeidliche Wendung zum österreichisch-serbischen Konflikt, der als Folge des Attentats von Sarajevo alle Welt beschäftigte. «Serbien soll ja mobilisieren», sagte Frey. «Lächerlich!»
«Nicht ganz lächerlich!» wandte Hartmann ein. «Ein Volk, das derart provoziert wird wie jetzt die Serben … ob verdient oder nicht, ist eine andere Frage … hat sich vorzusehen. Man liest ja täglich von österreichischen Ausschreitungen gegen Serben; kein Wunder, wenn ihnen die Galle überläuft.»
«Na ja, aber die Serben sind doch eine Schweinebande! Ich bin fest überzeugt, daß sie alle mit den Attentätern unter einer Decke stecken. Und diese Mordbengel hatten ja eingestandenermaßen beschlossen, daß sie als Serben für ihr Land sterben wollten. Ausgezeichneter Heldentod, wenn solche Kanaillen für ihr dreckiges Wanzenparadies am Galgen baumeln!»
Hartmann lachte laut, fing zugleich einen erbitterten Blick Gertruds auf und beeilte sich, seinem Vetter zu antworten. Gertrud konnte ihre gereizte Stimmung schon nicht mehr verbergen, und die Gäste merkten es.
Das Essen war kaum zu Ende, als Frau Hartmann Gertrud dringend zu sich bitten ließ. Gertrud schickte das Kindermädchen hinauf und ging in ihr Zimmer, wo sie hastig eine unnötige, in diesem Augenblick sinnlose Beschäftigung mit den verschiedensten Dingen begann. Sie ordnete die Kinderkleidchen, die schon geordnet waren, legte für Albrechtli ein frisches Hemd bereit und rückte die Gegenstände auf dem Toilettentisch zurecht, bis jemand anklopfte.
Susi trat ein und kam mit erschrocken fragendem Blick rasch auf sie zu. «Gertrud, was ist mit dir? Mein Gott, du warst beim Essen so … Was hast du? Red doch, du bist ja ganz …»
Gertrud lief hinaus, ohne zu antworten. Im Eßzimmer, das Hartmann mit den Gästen bereits verlassen hatte, wurde sie vom Kindermädchen eingeholt. Frau Hartmann, meldete das Mädchen, habe oben im Gastzimmer die Bettwäsche auswechseln wollen, inzwischen sei aber Fräulein Keller gekommen, und das Zimmermädchen wisse nicht, wo sich der Schlüssel zum Wäscheschrank befinde, jetzt seien die Betten noch nicht angezogen …
«Nehmen Sie von unserer Wäsche!» sagte Gertrud, ergriff eine Schale mit kleinem Gebäck und trug sie hastig ins Wohnzimmer hinüber.
In diesem Augenblick öffnete Hartmann vom Gang her die Tür, ärgerlich, flüchtig, auf der Suche nach seiner Frau, während ihm Willy vom obern Stock herab mit schnarrender Stimme etwas zurief. «Du bekümmerst dich also um nichts mehr?» fragte Hartmann leise, im kalt drohenden Ton einer letzten Frage.
«Macht was ihr wollt, macht was ihr wollt!» schrie Gertrud.
«Schrei nicht!» zischte Hartmann und schloß eintretend rasch die Tür.
Gertrud zitterte, ihr Gesicht nahm den Ausdruck krampfhaften Weinens an. Sie fühlte, daß sie die Herrschaft über sich verloren hatte und nahe daran war, sinnlos loszuschreien. Hochatmend lief sie ins Kinderzimmer.
Hartmann folgte ihr sofort.
«Was willst du?» fuhr sie ihn an, wobei sie der schlafenden Kinder wegen die Stimme unwillkürlich dämpfte, und blickte ihm mit einem Haß in die Augen, der ihm über alle Worte und Vermutungen hinaus zum erstenmal etwas von ihrem wirklichen Zustande verriet.
«Ich habe mit dir zu reden, bitte setz dich!» antwortete er, und im nächsten Augenblick, als sie weglaufen wollte, packte er ihr Handgelenk.
«Laß mich!» fauchte sie und versuchte ihm die Hand zu entreißen, das Gesicht entstellt vor Wut.
Beherrscht, entschlossen, mit steinharter Miene stieß er sie vor sich her zum Diwan und ließ sie erst los, als sie den Widerstand aufgab und sich hinwarf. Er riegelte beide Türen ab, sah nach den Kindern, die im Schatten des abgedunkelten Lichtes lagen, und begann, während er sich ihr langsam näherte, in unterdrücktem Ton, aber zuerst noch jeden Satz heftig ausstoßend: «Jetzt wird Schluß gemacht. Mehr lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe dir monatelang zugesehen, ohne ein Wort zu sagen, du hättest Zeit gehabt, Vernunft anzunehmen. Ich war auf Launen gefaßt und ich hätte noch länger gewartet. Aber daß du schließlich Skandal machen würdest, das habe ich nicht erwartet. Es ist abscheulich, wie du dich bei Tische benommen hast, und es war vorhin im höchsten Grade rücksichtslos, mich so anzuschreien, daß Willy und die Mädchen es hören konnten. Ich will keinen Skandal, verstehst du! Was zwischen uns vorfällt, bleibt unter uns. Das ist das Wenigste, was ich von dir verlangen kann, aber das verlange ich. Über Willy und Mathild magst du denken wie du willst, aber wenn sie unsere Gäste sind, hast du sie als Gäste zu behandeln. Eine Schande, wie du uns bloßgestellt hast! So etwas ist mir vollkommen unbegreiflich …»
Gertrud verbarg das Gesicht im Arm und schluchzte vor Mitleid mit sich selber. Hartmann war nie ein sanfter Gatte gewesen, aber daß er ihr auch auf diese lieblose Art Gewalt antun könnte, hatte sie nicht erwartet. Sie fühlte sich grenzenlos entwürdigt und hörte nicht auf seine Vorwürfe. Plötzlich aber begann er von «diesem Herrn Pfister» zu sprechen. Ihre erste Regung war, aufzufahren und ihm jedes weitere Wort zu verbieten. In diese zarteste Beziehung einzudringen hatte er kein Recht, es war ein roher Übergriff in das Reich ihrer Seele, ihrer einzigen Heimat in der Fremde dieser Ehe. Aber sie war kaum imstande, sich auch nur zu regen, und begann unter seinen erbarmungslosen Worten den Atem anzuhalten wie unter Stockhieben auf ausgesucht empfindsame Stellen.
«Ich wollte noch nicht darüber reden, aber einmal muß es heraus», fuhr er fort. Er sprach noch immer in gedämpftem Ton, aber ruhiger, bestimmter, vom Bestreben erfüllt, ihr jetzt ein für allemal knapp und klar seine Meinung zu sagen. «Du hast Beziehungen zu diesem jungen Mann … wenn man ihm Mann sagen darf. Wie weit diese Beziehungen gehen, kann ich nicht wissen, ich habe keine Beweise. Aber so etwas sieht und spürt man. Man kann’s euch von den Augen ablesen. Merke dir nun bitte folgendes: Wenn dieser Herr sich hier noch einmal zeigen sollte, werde ich ihn hinausohrfeigen. Diese Beziehungen haben aufzuhören. Ich werde sie unter keinen Umständen länger dulden. Und es wird auch nicht weitergemogelt. Ich will eine vollständig klare Situation haben. Bist du dazu nicht bereit, so bleibt dir logischerweise nur übrig, die Scheidung zu verlangen. Dann kommt es zu einem Skandal, über den ganz Zürich reden wird. Die Schuld daran wirst du allein zu tragen haben, denn mir kannst du nicht das geringste vorwerfen, was dich vor Gericht rechtfertigen würde. Du wirst dich auf jeden Fall im Unrecht befinden, auch vor der Öffentlichkeit. Alle anständigen Leute werden auf meiner Seite stehen, deine Eltern mit eingeschlossen. Auf deiner Seite wird nur dieser blasse Jüngling stehen, ein Dichterling, soviel ich weiß, ein armer Schlucker. Ich bin überzeugt, daß auf die Dauer für dich dabei nichts herauskommen würde als eine Blamage. Damit bin ich fertig. Ich werde nicht mehr davon anfangen, außer wenn du selber es wünschest.» Mit einem letzten erzürnten Blick wandte er sich von ihr ab und ging ruhig hinaus.
Gertrud richtete sich mit geröteten Augen und verwirrtem Ausdruck langsam auf, horchte eine Weile und erhob sich plötzlich, um die Tür, durch die er das Zimmer verlassen hatte, abzuriegeln. An der Tür blieb sie, rasch und aufgeregt atmend, einen Augenblick stehen, um abermals zu horchen, dann überzeugte sie sich, daß auch an der andern Tür der Riegel vorgeschoben war. «Ich bin fertig mit diesem Mann», dachte sie. «Ich werde nie, nie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Daß er derart roh und rücksichtslos sein könnte, hätte ich nicht erwartet … oder doch, ich habe es geahnt, ich habe gewußt, daß es so enden werde … Und jetzt wälzt er alle Schuld auf mich. Das ist unerhört, sogar wenn er einen Grund dazu hätte … aber er hat keinen Grund, er ist grauenhaft ungerecht, er unterschiebt mir irgendetwas und stößt mich weg, ohne auch nur danach zu fragen … Beziehungen zu Albin? Aber was habe ich denn getan? Ich habe nichts getan … Und selbst wenn Albin mich lieben würde … aber was weiß ich denn, was weiß ich? Er hat nie ein Wort gesagt, er hat nur …» Ohne genau zu bedenken, was er denn eigentlich getan habe, erinnerte sie sich jetzt an die paar Augenblicke, in denen sie seine reine, scheu zurückgehaltene Liebe gespürt hatte; aber es widerstrebte ihr sofort, mit dem Verstand daran zu rühren wie an etwas Meßbarem. «Nein, das soll er mir nicht beschmutzen! Das steht turmhoch über alldem, was hier geschehen ist, und Albin selber steht turmhoch über ihm. Ein Dichterling, ein armer Schlucker! Wie brutal er mir das hingeworfen hat! Ja, er ist brutal, er hat mich behandelt, wie man kein Dienstmädchen behandeln würde. Und dazu spricht er noch von Scheidung!»
Bei diesem Gedanken wurde ihr schwach und kalt. Weder vor noch während ihrer Bekanntschaft mit Albin hatte sie jemals an diese Möglichkeit gedacht, wie sie denn überhaupt nichts mehr auf irgendwelche Folgen hin bedacht, sondern aus lauter Angst vor der Zukunft nur noch von einem Tag in den andern hinübergelebt hatte.
Sie setzte sich auf den Diwan, aber im nächsten Augenblick erhob sie sich aufgeregt wieder. «Ich kann nicht hier bleiben, sonst werde ich verrückt … es muß etwas geschehen … Ach, was soll ich tun, was soll ich tun?» Ihr nächster Gedanke war, Mama aufzusuchen und ihr alles zu bekennen, aber sie sagte sich sogleich, daß Mama für das Verzweifelte ihrer Lage kein Verständnis hätte. «Sie würde mir nur Vorwürfe machen und gar nicht begreifen, wie furchtbar es für mich ist … und wenn ich sagte, daß Albin … sie würde es niemals begreifen … sie kennt Albin nicht, und wenn sie ihn dann mit diesem Menschen vergliche, den sie ja für einen Edelmann hält … nein! Albin ist ja tausendmal mehr wert als dieser Mensch, der mir den Umgang mit ihm verbieten will … Verbieten! Als ob ich seine Leibeigene wäre! Niemals! Überhaupt … ich wollte zu Junods fahren, und er soll mich nicht daran hindern … er weiß, daß ich Albin treffen will, und wenn ich jetzt hierbleibe … diese Genugtuung soll er nicht haben … ja, ich muß Albin treffen, das ist das einzige, was ich jetzt tun kann …»
Zu welchem besondern Zweck sie ihn jetzt treffen und was sie ihm sagen wollte, war ihr durchaus unklar, aber sie klammerte sich zuletzt an diesen Gedanken wie der Ertrinkende an den nächsten festen Gegenstand, der die Flut überragt, gleichgültig, ob er dadurch gerettet werde oder nicht.
5
Hastig begann sie Kleid und Haare in Ordnung zu bringen, wusch sich die Augen, klingelte dem Mädchen und ließ einen Taxi bestellen. Sie benutzte die erste Gelegenheit, das Haus unbemerkt zu verlassen, und wartete in der Dämmerung des Gartens auf den Wagen. Auf der ganzen Fahrt wurde sie alsdann von der dunklen Vorstellung begleitet, daß ihr eine entscheidende Stunde bevorstehe, die all das Gemeine, Erniedrigende tilgen werde; erst vor dem ihr wohlbekannten Hauseingang erwachte sie zum nüchternen Bewußtsein, daß sie sich vorläufig nicht zu Albin, sondern in Gesellschaft begab, wo sie Haltung bewahren und eine unbefangene Miene zeigen mußte.
Sie wurde von Tante Klara, der Frau des Professors, im Hausgang empfangen und leise in die Wohnstube geführt. Aus dem Salon herüber drang der etwas rauh gespielte letzte Satz eines Streichquartetts. «Wie nett, daß du doch noch gekommen bist!» sagte Frau Klara langsam und blickte sie freundlich an.
«Ja, es ging wirklich nicht früher», erwiderte Gertrud. «Willy und Mathild Frey übernachten bei uns, und dabei war das Gastzimmer schon besetzt … es ist noch eine Freundin bei mir … ich hatte entsetzliche Scherereien, ich bin noch ganz konfus …»
«Ach, du Armes … ja, das kann man sich denken … komm sitz erst ein wenig ab!»
Gertrud war nahe daran, dieser gütig heitern, in menschlichen Dingen erfahrenen und verständnisvollen Frau unvermittelt alles zu gestehen. Aber in diesem Augenblick fragte Frau Klara neugierig nach dem Ehepaar Frey von Wurzach; sie mußte antworten, und der Augenblick kam nicht wieder.
Sie gingen in den Salon hinüber, wo Gertrud bei den Pulten rasch die vier Streicher begrüßte, den Professor, Albin, ihre Brüder Severin und Paul. Ohne sich in ein Gespräch einzulassen, trat sie zurück und stand plötzlich vor Fred, der sich mit der Hilfe eines Stockes schmunzelnd vom Sofa erhob. «Was, du bist auch da?» fragte sie erstaunt. «Wie geht’s mit dem Fuß?»
«Oh, ganz ordentlich … ich muß auf höheren Befehl noch die Krücke da brauchen, aber … es geht auch ohne.»
Gertrud setzte sich in das andere Ende des Sofas, zur Rechten der Hausfrau, die auf einem Stuhle Platz nahm, und erkundigte sich bei Fred nach den Eltern.
Als die Streicher unmittelbar vor dem Beginn eines neuen Quartetts noch einmal leise die Stimmung der Saiten prüften, bemerkte sie, daß Albin, mit dem Kinn die Geige haltend, sie von unten her kurz und forschend anblickte. Sie spürte sogleich, daß sie errötete, wandte den Blick ab und schaute nicht mehr hin. Während des Spieles saß sie mit geschlossenen Augen da, in einer Beklommenheit des Herzens, die sie vorerst nur undeutlich zur Besinnung kommen ließ, was und wie gespielt wurde. Die gewohnte Umgebung aber, die wechselnden Sätze einer bekannten und geliebten Musik, der Zwang, in den Pausen zu plaudern, und alle diese vertrauten Gesichter entrückten sie doch ihrem wirren Zustand ein wenig.
Als sie aber nach dem Abschied mit Albin und den Brüdern auf die beleuchtete Straße hinaustrat, stürzte sofort wieder die ganze heillose Wirklichkeit auf sie ein.
Sie drückte den Brüdern flüchtig die Hand, beteuerte noch einmal, daß sie zu Fuß nach Hause gehen wolle und wurde von atemhemmendem Herzklopfen befallen, weil sich jetzt sogleich entscheiden mußte, ob Albin sie begleiten oder verlassen werde. Indessen nahm sie von ihm nicht Abschied, sondern blickte ihn an, ohne sich zu gestehen, daß sie ihn damit zur Begleitung geradezu aufforderte. Der eben noch Unentschiedene bat denn auch wirklich darum. Um ihre Erregung zu verbergen, begann sie, nachdem sie freundlich dankend angenommen hatte, sofort von gleichgültigen Dingen zu reden.
Albin war nach dem unvermittelten Ende jenes Gespräches vor dem Bücherschrank und dem darauffolgenden Abschied, bei dem, wie er meinte, Gertrud ihm die Hand verweigert hatte, zur Überzeugung gekommen, daß die junge Frau sich jede mehr als freundschaftlich-gesellige Annäherung verbitten werde. Er hatte es selbstverständlich gefunden und sich trotz seinem absichtlosen Verhalten geschämt, daß er zu weit aus sich herausgegangen war. Mit dem unbedingten Anstand des völlig lautern Menschen und mit seinem besonderen Stolze hatte er beschlossen, das zweifellose Recht Hartmanns auf die ungeteilte Liebe seiner Frau mit keinem Gedanken anzutasten, die Frau selbst unmerklich zu meiden und mit seinen Gefühlen allein fertig zu werden. Während er jetzt, den Geigenkasten unter dem linken Arm, neben ihr dahinschritt, erlebte er die zwiespältigsten Empfindungen; ihre Gegenwart berückte ihn unweigerlich und gaukelte ihm das aufwachende Verlangen wieder als verheißungsvoll und berechtigt vor, obwohl er wußte, daß es hoffnungslos war. Er brannte und es tat weh; aber statt das Feuer zu fliehen, blieb er ihm nahe. Während ihn diese bittersüße Erkenntnis keinen Augenblick verließ, unterhielt er, um seine Befangenheit zu verbergen, mit allem Eifer das von Gertrud begonnene, harmlos nichtige Gespräch.
Sie hatte für den Heimweg die stilleren Straßen gewählt und bog jetzt in einen menschenleeren Weg ein, der sich bei spärlicher Beleuchtung lang auf gleicher Höhe hinzog und zwischen Villen hindurch immer wieder einen Blick hinab auf die Lichter der nächtlichen Stadt gewährte. Dieser Weg kreuzte die Straße, an der sie wohnte; es war nicht mehr weit dahin. «Ach Gott, er kommt mir mit keinem Wort entgegen», dachte sie verzweifelnd, während sie in mattem Tone davon sprach, wie schön es hier am Abend sei, wenn die Stadt da unten im Zwielicht liege.
«Ja, nicht wahr?» antwortete er. «Das habe ich oft erlebt. Wenn die Häuserformen so langsam zurücktreten … jedes neue Licht vertieft die Dunkelheit … und der See hat dann manchmal ganz merkwürdige Färbungen …»
«Ja.»
«Überhaupt, es gibt hier ringsum wundervolle Aussichtspunkte … und die Stadt hat bei jeder Tageszeit ihren besonderen Reiz. Haben Sie schon gesehen, wie sie erwacht, am frühen Morgen?»
«Ja.»
«Ich hab’ es kürzlich gesehen. Sie trat zuerst etwas grau und nüchtern aus der Dämmerung heraus … aber dann lag sie im hellern Licht eine Weile so herrlich still und frisch da unten … das erste Geräusch kam von einem einfahrenden Zug, der mit seinen Lichtern sonderbar übernächtig wirkte … aber fast genau mit der Sonne wurde es laut … Tram, Milchwagen, Hundegebell, allerlei hörte man jetzt, aber gut unterscheidbar, noch nicht als dumpfes Brausen wie untertags … und die Dächer, die höhern Mauern und die Türme strahlten hellgoldig … schön!»
Sie antwortete nicht, aber bei jedem Schritte zögerte sie etwas mehr, und schließlich blieb sie stehen.
Albin verstummte und blickte sie höflich fragend an.
«Ach, ich dachte … ich bin gleich zu Hause …» Sie begann wieder zu gehen. «Ja … könnten wir nicht einmal nachmittags zusammen musizieren? Ich habe mit Paul manchmal Sonaten gespielt, und wenn Sie Lust hätten …?»
«Ich hätte, offen gestanden, wohl Lust», begann er verlegen, «aber … ich kann ja viel zu wenig … es wäre für Sie kein Genuß …» Da sie schwieg, fuhr er fort, sich zu entschuldigen.
«Ist das der einzige Grund?» fragte sie kleinlaut.
«Nein!» antwortete er nach kurzem Zögern, und sowie er das gestanden hatte, entschloß er sich, des Versteckspielens müde, die Wahrheit zu gestehen, wie sie auch wirken möge. Während er aber bis zu diesem Augenblick mit freundlich schüchterner Miene ruhig, klar und folgerichtig gesprochen hatte, brachte er sein Bekenntnis jetzt nur stoßweise und ohne rechten Zusammenhang heraus, wobei er sich nicht an seine Begleiterin wandte, sondern mit angestrengter Sammlung ein aufgeregtes Selbstgespräch zu führen schien. «Nein, der Hauptgrund … der einzige wirkliche Grund ist der, daß ich … Ich bin es Ihnen und Ihrem Manne schuldig, mich zurückzuziehen … und ich tue es auch wegen mir, weil es keinen Sinn hat, mich einem Erlebnis auszusetzen, das mich … ich meine, ich habe ja dies Erlebnis nicht gesucht, ich habe nur auf einmal gemerkt, daß es so ist, daß ich also … daß ich Sie lieb habe …»
Gertrud spürte, wie ihr Körper von einer heißen Welle durchflutet wurde, die ein gleichsam überstürztes Glücksgefühl war und sie zugleich in die ärgste Beklommenheit versetzte. Mit glühendem Gesichte begann sie, rasch und stoßweise durch die geöffneten Lippen atmend, den Schritt so zu beschleunigen, als ob sie ihrem Begleiter davonlaufen wollte. Albin faßte es als Zeichen des Erschreckens und der Mißbilligung auf, aber er blieb an ihrer Seite und versuchte ihr eindringlich klar zu machen, daß er dies alles nur zu seiner Rechtfertigung gestehe und sie in keiner Weise damit zu belästigen wünsche. Erst vor dem Hause, als sie nicht anhielt, sondern, den Schritt wieder mäßigend, die Straße hinab neben ihm weiterging, erkannte er ihre Bereitwilligkeit, ihn anzuhören.
«Ich habe nie daran gedacht, daß mein Gefühl erwidert werden könnte … oder doch nicht im Ernst … das heißt, ich habe nie damit gerechnet», fuhr er fort, schwer bemüht, seine Lage möglichst genau darzustellen, und zugleich verlegen vor Scham über ein so ungewohntes Bekenntnis. «Ich weiß nur, daß Sie mir sehr freundschaftlich gesinnt sind, sonst weiß ich nichts Bestimmtes. Aber angenommen, daß Sie mehr für mich empfinden als Freundschaft … wo könnte das hinführen? In Ihren Kreisen bin ich eine unglückliche Figur, ein Sonderling ohne Besitz und Einkommen … Sie würden mir gegenüber gewisse bürgerliche Hemmungen niemals verlieren … obwohl Sie nach meiner Meinung weit über dem Durchschnitt stehen. Außerdem … ich würde es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, mich zwischen Sie und Ihren Mann zu drängen. Es käme nichts Ganzes dabei heraus und … ich habe auch meinen Stolz, ich würde verzichten, wenn ich etwas Halbes vor mir sähe. Ich wäre in jedem Fall Ihnen gegenüber nur der Bettler … und Liebe darf kein Almosen sein … Entschuldigen Sie, daß ich mich so ausdrücke, als ob … als ob überhaupt jemals eine Möglichkeit bestanden hätte … aber ich möchte, daß Sie sich über meinen Rückzug ganz klar sind. Ich will jetzt gehen … es hat keinen Zweck, länger darüber zu reden. Gut’ Nacht!» Er streckte zögernd seine Rechte aus. «Und noch einmal, bitte entschuldigen Sie diese …»
Mit mühsam beherrschter Miene blickte sie ihn an, ergriff seine Hand und drückte sie fest, worauf er, verstummend, sich sogleich abwandte, aber nicht den geraden Heimweg auf der weithin sichtbaren Straße einschlug, sondern wie auf der Flucht vor ihrem Blick im nächsten Seitenweg verschwand.
Gertrud kehrte langsam um, von unüberwindlicher Müdigkeit befallen, so langsam, als ob sie hier geduldig auf jemand wartete. «Alles aus!» dachte sie. «Er hat recht, er kann nicht anders handeln … Liebe darf kein Almosen sein … ach Gott, hätte ich ihn doch nicht … warum mußte ich ihn herausfordern! Jetzt ist für mich alles zu Ende … was noch kommt, hat ja keinen Sinn mehr … wozu gehe ich in dieses Haus zurück?» Sie hielt an, nicht wie man freiwillig anhält, sondern allmählich, schleppend, wie aus Erschöpfung, und jetzt, zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben, kam ihr der Gedanke, zu sterben. Aber sogleich erschrak sie davor, wie sie vor dem Gedanken an die Scheidung erschrocken war. Sie dachte an ihre Eltern, an die Kinder, an ihre geliebte Welt, an die schönern Tage ihres Lebens, und wußte, daß sie es niemals freiwillig tun würde. «Nein, nein, es wäre grauenhaft, ich will weiterleben, mag auch alles noch so trüb und sinnlos sein!» dachte sie tief beunruhigt und stieg von der Straße rasch die Stufen zum Garten hinauf.
6
«Es ist ein Unsinn, ich habe keine Ahnung von einem Schützenfest», sagte Paul gequält. Er stand in lässiger Haltung vor seinem Bruder und blätterte angewidert ein paar Drucksachen auf, Schießplan, Festschrift, Programme.
«Ich habe dir schon gesagt», erwiderte Severin und unterbrach seine Arbeit ärgerlich zum zweitenmal, «wir müssen einen Bericht über das Kantonalschützenfest bringen, und wir haben keinen eigenen Berichterstatter dort …»
In diesem Augenblick kam Schmid mit ein paar Papierstreifen eilig aus der Rauchkammer herüber. «Der Text des Ultimatums!» sagte er lächelnd.
«Endlich!» rief Severin in einem Ton, als ob Schmid an der Verzögerung schuld wäre, nahm die Papiere entgegen und begann sie sogleich zu lesen.
«Scharfer Tabak für eine Wiener Note, in Belgrad werden sie einen schönen Schnupfen bekommen.» Mit diesen Worten verschwand Schmid so eilig wie er eingetreten war.
Paul kehrte ebenfalls in die Nebenstube zurück, schmiß die Drucksachen auf einen Haufen anderer Broschüren und setzte sich vor das Manuskript eines von Severin angenommenen Feuilletonromans, zu dem er ein kurzes Vorwort schreiben sollte. Er befand sich in seiner bittersten Stimmung, das heißt, er fühlte sich auf unerträgliche Weise angeödet, und war schon halbwegs entschlossen, weder dies Vorwort zu schreiben, noch das Schützenfest zu besuchen. Während er mit Überwindung weiterlas, kam unerwartet Severin herüber und lief zum Telefonkasten, den er aus seinem Büro hieher verbannt hatte.
Severin läutete die Agentur an und bat um die mündliche Wiederholung einer undeutlich geschriebenen Stelle des Notentextes. «Wenn Sie uns schlechte Abzüge schicken, so ist das nicht unsere Schuld», sagte er trocken verweisend, nachdem er die Antwort stenographiert hatte. «Wir haben hier keine Zeit, Rätsel zu lösen. Und hören Sie! Wenn Sie im Verlauf dieser Stunde noch Auslandnachrichten bekommen, so telefonieren Sie doch bitte sofort, nicht wahr!» Er hatte kaum den Hörer angehängt, als er auf Pauls Tisch das Manuskript bemerkte und mit einem zornig erstaunten Ausdruck stehenblieb. «Das ist doch eine verfluchte Schlamperei!» sagte er heftig, ohne seine Haltung zu ändern. «Der Roman sollte längst im Satz sein. Wenn du keine Einleitung zustande bringst, so laß es bleiben!» Damit trat er entrüstet ab.
Schmid sah sich lächelnd nach seinem jungen Kollegen um.
Paul zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher, ohne eine Miene zu verziehen, dann nahm er ein Blatt Papier vom Block und begann entschlossen zu schreiben: «Die bekannte hochverehrte Autorin unseres neuen Romans schildert die Schweiz im Chaletstil. Es geht so recht behaglich, so recht sauber, so recht freundlich zu. Wir zweifeln nicht, daß unsere Leser sich angeheimelt fühlen werden. Das Kleine bleibt klein, das Große auch. Die Vergangenheit wird anhand von Spinnrädern, Schulbüchern und Großmuttermärchen wachgerufen. Sie erwärmt das Herz. Die Gestalten lieben einander und ihr Ländchen. Ein inniges, sinniges, trautes Beisammensein. Vaterländchen! Heimatchen! Schweizlein!» Mit einem saueren Grinsen erhob er sich und begann rauchend durch den engen Raum zu gehen. «Was meinen Sie, Herr Schmid, könnte man sich in München oder Berlin als freier Journalist einigermaßen durchschlagen?»
Schmid blickte freundlich auf, dann kratzte er sich in den Haaren. «Hm … schwierige Sache, am Anfang wenigstens. Man müßte schon mit ganz gerissenen Dingen kommen … Versuchen Sie lieber zuerst, von hier aus Verbindungen anzuknüpfen. Wenn man Sie nicht kennt, werden Sie nicht so rasch ankommen. Übrigens ist die Luft dort faul, warten Sie ab!»
Paul setzte sich von neuem hin und erwog, was er schon dutzendmal erwogen hatte, ob er nicht doch ohne Papas Geld im Ausland leben könnte, dann warf er sein Vorwort in den Papierkorb und trug den Roman in die Setzerei.
Am Sonntag darauf, zu Hause beim Frühstück, fragte ihn Fred scherzhaft, ob er zum Schützenfest mitkomme.
«Zum Kantonal-Schützenfest? Ja, fährst du denn hin? Du, das ist ja ausgezeichnet! Du könntest mir für den ‹Ostschweizer› einen Bericht schreiben, du bekommst …»
«Ich? Du bist ja verrückt!»
«Warum nicht? Du verstehst offenbar etwas davon und könntest …»
«Quatsch! Ich fahre in den Rusgrund. Am Schützenfest liegt mir eigentlich nichts … aber komm’ mit, dann sehen wir uns den Rummel zusammen an!»
«Hm … ich werde dazu genotzüchtigt, weißt du … wenn ich nicht hingehe, schmeißt mich Severin bei der nächsten Gelegenheit hinaus, und dann hab ich Papa wieder auf dem Buckel. Auf die Dauer werde ich allerdings lieber im Ausland Hobelspäne fressen als zum schweizerischen Festberichterstatter versimpeln.»
«Und ich würde bald lieber Hobelspäne fressen als weiterstudieren. Du kannst wenigstens froh sein, daß du fertig bist. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich jemals fertig werde …»
«Ach! Man kann ein Jahr lang froh sein, und dann geht eine neue Schweinerei los … Aber du wirst dich doch irgendwie durchschlängeln können?»
«Du hast eine Ahnung! Als Jurist oder Philologe kann man sich schlängeln, bei uns nicht.»
«Aber Naturwissenschaft wäre doch immerhin …»
«Ja, was? Ha! Zuerst kommt eine Wüste, auf der nur Formeln wachsen … es ist zum Verdursten … und nachher spezialisiert man sich auf die Erforschung eines Fliegendrecks. Ich behaupte ja nicht, besonders viel Talent zu haben, aber entweder bin ich ein dummer Löli, oder dann …»
«Nein nein, weißt du … ich könnte dasselbe von mir sagen. Aber es liegt nicht an uns. Es ist ja alles faul … wir sind nicht die Einzigen, die das riechen. Wir sitzen jetzt da so schön bequem beim Morgenessen, nicht wahr … Porzellan, Silberbesteck, Bedienung, warmer Kaffee, Röllchenbutter, frische Gipfel … nichts zu maulen! Mama ist in der Kirche, es lebe die Christenpflicht! Papa ist noch im Nest … hoch die Freiheit! Und jetzt fahren wir also zum Schützenfest. Wir leben im Paradies, mein Lieber! Aber dieses Paradies stinkt zum Himmel, und wer eine etwas feinere Nase hat, der hält es nicht mehr aus. So liegt die Sache.»
Fred rollte die Serviette zusammen, steckte sie in den Ring und erhob sich lächelnd, ohne zu antworten. Er kannte Pauls Ansicht in dieser Beziehung und hörte sie nicht ungern, sie rechtfertigte auch ihn, doch er traute ihr nur halb und war geneigt, allenfalls ein Teilchen der Schuld, mit der man in Literatenkreisen die Zeit belud, auf sich zu nehmen. «Wir müssen gehen, du! Ich hole noch schnell den Koffer … ich bleibe ein paar Tage im Rusgrund.»
Als die zwei unzufriedenen Brüder sich dem Bahnhof näherten, drang ihnen der rauschende Marsch einer Blechmusik entgegen, die auf dem freien Platz neben dem Gebäude spielte. Die Julisonne strahlte schon mittägliche Wärme aus dem wolkenlosen Himmel. Der Bahnhof war von aufgeräumt plaudernden und lachenden Schützen dicht besetzt.
«Ein prächtiger Morgen!» höhnte Paul. «Es ist ja vorauszusehen, was sich weiter entwickeln wird. Radau, Schweiß und Blechmusik. Wenn du einverstanden bist, nehmen wir Zweite.»
Ein langer Zug fuhr ein, und die Masse der Schützen ging über ein freies Geleise hinweg zerstreut auf die Wagen los. Die Brüder bestiegen ganz hinten ein leeres Abteil zweiter Klasse, aber sie hatten sich kaum niedergelassen, als vom Nachbarwagen her lärmender Andrang einsetzte und ein beleibter Mann die Schiebetür aufriß. «Oha, Zweite!» sagte der Mann wohlgelaunt in tiefem Baß und blieb zögernd stehen, aber die Nachdrängenden schoben ihn vorwärts, besetzten das Abteil unbedenklich und legten ihre Gewehre der Länge nach, den Sitzraum überbrückend, auf die Netzstangen. Neben Paul nahm ein magerer, spitznasiger Sportsmann in Kniehosen Platz, neben Fred ein mürrisch blickender, einfacher Mann mit buschigem Schnurrbart, zwei offenbar ernstlich beflissene Schützen, die auf der ganzen Fahrt ruhig über den Sektionswettkampf sprachen und nur manchmal leise lächelnd nach einem übermütigen Burschen hinsahen, der mit lauten Späßen die Gesellschaft unterhielt. Eine Weile hörte man den dicken Herrn mit dem Baß gutmütig auf die Eisenbahner schimpfen, die zu wenig Drittklaßwagen bereitgestellt hatten, dann ging dort das Gespräch auf die Weltlage über, und der Bassist behauptete, Österreich könne den Krieg gegen Serbien unmöglich eröffnen, wenn Rußland nicht neutral bleibe. Indessen wurde die vordere Tür heftig auf- und zugeschoben, eine trockene Stimme rief: «Alle Billets gefälligst!» Die Schützen griffen nach ihren Fahrkarten, aber es war der Spaßvogel, der gerufen hatte. Ein fröhlicher Lärm entstand, der von keiner Rücksicht auf allfällig mitfahrende Zweitklaßgäste mehr beherrscht wurde.
Bei der Ankunft am Festort dröhnte ein zu schnell gespielter Marsch der Ortsmusik durch die offenen Fenster des Wagens, auf der Bahnhofstraße standen die Vereine mit ihren Fahnen zum Zuge geordnet, und vor der Wartehalle hob sich eine große bunte Gruppe von der Masse des Publikums ab.
Fred zog Paul inmitten der aussteigenden Schützen am Ärmel zu dieser Gruppe hin und erklärte dem widerwillig Folgenden, was «dieser ganze Zauber» zu bedeuten habe. «Das Orrrganisations-Komitee des letzten Kantonalschützenfestes», sagte er mit großen Augen scherzhaft wichtig, «überbringt dem Organisations-Komitee des gegenwärtigen Festes die Kantonalfahne. Aber der Hauptakt spielt, glaub’ ich, auf dem Ortsplatz. Hier wird nur abgeholt. Die Herren im schwarzen Wichs mit den Rosetten sind Komiteemitglieder … es gibt übrigens ein paar hundert Komitees … und die Mädels in den Trachten sind Ehrendamen. Lisi ist auch darunter, soviel ich weiß … dort, dort, zu äußerst rechts, siehst du sie?»
Während beim schneidigen Schmettern der Blechmusik die feierlich aussehenden Herren der beiden Komitees sich begrüßten, die Ehrendamen den Ankömmlingen Wein in silbernen Bechern kredenzten und der Fähnrich mit der Hilfe eines Befrackten die Stangen der Kantonalfahne zusammenschraubte, versuchten die Brüder, näher heranzukommen, aber sie wurden abgedrängt und begaben sich auf den Weg zur nahen Ortschaft.
Die Straße dahin war beflaggt und wurde zwischen den ersten Häusern von einem bunten Triumphbogen überbrückt, auf dessen efeuumranktem Kartonschild ein gereimter Spruch die Schützen «von nah und fern» willkommen hieß. Die Brüder schritten eben unter dem Bogen durch, als der Zug vom Bahnhof her sich in Bewegung setzte, und da sie die Dorfstraße von wartenden Zuschauern gesäumt sahen, traten sie schon hier beiseite. Während in der Nähe eine Kanone Schuß um Schuß zu lösen begann, rückte die festliche Kolonne, von blau und weiß gewandeten Halbartenträgern eröffnet, mit Marschmusik heran. Dröhnend zogen die Bläser vorbei, die Ehrendamen tauchten auf, fest im Schritt, mit einem fröhlich verlegenen Lächeln, und hinter ihnen schwang ein von der Ehrenwache begleiteter mächtiger Fähnrich das kantonale Banner in der unbewegten Sonntagsluft mit ernster Miene hin und her. Neugierig schmunzelnd blickte Fred seiner Base entgegen, und plötzlich sah Lisi auch ihn; mit einer impulsiven Bewegung hob sie, den Becher schüttelnd, die Rechte und rief unbedenklich laut «Salü Fred», indes ihr ohnehin gerötetes lachendes Gesicht unter der Rundhaube noch mehr erglühte und ihre Beine unter dem schwarzseidenen, von einer bunten Schürze bedeckten Rock aus dem Schritt gerieten. Die übrigen Ehrendamen blickten lächelnd nach dem Gegrüßten hin. Fred schaute der Gruppe nach und sah belustigt, wie Lisi, an der Schnürjacke nestelnd, den Schritt wieder suchte, auf irgendwelche Bemerkungen antwortete und sich auf einmal stramm ausschreitend in die Brust warf. Neue Gruppen, neue Banner folgten, und mit angehängtem Gewehr zog die Masse der Zürcher Schützen vorbei.
Immer mehr Zuschauer begannen den Zug zu begleiten. Fred schob den Bruder schlendernd am Arm neben sich her und fragte spöttisch, ob er nicht bald für seinen Bericht Notizen machen wolle. Paul antwortete nur mit einem hämischen Grinsen. Auf dem von Giebelhäusern umstellten, mäßig großen Platze war der feierliche Akt der Fahnenübergabe schon im Gang, aber die Brüder blieben im Gedränge stecken und sahen nicht viel davon. Jemand hielt eine Rede, aus der nur einzelne Brocken verständlich waren. Der nächste Redner jedoch begann unerwartet so laut und energisch, daß die Leute überall lächelnd die Hälse reckten, um den stimmgewaltigen Mann nicht nur zu hören, sondern wenn möglich auch zu sehen. Der Redner versicherte nach einem kurzen lokalhistorischen Rückblick, es sei für die hiesige Schützengesellschaft sowie für die ganze Gemeinde eine hohe Ehre, das Fest durchführen zu dürfen. Jeder Schütze, jeder Einwohner sei sich dieser Ehre bewußt und werde alles daran setzen, das ihm erwiesene Vertrauen zu rechtfertigen. In diesem Sinne nehme er das kantonale Banner entgegen und gelobe im Namen seiner Gesellschaft, es bis zum nächsten Kantonalfest in treuer Obhut zu halten. Die Rede fand kurzen, kräftigen Applaus, die Musik blies einen Marsch, Vereinspräsidenten riefen nach ihren Leuten, die Menge geriet in Bewegung.
«Jetzt ziehen sie auf den Schießplatz, zum Bankett in der Festhütte», erklärte Fred. «Sehr wichtig für dich! Ich meinerseits würde lieber hier im ‹Löwen› essen.»
Paul nickte schweigend, mit einer Miene, als ob ihm jetzt schon alles einerlei sei, und so betraten die Brüder das nahe Gasthaus, wo sie in der voll besetzten Stube mit Not an einem kleinen Winkeltische Platz fanden und erst nach geduldigem Warten von einer Kellnerin hastig bedient wurden. Fortwährend erschienen neue Gäste, blieben eine Weile beratend unter der Türe stehen und entfernten sich wieder. Fred machte, mit einem Auge zwinkernd, den Bruder auf eine Gruppe von Schützen aufmerksam, die offenbar vom Festplatz kamen und ihr Programm geschossen hatten. Sie versperrten mit angehängtem Gewehr den Eingang, indes der vorderste, ein in mittleren Jahren stehender, dem Anschein nach sehr selbstbewußter Mann mit dunklem Schnurrbart, bereits in die Stube getreten war, ohne den Hut abzunehmen; auf dem Hute trug er einen Lorbeerkranz, und da er sich mit gespielt herausfordernder Miene etwas zu lang nach einem Platz umsah, schien es, als ob er hier prahlerisch allen Gästen sein bekränztes Haupt vorführe.
Paul nahm zu Freds Vergnügen diesen Auftritt ernst und grinste unverschämt nach dem Manne hin. Fred aber sah dem Schützen an, daß er sich des humoristisch Fragwürdigen seines Auftretens bewußt war und es scherzhafterweise eben deshalb ein wenig übertrieb.
«Einfach unglaublich!» sagte Paul lächelnd, nachdem der Mann abgetreten war. «Ich habe mir ja die ganze Geschichte schon kraß genug vorgestellt, aber …» Er schüttelte den Kopf.
«Ach, das ist nicht so schlimm!» erwiderte Fred und begann dem Bruder zu widersprechen, nicht aus Anteilnahme am Fest, sondern um sich an Pauls heiterem Entsetzen zu weiden.
«Nicht so schlimm! Mein Lieber! Weißt du noch, was es zu bedeuten hatte, wenn bei den antiken Wettkämpfen einem Sieger der grüne Lorbeer gereicht wurde? Und heutzutag brüsten sich alljährlich Hunderte oder wahrscheinlich Tausende von Schweizern mit diesem künstlichen Lorbeerkranz, der als Massenartikel in Fabriken hergestellt wird! Oder vergleiche den alten römischen Triumphbogen, der dem größten und würdigsten Mann errichtet wurde, mit dem für jedermann hingestellten lächerlichen Gerüst da draußen! Das sind Einzelheiten, aber daran läßt sich die Erbärmlichkeit dieser ganzen festlichen Machenschaft ermessen.»
«Ja, wenn du mit solchen Vergleichen kommst … das hier ist doch etwas ganz anderes … der Lorbeerkranz ist geschmacklos, zugegeben, aber was den Triumphbogen betrifft … das ist eine Dekoration wie jede andere.»
«Eben ja! Es ist alles zur Dekoration geworden, alles ist entwertet und für den Massengebrauch zugeschnitten …»
«Aber die Hauptsache ist doch das Schießen!»
«Und die Festrede, der Hurrapatriotismus, der Bechertrunk, die Ehrenmeldung … Übrigens die Ehre, das ist auch so ein Punkt, mein Lieber. Einst war Ehre mehr wert als ein Bändel im Knopfloch oder eine Karte auf dem Hut, Ehre war etwas Hohes, Seltenes, aber dafür auch wirklich Vorhandenes, und geehrt wurde nicht jeder zweite Füdlibürger. Hier aber gibt es Ehrendamen, Ehrenbecher, Ehrenzeichen … Ehrenmeldungen, Ehrenweine … weißt du nicht noch mehr? Ha! Die Ehre ist billig geworden.»
«Du betrachtest das alles von der falschen Seite», wandte Fred ein, während er schmunzelnd ein Stück Fleisch zerkaute.
«Wieso? Ich bin durchaus nicht der einzige, der ein solches Schützenfest für eine grenzenlose Banalität hält. Aber das eigentlich Bedenkliche daran ist, daß man es als Höhepunkt des nationalen Lebens inszeniert. Allerdings …» Er machte, hinterhältig lächelnd, mit Schultern und Armen eine schwankende Bewegung. «… angeblich tritt ja hier dieses sogenannte nationale Leben am sichtbarsten zutage … es wird schon so sein, und das ist nicht mehr nur bedenklich, es ist …» Er hielt einen Augenblick inne, schien aber plötzlich dieser ganzen Erörterung überdrüssig zu werden und schloß, ohne den Satz zu beenden, mit seinem gewohnten müden Lächeln und einer gleichgültig erledigenden Handbewegung: «Ach … es ist ja überhaupt hoffnungslos!»
Fred wiegte kurz den Kopf, halb zustimmend, halb zweifelnd. Die Einwände gegen das Fest schienen ihm nicht unbegründet, obwohl er es einigermaßen bedenklich fand, daß Paul mit seiner Meinung recht haben sollte gegen die Tausende, die das Fest begingen. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit aber vermochte er nicht zu teilen. Ihm schien, Paul urteile immer von den Zuständen aus und verkenne die Menschen, wenn er sie ihnen gleichsetze, oder ziehe sie gar nicht in Betracht, während zwischen den Menschen und den Zuständen doch tausend Vorbehalte möglich waren. Indessen gab er den Widerspruch auf, den er tiefer zu führen und richtig vorzubringen doch nicht hoffen konnte; es lag ihm auch wenig daran.
Sie tranken nach dem Essen einen schwarzen Kaffee, unterhielten sich über die Verwandten im Rusgrund, von denen Paul nur den Onkel Robert seiner bärenhaften Vitalität wegen bemerkenswert fand, und brachen endlich mit ironischer Neugier zum Festplatz auf.
7
Vom Bahnhof, wo ein Zürcher Zug eingefahren war, kamen kurz hintereinander mehrere Wagen dahergerasselt, deren lange Sitzbänke mit Schützen dicht besetzt waren, aber eine zahlreiche Menge von Schützen und Festbummlern zog auch zu Fuß hinaus, und vom Orte selber befand sich familienweise die halbe Einwohnerschaft unterwegs. Die Straße, dieselbe, auf der Christian seinen Vetter Fred in die Ferien gefahren, war nach je fünfzig Schritten mit einer bunten Reihe dreieckiger Wimpel überspannt, von denen der Nachtwind einige über den Draht geworfen hatte. In ihrer mäßigen Breite vermochte sie den Verkehr nicht ganz zu fassen, so daß die den Fahrzeugen ausweichenden Fußgänger und die eiligeren Schützen Seitenpfade in die Wiese zu treten begannen. Fred, dem diese Schändung des Rasens mißfiel, blieb mit dem Bruder absichtlich auf der Straße, aber nachdem sie ein paar Minuten lang geduldig hinter einer breiten kleinen Frau hergeschlendert waren, die mit der Rechten einen Kinderwagen schob, an der Linken ein kleines Mädchen führte, schlug Paul plötzlich mit ärgerlicher Miene doch einen Seitenpfad ein, und Fred folgte ihm unwillig. Von der Straße wälzte sich eine graue Staubschlange träge nach rechts in die Wiese hinaus, die Luft flimmerte in der hochsommerlichen Hitze, und vom Schießstand her knatterten wie trockene Peitschenschläge die Schüsse, die am gegenüberliegenden Hang ein ununterbrochenes brausendes Echo weckten. Zum Staub und zur Hitze gesellte sich bald der wirre Lärm der Budenstadt, der auf dem Festplatz selber dermaßen anschwoll, daß man nicht einmal das nahe Geknatter der Schüsse mehr hörte.
Lächelnd schritten die Brüder an den ersten Bretterständen vorbei, wo man Zigaretten, Türkenhonig, Magenbrot, Appenzeller Fladen und dergleichen kaufen konnte, verweilten einen Augenblick vor einem Karussell und ließen sich dann mit der gestauten Menge langsam zwischen den Buden weitertreiben. Aus einer umfangreichen Tunnelbahn drang hastig und gequetscht die Ouvertüre zu «Dichter und Bauer», in die eine fünfköpfige Blechkapelle vom gegenüberliegenden Zirkus kräftig hineinmusizierte. Das benachbarte Unternehmen stellte einen Glaskasten aus, worin eine halbnackte wächserne Mannsfigur mit regelmäßigen Bewegungen eine hingesunkene Frau erstach, während der Direktor auf dem Podium nebenan das Publikum brüllend darauf aufmerksam machte, daß es hier Gelegenheit habe, einer Dame durch den Leib zu sehen. Vor einem Zelthaus mit der Überschrift «Exotische Schau» rührte ein schwitzender Neger zähnebleckend eine dumpfe Trommel, neben ihm turnte ein Affe herum, und an der Kasse saß eine üppige Mulattin. Fred drängte sich hin, sah dem Affen zu und verlor den Bruder aus den Augen. Paul suchte ihn von der Seite her zu erreichen und geriet dabei vor eine Bude, aus der ihn eine hochblonde Dame anrief. «Schießt der Herr e mal?» rief sie energisch, indes sie hastig ein Luftgewehr spannte und vor einen Schießlustigen hinstellte. Paul ging rasch vorbei, machte sich dem Bruder bemerkbar und wartete ihm dann vor einem Bretterstand, wo ein Schütze im Kreis seiner lachenden Kameraden Bälle nach hölzernen Köpfen warf. Fred folgte, sah sich aber noch einmal nach dem Affen um und stolperte über einen eingerammten Seilpflock, dann schloß er sich vergnügt dem Bruder wieder an.
Sie kamen am Ende der Budenstadt auf den freien Platz zwischen Festhütte und Schießstand. Dieser Platz war zum größten Teil von Schützen belebt, die sich von den Festbummlern deutlich unterschieden, obwohl die meisten ihre Gewehre eingestellt hatten. Sie wechselten, Resultate überzählend und einander vorweisend, lachend, unternehmungslustig oder schimpfend zwischen Stand und Hütte hin und her, einige in grauen Überhemden, viele ohne Kragen, während manche, Schatten und Ruhe suchend, sich ohne Rock dem Stand entlang in den Rasen gelagert hatten. Die Brüder beschlossen, nun sogleich zum Mittelpunkt des Festes vorzudringen, und betraten den Schießstand, ein älteres, mit einem Türmchen versehenes Holzgebäude, das durch zwei neu angebaute niedere Flügel erweitert worden war. Sie hatten als bloße Zuschauer beim Eintritt eine Karte zu lösen, die Fred hinter das Hutband steckte, während Paul sie in der Tasche verschwinden ließ. Im Innern des Standes, wo die Schüsse nicht mehr das draußen hörbare trockene Geknatter, sondern ein hallendes Krachen hervorriefen, standen die Schützen dicht gedrängt hinter den Gewehrrechen; zwischen ihren Köpfen hindurch gewahrte man in der Entfernung von dreihundert Metern die lange Reihe der beweglichen Scheiben, auf denen da und dort Zeigerkellen erschienen, doch von den Schießenden selber war hinter der geschlossenen Menge nur wenig zu sehen.
Die Brüder suchten eine Lücke und schritten den Stand nach beiden Seiten hin ab, wobei sie fortwährend ausweichen mußten oder beiseite geschoben wurden. Im rechten Flügel stießen sie auf ihren Vetter Christian, der, eine grüne Rosette am Rockaufschlag, zur Wand der Wartenden hinausdrängte und einem der Büros zustrebte, die sich hinter Verschlägen an der Rückseite des Raumes befanden.
«Einen Augenblick!» sagte Christian, nachdem er kaum recht genickt hatte, und verschwand hinter einer Tür, um nach einiger Zeit wieder zu erscheinen und seine städtischen Vettern kurz zu begrüßen. «Ich habe noch Schießaufsicht, aber in einer halben Stunde werde ich abgelöst», erklärte er sehr ernsthaft, mit beschäftigter Miene. «Wollen wir uns in der Festhütte treffen?» In diesem Augenblick wandten sich in der Nähe, beim Gewehrrechen, ein paar Schützen um und riefen: «Schießkomitee! Schießkomitee!»
«Also in einer halben Stunde beim Eingang der Festhütte!» sagte Christian hastig und schob sich, dem Rufe folgend, eilig durch die Reihen.
Paul blickte in diesem Gedränge, Lärm und fortwährenden Krachen kopfschüttelnd den Bruder an, als ob ihm das alles unfaßbar wäre, und winkte mit der Rechten müde ab, aber auch Fred fand kein Vergnügen mehr an diesem Aufenthalt.
Sie verließen den Stand, bummelten noch ein wenig und setzten sich zur verabredeten Zeit mit ihrem Vetter endlich in der Festhütte an einen der langen, mit weißem Papier bespannten Tische. Fred bestellte eine Flasche Wein. Durch den hohen Hüttenraum, der gegen dreitausend Personen fassen mochte, dröhnte von der Bühne herab Rossinis Ouvertüre zum «Wilhelm Tell»; das Gastkonzert der städtischen Kapelle war in vollem Gang. In den Pausen verursachte der Lärm der zahlreichen Gäste ein betäubendes Summen. Es war brütend heiß.
«Paul ist nämlich als Pressevertreter da», erklärte Fred. «Es kommt alles in die Zeitung, was da läuft.»
Paul warf seinem Bruder schweigend einen kurzen, spaßhaft geringschätzigen Blick zu, während Christian mit einem leisen, vorsichtigen Lächeln Paul ansah, den er mehr aus dem Familienklatsch als aus eigener Erfahrung kannte.
«Das ist ja übrigens ein höllischer Betrieb», fuhr Fred fort. «Also wie lange dauert das Fest?»
«Zehn Tage», antwortete Christian, während er wieder eine sachlich ernste Miene annahm. «Es hat am Freitag begonnen. Aber ein solcher Betrieb ist natürlich nicht an jedem Tag.»
«Ja, aber geschossen wird doch zehn Tage lang von morgens bis abends auf alle sechzig Scheiben?»
Christian nickte.
«Wieviele Sektionen sind eigentlich angemeldet?»
«Hundertdreißig und rund vierhundertvierzig Gruppen, zusammen etwa viertausend Mann. Dazu kommen noch die Einzelschützen, die nicht angemeldet sind.»
«Und wie hoch ist die Plansumme?»
«Zweihunderttausend Franken.»
«Zwei-hundert-tausend? Die Plansumme», erklärte Fred, zu Paul gewandt, «ist nämlich der voraussichtliche Umsatz beim Schießen, abgesehen vom ganzen übrigen Betrieb. Mach dir einen Begriff davon!»
Christian lächelte, weil Fred offenbar bestrebt war, seinem Bruder das Fest so großartig wie möglich darzustellen.
«Und wieviel Schützenfeste werden jährlich in der Schweiz abgehalten?» fragte Fred weiter. Er ging zu seinem Vergnügen jetzt wirklich darauf aus, Pauls Entsetzen über das schweizerische Festleben auf die Spitze zu treiben, wobei seine eigene Stellung dazu unentschieden blieb.
«Das kann ich jetzt kaum so genau sagen», antwortete Christian, der den Hintergrund dieses Fragespiels nicht zu erkennen vermochte. «In der ganzen Schweiz werden jedes Jahr etwa fünf oder sechs solche Kantonal-Schützenfeste abgehalten. Aber daneben gibt es jährlich noch Dutzende von kleineren Schützenfesten, vielleicht vierzig bis fünfzig …»
«Tatsächlich?» fragte nun Paul selber.
«Das ist bei weitem nicht alles!» rief Fred. «Zu den Schützenfesten kommen bekanntlich noch Sängerfeste, Turnfeste, Musikfeste, Schwingfeste … außerdem gibt’s fast jedes Jahr irgendein eidgenössisches Fest, wo es noch ganz anders großartig zugeht.»
«Ja, es ist unglaublich, ganz unglaublich», sagte Paul leise und ernsthaft. «Dagegen ist nicht aufzukommen. Es ist überwältigend.»
Während nun Fred vom Ausmaß der eidgenössischen Feste zu reden begann, gewahrte Paul eine wachsende Zahl von Schützen, die den Lorbeerkranz auf dem Hute trugen, und seine Miene erhellte sich zu spöttischer Anteilnahme. Einer dieser Schützen, der offenbar leicht betrunken war, versuchte unter dem Gelächter und den Zurufen seiner Kameraden, die ihn durch die Hütte begleiteten, unversehens eine Kellnerin zu umarmen, was ihm nur halb gelang; jetzt bummelte er weiter und kam in der Nähe vorbei, ein etwas ungeschlachter Mann in mittleren Jahren, das Gewehr unordentlich nach hinten gehängt, auf dem zurückgeschobenen Strohhut den dichtbelaubten Lorbeerkranz, dessen eine blauweiße Schleife ihm verdreht auf den Nacken herabfiel; breitspurig bummelte er vorüber und sang oder gröhlte vielmehr «Heil dir, Helvetia, Hast noch der Söhne ja …», mit einem grimmigen Ausdruck seines dicknasigen Gesichtes, als ob er jeden herausfordern wollte, der seine vaterländische Kundgebung etwa nicht ernst zu nehmen geneigt wäre.
Fred hatte kaum ein paar vermutlich übertriebene Bemerkungen über die Höhe des Alkoholkonsums bei derartigen Festen an diesen Auftritt geknüpft, als er über zwei Tische hinweg den Onkel Robert in Begleitung Karls, Marthas und einiger ihm unbekannter Männer entdeckte. Sogleich erhob er sich und rief sie, seinen langen Arm reckend, zu Pauls Ärger laut herbei.
Das robuste, rötliche Gesicht seines Onkels leuchtete beim Anblick seiner Neffen erfreut auf, zugleich ließ er sich zum Spaß ein wenig in die Knie fallen, als ob er einen Sprung tun wollte, und kam rasch heran. Martha folgte ihm mit einem fröhlich innigen Ausdruck, der ihr stilles Gesicht schön machte. Die Gesellschaft drängte sich grüßend und plaudernd an dem schon zur Hälfte besetzten Tisch zusammen, während gleichzeitig an allen Eingängen der Hütte ein auffallender Andrang einsetzte. Man vernahm, daß ein Gewitter im Anzug sei, es wurde auch merkbar dunkler, und schon in einer der nächsten Konzertpausen übertönte ein nahes Donnern den Hüttenlärm.
Paul war von quälendem Unbehagen erfüllt, und während er lächeln, reden, antworten mußte, spürte er zum hundertsten Male, daß er mit diesen Leuten nichts gemein hatte und an alldem, was sie beschäftigte, niemals ernsthaft würde teilnehmen können. Er benützte ein lautes Gelächter, um Fred mitzuteilen, daß er sich drücken und in die Stadt zurückfahren werde.
«Ach was, wart nur!» antwortete Fred. «Wir gehen nachher miteinander zum Bahnhof.»
Paul schüttelte mit einer flüchtigen Grimasse den Kopf.
«So wart doch wenigstens, bis das Gewitter vorbei ist!» erwiderte Fred und blickte ihn lächelnd an. Er verstand den Bruder sehr wohl, ja er vermochte ihm sein wachsendes Befremden gegenüber dem Festrummel, der nun durch dies Zusammentreffen fordernd auch nach ihnen griff, fast genau nachzufühlen. Zugleich wurde er sich bewußt, wie leicht und ungezwungen er selber mit diesen von Paul verschmähten Leuten verkehren konnte, und in diesem Augenblick fühlte er sich dem sonst bewunderten Bruder zum erstenmal überlegen. Mochte Pauls empfindsame Ausschließlichkeit auch ein geistiger Vorzug sein, oder umgekehrt der Geist zu dieser Ausschließlichkeit führen, das Volk besaß jedenfalls ein natürliches Anrecht, sich so ungeistig und trivial zu betragen wie ihm zumute war. Ob er, Fred, es mit diesem oder jenem halten möchte, das zu entscheiden fühlte er sich unfähig, er stand seinem eigenen Gefühle nach in der Mitte zwischen diesen zwei Erscheinungen, die für immer getrennt zu sein schienen und die er doch beide begriff.
Indessen fuhren ein paar stürmische feuchte Windstöße in die auf zwei Seiten offene Hütte hinein, und die ersten Regenschauer trieben den Rest des bummelnden Volkes unter Dach. Das nun herrschende Gedränge, in dem die numerierten Aufwärterinnen sich mit verzweifelter Miene Bahn zu schaffen suchten, der heftig auf das Hüttendach rauschende Gewitterregen, die Klänge der unbeirrt weiterkonzertierenden Kapelle und der verworrene Lärm der Menge selber steigerten das festliche Treiben zu einem ungeheuren, sinnlosen Tumult. Paul fühlte sich dem in keiner Weise mehr gewachsen, und das gewohnte, ironisch abwehrende Lächeln erstarb ihm auf den Lippen. Befremdet, ja beängstigt sah er, wie dagegen seine Tischgenossen sich all dessen nicht bewußt zu sein schienen, sondern mitspielten wie selbstlose Gestalten in einem furchtbaren Traum, den er allein mit wachen Sinnen zu träumen verdammt war.
Nachdem er sich endlich von der Gesellschaft getrennt hatte und durch den Schmutz des zertretenen Rasens mit dem hinausdrängenden Volk auf die Straße geraten war, wo die schon wieder glühende Sonne sich in den Regenlachen spiegelte, trat er mit abweisender Miene sogleich den Rückweg zum Bahnhof an. Hier mußte er sich eine ziemliche Weile gedulden, und als der Zug einfuhr, blieb ihm nichts anderes übrig, als inmitten von wohlgelaunt heimkehrenden Schützen und Festbummlern Platz zu nehmen. Er fühlte sich niedergeschlagen vom Andrang dieses Tages, den er unbeteiligt mit heiterm Spott zu ertragen gehofft hatte, und in diesem Zustande begann ihm sein eigenes Dasein fragwürdig zu erscheinen. Mochte dieses Dasein auch seine eigene innere Rechtfertigung besitzen, was half ihm das gegen jene Übermacht, die es ausschloß und vor der es so nichtig wurde wie ein Menschenleben im Bergsturz!
Während der Fahrt stahl er sich freilich in seine gewohnte Haltung zurück, in jene Haltung eben, die halb aus Not, halb aus Einsicht, jedenfalls aber mit vollem Bewußtsein auf den Anschluß an das den Tag beherrschende Volk verzichtet. Er teilte sie mit vielen Intellektuellen aller europäischen Länder, und er war geneigt, sie zu übertreiben, wie mancher schaffende Künstler, der seiner Einsamkeit eine befremdend grundlose Eigenwelt abtrotzte.
Nach seiner Ankunft in Zürich schlug er durch den noch taghellen, von heimkehrenden Ausflüglern belebten Sonntagabend sogleich mürrisch verschlossen den Weg nach Hause ein. Vor dem Gebäude einer großen Tageszeitung aber wurde er zu seiner Verwunderung von einer Menschenmasse aufgehalten, die, an ihren Rändern unruhig gelockert, im Innern fest geschlossen, nach Tausenden zählen mochte. Er erinnerte sich, daß die Zeitung auf diesen Abend ein Extrablatt angekündigt hatte, die Ereignisse der letzten Tage fielen ihm ein, die nach der überwältigenden Gewöhnlichkeit des europäischen Alltags endlich das Ungewöhnliche erwarten ließen, und die Lust danach ergriff auch ihn. Er mischte sich unter die Menge, in der die merkwürdigsten Gerüchte von Mund zu Mund liefen, und wurde von einer plötzlich einsetzenden Strömung einem Ausgang des Gebäudes zugedrängt, wo die ersten Zeitungsverkäufer erschienen waren. Noch eh er hingelangte, fuhren ihm schon fetzenweise Nachrichten entgegen, die alle Erwartungen oder Befürchtungen zu erfüllen versprachen. Indes gedachte er an dieser Gier der Masse nach Sensationen nicht teilzunehmen und wandte sich mit dem eroberten Blatt in der Tasche gelassen heimwärts, um es freilich an der nächsten ruhigen Straßenecke dennoch aufzuschlagen.
Etwas großartig Spannendes und zugleich schon unheimlich Entschiedenes drang aus der bedruckten Seite auf ihn ein, der Anfang eines noch gar nicht übersehbaren Geschehens, das auf vernunftwidrige oder doch beängstigend dunkle Art alle Völker zu ergreifen drohte. Die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien stand unmittelbar bevor, die diplomatischen Beziehungen waren abgebrochen, die österreichische Gesandtschaft hatte Belgrad verlassen, die serbische Armee wurde mobilisiert. Aus Petersburg kam die unverhüllte Erklärung, Rußland fühle sich durch die Maßnahmen der Wiener Regierung provoziert und sei nicht mehr imstande, eine gleichgültige Haltung zu bewahren. In allen Hauptstädten wuchs sich die Spannung zu einer fieberhaften Bereitschaft aus, überall reisten Monarchen, Minister, Diplomaten heim auf ihre Posten, und die europäische Presse betonte wie aus einem Mund die schwere Bedrohung der internationalen Lage.
Paul, der mit seinem Urteil diesen Anzeichen der nahenden Katastrophe so unzulänglich gegenüberstand wie jedermann, faltete das Blatt zusammen und ging erregt mit beschleunigten Schritten weiter. Er hatte heimlich nie befürchtet, daß etwa der Sturm ausbrechen, sondern im Gegenteil, daß er sich verziehen könnte, wie er denn meinte, daß in Europa seit Jahrzehnten alles Verheißungsvolle, groß Begonnene und Elementare immer wieder im Sande verlaufen sei. Jetzt endlich schien etwas Mächtiges wirksam zu werden, das die Menschen nicht mehr ihren blöden Zwecken vorspannen konnten.
In der Nähe des Hauses sah er sich zwischen leicht- und hellgekleideten Passanten plötzlich der auffallend gewichtigen schwarzen Gestalt seines Vaters gegenüber.
«Ah, Paul … eh … hast du etwa das Extrablatt?» fragte Ammann flüchtig und schon bereit, weiterzugehen. «Aha, schön, danke! Wollte es eben auch holen.» Er kehrte um und fragte leichthin, während er das Blatt aufschlug und, stehen bleibend, einen ersten Blick hineinwarf: «Und wie ist die Lage?»
«Ach …», sagte Paul unbestimmt, mit einem Achselzucken, und blieb scheinbar gelangweilt ebenfalls stehen.
Ammann begann, ohne eine Antwort zu erwarten, die hervorstechenden Nachrichten zu lesen, dann setzte er sich, immerfort lesend, mit einem Ausdruck steigender Sorge an Pauls Seite langsam wieder in Bewegung.
Paul beobachtete ihn unbemerkt, er sah, wie er die dicke Unterlippe vorschob und die Stirn runzelte, wie in seinen leuchtkräftigen Augen ein leises Erschrecken aufglomm und wie er schließlich mit einer nachdenklichen Verdüsterung seines satten, selbstzufriedenen Gesichtes einen Augenblick vor der Haustür stehen blieb. «Riechst du, wie es brenzelt»? dachte er. «Es ist euere Welt, die zu brennen anfängt und hoffentlich einstürzen wird, euere zivilisierte, sichere, fortschrittliche Welt! Löscht jetzt, wenn ihr könnt!» Er schloß die Tür auf, ließ den Vater eintreten und folgte ihm, von einer unvernünftigen wilden Genugtuung erfüllt.
8
Nachdem das festliche Treiben dieses Tages um die abendliche Essenszeit einen kurzen Unterbruch erfahren hatte, setzte es beim Anbruch der Dunkelheit im strahlenden Flitterglanz der Budenstadt wieder ein und erreichte einen neuen Höhepunkt in der Festhütte, wo die Vereine des Orts mit wechselnden Darbietungen die Bühne betraten. Fred saß in Gesellschaft an einem der langen Tische und hörte dem Gespräch zu, das zwischen Christian und anderen Schützen im Gange war.
«Nein, heute wurde nicht besonders gut geschossen, wenigstens in den Hauptstichen», erklärte Christian. «Das höchste Resultat in der ‹Kunst› hat immer noch Brunner mit 443 Punkten. In der ‹Meisterschaft› steht vorläufig Otter mit 23 Nummern an der Spitze.»
«Das sind schöne Resultate!» erwiderte sein Nachbar, ein großer, magerer Mann mit einem herben Gesicht von bäuerlichem Schnitt und verständigem Aussehen, ein Wagner namens Eckert. «Am letzten Kantonalen stand Eggmann in der ‹Kunst› mit 450,5 Punkten im ersten Rang. Und auf mehr als 23 Nummern hat’s in der ‹Meisterschaft› doch keiner gebracht.»
«Ja … aber die Gefährlichsten fangen erst an. Reich, Meister, Fenner, Tobler und andere waren noch gar nicht da. Und Ihr», fügte er mit einem Lächeln bei, «habt’s auch noch nicht gewagt.»
«Papapapa … ich komme nicht mehr in Frage. Wenn ich’s auf 20 Nummern bringe, bin ich wohl zufrieden. Aber an dir ist es jetzt! Wenn einer schon am ersten Tag in der Serie 24 Nummern schießt, dann …»
«Jaja, liegend wär’s zu machen, aber in allen drei Stellungen … das ist eine andere Sache.»
«Ach, er hat daheim ja schon wochenlang Zielübungen gemacht», warf hier Lisi vorlaut ein.
«Das ist ganz in Ordnung!» erklärte Eckert entschieden, mit einem scherzhaft verweisenden Beiklang. «Wer nicht übt, bringt’s zu nichts. Unsere Meisterschützen machen täglich Zielübungen …»
Bei diesen letzten Worten dämpfte er die Stimme, denn jetzt wurde es in der Hütte dunkel, und auf der Bühne erschien im schwankenden Rot des bengalischen Lichtes die Winkelriedszene, ein vom Turnverein gestelltes «lebendes Bild». Der Held lag, von einer Anzahl kniender und stehender Eidgenossen umgeben, mit einem an die Brust gedrückten Bündel feindlicher Speere sterbend in den Armen eines jungen Kriegers. Die regungslose mehlweiße Gruppe verdämmerte, starker Beifall setzte ein, der Vorhang fiel und das Licht wurde wieder angedreht, während sich im Zuschauerraum schon die Mitglieder des Männerchors erhoben, die nun drei Lieder vorzutragen hatten.
«Ein verrücktes Resultat», begann Christian wieder, «hat am Samstag Stähli im Schnellstich geschossen, 78 Punkte, und unmittelbar vorher das Maximum in der Gruppe.»
«Schon gehört!» antwortete Eckert. «Der Stähli ist ein ganz hervorragender Schütze! Wie steht’s übrigens bis jetzt mit den Gruppen und Sektionen?»
«Vier sehr gute Resultate hat eine Tessiner Gruppe von Bellinzona. Von den Sektionen kann man noch nicht viel sagen. Neumünster, Winterthur und Zürcher Stadtschützen haben allerdings bis jetzt fast nur Kranzresultate.»
Fred hörte aufmerksam zu, obwohl ihm die genannten Punktzahlen keinen Begriff vom Wert der Resultate vermitteln konnten; er hatte im Militärdienst wohl schießen und treffen gelernt, doch auf den ausgeklügelten Plan eines Schützenfestes verstand er sich nicht. Er sah aber ein, daß die Schützen selber das Fest anders beurteilten als die Bummler, und daß sie hier nicht zur Belustigung erschienen, sondern zum Wettkampf, der eine ernstliche Anspannung erforderte und erstrebenswerte Folgen haben mußte. Der gute Schütze wurde ja berühmt, und dieser Ruhm konnte sich nicht auf ein bloßes Vergnügen beziehen, sondern nur auf gewisse gesteigerte Fähigkeiten, die ihren Träger vor seinen Volksgenossen auszeichneten, auf seine sichere Hand also, sein scharfes Auge, seine Geduld und Selbstbeherrschung. Jede Ortschaft, jede Gemeinde vermerkte es mit Genugtuung, wenn einer ihrer Angehörigen oder ihre Gruppe, ihre Sektion, einen so offenen, allgemeinen Wettkampf siegreich bestand, und aus dem Bewußtsein des ganzen Volkes war die Tatsache nicht zu tilgen, daß die Schweiz die besten Schützen der Welt besaß.
Nach den Liedern des Männerchors erhob sich Christian gemächlich, nickte der Tischgesellschaft zu und wollte gehen.
«He he!» widersprach Eckert. «Was ist mit dir? Grad so ohne weiteres läuft man jetzt nicht fort!»
Dasselbe wurde Christian noch von anderen Bekannten zugerufen, so daß er schließlich gestand, er wolle morgen früh mit dem Schießen beginnen. «Wenn man nicht richtig ausgeschlafen hat», sagte er, «dann braucht man gar nicht erst ein Gewehr in die Hand zu nehmen.»
Während Eckert halb zustimmend, halb bedauernd den Kopf wiegte und die übrigen laut widersprachen, griff auch Fred nach dem Hut und erklärte schmunzelnd, er gedenke morgen ebenfalls zu schießen und werde jetzt mit Christian heimgehen. Da stand Martha auf. «Ach, dann komm’ ich auch grad mit, die Mutter ist so allein zu Hause», sagte sie unverfänglich, mit kaum merkbarem Erröten. Nach erneuten Protesten und nutzlosen Verhandlungen trennte sich die kleine Gesellschaft. Lisi und der Vater blieben mit ihren Bekannten in der Hütte, Christian, Fred und Martha wanderten durch die besternte warme Nacht dem Rusgrund zu.
Am nächsten Morgen betrat Fred wirklich in aller Frühe mit Christian den Schießstand, und wenn er vorerst auch nicht selber ein Gewehr in die Hand zu nehmen gedachte, so wollte er doch die Schützen an der Arbeit sehen. Das Feuer war um sechs Uhr eröffnet worden, die Schüsse dröhnten schon auf der ganzen Front. Christian strich neugierig den Gewehrrechen entlang und machte Fred bald auf einen festen, rotnackigen Mann aufmerksam, der im Begriffe war, auf einer Stichscheibe ein hohes Resultat zu erzielen. Die Stichscheiben, erfuhr Fred, besaßen ein in hundert Kreise eingeteiltes rundes Trefferfeld von einem Meter Durchmesser. Auf diese Scheiben schoß man die «Kunst» mit fünf, das «Glück» mit zwei und den «Nachdoppel» mit beliebig vielen Schüssen. Die Prämien wurden gesondert in jeder Kategorie durch die Rangordnung bestimmt. Der Warnerknabe nun, der durch einen Druck auf den Läutknopf dem Zeiger den erfolgten Schuß zu melden hatte, stempelte diesem Schützen soeben unter «Kunst» die Punktzahl 92 ins Büchlein. Es war der vierte Schuß, die drei vorhergehenden zählten 87, 96, 83. Der Schütze zielte wieder. Er lag auf die Ellbogen gestützt, den Hut über dem rechten Ohr, das Gewehr im Anschlag, und zielte wohl eine halbe Minute lang, dann legte er, ohne den Schuß gelöst zu haben, atemholend das Gewehr nieder, um es nach kurzer Ruhe abermals anzuschlagen. Dasselbe wiederholte er noch zweimal, dann wandte er sich, den Kopf schüttelnd, nach einem Kameraden um, und Fred sah sein robustes, vor Anspannung gerötetes Gesicht, das zu lächeln versuchte und es nicht fertig brachte. Der Kamerad beruhigte ihn mit betonter Gelassenheit: «Wart nur, Köbi, du hast Zeit genug!» Der Schütze wandte sich wieder der Scheibe zu, zielte aber noch nicht, sondern senkte wartend und wie erschöpft den Kopf.
«Er hat Fieber», flüsterte Christian seinem belustigten Vetter zu. «Wenn ihm dieser letzte Schuß noch gelingt, dann hat er ein Bombenresultat, er könnte in den ersten Rang kommen. Das weiß er, und darum tanzt ihm jetzt schon alles vor den Augen. Es gelingt ihm nicht, du wirst sehen! Das kommt sehr oft vor.»
Inzwischen sammelten sich hinter dem Schützen immer mehr Neugierige an, jeder Hinzutretende suchte zu ergründen, was hier vorging, und blieb, wenn er es erfahren hatte, gespannt in der Nähe stehen. Fred, der seinen Platz am Gewehrrechen mit einiger Mühe behauptete, blickte bald auf den nach Selbstbeherrschung ringenden Schützen, bald auf dessen Nachbarn zur Rechten, den er für einen Regierungsrat oder sonst einen hohen Beamten hielt. Dieser ergraute, eindrucksvolle Mann schoß mit seinem Privatgewehr, einem Stutzer, in sehr gerader Haltung erhobenen Hauptes kniend den «Nachdoppel», er löste einen Schuß nach dem andern, blies nach jedem mit gespitzten Lippen sorgfältig den Rauch aus dem Lauf und schielte dabei durch seinen schiefen Klemmer nach der Scheibe, wo die Kelle einen mittelmäßigen Treffer zeigte, dann schob er eine neue Patrone ins Lager, schlug den Stutzer feierlich an, zielte wieder und schoß, alles mit einer unvergleichlich würdigen Ruhe, die zum Fieber seines ringenden Nachbarn im stärksten Gegensatze stand. Noch weiter rechts bemerkte Fred einen liegenden jüngern Mann, der heftig den Gewehrverschluß zurückriß, mit einem grimmigen Ausdruck seines scharfgeschnittenen Gesichtes nach der Scheibe starrte und plötzlich, den Verschluß mit Wucht zustoßend, ehrlich erzürnt ausrief: «Lueg, jetzt isch der Stärnechaib wieder z’höch!» Im selben Augenblick krachte vor Fred endlich der fünfte Schuß des Fiebermannes, eine kurze Bewegung ging durch die Schar der Zuschauer, dann blickten alle gespannt und still auf die Scheibe. Die Zeigerkelle erschien eine Hand breit neben dem Schwarzen, der Schuß zählte 61 Punkte und war nicht geradezu schlecht, drückte aber doch das gesamte Ergebnis auf eine kaum mehr auffällige Punktzahl herab. «Schade!» sagte der Kamerad bedauernd. Die Zuschauer entfernten sich schweigend. Der Schütze, noch immer rot im Gesicht, unterzeichnete das Resultat, dann winkte er, alle Schuld sich selber zuschiebend, mit der Rechten verächtlich ab und trat zurück. Er hatte das bescheidene Glück, das da endlich auf ihn zugekommen war, aus mangelnder Beherrschung mit dem letzten schwächlichen Zugriff verscherzt und tauchte in der Masse der unbekannten Schützen namenlos wieder unter.
Fred ging, da er Christian nirgends mehr erblickte, langsam durch den Stand, wobei ihm auffiel, wie viele bejahrte und gesetzte Männer sich unter den Schützen befanden, welch soliden Eindruck auch die jüngern erweckten, was für prächtige Köpfe hier auftauchten und wie ansteckend ernst, sachlich, gesammelt fast alle Gesichter erschienen. Fred fühlte sich wirklich angesteckt, ja schon verlockt, seine eigene Tüchtigkeit auf die Probe zu stellen und den Versuch mit der Waffe zu wagen; jedenfalls begann er, statt mit belustigter Neugier ziellos herumzuschweifen, nun auch eine beschäftigte Miene zur Schau zu tragen. Er wollte hier doch lieber nicht als Außenseiter gelten. In diesem Zustand begegnete er dreimal einem Schützen, dessen Anblick ihn sonst erheitert hätte; jetzt verbot er sich geradezu, ihn wunderlich zu finden. Dieser Mann, eine hohe, kahlköpfige Gestalt im grauen Überhemd, hatte sich eine Schießbrille in die Stirn geschoben und wanderte, die Hände auf dem Rücken, den Kopf ein wenig gesenkt, in tiefes Sinnen versunken immerzu auf und ab, wobei er den im Wege stehenden Schützen auswich, ohne sie eines Blickes zu würdigen und ohne auch nur einen Augenblick seinen regelmäßigen Gang zu unterbrechen.
Im äußersten rechten Flügel entdeckte Fred plötzlich seinen Vetter, wie er stehend die Waffe anschlug und zu zielen begann. Sogleich trat er hinter den Gewehrrechen, beugte sich gespannt über den Warnerknaben und sah im Büchlein, daß Christian eine Meisterschaftsserie begonnen und in sechs Schüssen drei Nummern geschossen hatte. «Erst drei Nummern!» dachte er enttäuscht und bedauernd. «Das genügt ja nicht, er muß doch stehend mindestens sechs bis sieben Nummern haben.» In dieser Serie, die man dreimal schießen durfte, wurden je zehn Schüsse stehend, kniend und liegend verlangt. Wem in diesen dreißig Schüssen fünfundzwanzig Treffer in ein Rund von 37 Zentimeter Durchmesser gelangen, fünfundzwanzig Nummern eben, dem wurde der Meistertitel verliehen. Dies hatte Fred von seinem Vetter erfahren, aber erst jetzt trat ihm das Schwierige, ja scheinbar Hoffnungslose des Unternehmens vor Augen. Das Nummernfeld war ja nicht größer als ein Strohhut, und wer wollte denn auf 300 Meter Entfernung unter solchen Bedingungen fünfundzwanzigmal einen Strohhut treffen!
Er trat etwas zur Seite und beobachtete mit herzlicher Anteilnahme, wie nun auch Christian, Atem holend, das Zielen unterbrach, aber gleich darauf das Gewehr wieder anschlug, indem er es leicht emporwarf, als ob er in die Luft schießen wollte, wie er den Kolben fest an die Schulter zog und den linken Ellbogen auf die Hüfte stützte, wie er mit den Füßen suchend noch einmal den sichersten Halt ermittelte und endlich zu zielen begann, mit einem so finster gespannten Ausdruck seines ohnehin mürrischen Gesichtes, wie Fred ihn noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Der Schuß fiel und traf die Nummer, aber die letzten drei Schüsse fehlten sie wieder. Christian unterzeichnete das Resultat und trat mit seiner gewohnten gleichmütigen Miene, die durch keinen Zug den Mißerfolg verriet, zu seinem neugierig wartenden Vetter. «Willst du nicht auch schießen?» fragte er. «Du kannst beim Büchser ein Gewehr mieten.»
«Ja, ich habe daran gedacht», antwortete Fred, als ob weiter nichts dabei wäre; als aber Christian sich sogleich anschickte, ihm bei den erforderlichen Schritten zu helfen, überkam ihn schon eine leichte Erregung. Er mietete ein Ordonnanzgewehr, kaufte Patronen und bestellte ein Schießbüchlein mit Marken für die «Kunst», das «Glück» und die Übungsscheibe «Kehr». Etwas verwundert stellte er fest, daß ihn dieser bescheidene Anfang rund zwanzig Franken kostete, und daß bei diesem patriotischen Wettkampf also wohl nicht nur die Ehre, sondern auch der für manchen Schützen beträchtliche Einsatz erregend im Spiel stehen müsse. Er stellte das Gewehr dort, wo er schießen wollte, in den Rechen.
Er mußte eine Viertelstunde warten, um an die Reihe zu kommen, und während dieser Viertelstunde nahm seine Erregung langsam zu. «Was für ein Blödsinn!» sagte er sich. «So werde ich nichts treffen, das ist doch klar. Warum rege ich mich eigentlich auf? Die ganze Geschichte ist ja nicht der Rede wert.» Dies suchte er sich einzureden, aber der dunkle Antrieb seines scheinbar harmlosen Unternehmens verlor den Stachel nicht. Im Grunde beherrschte ihn doch der merkwürdige Ehrgeiz, im Hinblick auf die Tüchtigkeit der Sinne und die Herrschaft über sich selber es wenigstens in bescheidenem Maße diesen einfachen Männern gleichzutun und ein Probestück zu wagen, das in intellektuellen Kreisen mißachtet, vom Volk aber naiverweise geschätzt wurde.
Endlich konnte er antreten. Mit gespielter Gelassenheit warf er das Büchlein dem Warnerknaben aufs Pult, verlangte «Kehr» und legte sich auf die Matratze. Er machte das Gewehr zum Schuß fertig, schlug es an und schmunzelte bei allem Ernst nun doch über die wunderlich erregende Lage, in die er sich da begeben hatte. Sorgfältig suchte er, durch den Visiereinschnitt äugend, das schwankende Korn unter dem runden Schwarz der Scheibe festzuhalten, aber eben das erwies sich als besonders schwierig, das Korn wollte nicht stillstehen, und schließlich drückte er aufs Geratewohl ab. Es geriet nicht wohl, der Schuß saß nicht einmal im Schwarzen, geschweige denn in der Nummer. Er nahm sich ernstlich zusammen, zielte genauer und drückte den zweiten Schuß im richtigen Augenblick ab, aber beim Abdrücken zog er die Waffe unmerklich ein wenig nach unten, er «verzog» den Schuß und fehlte das Schwarze abermals. Beharrlich versuchte er es von neuem, doch erst der fünfte Schuß gelang ihm ruhig und genau; er traf das Schwarze, aber noch nicht die Nummer, während der nächste Schuß, der ihm mißlungen schien, zu seiner Erheiterung mitten in der Nummer saß. Die folgenden zwei Schüsse ergaben Treffer am linken Rand des Schwarzen, worauf er den Zielpunkt etwas nach rechts verlegte und endlich eine verdiente Nummer schoß. Auf denselben Zielpunkt löste er den letzten Schuß, mit dem er zu seiner Verwunderung das Schwarze wieder fehlte; er hatte scheinbar genau gezielt und ruhig abgedrückt, aber das Auge mußte einer der dutzend optischen Täuschungen erlegen sein, die durch den Wechsel des Lichtes bewirkt werden, und so hatte er denn, einen bekannten Fehler begehend, den Schuß «versehen».
Er stand auf, trat gleichmütig zurück und löste eine zweite Marke für die Kehrscheibe. Nach einer halben Stunde lag er wieder auf der Matratze und traf in zehn Schüssen viermal die Nummer, dann vertauschte er den eingehegten kleinen Platz mit einem andern im rechten Flügel, vor den Stichscheiben, und meldete dem Warner mit mürrischer Miene: «Kunst». Fred schoß die «Kunst», der Einsatz betrug sieben Franken, sechzig Prozent der hier konkurrierenden Schützen erhielten Prämien von hundert Franken an abwärts bis zu vier Franken, und als Auszeichnung winkte der Lorbeerkranz. Er schoß, als ob er von frühester Jugend an nichts anderes getan hätte, zuerst die «Kunst» und gleich darauf das «Glück», aber seine entschlossene Haltung half ihm wenig, es gab hier nichts zu erlisten, ja es gab auf der Stufe seines Könnens nicht einmal Glück; das geringste Versagen der Hand, des Auges, die leiseste Erlahmung des Willens kamen im Ergebnis unweigerlich an den Tag; das Schießen war die genaueste Selbstprüfung, hier ging es so nüchtern und unbestechlich zu, wie man es von einer nationalen Angelegenheit nur wünschen mochte. Fred hatte in der «Kunst» einen guten, zwei mäßige und zwei schlechte Treffer, er zählte sie nicht einmal zusammen, es konnte nichts dabei herauskommen; auch das «Glück» war ihm mißlungen.
Er gab das Gewehr zurück und fühlte sich schon versucht, dieser ganzen Schießerei den Rücken zu kehren und seiner Wege zu gehen, als er Christian traf, der ihn auf ungewohnt anteilnehmende, fast besorgte Art fragte, wie es ihm nun ergangen sei.
«Ach …», antwortete Fred grämlich, «alls verluegt, verzoge, verzitteret und vercheibet!» Aber sogleich begann er über seine eigenen Ausdrücke zu lachen, winkte mit der Rechten ab und erkundigte sich nach Christians Ergebnissen.
«Ja, meine erste Serie ist auch verpfuscht», sagte Christian leichthin und schlug vor, nun zum Mittagessen in die Festhütte zu gehen. Gleich darauf dröhnte denn auch in der Nähe als Signal zur Mittagspause ein Kanonenschuß, die Scheiben wurden eingezogen, Schützen und Warnerknaben verließen den Stand, und draußen auf der leuchtend grünen Wiese erschien der geschlossene Zug der Zeiger in ihren roten Blusen und Mützen.
Erst in der Hütte erfuhr Fred nach einigem Drängen, daß sein Vetter die erste Serie immerhin mit neunzehn Nummern beendet, die zweite aber stehend mit sieben und kniend mit neun Nummern so hoffnungsvoll wie nur möglich begonnen hatte. Neidlos bewundernd las er die im Büchlein eingestempelten Treffer, seine Anteilnahme wuchs wieder, und nachdem er auf Christians Verlangen den Hergang der eigenen Bemühung genau erzählt hatte, erschien ihm seine Niederlage nur noch als verdiente und lehrreiche Erfahrung.
Nach der Mittagspause entdeckte Fred im linken Flügel des Standes den Oberstleutnant Fenner, Christians Regimentskommandanten, der kniend schoß.
«Fenner!» bestätigte Christian. «Er hat stehend die Meisterschaft mit acht Nummern angefangen, jetzt, kniend, ist er bei der fünften Nummer.»
Fenner trug einen dunklen, stark benutzten Anzug, einen alten schwarzen Hut und grobe Schuhe. Nichts an seinem Äußern verriet den Offizier, er trat auch im zivilen Leben mit jener Einfachheit auf, deren hartnäckige Betonung unter den Offizieren der Ammannschen Brigade ein gewisses vergnügtes Aufsehen hervorzurufen pflegte. Jetzt kniete er dort und zielte. Er schien das Gewehr nicht einfach so erhoben, sondern wütend angepackt zu haben, er hielt es wie in einem Schraubstock fest, die behaarte Rechte am Kolbenhals, die linke am Magazin, den Rücken gewölbt, die Schultern eingezogen, in einer offensichtlichen äußersten Anspannung, als ob er nicht nur mit dem Auge, sondern mit dem ganzen Körper zielte und mit aller Kraft sich selber abzuschnellen gedächte. Fred sah ihn von rechts, seine regungslose, zornig wirkende Braue, den hervortretenden gebräunten Backenknochen, die unordentlich an den Daumen gedrückte Schnurrbarthälfte, die sich zu sträuben schien, diese ganze, zur Unbeweglichkeit gezwungene, geduckt lauernde Gestalt, und er preßte unwillkürlich die Zähne zusammen. Der Schuß fiel, Fenner entspannte sich gelassen, legte eine neue Patrone ins Magazin und blickte auf die Scheibe, wo eine Nummer gezeigt wurde, dann begann er mit derselben gespannten Kraft und Sammlung wieder zu zielen.
Links von ihm hatte ein dunkelhaariger, schmächtiger Bursche den «Schnellstich» begonnen, der mit acht Schüssen auf eine Minute beschränkt war. Nach jedem Schuß riß er, ohne das Gewehr aus dem Anschlag zu nehmen, in der höchsten Eile den Verschluß zurück, um ihn ebenso eilig wieder einzustoßen, und während die ausgeworfene Hülse noch wegflog, zielte er schon wieder. An seiner Seite stand ein Mitglied des Schießkomitees mit der Uhr in der Hand.
Fred wunderte sich, was dabei herauskommen werde, ging mit Christian hinüber und betrachtete bald diesen eiligen Burschen, bald den Oberstleutnant, den das Schnellfeuer in seiner Nähe nicht im geringsten zu stören schien. Nach dem Ablauf der Minute wurde die Scheibe gewechselt, die Zeigerkelle erschien achtmal, und Fred stellte fest, daß ein einziger Schuß das Schwarze gefehlt hatte. «Weißt du», sagte er leise und nickte anerkennend, «es wird durchwegs doch verdammt gut geschossen. Wenn man sich eine Kompagnie oder auch nur einen Zug solcher Schützen im Gefecht vorstellt … da möchte ich nicht zum bösen Feind gehören.»
«Ja … das hier ist mehr oder weniger eine Auslese, aber … es gibt doch in jedem Zug eine Anzahl solcher Schützen», erwiderte Christian ernsthaft.
«Meinst du, daß in einem Kriegsfall etwas darauf ankäme? Es ist ja ein abscheulicher Gedanke, auf Menschen zu schießen, aber wenn man sich verteidigen müßte … ein Dutzend guter Schützen könnte doch eine ganze vorrückende Kompagnie erledigen.»
«Unbedingt! Man würde zwar vermutlich im Krieg nicht so ruhig schießen können wie hier und selber auch angepfiffen werden, aber in gewissen Fällen käme es doch wahrscheinlich auf die bessern und ruhigern Schützen an. Wenn wir früh genug mit genügend Leuten so an der Grenze lägen, in guten Deckungen und am rechten Ort, dann, glaub’ ich, würden wir keine Maus durchlassen.»
«Ja, das glaub’ ich nun wirklich auch! Allerdings … im Vergleich mit den Nachbarstaaten haben wir kein großartiges Heer …»
«Jaja, aber die würden auch nicht fünfstöckig daherkommen. Sie könnten nicht mehr Leute einsetzen, als in einem Abschnitt Platz haben … und für unsere Grenzen hätten wir Mannen genug.»
«Ja, und sonst … he, du weißt doch, was der deutsche Kaiser vor zwei Jahren bei den Manövern hier für eine Antwort bekommen hat?»
Christian wußte es nicht, und Fred erzählte die Anekdote. Der Kaiser habe im Schützengraben einen schießenden Füsilier angesprochen und nebenbei bemerkt, die Schweizer seien ja freilich gute Schützen, aber im Kriegsfall werde ein Gegner mindestens mit einer doppelt so großen Anzahl aufrücken; was sie dann wohl tun würden? Der Füsilier habe geantwortet: «Dann würden wir zweimal schießen.»
Christian lachte kurz auf. «Jaja … hoffentlich kommt’s nicht dazu», sagte er und blickte gespannt nach der Scheibe, auf die Fenner in diesem Augenblick einen Schuß abgefeuert hatte. «Wieder eine Nummer!» rief er gedämpft, als die rote Kelle ins Schwarze flog, dann nickte er bedeutsam und schlenderte weg.
Fred wandte seine Aufmerksamkeit von neuem dem Oberstleutnant zu, der mit unveränderter Anspannung diesen Teil seiner Serie zu Ende schoß. Er begriff jetzt, daß hervorragende Resultate eine Zucht des Willens voraussetzten, von der sich Laien kaum eine Vorstellung machten, daß jeder einzelne Schuß dabei von entscheidender Wichtigkeit war und immer wieder denselben Aufwand von Kraft, Geduld und Selbstbeherrschung erforderte, einen Aufwand, den jedenfalls das tägliche Leben nur selten verlangte.
Sogleich nach dem zehnten Schuß stand Fenner auf, trat zum Warnerpult und blickte mit einer beiläufigen Kopfbewegung, doch mit drohender Miene, nach der Scheibe zurück, wo abermals die rote Kelle erschien, dann unterschrieb er sein ungewöhnliches Resultat von zehn Nummern. «Bravo! Bravo!» sagten die Schützen. Fenners hartes Gesicht trug einen Schimmer ironischer Zufriedenheit, doch er schien den Beifall kaum zu beachten und unter den Zuschauern keinen Bekannten zu besitzen, er musterte sie nur mit einem kurzen, beinah spöttischen Blick seiner nüchternen kleinen Augen, stellte das Gewehr schweigend in den Rechen und begann, die Arme verschränkt, die Rechte am linken Schnurrbartzipfel, die Schießenden zu beobachten, als ob nichts geschehen wäre.
«Herrgott, ist das ein trockener Patron!» dachte Fred. «Ein ungemütlicher Kerl! Aber im Kriegsfall, als Regimentskommandant … mit so einem wäre man auf jeden Fall nicht lackiert.»
Er bummelte durch den Stand und blieb neugierig bei einer Gruppe von Schützen stehen, in der ein untersetzter, fester Mann von strammer Haltung laut schimpfte und fluchte, während er mit dem Handrücken auf eine Seite seines Schießbüchleins klopfte; bei diesem Schuß, erklärte der Aufgeregte, sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, er habe ihn genau so abgegeben wie den vorhergehenden, und da werde ihm nun «so en Saucheib» gezeigt, den er gar nicht geschossen habe, das sei ihm denn doch noch nirgends passiert, er wisse auch, wann er gefehlt habe und wann nicht.
Fred ging lächelnd weiter. Er wußte wohl genug, daß es auch unter den Schützen Lärmer und Aufschneider gab, doch er machte den Fehler nun nicht mehr, ihrem lauten Wesen mehr Gewicht beizulegen als den Stillen und Bescheidenen, wie er denn überhaupt vom Schützenfest eine andere Ansicht gewonnen hatte.
Im rechten Flügel fiel ihm wieder eine kleine Ansammlung von Schützen auf, die einen Gewehrrechen belagerten, er trat hinzu und erkannte freudig aufgeregt seinen Vetter, der liegend mit vier Nummern den letzten Teil seiner Meisterserie begonnen hatte. Sogleich drängte er sich vor, bis er Christians ganze Rückseite bequem überblicken konnte, die gespreizten, fest an die Matte geschmiegten kräftigen Beine in den abgetragenen schwarzen Hosenröhren, die gestrickten grauen Socken, die darunter zum Vorschein kamen, die schweren Schuhe, den tanngrünen, an den Schultern straff gespannten Jagdrock, den von dunkelblondem, leicht gekräuseltem Haare dicht bewachsenen runden Kopf und die wulstigen kleinen Ohren.
Hinter dem angehenden jungen Meisterschützen häuften sich die Zuschauer, die nach jedem Nummerntreffer in gedämpftem Ton anerkennende Bemerkungen tauschten oder einander bedeutsam anblickten und gespannt auf den nächsten Schuß warteten.
Christian schoß ruhig und gleichmäßig in einer Art von hypnotischer Sammlung, die jeden Gedanken an seine Zuschauer, an die nahende Entscheidung oder die Bedeutung der Meisterschaft ausschloß und einzig darauf gerichtet war, den Schuß ohne Zielversehen sorgfältig abzudrücken. Nach der siebenten Nummer aber hörte er plötzlich, wie hinter ihm laut gefragt wurde «wieviel muß er noch?», wie ein paar nähere Stimmen antworteten «noch zwei!», und wie jemand unwillig in unterdrücktem Tone Ruhe verlangte. In diesem Augenblick erwachte er gleichsam und wußte, daß er im Begriffe war, die heißbegehrte kantonale Meisterschaft zu erringen, daß ihm nur noch zwei Nummern fehlten, und daß hinter seinem Rücken ein dichtgedrängter Haufe von Schützen stand, die ihm gespannt zuschauten. Er runzelte die Stirn und suchte diese Vorstellungen zu verscheuchen, aber sowie er wieder zu zielen begann, merkte er, daß er schon unruhig geworden war. Trotzdem zielte er nicht länger als sonst und gab den Schuß auch scheinbar richtig ab, blickte aber nicht mehr so gleichgültig wie bisher auf die Scheibe nach dem Resultat aus, sondern ängstlich, zweifelnd, erregt. Die weiße Kelle erschien, zum erstenmal nach sieben roten Kellen, und wirkte auf ihn wie ein Schlag in die Herzgegend; er hatte die Nummer gefehlt.
Die meisten Zuschauer warfen einander schweigend mit bedenklicher Miene kurze Blicke zu, jemand sagte «oha!», und nur wenige äußerten ein paar Worte; unter diesen wenigen war ein grauhaariger, griesgrämig blickender Mann, der seine Schadenfreude nicht verbergen konnte, eine überflüssige Bemerkung machte und dann mit offenem Mund und einem spöttisch zugekniffenen Auge lautlos vor sich hin lachte. Fred blickte ihn wütend an und verspürte eine grimmige Lust, ihm die Faust ins Gesicht zu hauen.
Indessen hatte Christian das Gewehr wieder angeschlagen, doch er wußte jetzt, daß ihm für die zwei fehlenden Nummern nur mehr zwei Patronen zur Verfügung standen und daß somit alles von diesen beiden letzten Schüssen abhing. Die Luft flimmerte ein wenig vor seinem zielenden Auge, und dies von der Sonne oder vom erhitzten Gewehrlauf herrührende Flimmern, das ihn bisher nicht ernstlich gestört hatte, verwischte ihm jetzt den Umriß des runden Schwarzen. Er schloß die Augen und wartete ein wenig, dann zielte er wieder und löste den Schuß; im selben Augenblick wußte er, daß beim Abdrücken das Korn um Haaresbreite zu weit rechts gestanden hatte. «Gefehlt!» dachte er erzürnt, entmutigt, riß den Verschluß zurück und wagte kaum nach der Scheibe hinzusehen. Da erschien doch die rote Kelle, nicht so entschieden auf die Mitte geworfen wie sonst, sondern vom Weißen her zögernd in den rechten Rand des Schwarzen hineinschleichend; die Nummer war knapp getroffen. «Donnerwetter, das ist gnädig abgelaufen!» dachte er, völlig aufgeheitert, und legte mit einem schüchternen, verwunderten Lächeln die letzte Patrone ins Magazin. Er war überzeugt, daß er die Nummer gefehlt hätte, ohne jenes Körnchen Glück, das auch der tüchtigste Schütze bei letzten Entscheidungen nicht entbehren möchte. Dies gab ihm seine Zuversicht zurück. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er das Gewehr an die Schulter, rückte sich mit den Beinen in die bequemste Lage und schaute einen Augenblick ins Grüne hinaus, dann begann er zu zielen und verschob mit dem Zeigefinger den Abzug behutsam zum Druckpunkt.
Auf die Zuschauer hatte nach dem Fehlschuß der beinah noch einmal mißlungene Treffer eine gegenteilige Wirkung ausgeübt und die Spannung noch erhöht. Jeder dieser Schützen glaubte den Zustand zu kennen, in dem Christian sich jetzt befand, und wußte aus Erfahrung, daß beim geringsten Fieber gerade dieser entscheidende letzte Schuß am häufigsten mißlang. Sie drängten sich enger zusammen, die vordern wurden gegen den Gewehrrechen gepreßt und die hintern stellten sich auf die Zehen, während die nächsten mit unverwandtem Blick das anfängliche leise Schwanken der Laufmündung beobachteten, um daran den Fiebergrad des Schützen abzulesen, und festzustellen, ob im Augenblick der Schußabgabe das Korn gezittert, seitlich ausgeschlagen oder völlig geruht habe.
Fred, der eingeklemmt am Gewehrrechen stand, teilte nicht nur die allgemeine Spannung, sondern erlebte sie gesteigert auf eine intimere, persönlichere Art, ja er empfand sie fast eifersüchtig als sein Vorrecht und musterte bald diesen, bald jenen Drängenden mit einem verächtlichen Blick. Der Fehlschuß hatte ihn den Zuschauern gegenüber in eine gereizte Stimmung versetzt, während seine Anteilnahme an Christians Endkampf sich in das herzlichste Mitgefühl verwandelte. Er schaute dem Vetter zu, wie er nun das Gewehr zum letzten Schuß anschlug, und flehte die fehlende Nummer inständig herbei, ja er richtete diesen Wunsch mit gesammelter Kraft dermaßen eindringlich auf den Zielenden, als ob er ihn damit beeinflussen könnte. «Triff, Christian, triff!» dachte er angestrengt. «Du mußt die Nummer unbedingt treffen, du mußt, du mußt!»
In diesem Augenblick krachte der Schuß, zu früh für Freds Gefühl, und auch für die übrigen Zuschauer einigermaßen unerwartet, weil alle damit gerechnet hatten, Christian werde sich jetzt nicht übereilen, sondern das Zielen noch einmal unterbrechen. Fred hielt den Atem an und wartete mit beklemmender Angst und höchster Spannung auf das Erscheinen der Zeigerkelle. Rings um ihn herrschte eine lautlose Stille, in der sowohl er wie die übrigen Zuschauer das fortgesetzte Knattern der Schüsse nicht mehr zu hören schienen. Christian selber richtete sich halbwegs auf und blickte regungslos nach der Scheibe.
Die rote Kelle fuhr hoch und tauchte entschlossen ins Schwarze hinein, der Schuß saß mitten in der Nummer. Die Zuschauer brachen in dröhnende Bravorufe aus, die im ganzen Stand Aufsehen erregten. Viele Schützen eilten erst jetzt lächelnd oder fragend herbei, und ein paar Augenblicke schien überall das Gewehrfeuer zu stocken. Der lauteste Schreier war Fred, er schrie seine Bravos so ungehemmt hinaus, daß viele Schützen sich belustigt nach ihm umwandten.
Indessen war Christian aufgestanden und schrieb mit der kräftigen braunen Rechten, die ein wenig zitterte, ungeschickt seinen Namen unter das Resultat. Mit einem bescheidenen, glücklichen Lächeln trat er in den Stand zurück.