Читать книгу Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer - Страница 10
Kapitel 4 Angst
ОглавлениеMira erwachte vom warmen Gefühl der morgendlichen Herbstsonne auf ihrem Gesicht. Der Rest ihres Körpers fühlte sich wund an, und ihre Muskeln schmerzten von der kauernden Haltung, in der sie auf dem steinigen Boden lag. Sie hatte den Verdacht, dass das Muster von unzähligen kleinen Kieseln sich in ihre rechte Gesichtshälfte eingegraben hatte.
Mühsam richtete sie sich auf und stieß dabei an Chas, der dicht neben ihr lag. Langsam kehrte die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück. Sie war betend an seiner Seite eingeschlafen; deshalb die unbequeme Position, deshalb der schale Geschmack von Angst auf ihrer Zunge.
Urs saß im Schneidersitz, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, den Kopf in die Hände gestützt, aber offenbar wach. Er murmelte ein „Amen“, ehe er den Blick auf Mira fokussierte und sich zu einem müden Lächeln durchrang. Biene schlief, den Kopf auf seinen Oberschenkel gebettet.
„Hast du etwa die ganze Nacht gebetet?“ Miras Mund war trocken und ihre Stimme ein heiseres Krächzen. Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte ihr Blick zu Chas und tastete über sein Gesicht. Er schlief ganz ruhig.
„Es geht ihm besser“, sagte Urs, ebenfalls rau.
Unwillkürlich streckte Mira die Hand aus und legte sie an Chas’ Wange. „Er hat kein Fieber mehr.“
Urs schüttelte langsam den Kopf. „Er wird es schaffen.“
Mira schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, verschwamm Chas’ ruhiges Gesicht vor ihr. „Warum ist er immer noch nicht bei Bewusstsein?“
„Er ist schwach. Sein Körper muss sich erholen. Es war …“ Urs verstummte, doch Mira hatte schon verstanden. Er hatte selbst nicht immer daran geglaubt, dass Chas überleben würde.
„Danke.“ Mira wischte sich hastig über beide Wangen, aber Urs senkte höflich den Blick und betrachtete seine schlafende Freundin. „Für alles, was du für Chas getan hast. Ich … ich weiß nicht, ob ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hast ihm das Leben gerettet.“
„Es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Chas’ Zeit war noch nicht gekommen“, wies Urs ihren Dank zurück. „Schau dir unseren Freund Ari an. Gott hat ihn verschont, und am Ende hat der kleine Kerl uns alle gerettet.“ Behutsam hob er Biene von seinem Bein und bettete ihren Kopf stattdessen auf seinen Arm, indem er sich neben sie legte. „Mit Chas“, sagte er mit träger werdender Stimme, „hat er noch viel vor, da bin ich sicher.“ Keine Minute später war er an Bienes Seite eingeschlafen.
Mira saß an Chas’ Seite, die Gedanken zäh wie Honig und die Lider schwer. Obwohl sie geschlafen hatte, forderten die Anstrengung und Anspannung der vergangenen Stunden ihren Tribut. Aber während Urs und Biene schliefen, zwang Mira sich, wach zu bleiben. Was, wenn es Chas wieder schlechter ging? Jemand musste ein Auge auf ihn haben und notfalls die anderen wecken. Hilfe holen. Irgendetwas.
Ihr Blick tastete über Chas’ Gesicht, die blutigen Lippen, die entspannten Züge, die geschlossenen Augen. Seine Lider zuckten. Etwas in Mira zog sich schmerzhaft zusammen. Hatte er wieder einen Albtraum?
Sie streckte die Hand nach ihm aus, zog sie aber hastig zurück, als er die Augen aufschlug, sie endlich, nach so vielen Stunden des Bangens um sein Leben, wieder öffnete.
Sein Blick war noch immer ein wenig glasig, das satte Gold seiner Augen konnte über die tiefen Schatten darunter nicht hinwegtäuschen. Nicht dass Mira das mehr als zur Kenntnis nehmen konnte; durch den Tränenschleier verschwamm Chas’ Gesicht vor ihren Augen.
„Was … ist passiert?“, nuschelte er, versuchte sich aufzurichten, ließ es dann aber doch bleiben.
Mira legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er sollte seine eben erst wiedergewonnenen Kräfte nicht überstrapazieren. „Deine Wunde hat sich entzündet. Du warst … du warst völlig weggetreten.“ Allein die Erinnerung jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper.
„Wie bin ich …“ Chas kniff die Augen zusammen, als versuche er angestrengt, sich zu erinnern, was er hatte sagen wollen. „Wie bin ich hierhergekommen?“
Mira sog zittrig die Luft ein. Wie viel sollte sie Chas erzählen? Selbst für sie, die es erlebt hatte, waren die letzten vierundzwanzig Stunden schwer in Worte zu fassen, und sie wollte nicht, dass Chas sich im Nachhinein noch sorgte. Was alles hätte schiefgehen können! Sie hatte Kopf und Kragen riskiert.
„Ich hab dich hier versteckt und bin in ein … nach Cem gegangen, um Medikamente zu besorgen“, fasste sie zusammen. „Unterwegs hab ich Urs und Biene getroffen, und sie haben mir geholfen … dabei, die Medikamente zu dir zu bringen. Urs wusste, was dir helfen könnte, und … na ja, es scheint gewirkt zu haben.“
Chas atmete geräuschvoll ein und aus. Mira hoffte, dass er keine Fragen stellen würde. In dieser Version klang ihr lebensgefährliches Abenteuer ganz harmlos, und dabei wollte sie es fürs Erste belassen.
„Noch ein Mensch, dem ich mein Leben verdanke“, seufzte Chas jedoch, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, welch gewaltige Löcher Miras Bericht aufwies.
„Ja, Urs war großartig. Er wusste genau …“
„Ich meine dich.“
Mira begegnete kurz seinem Blick, und das Gold von Chas’ Augen schien sie aus ihrem tiefsten Inneren heraus zu wärmen. „Kann ich … möchtest du etwas trinken? Ich meine … ich kann dir helfen …“ Sie verstummte. Halb wappnete sie sich für Chas’ übliche Reaktion auf Fürsorge oder Mitleid. Doch er nickte. „Ja, bitte.“
Fast gegen ihren Willen stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.
„Was?“
„Du hast ,bitte‘ gesagt.“ Mira griff nach der Wasserflasche. „Du hast noch nie ,bitte‘ gesagt, soweit ich mich erinnere.“
Ein kleines Schnauben drang über Chas’ Lippen. „Ab und an kommt eben auch meine königliche Erziehung durch.“
Sie warfen beide einen Blick zu Urs und Biene, die sich nach wie vor in Hörweite befanden. Sie hatten keine Ahnung, wer Chas wirklich war. Doch beide schliefen tief und fest.
„Wie war es?“, fragte Mira gedämpft, während sie die Flasche aufschraubte. „Ich meine … jetzt bist du Chas. Aber wie war es, Carl Auttenberg zu sein, Nicholas Auttenbergs Sohn?“
Chas wandte das Gesicht von ihr ab. „Kompliziert“, sagte er leise. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber er war ein guter Vater. Bevor er König wurde. Er hat mir viel beigebracht. Schnitzen und Lesen und Schach.“ Er schluckte. „An dem Tag, an dem ihr mit seiner Krönung eure Freiheit verloren habt, habe ich meinen Vater verloren.“
Mira wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Die vielen Worte und das unangenehme Thema schienen Chas Kraft zu kosten. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und er holte einige Male tief Luft, ehe er fortfuhr: „Dann wollte er mir nur noch eines beibringen: ein Thronfolger zu sein. Wie er zu werden. Wie habe ich ihn dafür gehasst.“ Abermals sog er Luft in seine Lungen und griff dabei unwillkürlich nach seinem verletzten Arm.
„Hier.“ Mira hätte ihn so gerne reden lassen. Sie wusste so wenig über Chas und wollte noch so viel erfahren. Trotzdem half sie ihm, die Wasserflasche an die Lippen zu setzen. Sein Griff war schwach. Zu schwach, als dass er die Glasflasche selbst hätte halten können. Mira ließ nicht los, und dankenswerterweise nahm Chas es wortlos hin, nickte ihr sogar zum Dank zu, ehe er den Kopf erschöpft zurücksinken ließ.
„Tut mir leid“, murmelte er mit geschlossenen Augen.
„Was tut dir leid?“
„Dass ich dich aufhalte. Deinen Freund erwartet der Prozess, und du sitzt meinetwegen hier fest.“
Mira wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war und dass Filip außerdem nicht ihr Freund war. Nicht wirklich. Sie hatten so getan, ja, um ihren Vater hinters Licht zu führen – dafür schämte sie sich nun, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Vor allem, weil ihr darüber entgangen war, wie Filip immer weniger so getan und immer mehr wirklich etwas für sie empfunden hatte.
Doch sie brachte nichts von alledem über die Lippen. Der Kloß in ihrem Hals ließ es nicht zu. Denn die Wahrheit war, dass sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden kaum einen Gedanken für Filip übriggehabt hatte. Die Angst um Chas war einfach übermächtig gewesen. Jetzt konnte sie es selbst nicht mehr begreifen. Filip saß ihretwegen in einem Verlies in der Hauptstadt. Wer wusste, wie sie ihn dort behandelten, welche Todesängste er ausstehen musste?
„Sobald es dir besser geht, machen wir uns wieder auf den Weg.“ Mira war sich nicht sicher, ob sie damit Chas oder sich selbst das schlechte Gewissen ausreden wollte. „Du kannst mit zur königlichen Residenz kommen und mir helfen. Dann sind wir quitt.“
Es war als Scherz gemeint, aber Chas verzog wie im Schmerz das Gesicht. „Als hätte ich eine andere Wahl, nachdem Filip mich mit dir hat entkommen lassen.“
„Deshalb musst du nicht …“, setzte Mira an, aber Chas fiel ihr ins Wort: „Ich kann es nicht erwarten, diesem Land endlich den Rücken zuzukehren. Aber ich bleibe niemandem etwas schuldig.“ Er schloss die Augen und atmete tief ein. „Egal, was es kostet.“
Eine Weile saß Mira einfach nur da und sah den anderen beim Schlafen zu. Mehrmals nahm sie sich vor, aufzustehen und sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Ihr Blick verweilte auf Chas, dessen Züge nun ganz friedlich waren. Ein Teil von ihr hätte ihn gerne aufgeweckt, um das hässliche Gefühl der Angst zu verjagen, das nun, da er die Augen wieder geschlossen hatte, zurückkehrte. Das Gefühl, nur eine Haaresbreite von einem neuerlichen Verlust entfernt zu sein.
„Wir hätten uns denken können, dass ihr zusammen unterwegs seid.“
Mira zuckte zusammen, als Biene so unerwartet das Wort an sie richtete. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war und sich an Urs’ Seite lautlos aufgerichtet hatte.
„Was meinst du damit?“
Biene griff nach der Glasflasche, löste den Schraubverschluss und trank in langen Zügen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lippen, ehe sie endlich antwortete: „Du und Chas. Es überrascht mich nicht, dass ihr doch nicht getrennte Wege gegangen seid.“
„Chas ging es nicht gut.“ Mira wusste selbst nicht, warum sie das Bedürfnis hatte, sich zu rechtfertigen. „Ich konnte ihn wohl kaum alleine lassen.“
Biene sagte nichts. Mira nahm ihr die Wasserflasche aus der Hand und trank ebenfalls. Aber auch nach mehreren Schlucken fühlte ihre Kehle sich noch rau und eng an. Wie sollte sie Biene erklären, was Chas und sie verband, wenn sie es doch selbst nicht so recht wusste?
„Wir stehen beide in Filips Schuld“, erklärte sie schließlich, die Trockenheit in ihrem Hals ignorierend. Was wollte sie Biene eigentlich beweisen? Dass sie einen guten Grund hatte, Filip retten zu wollen? Oder doch eher einen guten Grund dafür, dieses Unterfangen gemeinsam mit Chas anzugehen? Eigentlich musste sie keines von beidem entschuldigen.
„Ist Filip eigentlich dein …“
„… Freund?“, vollendete Mira Bienes Satz, als sie deren Zögern bemerkte. Sie fuhr mit den Fingern den gläsernen Flaschenhals auf und ab. War Filip denn ihr Freund? „Er ist für mich immer wie ein Bruder gewesen. Immerhin war er der meiner besten Freundin.“ Sie schluckte. Vera war nicht mehr ihre beste Freundin, nicht nachdem sie die Fischerkinder und mit ihnen Mira so feige verraten hatte. Trotzdem war das, was sie mit Filip verband, noch da. Als wäre eine Zuneigung, die nichts mehr mit Vera zu tun hatte, zwischen ihnen gewachsen. Aber wie sollte sie das in Worte fassen?
„Eigentlich war es die Idee meines Vaters“, versuchte sie es zaghaft. „Filip und ich wollten nie miteinander ausgehen. Aber ich brauchte ein Alibi für die Treffen der Fischerkinder, und Filip … mein Vater war sein Vorgesetzter. Filip hätte alles getan, um es ihm recht zu machen. Also haben wir so getan, als wären wir ein Paar. Ich … ich habe nur nicht bemerkt, dass Filip irgendwann aufgehört hat, nur so zu tun.“ Und dann hatte Filip ihr und Chas auch noch das Leben gerettet und teuer dafür bezahlt. Er war gefangen genommen und des Hochverrats angeklagt worden. Ihretwegen. War es da nicht das Mindeste, ihm im Gegenzug auch zu helfen?
Mira sah zu Biene hinüber, die nachdenklich den Kopf hin und her wiegte. „Das klingt ziemlich kompliziert.“
„Ist es auch.“
„Und Chas?“
Mira brach hastig den Blickkontakt mit Biene ab, und ihre Augen huschten für einen Sekundenbruchteil zu Chas, der immer noch schlief. Ihm schuldete sie im Gegensatz zu Filip nichts. Sie verband auch keine langjährige Geschichte der Freundschaft und Vertrautheit. Überhaupt war sie nicht sicher, ob Chas jemals das Bedürfnis nach einem Freund oder Vertrauten verspürte. Sein Geheimnis hatte er ihr nicht etwa anvertraut. Nein, das war Ben gewesen, dem es vor Wut herausgerutscht war. Aber dass sie und Chas immer noch zusammen unterwegs waren, sprach doch für sich. Wenn es schon nicht bedeutete, dass sie Vertraute waren, so zeigte es zumindest, dass sie für einen Abschied noch nicht bereit waren.
„Ich mag ihn“, flüsterte Mira. „Ich mochte ihn von Anfang an. Und er …“ Sie dachte an den Kuss, wollte aber nicht, dass Biene davon erfuhr. Sie wusste ja selbst nicht, was dieser Kuss bedeutet hatte. Es war im Affekt geschehen, an dem Tag, an dem Chas Klein-Ararat hatte verlassen wollen. „Aus Chas wird man ja nicht schlau“, meinte sie vage. „Er spricht nicht über solche Dinge.“ Außer natürlich im Fieberwahn, aber auch davon konnte sie Biene nicht erzählen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Chas selbst sich noch daran erinnerte. Falls ja, so war sie überzeugt, dass es ihm so unangenehm war, dass er niemals auch nur ein einziges Wort darüber verlieren würde. Vielleicht hoffte er sogar, dass seine überschwänglichen Geständnisse nur Teil seines Fiebertraums gewesen waren.
„Was ist mit den anderen?“, fragte Mira, um ihre eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen. „Was ist aus ihnen geworden?“
Biene sah sie eine Weile nur an. Dann begann sie, mit einer Hand über Urs’ kurzes, borstiges Haar zu streicheln und zu erzählen: „Sie sind alle untergetaucht, nehme ich an. Als wir am nächsten Morgen noch einmal zum Buchladen kamen …“ Ihre Stimme kratzte und setzte kurz aus. „… da war niemand mehr da.“
Das Bild zugezogener Vorhänge schob sich ungebeten vor Miras Augen. Edmund Porter, der freundliche Buchladenbesitzer, wäre nicht der erste Mensch, der von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr da war. Der einfach so verschwand. Das passierte mit Menschen, die sich dem Staat widersetzten. Und darin war Edmund Porter ein Meister gewesen. Er hatte den flüchtigen Sohn des Königs versteckt, verbotene Literatur gelesen und unter die Leute gebracht, auf dem Schwarzmarkt gehandelt und eine sogenannte konspirative – und damit illegale – Kleinstgruppe unterhalten.
„Sie haben ihn nicht erwischt“, sagte Biene leise.
„Wie kannst du da so sicher sein?“
„Die Bücher.“ Bienes Mundwinkel zuckten. „Wir haben den Laden nach etwas Essbarem durchsucht, ehe wir die Stadt verlassen haben. Edmunds Lieblingsbücher fehlten.“
Etwas Warmes flutete durch Miras Eingeweide. Zuerst hielt sie es für bloße Erleichterung, aber dann wurde ihr klar, dass es Zuneigung war. Abgesehen von Chas, war Edmund Porter der einzige Mensch, den sie kannte, der Bücher ebenso sehr liebte, wie sie es tat. Sie waren seine Schätze. Es überraschte sie kein bisschen, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, sie allesamt zurückzulassen.
„Nathaniel und Theodore sind zurück in das staatliche Erziehungsheim gegangen.“ Biene schluckte. „Dort sind sie versorgt und … im Gegensatz zu den Vergessenen haben sie eine Zukunft. Eine mit Bändchen. Mit Identität.“
Unwillkürlich griff Mira nach dem Stück Plastik an ihrem Handgelenk. Bedeutete es so viel? Sie trug es nun schon so lange und hatte es als selbstverständlich hingenommen, dass es ihr Zugang und Güter verschaffte, wenn sie es brauchte. Ihr Blick fiel auf Chas’ leeren Arm. Sie hatte stehlen müssen, um ihn am Leben zu halten. Einfach nur deshalb, weil er kein Band hatte, das ihn befugte, in ein Staatsgesundheitszentrum zu gehen. Keine Berechtigung, etwas zu kaufen, zur Schule zu gehen, einen Beruf auszuüben oder auch nur zu existieren.
Plötzlich war sie ihren Eltern unendlich dankbar. Sie hatten Mira diese Rechte nicht genommen. Sie hatten sie nicht gemeldet. Das Plastikband an ihrem Handgelenk war nicht nutzlos. Sie war immer noch eine Bürgerin dieses Staates.
„Und Happy?“, fragte Mira.
„Sie und die Mädchen haben sich von Urs den Weg nach Torvald erklären lassen. Stella glaubt, dort Verwandte zu haben, bei denen sie bleiben können.“
„Stella glaubt?“
Biene biss sich auf die Unterlippe. „Genau genommen hat Stella überhaupt keine Verwandten. Jedenfalls nicht laut Definition des Staates.“
„Du meinst, weil sie eine Vergessene ist?“ Mira umklammerte ihr Bändchen fester. „Weil sie keine Identität mehr hat? Deshalb hat sie doch trotzdem …“
„Weil sie nie eine hatte“, unterbrach sie Biene. „Stella ist keine Vergessene. Um vergessen zu werden, musst du zuerst einmal erfasst gewesen sein. Aber das war sie nie. Sie wurde nicht einmal in einer staatlichen Einrichtung geboren, geschweige denn registriert. Eigentlich dürfte es sie gar nicht geben.“
Mira betrachtete ihre Hände, die immer noch die Glasflasche hielten. „Also haben ihre Eltern die Schwangerschaft gar nicht gemeldet? Sie waren nicht bei den Untersuchungen? Ich meine … ist das nicht unverantwortlich? Stella hätte krank sein können! Ihre Eltern wussten doch gar nicht …“
„Darum geht es denen doch gar nicht.“ Bienes Miene war steinern geworden. „Sie wollen nur die Kontrolle über die Einwohnerzahlen behalten. Und sicherstellen, dass sie Einfluss auf die ersten Lebensjahre der Kinder nehmen können. Hast du nicht gehört? Sie wollen die Kinder jetzt erst mit sechs Jahren bei ihren Familien leben lassen. Bis dahin sollen sie in den staatlichen Einrichtungen bleiben. Mit Besuchsrecht natürlich, wegen der Bindung zu den Eltern.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ihre ach so guten Absichten rechtfertigen es, dass sie die Familien zerstören.“
Mira hatte Biene noch nie so bitter erlebt. „Was ist eigentlich … was ist aus deinem Vater geworden?“, fragte sie, sich jäh erinnernd, dass auch Bienes Familie Opfer der Kontrollausübung des Staates geworden war.
„Sie haben ihn gehen lassen. Aber er hat keine Arbeitserlaubnis mehr und kann unsere Familie nicht ernähren. Ich habe drei kleine Geschwister.“ Sie starrte an Mira vorbei in den wolkenlosen Himmel. „Sie bräuchten mich zu Hause. Jede helfende Hand bräuchten sie. Aber wenn ich geblieben wäre, hätte ich sie alle in Gefahr gebracht. Wenn herauskommt, dass ich Teil der gesuchten Gruppe war …“ Sie verstummte.
Zuerst glaubte Mira, dass die Tränen ihr die Stimme abgeschnürt und ihr das Sprechen unmöglich gemacht hatten. Doch dann sah sie, wie Panik über Bienes Gesicht flackerte.
Mira wandte den Kopf, um Bienes Blick zu folgen, doch sie hörte es, noch bevor sie irgendetwas sah. Ein Auto. Keines der antriebslosen Wracks auf dem Schrottplatz um sie herum, sondern eines mit einem funktionstüchtigen Elektromotor.
Mira konnte die wenigen Male, die sie dieses Geräusch bisher gehört hatte, an einer Hand abzählen. In Leonardsburg gab es keine Fahrzeuge. Die Stadt war klein genug, um alles zu Fuß zu erreichen. Nur selten kamen Staatsbeamte von außerhalb.
Aber das leise Knirschen von Reifen auf rauem Untergrund hätte sie überall wiedererkannt. Als kleines Mädchen hatte sie aufgeregt darauf gelauscht. Das hatten alle Kinder. Sie waren auf die Straße gelaufen, um einen Blick auf das wundersame Gefährt zu werfen, wenn einmal eines in der Stadt gewesen war, und hatten es mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Faszination beobachtet.
Auch jetzt schlug Miras Herz ihr augenblicklich bis zum Hals. Nicht vor Aufregung, sondern vor Entsetzen. Ein Auto konnte nur eines bedeuten: Jemand war ihnen auf der Spur.