Читать книгу Das Mädchen im Haus - Melanie Kaiser - Страница 9
Das Haus
ОглавлениеDer Wald war unheimlich und still. Der Wind trieb die Wolken über den Himmel, raschelte in den Baumkronen. Marie spürte die Kälte auf ihrer Haut. Am liebsten hätte sie ihre Jeans aus dem Rucksack geholt und angezogen, doch sie hatte Angst. Sie wollte nur schnell durch den Wald hindurch und das Haus finden.
Den Schein der Taschenlampe richtete sie vor sich auf den Waldboden. Zügig ging sie weiter, an zahllosen Bäumen vorbei, deren Äste gespenstisch ins Dunkel ragten. Irgendwo musste doch ein Ausgang sein!
Endlich erreichte sie eine Lichtung, eine große Wiese, an deren Ende ein Haus stand. Marie blieb stehen, ihr stockte der Atem. Das musste es sein. Leider war es zu dunkel und zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Allem Anschein nach schien es die Rückseite zu sein, der Eingang musste sich demnach auf der anderen Seite befinden. Es war unheimlich, doch wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen ging Marie über die Wiese auf das Haus zu. Das hohe Gras kitzelte sie dabei an den Knöcheln.
Ihre Mutter und sie hatten in einer Dreizimmerwohnung gelebt, die schon ohne Oliver zu klein gewesen war, dafür aber äußerst günstig. Der Vermieter, Herr Mensen, war ein äußerst freundlicher Mann, der Reparaturen sofort erledigte und auch schon mal einen Aufschub gewährte, wenn das Geld knapp war und die Miete später gezahlt werden musste. Doch so ein Haus, wie Marie es vor sich sah, hätte ihr sicherlich eine schöne Kindheit beschert. Viele Zimmer, ein Garten und ein Wald dazu. Als sie näher an das Haus kam, leuchtete sie es mit der Taschenlampe an und blieb stehen.
Es war wirklich gigantisch. Sie zählte vier, mit altmodischen Holzläden verschlossene Fenster. Ein großes, altes Hirschgeweih hing an der Hauswand.
Marie ging um das Haus und suchte den Eingang. Die Vorderfassade war mit graubraunen Holzbrettern verkleidet. Im Obergeschoss verschlossen die gleichen, altertümlichen Läden die drei Fenster. Zur Eingangstür, die scheinbar aus Eichenholz gefertigt war, führten drei Stufen einer morschen Holztreppe.
Mit dem Strahl der Taschenlampe leuchtet sie die Tür an. Am Türrahmen befand sich mit Kreide 20*C+M+B+13 geschrieben. Komisch, dachte Marie. Wie lange steht das schon hier? Wieso schreiben die Sternsinger es an die Tür eines verlassenden Hauses?
Marie hatte in der Schule zu dem Thema gut aufgepasst und wusste, manche Menschen denken ›C+M+B‹ steht für die Heiligen Drei Könige: Casper, Melchior und Balthasar, was jedoch nicht stimmt. Die Buchstaben sind eine Abkürzung für ›Christus Mansionem Benedicat‹, was hieß: Christus segne dieses Haus. Sie hoffte, dass es auch wirklich gesegnet war.
Marie griff nach der Klinke. Zu ihrer Verwunderung ließ sich die Tür öffnen, laut quietschend drehte sie sich in ihren Angeln. Sie stand im Flur, mit der Taschenlampe erkundete sie die Umgebung. Die anfängliche Angst war gewichen, stattdessen konzentrierte sie sich auf die Umgebung. Sie stellte ihre Tasche und den Rucksack ab.
Direkt vor ihr befand sich die Treppe zum Obergeschoss. Die Stufen sahen stabil aus, das Geländer ebenfalls. An sämtlichen Wänden hingen Geweihe, augenscheinlich war der Besitzer Jäger gewesen.
Die armen Tiere, dachte Marie.
Sie versuchte, den Lichtschalter zu betätigen, doch es blieb finster. Wäre auch wirklich zu schön gewesen. Tim hatte ja gemeint, es wäre verlassen, dann war wohl der Strom auch abgestellt worden, aber einen Versuch war es wert gewesen. In ihrem Kopf machte sie sich einen Plan.
»Erstmal werde ich hier unten alles erkunden und mich dann langsam ins Obergeschoss vorarbeiten«, murmelte sie.
Marie ging nach rechts und kam in ein Zimmer mit einem Kachelofen. Ein gepolstertes Sofa stand in dem Raum und eine alte Stehlampe, dessen Schirm sich im Lauf der Zeit gelb verfärbt hatte. Mehr nicht.
Marie fiel auf, dass, obwohl in dem Haus länger keiner gelebt hatte, es nicht so aussah. Kaum Spinnweben, nur wenig Staub auf dem Boden, was sie bemerkte, nachdem sie mit dem Finger über die Dielen gewischt und mit der Taschenlampe das Ergebnis überprüft hatte.
Sie ging zum Sofa und schlug kräftig mit der Hand darauf. Keine Staubwolke kam ihr entgegen. Das Haus war alles, nur nicht unbewohnt, musste sie sich eingestehen. Scheinbar wurde es als Wochenendhaus oder Feriendomizil genutzt. Doch die wenigen Möbel, die zu sehen waren, sprachen dagegen. Sie ging wieder an der Treppe vorbei und kam diesmal in die Küche, eher gesagt in einen Raum, wo einmal eine Küche gestanden haben musste. Die Wände waren weiß gefliest, die Bodenfliesen weiß und braun.
Neben der Tür stand ein Klappstuhl, an der Fliesenwand lehnte ein dreckiger Besen. Am Ende der Küche war eine Tür zu sehen, die wohl den Eingang zum Keller verschloss. Marie überkam ein leichter Schauer, als sie die Tür anblickte. Sie wollte sich auf keinen Fall den Keller ansehen. Zumindest nicht mitten in der Nacht.
Also ging sie nach oben. Das Geländer der Treppe fühlte sich glatt und kalt an. Die Stufen knarrten unter jedem Schritt. Ein Flur lag vor ihr. Die Wände waren mit einer alten Blümchentapete beklebt, die zum Teil abgerissen worden war. Äußerst hässlich, fand Marie.
Zwei Türen auf der rechten Seite und drei auf der linken führten in die obenliegenden Räume. Marie leuchtete nach oben und sah die Klappe des Dachbodens.
Sie ging in den ersten Raum, ein Badezimmer. Die Fliesen waren weiß, ein Waschtisch mit einem alten goldenen Spiegel. Marie stellte sich davor, richtete den Schein der Taschenlampe auf ihr Spiegelbild. Ihre langen blonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, ihre Augen waren dunkel umschattet, mit tiefen Augenringen. Müde sah sie aus.
Sie drehte den Wasserhahn auf, eine braune Suppe lief aus der Leitung.
Wie lecker, dachte Marie. Doch nach einigen Sekunden wurde der Wasserstrahl durchsichtig. Marie hielt ihre Finger ins Wasser und probierte es. Das kalte Wasser lief ihre Kehle hinunter. Na, dann werde ich wenigstens nicht verdursten, freute sie sich.
Bei der Wanne versuchte sie es auch. Genau dasselbe, die Rohre waren intakt. Zuerst die braune Suppe, dann wurde es immer klarer. Es machte ihr nichts aus, dass es kalt war. Hauptsache Wasser.
In den anderen Zimmern befand sich nicht viel. In einem war ein altes Holzbettgestell mit einer Sprungfedermatratze. Ein Wandschrank, in dem eine alte Kleiderstange hing, auf dieser ein paar Bügel. Dahinter ein Regal. Zu Maries Glück lag dort eine dicke Decke aus bunter Wolle, scheinbar selber gestrickt. Marie nahm sie in die Hand, zum Glück kratzte sie nicht so sehr. Sie roch dran, es war erträglich.
Die anderen Zimmer waren leer. Alte geblümte Tapeten waren überall an den Wänden. Tote Tiere sah sie zum Glück nicht. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits zwei Uhr am Morgen war. Der Tag war lang gewesen.
Sie mochte das Haus, auch wenn es etwas unheimlich war. Aber es bot ihr Schutz. Sie holte ihren Sachen von unten, verschloss dabei die Eingangstür. Oben in dem Zimmer, in welchem das alte Bettgestell stand, packte sie alles, was sie dabeihatte, aus. Es war nicht viel. Ein paar Kleidungsstücke, ein Toastbrot, ein Glas mit Marmelade, Erdnüsse, ein paar Konserven Ravioli. Sogar an Kerzen, einen Dosenöffner, eine Gabel, Löffel, Messer und Feuerzeuge hatte sie gedacht. Nachdem sie im Schein der Kerzen gegessen hatte, machte Marie es sich auf dem Bett bequem. Sie fand es gar nicht so schlimm.
Ihre Gedanken kreisten um Oliver. Ob er sie suchen würde, die Polizei informiert hatte? Irgendwie konnte sie es sich nicht vorstellen. Er war garantiert der Meinung, dass sie zurückkehren würde, weil sie doch sonst niemanden hatte.
Doch damit hatte er sich geschnitten! Sobald sie achtzehn war, würde sie sich einen Job suchen, vielleicht zunächst als Kellnerin, so wie ihre Mutter.
Dann dachte sie an das Haus und an den Jungen von der Tankstelle. Nicht, dass dieser Tim hierhin käme, mitten in der Nacht. Sie stand auf, ging zu der Zimmertür und drehte den Schlüssel um. Jetzt würde er nicht reinkommen, falls er das vorhatte. Marie lauschte den Geräuschen im Haus, bis sie endlich einschlief.
Sie träumte, dass sie am Grab ihrer Mutter stand. Ihren Kopf gesenkt blickte sie auf das Grab hinunter. Tränen liefen ihr aus den Augen.
»Mama, ich vermisse dich so sehr. Ich brauche dich«, sprach sie leise.
Plötzlich hörte sie aus der Stille heraus den Flügelschlag eines Vogels. Sie schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam und erblickte eine schwarz gekleidete Gestalt am Rande des Friedhofes im Schutz der Bäume.
Es war eine Frau in einem langen, schwarzen Mantel, doch zu weit um zu erkennen, wie sie aussah.
»Hallo?«, rief Marie in ihre Richtung.
Die schwarze Frau stand nur da, starrte sie an. Irgendwas stimmte hier nicht, spürte Marie. Was machte sie dort nur? Die Frau hob plötzlich ihren Arm. Zuerst dachte Marie, sie wollte winken. Doch dann begriff sie.
Die Frau deutet auf etwas hinter ihr. Sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, was hinter ihr war, als sie eine Stimme, ganz deutlich neben ihrem Ohr hörte.
»Finde es …«,
flüsterte ihr eine leise Stimme zu.
Mit einem Ruck richtete sich Marie auf. Ihr Herz raste, sie musste husten. Was für ein Albtraum!
»Beruhig dich«, sagte sie leise zu sich.
Für einen Moment war sie orientierungslos. Wo war sie?
Das war nicht ihr Bett. Dann fiel es ihr ein. Alles! Die Flucht, die letzte Nacht, das Haus. Sie legte sich wieder zurück auf die Matratze, zog sich die Decke bis zum Kinn hoch, das Bild der schwarzen Frau vor Augen.
»Wieso träume ich so etwas«, fragte sie sich.
Dieser Traum hatte sich so real angefühlt, sogar die Kälte des Friedhofs hatte sie auf der Haut spüren können.
In der letzten Zeit war Marie des Öfteren von Albträumen heimgesucht worden, in deren Verlauf immer wieder das Grab ihrer Mutter vorkam. Dabei war sie bis jetzt nur einmal, bei der Beerdigung, dort gewesen. Sie hatte einfach nicht nochmal hingehen können.
Oliver hatte sie immer wieder gefragt, ob sie mit ihm zum Grab gehen wollte. Er war oft dort gewesen, hatte immer Blumen mitgenommen. Doch Marie konnte es nicht! Sie wollte es nicht sehen. Mit der Inschrift, ihre Mutter unter der Erde zu ihren Füßen. Dieser Gedanke zerriss ihr Herz.
Deshalb träumte sie vom Grab, ihr Unterbewusstsein holte sich, was es wollte. Doch von einer schwarzen Frau hatte sie bis jetzt noch nie geträumt.
Das hing vielleicht mit dem Haus und den Vorkommnissen des letzten Tages zusammen. Sie war noch nie der ängstliche Typ gewesen. In der Schule hatte sie sich immer gewehrt. Einmal hatte sie einen Jungen verprügelt, der ein Mädchen aus den untersten Klassen gehänselt hatte.
Er hatte auf dem Schulhof neben Marie in der Schlange gestanden, als sie sich Kakao holen wollte. Das Mädchen war an ihnen vorbeigegangen, eine Fünftklässlerin mit einer mehr als unvorteilhaften Zahnspange.
»Schaut euch mal diese hässliche Kuh an, mit ihrer Zahnspange«, hatte er geschrien.
Das Mädchen war rot angelaufen, Marie hatte sich zu ihm umgedreht und ihn aufgefordert, damit aufzuhören. Als er ihr dann noch eine unflätige Antwort gegeben hatte, da hatte er umgehend einen Tritt zwischen seine Beine kassiert, sodass er wimmernd auf den Boden sank. Nachdem er sich wieder hatte aufrappeln können, war er heulend zur Pausenaufsicht gerannt.
Marie war sehr wohl bewusst gewesen, dass sie überreagiert hatte, doch hatte die Wut sie einfach übermannt. Sie hatte dann zwar Reue gezeigt, aber im Grunde genommen hatte es sogar gutgetan, hatte sie sich eingestehen müssen.
Dass sie zur Strafe für zwei Wochen den Pausenhof vom Unrat befreien musste, der sogenannte ›Pickdienst‹, war ihr aber egal gewesen, da das Mädchen mit der Zahnspange den Lehrern erzählte, warum Marie den Jungen getreten hatte. Daraufhin durfte er einen Monat lang den ›Pickdienst‹ in den Pausen machen.
Wie sie so dalag und nachdachte, bemerkte sie, dass draußen die Vögel zwitschern. Die Herbstsonne leuchtete gegen die Läden des Fensters. Marie beruhigte sich langsam, dachte nicht mehr über den Albtraum nach. Sie konnte es eh nicht ändern. Diese Art von Träumen beherrschte mittlerweile ihr Leben. Durch den Tod ihrer Mutter hatte sie unendlich viel verloren. Aber ihre Mutter würde ihr sagen, sie solle weiterleben. Ihr Leben und glücklich werden. Albträume sind schlimm, aber damit verarbeitet man auch bestimmte Dinge.