Читать книгу Liebe ist (k)eine Herzensangelegenheit - Melinda Waleni - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеIch sehe gedankenversunken aus dem Küchenfenster meiner Salzburger Wohnung. Was wird wohl alles in nächster Zeit passieren? Hoffentlich lebe ich mit meinem zukünftigen Mann, der mir jetzt noch unbekannt ist, in einem eigenen Haus mit Garten. Gleichzeitig bin ich dann stolze Besitzerin einer Tierpension, in der viele Tiere für eine gewisse Zeit ein gemütliches Heim finden. Ich lehne mich mit dem Ellbogen auf das Fensterbrett und stütze meinen Kopf in die Hände. Ach, das wäre traumhaft.
Es klingelt unaufhörlich an der Tür. Vermutlich ist Paul schon da? Wir sind heute zu einer Partie Schach verabredet.
Ich liebe diese Spielenachmittage mit ihm. Da meine Eltern bei einem Unfall vor ein paar Jahren ums Leben gekommen sind, ist er der einzige Vertraute, der mir noch geblieben ist. Er ist wie ein Großvater für mich. Ich habe Paul kennengelernt, als ich vor einiger Zeit ehrenamtlich in einem Pflegeheim tätig war. Er besuchte damals regelmäßig seinen 96-jährigen Vater, der leider mittlerweile schon verstorben ist.
Kurz darauf ist eine Wohnung unter mir freigeworden und da Paul grade auf Wohnungssuche war, ist er spontan eingezogen. Seither hat sich eine Freundschaft zwischen uns entwickelt. Damals hat sich herausgestellt, dass er zufälligerweise auch meine Eltern gut kannte. Er berichtet mir öfter über vergangene Erlebnisse mit den beiden. Ich kann mich komplett auf ihn verlassen und er hilft mir, wo es nur geht.
Ich renne zur Eingangstür, um sie zu öffnen. Die Vermutung hat sich bestätigt.
Sammy, einer meiner Golden Retriever, springt sofort freudig an Paul hoch. Dieser neigt sich zu ihm hinunter, um ihn hinter dem Ohr zu kraulen. Anschließend zwinkert er mir zu. »Hallo Natalie. Bist du bereit, eine Niederlage zu kassieren? Ich bin bestens auf unsere heutige Partie vorbereitet.«
»Von wegen.« Ich grinse. »Du hast selbst gesagt, dass ich ein Profi im Schach bin.«
»Ich hab es dir beigebracht«, sagt er. »Darum bist du eine perfekte Spielerin geworden.«
Gefolgt von mir marschiert er ins Wohnzimmer. Aus der Kommode unter dem Fenster hole ich das Schachbrett. Ich lege es auf den kleinen Esstisch und wir lassen uns auf den Metallstühlen nieder. Die Sitzkissen darauf müssen auch mal wieder getauscht werden. Paul räuspert sich. »Komm Natalie, beginnen wir endlich mit dem Spiel.«
»Gleich.« Ich platziere die Spielfiguren auf die entsprechenden Felder. Mit einem Bauern eröffne ich die Partie.
Wir schweigen uns eine Weile an, während wir abwechselnd mit den Figuren ziehen. Ehe ich mich versehe, setze ich den König von Paul Schachmatt. »Wiedermal gewonnen.« Ich grinse triumphierend. »Du bist unschlagbar im logischen Denken«, sagt er. »Noch besser, als ich es in deinem Alter war.«
Mir ist das unangenehm, wenn er dermaßen übertreibt, aber ich lasse mir nichts anmerken. »Danke dir für das Kompliment.«
Paul kramt einen Kartenstapel aus seinem braunen Rucksack, den er immer dabei hat. »Willst du noch Canasta spielen?«
»Gern«, sage ich. »Verteile bitte einstweilen die Karten. Ich bin gleich wieder da.«
Mit einem Schwung erhebe ich mich und marschiere in die Küche. Ich nehme zwei Gläser aus dem Schrank oberhalb der Spüle und befülle sie mit Leitungswasser. Die Tüte Salzstangen, die ich schon vorbereitet habe, klemme ich mir unter den Arm, bevor ich wieder ins Wohnzimmer zurückeile.
Da ich weiß, dass Paul gerne Knabbergebäck isst, platziere ich die Tüte direkt vor ihm auf den Tisch. Die Gläser stelle ich daneben.
»Danke Natalie, sehr aufmerksam von dir. Dass du keinen Freund mehr hast, kapiere ich nicht. Jeder Mann sollte sich glücklich schätzen, so eine fürsorgliche Frau zu haben.«
Ich fühle, wie ich im Gesicht knallrot anlaufe, und wende mich zur Seite. Wieso fängt er grade jetzt wieder damit an?
Paul scheint zu merken, dass mir das unangenehm ist, da er schlagartig ruhig wird. »Verzeihung, das wollte ich nicht«, sagt er kleinlaut. »Ich vergesse ständig, dass dir das peinlich ist, wenn ich solche Dinge sage.«
»Kein Problem. Mir ist nur grade eingefallen, was Nico damals zu mir gesagt hat. Er hat gemeint, dass er es mit mir nicht mehr aushält, weil ich ihm angeblich zu ernst bin.«
Mein bester Freund legt die Stirn in Falten. »Ich verstehe deinen Exfreund nicht. Seine Behauptung ist vollkommen lächerlich. Mit dir hat man immer eine Menge Spaß.«
Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass Paul mit seinen 73 Jahren im Inneren noch ein junger Mann ist.
Seufzend berühre ich den goldenen Anhänger meiner Kette, der die Form eines Sterns hat. Mama hat ihn mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Das war kurz vor ihrem Unfall.
»Schätzchen, ich weiß, dass du deine Mutter vermisst, aber du bist nicht allein. Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.«
Ehe ich ihm antworten kann, klingelt mein Smartphone, das neben mir auf dem Tisch liegt. Wer ruft am Wochenende um diese Zeit an? Ich sehe auf das Display. Oh nein, es ist Herr Buton. Zögerlich gehe ich ran. »Hallo.«
»Frau Wind, kommen Sie sofort in die Firma«, sagt er unbeherrscht. »Die Akten stapeln sich schon bis zur Decke. Sie gehören dringend sortiert. Da Bianca gestern ihren letzten Tag hatte, müssen Sie ihre Arbeit übernehmen.«
Mir wird übel. Jetzt stehen mir auch noch Überstunden bevor. »Heute habe ich frei. Es ist Samstag«, sage ich genervt.
»Keine Widerrede. Ich erwarte Sie in einer Viertelstunde im Büro. Beeilen Sie sich.«
»Okay, ich komme gleich.« Es ist unglaublich, was der Mann alles von mir fordert. Zum Glück geht er ab Montag in Rente.
Ich werfe Paul einen genervten Blick zu. »Das war mein Chef. Er verlangt, dass ich einen Stapel Akten sortiere. Es ist viel zu tun, weil die Sekretärin gekündigt hat. Ich muss hin, um auszuhelfen.«
Er sieht mich mitleidig an. »Willst du, dass ich dich fahre?«
»Danke dir«, sage ich. »Das ist nicht nötig, die Firma ist ja nicht weit entfernt. Ich gehe zu Fuß. Was mir auf die Nerven geht, ist, dass mich der Chef ständig für zusätzliche Arbeiten einspannt.«
Ich bin dermaßen verärgert, dass ich ohne Pause meckere und in meiner Wut über Herrn Buton total die Zeit vergesse. Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr. Mir bleibt der Mund offenstehen. In fünf Minuten muss ich in der Firma sein. Ich verabschiede mich rasch von Paul.
Danach renne ich ins Bad, greife mir aus der Schublade einen Kamm und streiche mir damit ein paar Mal durch die dunklen Locken.
Anschließend stürme ich ins Schlafzimmer. Ich durchwühle den Kleiderschrank auf der Suche nach einem passenden Outfit. Endlich habe ich es gefunden. In Windeseile tausche ich meinen flauschigen gelben Jogger gegen ein schwarzes Kostüm.
Kurz darauf verlasse ich das Haus und laufe den Kiesweg entlang zur Firma.
Vor der Eingangstür angekommen, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich atme tief durch.
Hinter mir höre ich ein lautstarkes Räuspern. »Wollen Sie nicht reingehen?«, vernehme ich die Stimme von Herrn Buton.
Fassungslos wende ich mich um. Der ist verrückt. Jetzt tut er so, als ob ich freiwillig hier draußen stehe.
Mit wütendem Blick auf seine Armbanduhr deutet er mir an, reinzugehen. »Los, worauf warten Sie? Die Akten müssen bis Montag fertig sortiert sein.«
Gemeinsam mit ihm gehe ich ins Haus. Leider ist er ständig übertrieben streng, deshalb widerspreche ich ihm nicht. Sonst droht er mir garantiert mit der Kündigung. Bis zuletzt spielt er sich als Herrscher auf.
Wir marschieren durch den engen Gang, deren sanfte Gelbtöne diesen tristen Ort freundlicher wirken lassen. Die grauen Bodenfliesen sind extrem rutschig. Jeden Tag muss ich aufpassen, dass ich mir mit meinen hochhackigen Pumps kein Bein breche. Im Vorraum angekommen, bleiben wir vor dem Schreibtisch stehen.
Ich werfe einen Blick darauf. Vier große Papierstapeln liegen herum. Ein paar Dokumente sind anscheinend auf den Boden gefallen und der Rest wurde unübersehbar im Abfalleimer daneben entsorgt. Ich verdrehe missmutig die Augen. Wurde der Tisch von einem Tornado heimgesucht? Hier herrscht das absolute Chaos.
Herr Buton grinst schief, dabei bilden sich Fältchen rund um seine Lippen. »Viel Erfolg bei der Arbeit. Ich muss jetzt zu einem Termin. Auf Wiedersehen. Vergessen Sie nicht, bis Montag ist alles fertig zu machen. Wenn der neue Chef kommt, will er sich nicht mit den alten Akten rumärgern.«
Ich lasse mich mit einem Seufzer auf den Drehstuhl fallen. »Einverstanden.«
Er verlässt die Firma und ich beginne augenblicklich mit der Arbeit. Mir steht schon jetzt der Schweiß auf der Stirn. Wie schaffe ich das nur alles alleine?
Einige Zeit später bereite ich mir im Büro von Herrn Buton einen Kaffee zu. Die dampfend heiße Tasse stelle ich auf dem Schreibtisch ab. Anschließend krame ich das Handy aus der Tasche und rufe Paul an. Ich bitte ihn, am Abend bei mir zuhause vorbeizuschauen, um meine Fische, die zwei Katzen und die beiden Hunde zu füttern. Das hat er die letzten Wochen auch getan, da ich jeden Tag wegen der vielen Defizite länger im Büro bleiben musste. Hoffentlich hat der neue Chef das alles besser im Griff.
Am Sonntagvormittag schiebe ich nochmals Überstunden, weil ich immer noch nicht mit dem Sortieren fertig bin.
Vor mir liegt ein riesiger Berg Rechnungen. Es ist mühsam, sie zu jedem einzelnen Auftrag zuzuordnen. Ich hoffe nur, dass ich bald einen Weg finde, schneller zu arbeiten.
Hinter mir höre ich Schritte. »Guten Tag. Wie kommen Sie voran?«, vernehme ich eine Männerstimme.
Erschrocken schlucke ich. Wer außer mir ist noch hier in der Firma? Ich wende mich langsam um.
Vor mir sehe ich einen attraktiven jungen Mann mit blondem Haar und strahlend blauen Augen. Er dürfte Anfang 30 sein. Das hellblaue Hemd und die schwarze Jeans, verschaffen ihm ein selbstsicheres, aber dennoch sportliches Auftreten.
Er verschränkt seine Arme und lächelt charmant, dabei fühle ich ein eigenartiges Kribbeln im Bauch. »Wie ich sehe, haben Sie viel Arbeit vor sich«, sagt er. Sind Sie die Sekretärin?«
Ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, was bei meinen widerspenstigen Locken heute nicht so leicht ist. »Nein.«
Der Mann reibt sich über das Kinn. »Verstehe, dann sind Sie eine Hilfskraft.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle und starre ihn nur verwundert an.
Er deutet auf den Stapel vor mir. »Sie müssen die Papiere noch einsortieren, stimmts?«
Mir schießen Tränen in die Augen. »Mein Chef will, dass ich alles bis morgen erledige. Das ist enorm anstrengend.«
Er sieht mich mitleidig an. »Sie Arme. Das ist eine fürchterliche Zumutung. Brauchen Sie Hilfe? Ich bin mit den verschiedensten Dokumenten der Firma Teleking vertraut.«
Ich zittere vor Nervosität am ganzen Körper. »Das müssen Sie nicht. Ich schaffe das schon.«
»Wissen Sie was, ich helfe Ihnen, damit Sie rechtzeitig alles erledigt haben.« Der Mann nimmt einen Stuhl vom Schreibtisch gegenüber und setzt sich neben mich.
In mir zieht sich alles zusammen. Hat er jetzt vor, mir Gesellschaft zu leisten?
Er greift sich ein Stück Papier vom Tisch, dabei streift er sanft meinen Arm. In dem Moment durchfährt mich ein wohliger Schauer.
»Haben Sie die Akten in einer bestimmten Reihenfolge sortiert?«, fragt er.
Ich schnappe mir ein Dokument und gebe vor, es mir intensiv durchzulesen.
»Was ist los? Mir ist schon aufgefallen, dass Sie ein bisschen schüchtern sind, aber Sie bedrückt doch was, oder? Vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstellen. Ich habe auch manchmal das Gefühl, vor den anderen Menschen als zurückhaltend zu gelten.«
Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu. »Ehrlich? Sie wirken sehr selbstsicher auf mich.«
»Tja, das kommt daher, dass ich ein exzellenter Schauspieler bin. In meinem Inneren bin ich ein empfindsamer Mensch.«
Verrückt, ich hätte nicht gedacht, dass es ihm genauso geht.
»Los, kommen Sie, wir haben viel vor«, sagt er. »In der Zwischenzeit bitte ich Sie, mir zu sagen, wer Sie sind.«
Ich lehne mich zurück. »Ich heiße Natalie Wind, bin 25 Jahre und habe eine Lehre zur Bürokauffrau absolviert.«
»Sie müssen mit mir nicht wie bei einem Vorstellungsgespräch reden. Ich bin Ihnen nicht überlegen.« Er wirft einen Blick auf meine Kette. »Wow, der Anhänger sieht echt edel aus.«
»Den hat mir Mama zum Geburtstag geschenkt. Er besteht aus purem Gold. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Kette ist das Einzige, was mich noch an sie erinnert.« Ich schlucke schwer. »Leider konnte ich ihr Haus nicht behalten, weil ich nach der Lehre kein Geld für den bestehenden Kredit hatte.«
Seine Augen beginnen zu glänzen. Er sieht an mir vorbei zur Tür.
Scheinbar schämt er sich dafür, Gefühle zu zeigen. Es muss mir gelingen, ihn abzulenken. Nur, wie genau stelle ich das an? Ich ziehe eine Tüte Fruchtbonbons aus der Tasche. Was Besseres fällt mir nicht ein. »Wollen Sie auch eines haben?«
»Nein, danke.« Er sortiert ein paar Akten in einen Ordner.
»Darf ich jetzt von Ihnen erfahren, wer Sie sind?«, frage ich.
»Betrachten Sie mich als einen Freund. Machen Sie sich keine Gedanken, Sie wissen bald mehr von mir, als Sie wollen.«
Der Typ redet verwirrendes Zeug. Es wäre interessant zu erfahren, was er hier treibt. Ich bin ihm zwar für seine Hilfe dankbar, aber dass er hier in der Firma ist, finde ich eigenartig. Wie ist der Mann überhaupt reingekommen? Die Tür war doch abgeschlossen. »Genug geredet«, sagt er. »Schnappen wir uns einen weiteren Stapel.«
»Leider ist mein Chef nicht wie Sie. Bin ich froh, dass er ab nächste Woche in Rente geht. In Zukunft wird es wohl aber auch nicht besser, denn ich habe gehört, dass sein Nachfolger ein dominanter, unsensibler Mann ist. Angeblich soll er schon mal da gewesen sein, doch an dem Tag hatte ich frei.
Er streicht sich mit der Hand über den Nacken. »Das hört sich schrecklich an. Ich hoffe nur, Sie überleben es, wenn er hier regiert.«
»Einige meiner Kollegen haben mir erzählt, dass sie einzeln zu einem Gespräch mit ihm gebeten wurden. Er will alle besser kennenlernen. Das finde ich unnötig.«
Der Mann beginnt lauthals zu lachen. »Ein Wahnsinn. Viel Glück wünsche ich Ihnen.« Er rutscht auf dem Stuhl hin und her, als wolle er aufbrechen.
Jetzt heißt es für mich, schnell zu agieren. Bevor er geht, möchte ich endlich wissen, warum er hier ist. Was, wenn er ein Einbrecher ist, der vorhat, demnächst die Firma auszurauben? Obwohl, dafür macht er mir einen zu seriösen Eindruck. »Sind Sie ein Kunde?«, frage ich deshalb und sehe ihm direkt in die Augen.
Er wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. »So, ich muss jetzt los. Schaffen Sie den Rest alleine?«
Ich nicke. »Klar, es sind zum Glück nur mehr ein paar Dokumente. Danke für Ihre Hilfe.«
Er erhebt sich wortlos und setzt sich rasch in Bewegung.
Ein seltsamer Kerl, der es anscheinend unnötig findet, sich zu verabschieden. Das ist echt unhöflich von ihm.
Ich bin auf dem Weg ins Büro. Es ist soweit, Herr Buton ist Geschichte.
Je näher ich der Firma komme, umso mulmiger wird mir. Hoffentlich ist der neue Chef nicht so barsch, wie mir von den Kollegen berichtet wurde. Vor der Eingangstür halte ich inne. Das wird eine harte Woche, bald brauche ich Urlaub von den unzähligen Überstunden. Außerdem muss ich mich wiedermal um meine Tiere kümmern. Zum Glück füttert Paul sie immer, wenn ich nicht dazukomme. Womöglich gewährt mir der neue Boss nächste Woche ein paar freie Tage?
Motivationslos betrete ich das Gebäude. Hier ist es verdächtig still. Ich schleiche durch den menschenleeren Gang.
Im Vorraum sehe ich, dass der Schreibtisch unbesetzt ist. Was für eine Überraschung, keine Sekretärin sitzt hier. Endlich erreiche ich mein Büro. Da ich es mit den beiden Kollegen Matthias und Dennis teilen muss, bleibt es mir nie erspart, mir ihr endloses Gejammer über alles Mögliche anzuhören.
Ich bleibe vor der geöffneten Bürotür stehen. Die zwei anspruchsvollen Männer sitzen auch bereits an ihren Schreibtischen. Sie starren in die Monitore, dabei tippen sie fleißig in die Tasten. Wann haben die heute zu arbeiten begonnen?
Matthias sieht zu mir rüber. »Hallo, Natalie.« Er verzieht das Gesicht. »Hast du schon den arroganten neuen Chef gesehen?«
In meinem Magen bildet sich ein Knoten. »Nein, noch nicht. Wieso?«
»Sie hat ja keine Ahnung, wie der aussieht«, sagt Dennis. »Für sie könnte es jeder Dahergelaufene sein.«
Meine Kollegen zucken zusammen. Was ist mit ihnen los? Ich spüre, dass irgendwer hinter mir steht. Vermutlich ein Kunde. Mir entweicht ein Schmunzeln. Jetzt fangen sie auch noch an zu lächeln. Es ist unheimlich, wenn die zwei freundlich sind. Jemand Einflussreicher scheint hinter mir zu stehen, ansonsten wäre es mir ein Rätsel, wieso sie sich dermaßen höflich verhalten.
Ich wende mich um und erblicke den blonden Mann, der mir gestern beim Sortieren geholfen hat. Oh nein, ist er der neue Chef?
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Wird hier eine Unterhaltung geführt, die sich nicht auf die Arbeit bezieht?«
Mit feuchten Händen steige ich von einem Bein aufs Andere. »Wir haben grade ... über Sie gesprochen.« Der Mann wirft mir einen ernsten Blick zu. Gibt er vor, mich nicht zu kennen?
Er kommt ein Stück näher zu mir. »Sie haben was getan?«
Meine Knie zittern, weil er so knapp vor mir steht. Mir muss was einfallen. Lügen ist zwecklos. Er hat garantiert alles mitangehört. »Wir haben uns nur gefragt, wann Sie endlich kommen.«
Dennis wirft mir einen wütenden Blick zu. »Was redest du da, Natalie? Noch dazu mit Herrn Bayer.« Ich senke für einen Augenblick den Kopf. »Es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«
Der neue Chef fasst sich an die Stirn. »Wie auch immer. Ich wünsche, dass Sie drei in nächster Zeit die Arbeiten zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigen.« Er deutet hinaus auf den Flur. »Kommen Sie bitte zu mir ins Büro, Frau Wind.«
Mir rutscht das Herz in die Hose. Hoffentlich schimpft er nicht, weil ich gestern über ihn hergezogen bin.
Ich verhalte mich unauffällig und folge ihm. Was wird er mir jetzt sagen? Wir bleiben vor dem Büro stehen. Herr Bayer kramt einen Schlüssel aus der Hosentasche. Damit schließt er die dunkle Holztür auf. Gemeinsam betreten wir den Raum.
Er wirkt wie gewöhnlich nicht sehr einladend. Die Wände sind kahl und weiß, es hängt kein einziges Bild und auch sonst gibt es keinerlei Dekorationsgegenstände im gesamten Büro. Herr Buton hat sich nicht viel um die Gestaltung der Einrichtung gekümmert.
Mein neuer Chef lässt sich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen, wo noch die übliche Unordnung herrscht. »Setzen Sie sich.«
Ich sinke auf den Stuhl, der vor dem Tisch steht.
Er hebt eine Augenbraue. »Darf ich erfahren, wer Ihnen gesagt hat, dass ich unausstehlich bin?«
»Das war nicht so gemeint«, sage ich mit zittriger Stimme und weiche seinem bohrenden Blick aus.
»Ach was, beruhigen Sie sich. Ich hab vielleicht den Ruf eines hartherzigen Mannes, aber das ist nur deshalb, weil ich in einer leitenden Position tätig bin.« »Das ist kein Grund«, sage ich. »Wenn Sie die Mitarbeiter mit mehr Respekt behandeln würden, könnte die Firma Aufschwung bekommen. Das geschieht dann fast von selbst, da sich die Leute ernst genommen fühlen.« Keine Ahnung wieso, aber die Worte sprudeln aus mir heraus, wie ein Wasserfall.
Er sieht mich mit großen Augen an. »Wie war das?« »Vergessen Sie das. Ich wollte Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit zu erledigen haben.«
»Zu spät. Das ist aber nicht schlimm, da ich weiß, dass Sie recht haben. Doch wenn ich nicht streng vorgehe, fehlt mir das Gefühl, der Chef zu sein. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ein bisschen.« Ich muss ihm hoch anrechnen, dass er zumindest mir gegenüber ehrlich ist.
Im nächsten Moment konzentriert er sich auf den Bildschirm, der vor ihm am Schreibtisch steht. Was ist jetzt los? Will er, dass ich das Büro verlasse?
Bevor ich aufstehe, nehme ich all meinen Mut zusammen. »Würden Sie mir für nächste Woche Urlaub genehmigen?«
Er hebt den Kopf. »Das ist unmöglich. Es ist niemand da, der Ihre Arbeiten übernimmt. Ist es für Sie okay, dass Sie die Aufgaben der Sekretärinnen heute wieder zusätzlich erledigen?«
Ich seufze. »In Ordnung. Ich übernehme nochmal, aber nur, wenn ich danach ein paar freie Tage bekomme.«
»Nein, wie gesagt, das geht nicht. Ich darf nicht zulassen, dass Sie sich amüsieren.«
Was redet er da? Ich verschränke die Arme vor der Brust, gleichzeitig sehe ich ihn finster an.
Er lacht herzhaft los. »Bewilligt. Sie bekommen sogar zwei Wochen, wenn Sie wollen.«
Der hat einen eigenartigen Sinn für Humor. »Vielen Dank«, sage ich. »Eine Frage hab ich noch. Wie lautet ihr vollständiger Name und warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie der zukünftige Chef sind?«
»Genau genommen, bin ich Ihnen mehr als eine Antwort schuldig. Ich heiße Mario Bayer und wollte Sie ungezwungen kennenlernen. Ihre Kollegen haben mir mitgeteilt, dass Sie im Bezug auf Fremde verschlossen sind. Stimmt das?«
Ich bemerke, dass meine Wangen zu glühen beginnen, daraufhin senke ich sofort den Kopf.
»Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Wie gesagt, ich bin ebenfalls zurückhaltend. Zeitweise verstecke ich mich hinter einer rauen Fassade.«
»Sie sind einfühlsamer, als ich dachte, Herr Bayer.« Zögerlich wage ich einen Blick nach oben.
Er strahlt über das ganze Gesicht. »Das sind Sie auch. Nur leider nehmen Sie vieles zu ernst. Das Leben ist nicht so schwer, wie Sie es betrachten. Sie dürfen gehen. Ach, wären Sie bitte so nett, sich die nächsten vier Tage ebenfalls um die Buchhaltung zu kümmern? Ab morgen habe ich unzählige Außentermine. Es wird mir keine Zeit bleiben, herzukommen, um alles selbst zu erledigen.«
Ich nicke, mache auf dem Absatz kehrt und verlasse rasch das Büro.
Im Vorraum setze ich mich an den Schreibtisch, um mit den Aufgaben zu beginnen. Es sind drei Stunden vergangen, bis ich endlich mit den zusätzlichen Arbeiten durch bin.
Ich erhebe mich. In dem Moment sehe ich Mario aus seinem Büro kommen.
Er wirft einen Blick auf meinen Schreibtisch. »Sieh an, Sie sind gleich mit den heutigen Aufgaben fertig. Respekt.« Ich lächle und sortiere die restlichen Unterlagen, die noch vor mir liegen, in einen Ordner.