Читать книгу Prophezeiung des Wolfskindes - Melanie Häcker - Страница 2

Prolog

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Dicht an das Fell ihrer Mutter geschmiegt, lauschte sie all den Geräuschen in ihrer Umgebung. Sie vernahm das Rascheln des Laubes, das sie verursachte, wenn sie sich bewegte. Ihre eigenen Atemzüge, ebenso die gleichmäßigen, beruhigenden ihrer Mutter.

Sie hatten sich in die Höhle zurückgezogen, denn draußen war es unerträglich heiß und selbst hier im Wald flimmerte bereits die Luft. Nur im Schutz der Erde war diese Hitze zu ertragen.

Sie horchte auf die Klänge, die durch den Eingang an ihre Ohren drangen, wie das leise Rauschen der Blätter, die sich in der Sommerbrise wiegten. Die Füße der vielen Waldbewohner, die durch das Laub des letzten Herbsts huschten. Nur die Vögel schwiegen, denn auch ihnen war es zu heiß, was aber die Symphonie der Geborgenheit nicht störte.

Sie hoffte, dass bald der Abend anbrach, denn dann erwachte ihre Mutter endlich aus ihrem dösenden Zustand und sie würden sich auf die Jagd begeben.

Es kribbelte bereits in ihren Fingern und an Schlaf war erst gar nicht zu denken. Sie hatte noch nicht viele Sommer erlebt. Platzte nur so vor Tatendrang, doch im Wald warteten allerlei Gefahren auf sie, weswegen sie mehr oder weniger geduldig in der Höhle blieb.

Ihre Gedanken schweiften, wie so oft an solch langweiligen Tagen ab und sie fragte sich zum hundertsten Mal, warum sie sich verändert hatte. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie mit Fell, auf allen vieren die Welt erkundet hatte. Nun aber besaß sie kein Fell mehr und ging aufrecht.

Der Grund dafür war ihr schleierhaft. Selbst ihre Mutter hatte keinerlei Erklärung dafür. Jedoch brachte der Verlust ihrer Wolfsgestalt sie dazu, gemeinsam das Rudel zu verlassen. Man wollte sie, das Wolfsjunge, das keines mehr war, ausstoßen und davonjagen. Ihre Mutter aber, verharrte an ihrer Seite. Suchte einen neuen, abgelegenen Unterschlupf, um sie weiterhin großzuziehen und zu beschützen.

Vorsichtig, um ihre Mutter nicht zu wecken, setzte sie sich auf, schlang ihre Beine zum Schneidersitz und legte den Kopf leicht zur Seite. Sie vernahm ein Geräusch, das nicht hierher gehörte. Ein Laut, den sie eigentlich nur von dem nahegelegenen Bauerndorf kannte, der aber ihre Neugierde schürte. Ihre kleinen Finger berührten das graue Fell ihrer Mutter, der Wölfin, drückten fest gegen deren Schulter, damit sie aus ihrem Dämmerschlaf erwachte. Sie rüttelte ein paarmal, ehe ihre Mutter endlich behäbig den Kopf hob.

„Was ist denn Tarija mein Schatz“, hallte die sanfte Stimme in ihrem Kopf. Tarija deutete zum Eingang.

„Da ist ein Geräusch. Was ist das?“

Die bernsteinfarbenen Augen der Wölfin richteten sich zum Eingang der Höhle und ihre Ohren stellten sich auf, um zu lauschen. Tarija indes beobachtete das Muskelspiel unter dem Fell, während sich die Wölfin in einer fließenden Bewegung erhob und zum Höhleneingang trottete. In der runden Öffnung blieb sie stehen, reckte ihre Nase prüfend in den Wind, bevor sie kurz ganz nach draußen ging und dann wieder zu ihr hereinkam. Dabei legte sich ein beruhigendes Lächeln in ihre wölfischen Züge und sie sagte: „Das sind nur Pferde, die einen Wagen der Menschen ziehen. Es braucht dich nicht zu sehr beunruhigen. Sie sind noch weit weg von uns und somit keine Gefahr.“

Leise brummend, ließ sich die Wölfin neben ihr nieder, schleckte mit der rauen Zunge kurz über ihre Wange und bettete den Kopf auf die Vorderpfoten. Ein wenig beruhigt, aber immer noch voll Neugierde, lehnte sie sich an die Schulter ihrer Mutter und lauschte weiterhin diesen neuen Klängen. Verträumt spielten ihre Finger mit dem langen Halsfell des Muttertieres, ehe sie sich, doch langsam müde werdend an die kuschelige Flanke schmiegte. Sie bemerkte eine Anspannung unter ihrem Kopf, blinzelte und sah in die Augen ihrer Mutter, die sie über die Schulter hinweg mit einem liebevollen Blick betrachtete. Dieser veränderte sich jedoch innerhalb eines Lidschlages und wechselte zu einem ernsten Ausdruck.

„Man hört die Menschen nicht so oft in diesem Teil unseres Waldes, da sie sich vor uns fürchten, so wie auch wir uns vor ihnen fürchten. Dennoch musst du dich vor ihnen hüten, auch wenn du wie sie aussiehst. Keiner weiß, wann du dich wieder zum Wolf verwandelst, daher rate ich dir, meide die Menschen, wo es nur geht. In deiner wahren Form werde sie dich wegen deines Felles jagen, das darfst du nie vergessen!“ Sanft stupste die Wölfin sie mit ihrer feuchten Nase an die Wange. „Nun versuche, etwas zu schlafen, damit du ausgeruht bist für die Nacht.“

Müde nickte sie, schloss ihre Lider und versuchte Schlaf zu finden. Anhand der Bewegungen, die sie unter sich spürte, wusste sie, dass ihre Mutter den Kopf auf die Vorderpfoten legte und sich entspannte. Sie hingegen horchte noch ein wenig auf die Geräusche, bis sie in einen Dämmerschlaf verfiel.

Plötzlich vibrierte es unter ihren Händen. Sie setzte sich erschrocken auf. All die Müdigkeit verschwand schlagartig. Nur ein Blick zu ihrer Mutter genügte, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Die Wölfin hatte ihre Lefzen hochgezogen, ihr Nackenfell sträubte sich und ein tiefes Knurren drang aus ihrer Kehle, wobei sie alarmiert zum Höhleneingang sah.

„Hinter mich“, knallte die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken, was sie auch, ohne zu zögern tat. Sie kletterte auf allen vieren über den Rücken der Wölfin und drückte sich gegen die Höhlenwand. Sofort erhob sich ihre Mutter, tat einen Schritt auf die Öffnung zu und platzierte ihren geschmeidigen Körper schützend vor sie, während ihr Knurren immer tiefer und drohender wurde.

Mit wachsender Angst fragte sich Tarija, was ihre Mutter vernommen hatte, ehe sie schwere Schritte vor der Höhle wahrnahm. Laub raschelte, dürre Zweige zerbrachen unter dem Gewicht, das darauf trat und Tarija spürte, wie die Furcht ihren ganzen Körper lähmte.

Plötzlich war es dunkel und sie versuchte, über den Rücken ihrer Mutter nach vorne zu schauen. Erschrocken über den gewaltigen Schatten, der sich vor den Eingang der Höhle schob, schlug sie ihre Hände auf den Mund, um nicht zu schreien. Sie durfte jetzt keinen Laut von sich geben, machte sich, so klein sie nur konnte. So oft hatte ihre Mutter sie ermahnt und ihr erklärt, wie sie sich bei Gefahr verhielt. Egal ob es sich um ein anderes Raubtier handelte oder wie jetzt, um einen Menschen, der neugierig hereinblickte.

„Hier ist ein Wolf und… wartet! Dahinter ist irgendwas! Ich brauch einen Speer!“ Der Mensch verschwand kurz und Licht trat wieder in die Höhle, doch nur für ein paar Herzschläge.

„Bleib dicht hinter mir! Vielleicht bekommen wir eine Möglichkeit zu fliehen.“ Ihr entging die Panik in der Stimme ihrer Mutter nicht, die sich sofort auf sie übertrug und noch mehr geschürt wurde, als der Mensch wieder die runde Öffnung blockierte. In seinen Händen hielt er einen halblangen Holzstab, dessen vorderes Ende in der Sonne blitzte. Die Entscheidung ihre Mutter, sie immer wieder zu dem nahegelegenen Dorf mitzunehmen half ihr jetzt sehr. Denn dadurch hatte sie mehr über die Menschen gelernt, ihr Verhalten, die Dinge, die sie benutzten, und vor allem ihre Sprache, denn sie verstand jedes Wort.

„Scheiße! Da ist ein Kind hinter dem Wolf! Schnell…“ Hektik brach vor der Höhle aus, der Mensch zielte mit dem Speer auf ihre Mutter und im gleichen Moment fing sie an zu zittern. Ihre Mutter knurrte noch drohender, fletschte die Zähnen und schirmte sie beschützend vor den Menschen ab. Ihre Angst wuchs ins Unermessliche, lähmte sie, während sie mit aufgerissenen Augen das Geschehen beobachtete.

Das Nackenfell ihrer Mutter sträubte sich noch mehr. Sie tat einen Schritt auf den Menschen zu, der sofort den Speer in ihre Richtung warf. Mit einem entsetzten Aufschrei sah Tarija ihre Mutter taumeln, nachdem sich der Speer tief in deren Seite gebohrt hatte.

Schmerzerfüllt heulte ihre Mutter auf, was Tarija durch Mark und Bein fuhr.

Verzweiflung und Schrecken vermischten sich, nahmen die Lähmung von ihrem Körper. Sie vollführte einen Satz nach vorne zu ihrer Mutter. Noch stand sie vor ihr, beschützend wie ein Schild, doch sie sah das Zittern der Läufe, die anfingen unter dem gepeinigten Leib nachzugeben. Tränen rannen Tarija in Strömen über die Wangen und sie schlang schluchzend ihre Arme um den Hals der Wölfin. Sie vergrub wimmernd ihr Gesicht in dem weichen Fell, während die Stimme des Menschen wie durch Watte an ihre Ohren drang.

„Verdammt nochmal helft mir, bevor dem Kind etwas geschieht!“

Verflucht waren die Menschen denn blind? Sahen sie nicht, dass sie sich nicht in Gefahr befand? Alles um sie herum versank im Chaos. Ihre ganze Welt, zerstört innerhalb weniger Herzschläge. Aus der Symphonie der Geborgenheit wurde eine Dissonanz der Gewalt.

Die Läufe der Wölfin gaben nun endgültig nach und mit einem weiteren schmerzverzerrten Jaulen brach ihre Mutter zusammen. Ihr Blick fiel auf den Speer. Eine Welle der Furcht raste durch ihren Körper. Sie musste den Speer herausziehen. Sie musste ihrer Mutter helfen. Ihre Hände umfassten das Holz und mit all ihrer Kraft, die sie aufbrachte, versuchte sie den Speer herauszuziehen. Doch die Spitze blieb stecken, rührte sich keinen Millimeter, sondern sorgte nur dafür, dass ihre Mutter erneut vor Schmerzen aufheulte.

Panik durchfuhr sie. Mit geweiteten Augen ließ sie hastig den Speer wieder los.

„Ich versuche sie abzulenken, mein Kind. Versuche zu fliehen und finde deinen Vater! Er wird dich beschützen.“ Mit diesen Worten richtete ihre Mutter sich auf, keuchte vor Schmerzen, doch ihr Körper brachte die Kraft nicht mehr auf. Voll Entsetzen sah Tarija zu, wie das Leben aus dem Leib ihrer Mutter floss. Weinend schlang sie wieder die Arme um den Hals der Wölfin, vergrub ihr Gesicht im Fell. Dann tastete sie von neuem nach dem Speer, fühlte etwas Warmes, Klebriges an ihren Fingern und schreckte empor. Sie schaute zu der Stelle, wo der Speer im Fleisch steckte, und sah mit an, wie immer mehr von dem roten Lebenssaft das Fell ihrer Mutter durchtränkte. Angsterfüllt schrie sie auf, nahm nur aus dem Augenwinkel wahr, wie der Mensch bei ihrem Heulen kurz zuckte, denn sie jaulte wie ein Wolf. Mit all dem Mut, den sie noch in sich fand, sprang sie auf und packte den Speer mit fester Entschlossenheit. Sie zog, das Jaulen ihrer Mutter ignorierend, doch der Speer bewegte sich kein Stück. Dann bemerkte sie, wie große Hände sie an der Hüfte packten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie vor ihrer Mutter stand. Der Mensch versuchte, sie aus der Höhle zu zerren, doch sie schlug und trat wie wild um sich. Ein Knurren, das drohend klingen sollte, jedoch mehr ihre Angst widerspiegelte, drang aus ihrer Brust. Änderte sich schlagartig zu einem wütenden Grollen, nachdem sie bemerkte, dass er sie immer weiter von ihrer Mutter wegzog. Sie sah zu ihr, sah der Wölfin dabei zu, wie sie sich ein weiteres Mal erhob, doch entkräftet vom Verlust des Lebenssaftes wieder zusammensackte.

„Flieh, mein Kind! Flieh! Such deinen Vater“, schrie ihre Mutter ihr entgegen, woraufhin sie sich noch verbissener wehrte. Sie schlug ihre harten Fingernägel in die Haut des Menschen, der sie schreiend losließ, um sie jedoch augenblicklich an den Handgelenken zu packen. Sie stemmte ihre Füße in den Boden, drückte sich weg von ihm, doch er hielt sie beharrlich fest. Er zog und zerrte sie zum Eingang, weg von ihrer Mutter, weswegen sie anfing, wie von Sinnen zu schreien: „MAMA! MAMA, hilf mir!“

Gleißendes Sonnenlicht stach wie Nadelspitzen in ihre Augen und ließ sie heftig blinzeln. Ihr Geschrei wurde noch schriller. Ihre Stimme überschlug sich regelrecht in blanker Angst. Nachdem sich ihre Augen endlich an das Licht gewöhnt hatten, starrte sie in das Gesicht eines anderen Menschen, der sie verdattert musterte.

„Was ist denn mit dem Kind los? Das gebärdet sich ja wie ein wildes Tier.“ Um dies zu bestätigen, fauchte sie den Bärtigen an, woraufhin er einen Schritt zurücktrat und der Rothaarige neben ihm, der sie immer noch eisern festhielt, kurz auflachte.

„Scheint es wohl zu sein. Am besten wir bringen sie erst einmal ins Dorf.“ Der Bärtige nickte, trat um sie herum, umfasste sehr grob ihre Ellbogen, die er ihr brutal an den Körper drückte. Sie strampelte, trat ihm mehrmals an die Knie, doch er ließ sie nicht los. Abermals überschlug sich Tarijas Stimme. Versuchte sich in dem eisernen Griff zu winden, sich loszumachen, doch sie hatte keinen Erfolg damit. Der Rothaarige ließ ihre Hände los, worauf sie sofort probierte, ihn zu kratzen. Doch der Bärtige presste ihre Ellbogen weiterhin an ihren Körper, sodass sie die Arme nicht heben konnte. Jetzt fing sie an, noch wilder zu strampeln. Seine derben Flüche begleiteten ihre Tritte.

Sie versuchte, einen Blick zur Höhle zu erhaschen, schrie verzweifelt nach ihrer Mutter, aber sie erhielt keine Antwort. Wie auch. Man zerrte ihre Mutter gerade gewaltsam aus der Höhle. Starr vor Entsetzten sah sie in die weit geöffneten bernsteinfarbenen Augen, denen jeglicher Glanz von Leben fehlte. Das wunderschöne graue Fell, war, um den Speer herum, durchdrängt vom roten Lebenssaft. Der Anblick ihrer toten Mutter nahm ihr die Geborgenheit, die die Wölfin ihr gegeben hatte.

Wieder bäumte sie sich auf, wollte sich losmachen, weglaufen, zu ihrem Vater fliehen. Doch es gelang ihr nicht. Schreiend trat sie mit aller Kraft um sich, wollte ihre Nägel in die Haut der Menschen rammen, ihnen die Augen auskratzen für das, was sie getan hatten. Ihre Lippen zogen sich nach oben und sie fletschte die Zähne in Richtung der Menschen, die Hand an ihre Mutter legten, doch sie erhielt keine Gelegenheit, einen von ihnen zu kratzen oder zu beißen.

„Hey! Was machen wir mit dem wilden Ding hier?“, rief ihr Peiniger und umklammerte eisern ihre Ellbogen.

„Bring sie in den Käfig! Sieh aber zu, dass du ihn ordentlich verschließt!“ Ein entrüstetes Schnauben drang an ihre Ohren, dann trug man sie weg. Keiner der anderen beachtete sie mehr, oder reagierte auf ihr unnatürliches Geschrei und ihr Gebaren. Selbst ihr drohendes knurrendes Zähnefletschen würdigten sie keines Blickes mehr. Das Interesse der Menschen galt nun ganz allein nur noch der Wölfin. Einer riss den Speer aus dem toten Körper. Tarijas Schreie wurden mehr zu einem Krächzen, bevor sie in ein heiseres Wimmern übergingen. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie wusste nicht mehr, was sie noch tun konnte. Ein weiteres Mal bäumte sie sich mit allem, was sie aufzubieten hatte, auf, doch gleichzeitig gewahrte sie, wie ihre Kraft sie verließ. Sie gab aber noch nicht auf. Sie wollte wieder frei sein. Doch ihr Körper ließ sie im Stich. Eine bodenlose Leere breitete sich in ihr aus, verdunkelte ihre Gedanken und allmählich erschlaffte sie in den Händen des Menschen. Das Letzte bisschen Mut schwand aus ihr. Wieso wehrte sie sich noch? Jetzt da alles zu spät war. Es keine Möglichkeit mehr gab, sich zu befreien. Sollten die Menschen sie doch auch töten, dann wäre sie immerhin wieder mit ihrer Mutter zusammen.

Vor ihr tauchte ein merkwürdiger Wagen auf. Sie kannte nur die Karren der Bauern, die damit Getreide und andere Lebensmittel transportierten. Auf diesem Gefährt war ein Behälter aus schimmernden, dicht sitzenden Ästen. Er strahlte etwas Bedrohliches aus. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Unbarmherzig schubste der Mensch sie in den Kasten hinein, knallte die Tür zu und verschloss sie, wobei er sich mehrmals vergewisserte, dass die Tür auch richtig zu war. Unter sich gewahrte sie hartes Holz, während diese harten schillernden Äste ein beklemmendes Gefühl in ihr auslösten. Angstvoll beobachtete sie den Menschen dabei, wie er mit beiden Händen einen schwarzen Stoff packte und diesen über den Behälter zog, bis kaum noch Sonnenstrahlen hereindrangen. Schon nach einigen Lidschlägen herrschte eine erdrückende Hitze und erschwerte ihr das Atmen. Entmutigt legte sie sich hin, zog ihre Knie bis zum Kinn und umschlang sie mit den Armen, um sich zu einem Knäuel zusammen zu rollen, ehe sie die Augen schloss. Das Zwielicht spiegelte genau ihren Zustand wider. Denn in ihr drinnen herrschte nur noch eine abgrundtiefe Düsternis. Alles andere war mit ihrer Mutter gestorben. Ihre Mutter. Nur der Gedanke an sie entlockte ihr wieder ein leises Wimmern. Was passierte? Kam nun auf sie zu? Was hatten diese Menschen vor? Sie konnte nichts tun, außer auszuharren und darauf zu warten, was mit ihr geschah. Ihr harmonisches Leben, zerstört innerhalb von wenigen Augenblicken. Aber was für ein Leben fing nun für sie an? Würde sie überhaupt leben? Wollte sie eigentlich weiterleben? Vor sich hin winselnd, vernahm sie gedämpft die anderen Geräusche. Sie hörte, wie mit einem feuchten, klatschenden Laut etwas auf den Wagen landete und fing an heftig zu schluchzen. Sie roch das Blut und ihr war klar, was es war. Der tote Körper ihrer Mutter. Gleich darauf neigte sich der Wagen ganz leicht zur Seite. Schwere Schritte ließen das Holz erbeben, auf die ein schwerer Seufzer und das Rascheln von Stoff folgten. Das Knallen der Peitsche, ließ sie zusammenzucken, dann erklang ein schnalzender Laut. Mit einem harten Ruck fing der Wagen an, sich in Bewegung zu setzen. Sie vernahm die Schritte der Pferde, die vom Moos abgeschwächt wurden. Das Knarren und Ächzen, wenn der Wagen über Unebenheiten rollte, ebenso das nervöse Schnauben der Pferde, die wohl die tote Wölfin und sie witterten. Jedes dieser Geräusche brannte sich tief wie feine Nadelstiche in ihre geschundene Seele. Durch den Spalt, unter dem Tuch hindurch, erkannte sie die Menschen, die neben dem Wagen einhergingen, was sie jedoch nicht wirklich kümmerte, dennoch lauschte sie den Gesprächen.

„Die Kleine ist sonderbar. Habt ihr je so ein Kind gesehen?“

„Nein. Hast du gesehen, wie sie die Zähne gebleckt hat, ganz wie der Wolf…“

„Unheimlich. Hoffentlich hilft uns Baldur weiter, wobei ich glaube, dass der Alte nicht ganz begeistert sein wird, wenn er den toten Wolf sieht.“

„Ach, lass doch den Alten! Wir haben ein schönes Fell erbeutet und einen Wolf weniger, der unsere Schafe reißt.“

Jagdbeute. Ihre Mutter und sie waren nichts weiter als Jagdbeute. Trotz der Hitze schlang sie ihre Arme fröstelnd noch dichter um die Knie, verschloss Augen und Ohren, wollte von dieser Welt nichts mehr wissen. Sie versank in die Leere, die sich in ihr ausgebreitet hatte, während der Wagen unaufhörlich über den Waldboden polterte. Immer wieder riss sie ein stechender Schmerz aus dieser Gleichgültigkeit, wenn der Wagen durch eine zu tiefe Unebenheit fuhr, weswegen sie gegen die harten Äste geschleudert wurde. Doch sie nahm den Schmerz gar nicht richtig wahr, versank rasch wieder in ihre Versunkenheit, aus der sie nie mehr herauswollte. Nie wieder würde sie eine Harmonie der Geborgenheit fühlen. Die Welt, in der sie behütet von ihrer Mutter gelebt hatte, in der sie so glücklich gewesen war, gab es mehr. Man hatte sie auf brutalste Weise von ihrer Mutter getrennt. Die Wölfin vor ihren Augen getötet. Sie aus ihrer Umgebung gerissen. Brachte sie weg. Weg von dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Wo sie von ihrer Mutter das Jagen und eins mit der Natur zu sein gelernt hatte. All das gab es nicht mehr. Zum ersten Mal in ihrem so ruhigen, behüteten Leben fragte sie sich mit wachsender Angst, was nun aus ihr wurde. Wo brachte man sie hin? Wie sah wohl das neue Leben in der Fremde aus?

Immer war sie an ihrer Seite. Sie hatte ihr geduldig alles gezeigt und ihr viele gute Ratschläge gegeben.

Aber wer half ihr jetzt? Wer sagte ihr jetzt, was sie tun durfte und was nicht? Ein erneuter, heftiger Ruck durchfuhr den Wagen, schleuderte sie hart gegen die Äste, was sie zu einem schmerzhaften Jaulen veranlasste.

Nachdem der Schleier aus Schmerzen wieder verschwunden war, bemerkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Die Arme um die Knie geschlungen, rollte sie sich erneut ein, wollte schon in der Tiefe ihrer Seele versinken, als ein Gewirr von Stimmen erklang. Sie hatte nicht vor zuzuhören, doch über ihre Furcht hinweg regte sich Neugierde in ihr. Durch den Schlitz in Bodennähe, durch den Sonnenlicht hereinfiel, versuchte sie etwas von der neuen Umgebung zu erkennen. Sie sah hin und her huschende Schatten, ehe eine verärgerte Stimme zu ihr Drang.

„Wart ihr törichten Idioten schon wieder im Wald und habt Wölfe gejagt!“ Der zornige Unterton war nicht zu überhören. Die Stimme kam zunehmend näher, bis sie den dazugehörigen Schatten erspähte. „Wie oft soll ich es euch noch sagen! Ihr habt die Wölfe in Ruhe zu lassen!“

Behutsam rutschte sie näher an die harten Äste, linste durch den Schlitz und sah einen älteren Menschen mit grauem Haar und langem Bart. Er fuchtelte mit den Händen, was den dicklichen Mann zurückweichen ließ, aber ein großer, schlanker Kerl baute sich vor dem Grauhaarigen mit vor der Brust überkreuzten Armen auf.

Herausfordernd brummte der Schlanke: „Na und! Was weißt du alter Mann schon über diesen Wald! Wenn wir nicht wieder gejagt hätten, wäre dieses kleine Mädchen hier vielleicht tot!“ Er löste seine Arme und deutete in ihre Richtung, weswegen sie mehr in die Mitte ihres Gefängnisses rutschte. „Wir haben sie in einer Höhle gefunden, bei diesem Wolf. Was hätten wir denn deiner Meinung nach tun sollen? Zwar mussten wir sie in den Käfig sperren, da sie sich wie ein Wolf benimmt, aber hätten wir sie zurücklassen sollen?!“

Käfig, so nannte man dieses Ding also, doch diese Feststellung verflog in dem Moment, in dem ihr Blick auf den leblosen Körper ihrer Mutter fiel und sich ihre Augen sofort mit Tränen füllten. Die Seite der Wölfin war vom Lebenssaft durchtränkt, die bernsteinfarbenen Augen starrten ins Leere. Ein Anblick der Tarijas Körper erschütterte, doch sie versuchte, das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken, auch wenn es ihr nicht immer gelang. Zu tief saßen der Schmerz, die Angst und die Ungewissheit. Vernebelten ihre Gedanken, weswegen die Stimmen nun mehr gedämpft an ihre Ohren drangen.

„Welches Mädchen? Wovon redest du?“

„Schau doch selbst nach, alter Mann. Ein Kind, vielleicht gerade mal vier Sommer alt, ohne jegliche Kleidung und ziemlich verwahrlost.“

Schlurfende Schritte näherten sich dem Käfig und sie rutschte noch weiter in die Mitte. Sie schlang ganz fest ihre Arme um die Knie und verbarg ihr Gesicht dazwischen. Ein Lichtstrahl kitzelte ihre Lider, doch sie nahm sich fest vor, nicht hinzusehen. Doch ihre kindliche Neugier obsiegte über ihre Vernunft und so hob sie sachte den Kopf, blinzelte ein-, zweimal, bis sich der Schleier vor ihren Augen auflöste. Auf der anderen Seite des Käfigs stand der ältere Mensch, sein Gesicht von ein paar Falten überzogen und sein ergrautes Haar schimmerte im Licht, wobei rehbraune Augen sie entsetzt betrachteten. Seine Hand fuhr sofort zu dem Schloss, doch bevor er es ergriff, fing ihre Brust an zu vibrieren. Sie stieß ein tiefes Knurren aus, das eigentlich wütend klingen sollte, aber mehr ihre Angst widerspiegelte und zog ihre Lippen die Zähne fletschend nach oben.

Der Alte hielt sofort in seiner Bewegung inne, wobei sie ihn fixierte. Tarija sprang blitzschnell auf die Füße, machte einen katzenhaften Satz in seine Richtung und prallte schmerzhaft gegen die harten Äste. Benommen schüttelte sie kurz den Kopf, um gleich darauf nach ihm zu schnappen.

„Was habt ihr mit dem Kind gemacht?“ Erschrocken wich der Alte zurück, ließ den Stoff fallen, so dass sie wieder von Zwielicht umhüllt war. In der Mitte des Käfigs legte sie sich auf die Seite und schielte durch den Schlitz hindurch. Sie beobachtete den Alten, der aufgebracht zu dem Schlanken stampfte.

Ihr ganzer Körper zitterte immer noch durch die Anspannung, die sie zum Vorpreschen veranlasst hatte.

„Ihr Narren! Was habt ihr nur getan?! Habt ihr überhaupt die kleinste Ahnung davon, was das für ein Kind ist? Ihr hättet sie bei den Wölfen lassen sollen!“

Fauchend entgegnete der Schlanke: „Damit sie stirb? Verdammt alter Mann, das ist ein Kind…“

„Ist sie NICHT! Sie sieht nur aus wie ein Kind. Würdet ihr meinen Geschichten mehr Aufmerksamkeit schenken, dann wüsstet ihr, was sie ist!“, bellte der Alte dem Schlanken entgegen und erweckte mit seinen Worten wieder ihre Neugierde. Konnte es wirklich sein? Wusste der Alte wirklich, was sie war?

„Ach du mit deinen albernen Geschichten. Nur die Kinder glauben an solchen Blödsinn. Sie ist ein Kind und weiter nichts…“

Schnaubend konterte der Alte: „Wenn sie nur ein Kind ist, habt ihr euch überhaupt Gedanken darüber gemacht, wer sie zu sich nimmt und sie aufzieht?“

In den Gesichtern der Männer machte sich Ratlosigkeit breit. „Natürlich! Das war mir doch sofort klar. Wie sollte es auch anders sein mit euch Idioten.“ Langsam kam er wieder auf den Käfig zu und ihr Knurren nahm mit jedem seiner Schritte zu. Er hielt noch einmal inne, drehte sich zu den Jüngeren um und meinte: „Wenn ich auch nur einen von euch noch einmal bei der Wolfsjagd erwische, wird er mich kennen lernen. Was das Mädchen angeht, da ihr ja nicht fähig seid, sie bei euch aufzunehmen, werde ich mich um sie kümmern.“

Ein paar der Jüngeren zogen die Köpfe ein, nur der Schlanke blieb hoch aufgerichtet stehen und funkelte den Alten wütend an.

„Bevor du Wurzeln schlägst, Towin! Hilf lieber deinen Männern den Käfig in mein Haus zu tragen und dann macht, dass ihr nach Hause kommt!“ Bereits jetzt flüchteten die ersten schon, doch mit barschen Befehlen hielt der Schlanken einige zurück. Sie beobachtete, wie einige auf den Käfig zukamen, an den Ecken ergriffen, um ihn über das Holz des Wagens zu schieben. Dann trugen sie ihn, stöhnend, zu einem der großen Gebäude, wobei der ganze Käfig stark schwankte. Immer wieder fiel sie gegen die Äste, spürte, wie ihr ganzer Körper ein Quell des Schmerzes war und sie auch einmal hart mit dem Kopf aufschlug. Sterne tanzten vor ihren Augen, ihr Blick trübte sich, woraufhin eine aufkommende Ohnmacht sie überwältigte.

~~~

Er beobachtete zweiflerisch die jungen Männer, die kurzerhand Bücher wahllos zur Seite schoben, damit sie den Käfig recht unsanft abstellten. Er ignorierte ihre verstohlenen Blicke und jagte sie mit harschen Handbewegungen aus seinem Haus. Kopfschüttelnd besah er sich das Durcheinander, das sie hinterlassen hatten. Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis er all die Bücher wieder richtig sortiert hatte. Doch jetzt kümmerte er sich zuerst um das Mädchen.

Behutsam machte er einen Schritt auf den Käfig zu, da bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass diese Holzköpfe die Tür offengelassen hatten. Vor sich hin murrend ging er zum Hauseingang, verschloss mit einem hörbaren Klicken die Tür, um sich wieder zum Käfig umzudrehen.

Voll Neugierde trat er an den Käfig heran, betrachtete das schwarze Tuch, das über dem Käfig hing, ehe er erneut zögerte. Wenn sie ein Wolfskind war, dann hieß das ja, dass sie die Magie der Gestaltwandlung besaß. Aber wieso verwandelte sie sich nicht in einen Wolf? Ihr Gebaren deutete doch eindeutig darauf hin. Oder … eine uralte Prophezeiung schoss ihm durch den Kopf, von der er wusste, dass es verschiedene Wolfskinder gab. Jene die sich nur in Wölfe veränderten und jene, die auch andere Gestalten imstande waren anzunehmen. Wobei Zweiteren oft Großes vorhergesagt wurde. Doch erst hatte er sich davon zu überzeugen, ob sie eins war oder nicht. Darnach konnte er immer noch mit seinen Spekulationen anfangen.

Mit einem Ruck zog er an dem Tuch, streifte es von dem Käfig herunter, um sofort auf das kleine Mädchen zu schauen. Sie kauerte seitlich liegend, die dünnen Ärmchen um ihre Knie geschlungen, auf dem Käfigboden. Sie hielt ihre Augen eisern geschlossen, während aus ihrer Brust ein ganz leises Wimmern zu hören war. Ein unnatürliches Winseln. Nicht das eines Menschen. Nein. Das eines Welpen. So zusammengekauert, war er nicht imstande, ihr Alter zu schätzen, denn sie hatte kein Gramm Fett am Leib. Doch eins wusste er ganz genau, sie war viel zu jung, um so brachial von der Mutter getrennt zu werden. Sein Blick glitt über ihre langen braunen Haare, die bis zum Gesäß reichten, zudem stark zerzaust und verfilzt waren. Sie trug keinerlei Kleidung. Ihr ganzer Körper war verdreckt, was für ihn bedeutete, dass er sie zuerst waschen sollte. Nicht dass sie irgendwo Verletzungen von dieser unnötigen Aktion davongetragen hatte, die sich entzündeten. Gleich darauf fiel ihm siedend heiß ein, dass er ja gar keine Kleidung für das Mädchen hatte. Angestrengt grübelte er, welches Kind ungefähr ihre Größe haben könnte, ehe er aus dem Haus eilte.

Er hastete über den Dorfplatz zu einem bestimmten Haus, wo er etwas ungestüm anklopfte.

Eine junge Frau öffnete verdattert die Tür.

„Baldur? Was ist denn los, wieso…“

„Hast du Kleidung von deiner Tochter, die du nicht mehr brauchst?“, platze er heraus, woraufhin die Frau verständnislos die Stirn runzelte.

„Ja habe ich, warte … ich hol sie dir.“

Er sah der Frau nach, die in die Stube verschwand, wobei er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.

„Hier Baldur, aber für was…“, er riss ihr förmlich die Sachen aus den Händen und hastete schon wieder los, zugleich er über die Schulter zurückrief: „Danke. Ich erkläre dir später, was los ist.“

Kaum zurück in seinem Haus, knallte er die Tür zu, sodass das Mädchen heftig zusammenzuckte und ihn aus großen Augen ansah. Sie hatte sich mittlerweile hingesetzt, doch bei seinem Anblick fing sie an zu zittern.

Er musste behutsam mit ihr umgeben, wenn er ihr Vertrauen gewinnen wollte. Sachte legte er die Kleidung neben dem Käfig auf den Boden, um sich mit gezwungener Ruhe ihr zu nähern.

~~~

Angst lähmte immer noch ihren Körper. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Erst die zuschlagende Tür schreckte sie auf, auf das hin sie allmählich ihre Lider öffnete.

Vor sich erblickte sie einen Raum mit unzähligen sonderbaren Dingen. Alles wirkte so befremdlich auf sie. Wo war sie? Was war das alles? Direkt neben dem Käfig lagen durcheinander lederne Gegenstände, die auch in kleinen und größeren Bergen in unterschiedlichsten Brauntönen, ebenso in rauen Mengen dastanden.

Mit schmerzenden Gliedern setzte sie sich auf, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, bis sie gleich darauf heftig zusammenzuckte. In ihrem Rücken knallte erneut Holz auf Holz. Aus geängstigt geweiteten Augen, am ganzen Körper zitternd, starrte sie den älteren Mann an. Der kam nun zögernd zu dem Käfig, legte Stoffe daneben ab und verschwand in einem anderen Raum. Sie lauschte seinen Schritten, gleich darauf hörte sie etwas metallisch scheppern. Sie vernahm das bekannte Knistern eines Feuers, das Erinnerungen an die großen Feuer weckte, welche die Menschen zu einer ganz bestimmten Zeit entfachten, um die sie dann tanzten. Aber diese Zeit war jetzt nicht. Was also tat der Mensch in dem anderen Raum? Konnte sie diesem vertrauen? Sie wusste viel zu wenig über die Menschen und konnte nichts tun, als abzuwarten.

Ihr Blick schweifte erneut durch den Raum, bis sich ihr Schritte näherten. Ruckartig sah sie zu dem Menschen, der in seinen Händen was Glänzendes hielt, aus dem es hörbar schwappte, zudem Dampf aufstieg. Wachsam verfolgte sie jede seiner Bewegungen, während er dieses schimmernde Gefäß neben dem Käfig abstellte, um sie besorgt zu beobachten.

Rehbraune Augen in einem von der Sonne gebräunten Gesicht. Bestimmt hielt er sich sehr viel draußen auf. Sein ganzer Körper, bis auf die Arme, war in einen langen braunen Stoff gehüllt.

Über seine Lippen kam ein leises Ächzen, als er sich vor dem Käfig auf die Knie sinken ließ, woraufhin sie seine sanfte Stimme vernahm.

„Hab‘ keine Angst“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. „Ich werde dir nichts antun.“

Auch wenn sie ihn verstand, runzelte sie zweiflerisch die Stirn, was er mit einem Seufzer kommentierte.

„Du verstehst nicht, was ich sage, oder?“

Sollte sie darauf reagieren? Ihm zeigen, dass sie seiner Sprache mächtig war? Was sollte sie tun?

Schweigend saßen sie sich gegenüber, nur getrennt von diesen harten Ästen, bis sie es wagte den Mund zu öffnen, um mit hoher krächzender Stimme zu antworten: „Doch.“

Verdattert starrte der Mann sie an.

„Du … du beherrschst unsere Sprache?“

Sie nickte, was ihm ein warmherziges Lächeln entlockte.

„Ich bin Baldur. Von heute an werde ich mich um dich kümmern. Wie heißt du?“

Verriet sie ihm wirklich, wie sie hieß? Außerdem, was meinte er damit, er würde sich von heute an um sie sorgen? War er nun derjenige, der ihr sagte, was sie durfte und was nicht? Ratlosigkeit breitetet sich in ihr aus, dabei biss sie sich auf die Unterlippe.

„Ich verstehe. Du vertraust mir noch nicht, was ich dir auch nicht verüble, nachdem, was du durchgemacht hast. Aber erlaubst du mir, dich von dem Schmutz zu befreien?“

Heftig schüttelte sie den Kopf. Sie rutschte sofort von ihm weg, bis sie die harten Äste eisig und unnachgiebig im Rücken wahrnahm. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte nicht berührt werden, von keinem dieser Menschen, egal, ob sie es gut mit ihr meinten oder nicht. Sie wollte hier weg. Raus in den Wald.

Ihr ganzer Körper erbebte vor Frucht, nachdem der Mann seine Hand anhob, um nach dem Schloss des Käfigs zu greifen. Mit einem Klicken öffnete er dieses, schob sich kniend mit seinem Leib in die Tür, zugleich hielt er ihr besänftigend die Hände mit den Handflächen nach oben gerichtet hin.

„Ich werde dir nichts antun. Vertraue mir. Ich will dir nur helfen.“

Noch dichter stemmte sie sich gegen die Äste, sah ihn aus panikerfüllten Augen an und suchte hektisch nach einem Fluchtweg. Doch der Mann blockierte mit seinem ganzen Körper den Ausgang. Ein Winseln kam über ihre Lippen, während der Mann sich behäbig auf sie zu bewegte.

Aus ihrem Wimmern wurde ein angsterfülltes Fauchen. Sie krümmte ihre Finger zu Krallen, mit denen sie panikartig nach der Hand des Mannes schlug. Sie bemerkte einen Widerstand, gefolgt von heftigen Flüchen, doch im ersten Moment erreichte sie damit nur, dass er seine Hand rasch zurückzog.

Sofort brachte sie ein drohendes Knurren hervor, doch in dieses Grollen mischte sich viel zu ausgeprägt ein Fiepen. Sie verfolgte seine Hand, die auf sie zu schwebte, und schnellte mit gebleckten Zähnen nach vorne. Blut benetzte ihre Lippen, ihre Zunge, gleichzeitig hallte ein Schmerzensschrei durch den Raum, der in unwirsche, erboste Beschimpfungen überging.

Er drückte seine Hand gegen den Körper, während sie abwechselnd knurrte und fauchte. Sie hoffte, dass er sie jetzt endlich in Ruhe ließ, sich um die blutenden Finger kümmerte, die er weiterhin gegen die Brust presste.

„Verdammt! Ich sollte besser aufpassen“, zischte er, sah kurz auf die Finger, gleich darauf schossen seine Hände nach vorne. Sein Vorpreschen kam so unvermittelt, dass sie nicht rasch genug auswich. Sie gewahrte den eisernen Griff, mit dem er ihren Oberarm packte, der ihre Panik zudem noch mehr nährte.

Gellend schrie sie auf. Wandt sich, um frei zu kommen, aber er zog sie unbeirrt zu sich heran.

Mit ihren Händen umschlang sie, so gut es möglich war, den Arm des Mannes. Sie grub ihre Nägel in seine Haut, schnappte immer wieder nach ihm, doch ungeachtet dessen zog er sie stetig näher zu sich. Er schlang die Arme um ihren Körper und drückte sie mit sanfter Gewalt an seinen Leib. Weiterhin schreiend wehrte sie sich gegen diese Umarmung. Sie wollte frei sein. Doch dafür, dass der Mann schon älter war, hatte er noch immens viel Kraft.

Aus ihrer schrillen, sich nun überschlagender Stimme, war ihre Verzweiflung deutlich zu hören. Aber auch die Angst, die in ihr tobte. Sich weiterhin verbissen wehrend, versuchte sie ihn noch einmal zu beißen, doch es gelang ihr nicht. Mehr noch erkannte sie, wie ihre Kräfte allmählich schwanden. Aber so rasch gab sie nicht auf. Noch ein-, zweimal bäumte sie sich auf, dann war ihre gesamte Kraft aufgebraucht. Erschöpft, in völliger Verzweiflung erschlaffte sie in den Armen des Mannes.

Sie erahnte, nein sie wusste, dass dies nun das Ende war. Mit dieser Gewissheit sackten ihre Schultern nach unten. Aus der Hoffnungslosigkeit, der Panik, der Angst, entwickelte sich eine Gefühllosigkeit, die sich stetig in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

~~~

Seine Unterarme brannten wie Feuer. Ihre harten Fingernägel hatten heftige Kratzer hinterlassen und sein Finger, in den sie gebissen hatte, pochte schmerzhaft im Takt seines Herzens. Doch trotz der Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte, hielt er sie eisern in den Armen.

Er bemerkte, dass ihre Gegenwehr erlahmte, bis sie in seinem Griff erschlaffte. Kritisch, ob dies vielleicht nur ein Trick war, behielt er sie noch eine Weile im Arm, stets darauf gewappnet, dass sie sich doch noch einmal wehrte. Dann rutsche er ein wenig unbeholfen sie weiterhin festhaltend zurück, sodass er an die Metallschüssel gelangte. Behutsam einen Arm um sie lösend, griff er in Zeitlupe neben sich. Hangelte nach dem weißen Tuch, tauchte es in das lauwarme Wasser und drückte es, so gut es mit einer Hand möglich war aus. Sanft strich er mit dem Tuch über ihren Arm, entfernte nach und nach den ganzen Schmutz. Sie wehrte sich kein bisschen mehr, weswegen er es wagte, auch den anderen Arm, um sie zu lösen. Nachdem er sie zu sich herumdrehte, damit er ihr auch das Gesicht abwaschen konnte, schaute er in ihre Augen, gleichzeitig legte sich ein beklemmendes Gefühl um sein Herz.

Er sah in wunderschöne, smaragdgrüne Augen, die jedoch ihren ganzen Glanz verloren hatten. Apathisch, mit in sich gekehrtem Blick, mit der Gewissheit, dass sie ihrer Freiheit beraubt worden war, saß sie vor ihm.

Es schmerzte ihn zutiefst, sie so zu sehen. Man hätte sie nie finden dürfen, geschweige denn hierherbringen. Sie war kein Mensch, auch wenn sie wie einer aussah. Sie war mehr Tier und hatte hier in der Zivilisation überhaupt nichts zu suchen.

Ein Kind der Wölfe.

Aber woher sollten diese brauseköpfigen Männer das wissen. Keiner von ihnen kannte auch nur annähernd die uralten Legenden aus diesem Teil des Landes. Es waren genau die Männer, die sich stets vor dem Zuhören gedrückt hatten, wenn er die fast vergessenen Geschichten und Legenden zum Besten gab. Jene Legenden der Wolfskinder von Karbada und ihrer besonderen Bedeutung, die mit der Prophezeiung zusammenhing. Alle Erzählungen kannte er, wie jeder im Land, von den Sehern aus Ulso. Einer der ältesten Seher hatte vor langer Zeit, nachdem der Kardianische König ermordet worden war, die Prophezeiung niederschreiben lassen und erst von da an erwähnte man die Wolfskinder. So ein Wolfskind saß nun vor ihm.

Sanft säuberte er unaufhörlich ihre Haut, dabei fragte er sich, welche Bedeutung ihr Erscheinen wohl hatte.

Er musterte sie geknickt, schämte sich für das, was die Männer getan hatten, wobei er das Tuch zurück in die Metallschüssel legte. Zwar war sie nun gesäubert, doch ihre Haare bildeten weiterhin heilloses Durcheinander.

Zögernd begab er sich auf Knien rutschend ganz aus dem Käfig, verschloss ihn und stemmte sich ächzend empor. Er schenkte ihr einen flüchtigen Blick, trat in den Baderaum, von wo er einen Kamm, zudem eine Schere holte. Mit den beiden Dingen schritt er zurück zu ihr, kniete sich wieder vor den Käfig, wobei seine Knie knackten. Darüber den Kopf schüttelnd, öffnete er das Schloss.

Ihr Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Vor ihm saß ein Mädchen, einer Marionette gleich und starrte vor sich hin. Behutsam drehte er sie, sodass sie mit dem Rücken zu ihm saß, um sachte ihre langen Haare zu kämmen. Viel zu oft blieb er an den dicken Verfilzungen hängen, doch sie zuckte nicht einmal zusammen. Mühsam arbeitete er sich vor, schnitt die heftigsten Verfilzungen kurzerhand weg, während er mit ansah, wie sie immer mehr in ihre Apathie versank. Sie glich zunehmend einer seelenlosen Hülle, da ihr Geist sich wohl tief in ihrem Körper versteckte.

Nachdem er endlich mit ihren Haaren fertig war, rutschte er erneut aus dem Käfig, verriegelte die Tür, mehr zum Schutz für sie, denn in diesem Zustand wusste er nicht, ob sie sich nicht irgendetwas antun würde.

Seine in die Jahre gekommenen Knochen knackten hörbar, unterdessen er sich stöhnend erhob. Er war wie alle älteren Dorfbewohner gezeichnet von der schweren Arbeit, die sie Jahr für Jahr leisteten, um in den harten Wintern zu überleben. Er stützte sich ächzend, den Rücken durchdrückend auf, begab sich in die Küche und schürte das Feuer über dem Herd, um einen Kessel mit Wasser aufzusetzen. Daraufhin schlurfte er zurück zum Käfig, ergriff die Kleidung der hilfsbereiten Frau, um innezuhalten.

Auch wenn er es besser wusste, aber auf den ersten Blick sah man nur ein Mädchen, das die Hölle erlebt hatte. Er wusste nicht, zum wievielten Male er nun den Käfig öffnete, doch er schob sich wiederum hinein, um ihr die Hose und das Hemd anzuziehen. Dabei verhielt sie sich weiterhin wie eine willenlose Puppe, was sein Herz noch schwerer werden ließ. Er konnte an all dem nichts mehr ändern, sondern nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen. Sanft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht, flüsterte: „Es tut mir leid“, ehe er den Käfig verließ. Er verschloss ihn, wendete sich abrupt ab und gewahrte, wie der Zorn auf die Männer in ihm hochstieg, woraufhin er seine Hände zu Fäusten ballte. Diesen Idioten würde er noch eine Lehre erteilen, dessen war er sich sicher. Aber erst kochte er ihr etwas zu essen, in der Hoffnung, dass sie überhaupt was zu sich nahm.

In der Küche fing er sofort an Gemüse zu schneiden, damit er ihr einen schlichten, gehaltvollen Eintopf zubereitete. Dabei wurde ihm bewusst, welch enorme Aufgabe vor ihm lag.

Auch wenn er schon eine Tochter großgezogen hatte, so war dies nun was ganz anderes, denn diesem Kind musste er erst die Angst vor den Menschen nehmen. Zwar beherrschte sie seine Sprache, doch wie gut? Zudem musste er ihr die menschlichen Gepflogenheiten beibringen, ihr zeigen, wie man sich unter Menschen verhielt. Jetzt wo sie zivilisiert aussah, schätze er ihr Alter auf gerade mal vier oder auch fünf Sommer, ein Alter, das mehr als nur anstrengend war.

Es würde Jahre dauern, das war ihm klar. Vielleicht würde es sogar eine Aufgabe für den Rest seines Lebens werden.

Prophezeiung des Wolfskindes

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