Читать книгу Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer - Страница 7
Kapitel 1 Schlaflose Nächte
ОглавлениеMira schlug das Herz bis zum Hals, als sie die gläserne Tür aufstieß und in die Kühle des Ladens trat. An den Wänden stapelten sich Konserven, vor ihr erstreckte sich eine ganze Insel mit welk aussehendem Gemüse. Es war schwer zu sagen, wie weit der Raum nach hinten reichte. Vom grellen Sonnenlicht draußen war Mira geblendet. Ihre Augen hatten sich noch nicht an das orangestichige Flackern aus den Röhren an der Decke des Ladens gewöhnt. Doch wenn sie an das kleine Geschäft in Leonardsburg dachte, in dem sie und ihre Familie für gewöhnlich die wertvollen Rationskarten gegen Lebensmittel eingetauscht hatten, dann wurde ihr von der Größe dieses fremden Ladens regelrecht schwindlig.
Cem, benannt nach ihrem allerersten Präsidenten − lange vor Beginn der Monarchie − gehörte zu den größten Städten des Landes. Mira hatte im Staatsgeografieunterricht alles über Einwohnerzahlen, Bevölkerungsdichte und Infrastruktur gelernt, aber die Stadt mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes. Sie war nur wenige Kilometer von Leonardsburg entfernt, und doch war Mira nie hier gewesen. Im Vergleich zu Cem erschien ihr Heimatort ihr plötzlich wie ein Dorf. Felder und Armenviertel waren um ein Vielfaches größer als die beschaubare Innenstadt von Leonardsburg, in deren Sicherheit Mira aufgewachsen war – ehe sie eine verbotene Schrift gestohlen, ein Fischerkind und damit Teil einer illegalen Kleinstgruppe geworden und durch den Verrat ihrer besten Freundin zur Flucht gezwungen worden war.
Ein hysterisches Lachen bahnte sich den Weg durch Miras Kehle hinauf. Nur mit Mühe konnte sie es hinunterschlucken. So betrachtet sollte der Kauf von ein wenig Wasser, Brot und Verbandsmaterial keine große Sache für sie sein. Das Problem war das kleine Plastikbändchen an ihrem Arm. Ihr Ausweis, den sie an der Kasse würde scannen müssen. Ihr Ausweis, der möglicherweise einen Alarm auslösen würde, weil sie eine flüchtige Siebzehnjährige war, die in Verdacht stand, mit einer konspirativen Kleinstgruppe unter einer Decke zu stecken. Gleich nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, musste diese Information binnen Sekunden landesweit über die staatlichen Computer verbreitet worden sein. Das Einlesen ihrer neunstelligen ID würde sie verraten, und sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr dann blieb, um − egal ob mit oder ohne die bezahlten Güter − zu fliehen. Vielleicht gar keine.
Um ihren zum Zerreißen angespannten Nerven eine Chance zu geben, sich zu beruhigen, trat sie an ein Regal und gab vor, dessen Inhalt mit Interesse zu studieren. Sie hoffte, dass sie wie eine ganz normale spätnachmittägliche Kundin aussah, die nach Dienst- oder Schulschluss den Wocheneinkauf für die Familie erledigte.
Und wenn sie sich weigerte, ihr ID-Band zu scannen? Oder wenn sie nur so tat, als ob? Natürlich entsprangen diese Überlegungen nur ihrer Angst. Mira wusste genau, dass sie mit einem solch billigen Trick nicht davonkäme. Es war unvermeidlich, das Armband zu scannen, und eigentlich − so viel stand fest − sollte sie deshalb schlichtweg nicht hier sein. Es wäre besser, sich von Regenwasser und Feldfrüchten zu ernähren, ja, wahrscheinlich sogar besser, zu verhungern, als aufgegriffen zu werden.
Seit Tagen diskutierte sie mit Chas über diesen Punkt. Er war völlig aus dem Häuschen gewesen − sofern man bei einem so beherrschten Menschen von solch einer starken Gefühlsregung überhaupt sprechen konnte −, dass Mira noch das Armband trug, das sie als legale, existierende und vor allem handelsfähige Bürgerin auswies.
„Das wird uns nur nichts bringen“, hatte Mira geseufzt, als er sie darauf hingewiesen hatte. „Es ist nämlich auch eine tickende Zeitbombe. Besser, ich werde es gleich los.“ Augenblicklich hatte sie Anstalten gemacht, sich das Plastikband vom Handgelenk zu reißen, doch Chas hatte entsetzt ihren Arm ergriffen.
„Wir werden es noch brauchen“, hatte er heftig widersprochen. „Du kannst Lebensmittel damit kaufen. Und Wasser. Vielleicht rettet es uns das Leben.“
„Vielleicht liefert es mich aber auch ans Messer.“ Mira hatte ihm ihren Arm entzogen. „Meine Eltern hatten genug Zeit, mich als vermisst zu melden. Da werde ich mit diesem Ding gerade noch in einen Laden spazieren und es unter einen dieser Scanner halten.“
Chas hatte dazu reichlich wenig gesagt, aber Mira hatte das Bändchen dennoch nicht weggeworfen. Nicht weil sie vorgehabt hatte, es jemals wieder zu benutzen − sie war ja nicht lebensmüde −, sondern um Chas nicht unnötig aufzuregen. Die Brandwunde, die er sich bei ihrer Flucht zugezogen hatte, setzte ihm schon genug zu.
Diese Verletzung war der Grund, warum Mira nach langem Hin und Her in einem Lebensmittelgeschäft in Cem stand und Konserven studierte. Zu hungern, am Morgen nicht zu wissen, was sie im Verlauf des Tages essen sollten − damit konnte sie für eine Weile leben. Aber Chas war verletzt. Ein solches Landstreicherleben war nichts für jemanden mit einer entzündeten, kräftezehrenden Wunde.
Mira starrte auf ihre eigenen zitternden Hände, während sie zwei Flaschen mit Wasser und einen Laib in Papier gewickeltes Brot auf den Tresen legte.
Der Mann an der Kasse sah von seinen Unterlagen auf, über denen er brütete, seitdem Mira den Laden betreten hatte. Er war ausgesprochen ordentlich gekleidet. Neben seinem Hemd hatte Miras Bluse einen deutlichen Gelbstich, und sie hoffte, dass ihm die Risse an ihren Ellbogen nicht auffielen. Ihr braunes Haar war vielleicht ordentlich geschnitten; immerhin hatte sie bis vor Kurzem in der wohlorganisierten Innenstadt von Leonardsburg gelebt und zumindest augenscheinlich ein rechtschaffenes Leben geführt. Aber sicher sah man deutlich, dass es schon seit Tagen nicht mehr gewaschen worden war. Sie spürte, wie es ihr strähnig in die Stirn hing, und widerstand nur mühsam dem Drang, es zurückzustreichen.
„Ist das alles, was Sie brauchen?“ Mira hatte den Eindruck, den Ladeninhaber mit ihrem Einkauf eher zu belästigen. Vielleicht machte man in einer Stadt wie Cem keine solch bescheidenen Besorgungen. Mira hätte beileibe mehr gebraucht. Gemüse oder Obst, das Chas half, wieder zu Kräften zu kommen, einen Rucksack, um ihre wenigen Habseligkeiten zu verstauen, desinfizierende Salbe. Aber sie hatte nur eine einzige Rationskarte übrig.
„Fast alles.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Haben Sie Verbandsmaterial?“
Der Mann ließ den Stift sinken und seufzte. „Pflaster oder Verbände?“, fragte er und erhob sich.
„Verbände.“ Mira nestelte, nun, da sie ihre Einkäufe abgelegt hatte, an ihrem Ausweisband herum.
„Scan es doch schon einmal“, wies der Verkäufer sie an, während er sich an einem Schrank hinter dem Tresen zu schaffen machte.
Mira zögerte. Ihr Plan war es gewesen, nach dem Scannen ihres Armbands so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Aber nicht ohne das Verbandsmaterial, das Chas so dringend benötigte. Wenn sie zur Flucht gezwungen war, ehe sie die Verbände hatte, wäre alles umsonst gewesen.
Der Mann hinter dem Tresen öffnete einige Kartons im Inneren des Schrankes. Mira zog die Rationskarte aus ihrer Tasche, strich sie sorgfältig glatt und legte sie neben ihre Einkäufe.
Aber dann hatte sie keine Ausrede mehr. Umständlich schob sie ihren Ärmel zurück und streckte das Handgelenk unter das blaue Licht des Scanners. Ein Klicken ertönte, und Mira fuhr zusammen. Sekundenlang herrschte Stille. Erst als der Mann eine knisternde Packung Verbände auf den Tresen fallen ließ, wurde Mira bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Wie versteinert starrte sie auf den silbernen Scanner. Kein Alarm erschallte. Gar nichts geschah.
„Na dann“, sagte der Mann und lehnte sich wieder über seine Unterlagen. „Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“ Der Scanner verschwamm vor Miras Augen, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hastig raffte sie ihre Einkäufe zusammen, presste sie an den Körper und rannte Hals über Kopf aus dem Laden.
Ihre Eltern hatten sie nicht gemeldet. Mira rannte den ganzen Weg zu dem Versteck, in dem sie Chas zurückgelassen hatte, und konnte an nichts anderes denken. Der neunstellige Code auf ihrem Armband war ein Fingerabdruck ihrer Identität. Alles, von ihrem Bürgerstatus über ihre Noten im Staatsunterricht bis hin zu jedem noch so kleinen Einkauf, den sie je getätigt hatte, war damit einsehbar. Vorstrafen, eingeschränkte Rechte, verdächtige Verhaltensweisen − alles wurde gespeichert. Ihr Code hätte einen Alarm auslösen oder zumindest eine Warnung an den Ladenbesitzer abgeben müssen, dass sie auf der Flucht war und aufgehalten werden musste.
Und die einzige Erklärung, warum das nicht passiert war, war die, dass ihre Eltern sie nie als vermisst gemeldet hatten. Dass sie immer noch so taten, als befände sich ihre Tochter mit einer ansteckenden Krankheit in ihrem Zimmer und habe das Haus nie verlassen.
Aber warum? Ihre Mutter hatte ihr geholfen, zu fliehen. Sie hatte Mira sicher wissen wollen. Aber ihr Vater, der nichts so sehr liebte wie den Staat und seine Gesetze … war auch er zum Lügner geworden, um sie zu decken?
„Was ist passiert?“ Chas richtete sich auf, als Mira nach Luft ringend ihr Lager erreichte und fast über ihn stolperte. Sie konnte nicht antworten. Ihre Kehle war zu eng und die Atemluft zu knapp.
Sie ließ sich neben Chas auf den Boden sinken und presste beide Hände an ihren stechenden Brustkorb.
„Haben sie dich verfolgt?“ Chas schloss die Finger seiner unverletzten Hand um ihre Schulter und zog Mira tiefer hinter die grüngelb wuchernden Wände ihres Verstecks. Er hatte von Anfang an darauf bestanden, dass sie ihr Lager verborgen hinter den langen Halmen eines Gerstenfeldes aufschlügen. Sorgfältig hatte Mira gerade so viel Fläche des wertvollen Getreides flach gedrückt, wie sie unbedingt brauchten.
Chas machte Anstalten, aufzustehen, aber Mira schüttelte den Kopf. „Meine Eltern“, krächzte sie, als sie wieder halbwegs Luft bekam. „Sie haben mich nicht gemeldet.“ Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. „Oh Gott, sie riskieren Kopf und Kragen für mich.“
Sie spürte, wie Chas’ Griff um ihre Schulter sich löste. Stattdessen wanderte seine Hand an ihre Wange und umschloss warm ihr Gesicht. Nur Chas konnte so viel Trost in eine so simple Berührung legen. „Weil sie dich lieben“, sagte er leise. „Du würdest das Gleiche für sie tun. Und für die anderen. Oder mich.“
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Miras Lippen. „Für dich habe ich schon Kopf und Kragen riskiert.“ Sie schniefte und schob den Gedanken an ihre Eltern mühsam beiseite. „Ich hab frische Verbände. Wie … wie geht es deinem Arm?“
„Fabelhaft“, erwiderte Chas und zog schnell die Hand von ihrer Wange zurück, um die Wunde an seinem Arm zu verbergen. Mira kannte Chas mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie die falsche Frage gestellt und den Moment zerstört hatte. Aber sie musste sich um Chas’ Wunde kümmern, ob es ihm gefiel oder nicht.
„Lass mich sehen.“ Ohne auf sein Einverständnis zu warten, griff sie nach seinem Arm und schälte vorsichtig den alten Verband von der verbrannten Haut. Chas protestierte nicht. Er starrte mit zusammengebissenen Zähnen an ihr vorbei und vermied es, seinen Arm auch nur mit einem einzigen Blick zu streifen.
Mira selbst zwang sich, hinzusehen. Sie kannte sich mit Brandwunden nicht aus. Überhaupt hatte sie keine Erfahrung mit Verletzungen jedweder Art. Das Schlimmste, was sie sich je zugezogen hatte, war ein aufgeschürftes Knie gewesen. Vielleicht ließ der Anblick von Chas’ Arm deshalb Übelkeit in ihr aufsteigen. Hätte die Wunde nach so vielen Tagen nicht längst besser aussehen müssen? Müsste sie nicht anfangen zu heilen, neue Haut zu bilden?
„Und?“, knurrte Chas.
Mira schluckte. „Wird schon.“ Sie versuchte, nicht zu atmen, während sie den frischen, weißen Verband um Chas’ Arm wickelte. Im Kontrast sah sie erst, wie schmutzig der alte gewesen war. Eigentlich hätte sie die Wunde desinfizieren müssen, schmerzlindernde Salbe auftragen, kühlen … irgendetwas. Aber sie war schon dankbar, dass sie diesen neuen, sauberen Verband hatten.
„Tut es sehr weh?“, fragte sie, während sie das Ende in zwei Streifen riss und diese fest verknotete.
Chas winselte wegen des plötzlichen Drucks auf seiner Wunde. „Nette Freunde hast du da in Leonardsburg“, knurrte er, während er gereizt blinzelte, weil seine Augen vor Schmerz zu tränen begonnen hatten. „Sehr nette Freunde, die mit diesen Dingern auf Menschen schießen.“
„Das sind nicht meine Freunde.“ Mira biss sich auf die Unterlippe. Jetzt hatte sie sich von Chas provozieren lassen, obwohl sie genau wusste, dass seine Forschheit nichts mit ihr zu tun hatte. Er hatte Schmerzen, und es frustrierte ihn, so eingeschränkt und abhängig zu sein. Und Wut war nun einmal die beste Maske, um solche Gefühle zu verbergen. Schon seit Tagen versteckte er sich dahinter.
„Abgesehen von Filip kenne ich keinen der Wachmänner. Und Filip hat uns beiden das Leben gerettet, falls du dich noch daran erinnerst.“
„Ja, ist er nicht großartig?“, erwiderte Chas, entzog ihr seinen frisch verbundenen Arm und legte sich rittlings auf die niedergedrückten Ähren. Mira wartete noch eine Weile, verletzt von seinen Worten. Dann tat sie es Chas gleich und starrte in den Himmel, der über ihnen immer dunkler wurde.
Chas war manchmal nicht der umgänglichste Reisegefährte und auch nicht die beste Begleitung für den Fall, dass sie aufgegriffen wurden; immerhin war er der flüchtige Sohn des Königs und damit eine Mischung aus Kronprinz und Hochverräter. Aber er war auch der einzige Vertraute, den Mira noch hatte. Sie hatte ihre Familie zurückgelassen, und die Fischerkinder waren gezwungen, getrennte Wege zu gehen. Wenn sie an das Ziel ihrer Reise dachte − das Gefängnis der Hauptstadt Vacabunite, in dem Filip ihretwegen auf seinen Prozess wegen Landesverrats wartete −, war sie dankbar, dass Chas bei ihr war. Seine Wunde mochte sie aufhalten, und seine Launen waren unberechenbar, aber ohne ihn hätte sie niemals den Mut gehabt, ihren Weg fortzusetzen.
Ihre erste richtige Mahlzeit seit Tagen nahmen sie in eisigem Schweigen ein, und als schließlich die Nacht über ihnen hereinbrach, legte Chas sich so weit von ihr entfernt schlafen wie in ihrem kleinen Lager irgend möglich. Es war kein geeigneter Ort für einen Verletzten. Aber Mira hütete sich, irgendetwas dergleichen zu sagen und Chas noch mehr zu verstimmen. Stattdessen rückte sie bis ans jenseitige Ende ihres Lagerplatzes und legte sich mit dem Rücken zu Chas auf den harten Grund.
Sie war noch nicht eingeschlafen, als sie eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Zuerst hörte sie nur das Rascheln, und ihre Glieder versteiften sich, bereit, aufzuspringen. Doch dann spürte sie die Berührung an ihrem Rücken: Chas legte sich wortlos hinter sie und bettete den verletzten Arm auf ihre Schulter.
Mira regte sich nicht. Sie versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich weiterzuatmen, um Chas nicht wieder zu verscheuchen. Sie wusste nicht, ob er lediglich ihre Nähe suchte oder ob diese Geste vielleicht eine wortlose Entschuldigung für sein grobes Verhalten war. Jedenfalls war es typisch für Chas, nicht viele Worte zu verlieren. Er kam einfach zu ihr. Mira würde keine Fragen stellen. Mit Chas’ Arm auf ihrer Schulter und seiner Wärme im Rücken schlief sie ein.
Klein-Ararat brannte. Der Berg, der den Fischerkindern so lange als sicheres Versteck gedient hatte, das Hüttendorf in seinem Inneren, das hohe Gras, die Bäume − alles stand in Flammen. Das Feuer verschlang den Ort, an dem die geheime, vom Staat gesuchte Gruppe Schutz gefunden und sich getroffen hatte, wo sie Edmunds Geschichten aus der verbotenen Schrift gelauscht, miteinander gesungen und gebetet hatten.
Mira kniff die Augen zusammen, um trotz der sengenden Hitze und Helligkeit etwas sehen zu können. Wo waren die anderen? Wo war Chas, wo der kleine Ari? Hörte sie nicht Skive in der Ferne bellen? Vielleicht waren er und Happy in einer der brennenden Hütten eingeschlossen.
Mira rannte den Trampelpfad in Richtung Hüttendorf hinab. Zu beiden Seiten knackte die Glut im Unterholz. Die Hitze nahm zu. Sie stach auf Miras Haut, brannte in ihrem Gesicht und trieb ihr den Schweiß aus den Poren.
„Edmund!“
Mira riss den Kopf herum. Sie hätte Chas’ tiefe Stimme überall wiedererkannt − auch wenn sie sie noch nie in solcher Panik gehört hatte.
„Edmund!“
Mira stolperte über einen auf den Weg gefallenen Ast. Der Aufschlag auf dem Boden presste die Luft aus ihren Lungen. Die Hitze nahm schlagartig ab. Kalte Luft schlug ihr ins Gesicht, nur etwas Warmes, Unnachgiebiges umfing sie.
Mira riss die Augen auf. Das Hüttendorf war verschwunden und mit ihm das Feuer, der Brandgeruch. Die Feuersbrunst Klein-Ararats machte einer kühlen Nacht in einem Gerstenfeld nahe Cem Platz. Nur die Hitze war noch da. Sie ging von Chas hinter ihr aus, der die Arme schraubstockartig um sie geschlungen hatte.
„Edmund!“ Er drückte sie noch ein wenig fester.
Mira fiel das Atmen in seiner Umklammerung schwer. „Chas“, flüsterte sie. „Chas!“ Nur mühsam konnte sie sich aus seinem Griff befreien. Sie packte seine Arme und schüttelte ihn. „Wach auf, Chas. Es ist nur ein Traum.“
Aber Chas wand sich nur, als stecke auch er in dem Albtraum des brennenden Berges fest, wo er um den Menschen fürchten musste, der ihm von allen am wichtigsten war: Edmund Porter, Anführer der Fischerkinder und für Chas beinahe so etwas wie ein Vater.
Mira schüttelte ihn heftiger, doch Chas schlug ihre Hände beiseite, ohne aus seinem Traum zu erwachen. Erst jetzt, als sie gezwungen war, ihn loszulassen, wurde Mira bewusst, welche Hitze von seinem Körper ausgegangen war. Chas’ Haut glühte, das dunkle Haar war schweißgetränkt, und noch immer murmelte er fiebrig den Namen des väterlichen Buchhändlers. Edmund − wenn er nur da wäre! Er wüsste, was zu tun wäre. Er würde Chas wach bekommen, ihn versorgen, für ihn beten.
„Oh Gott“, murmelte Mira. „Bitte lass ihn aufwachen!“ Die gleiche verzweifelte Bitte wieder und wieder flüsternd, griff Mira nach der noch fast vollen Wasserflasche. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie ihr beim Öffnen aus den Händen glitt und das kostbare Nass in den trockenen Erdboden sickern ließ. Mit dem, was übrig war, tränkte Mira den alten Verband, um damit Chas’ Stirn zu kühlen. Es erschien ihr wenig, was sie tun konnte. Zu wenig. Die Hitze von Chas’ Haut erinnerte Mira an die sengende Glut aus ihrem Albtraum.
„Nein!“ Unwillig schüttelte Chas Mira samt dem feuchten Tuch ab und fuhr hoch. Sogleich entwich ihm ein leiser Schrei, weil er sich dabei auf seinen verletzten Arm gestützt hatte.
Mira versuchte, ihn an den Oberarmen zu packen und wieder zu Boden zu drücken, doch Chas war aufgebracht und stärker als sie. Er schlug ihre Hände so heftig zur Seite, dass Mira zurück auf ihr hartes Lager fiel.
Einen Moment blieb sie liegen und rieb sich den schmerzenden Nacken. Dann schob sich unvermittelt Chas’ erhitztes Gesicht zwischen sie und den Sternenhimmel. Er war so nah, dass sie trotz der Dunkelheit sehen konnte, wie fiebrig seine Augen glänzten. „Mira?“ Er schüttelte sie unsanft. „Bitte, Mira! Wir müssen hier weg, wir müssen …“
Hastig richtete Mira sich auf und wurde sogleich von Chas in eine knochenbrechende Umarmung gezogen. „Es geht dir gut“, murmelte er heiser in ihr Haar. „Es geht dir gut. Es geht dir gut. Aber … Edmund! Wir müssen …“
„Chas.“ Mira versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. „Du tust mir weh. Chas!“ Endlich schaffte sie es, seine Arme abzustreifen. Dankbar, die kühle Nachtluft wieder zu spüren, rang sie einen Moment nach Atem. „Es war nur ein Traum, Chas“, keuchte sie. „Wir sind in Sicherheit.“
Chas’ Augen huschten hastig hin und her, als suche er nach etwas, das ihre Worte widerlegte. „Und Edmund?“
Langsam, als würde sie mit einem Kind sprechen, sagte Mira: „Edmund ist nicht hier. Aber ich bin sicher, ihm geht es auch gut.“ Wenn das nur um alles in der Welt die Wahrheit war!
„Und dir auch“, stellte Chas unnötigerweise fest und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Immer noch machte er einen desorientierten Eindruck. So verloren sah er aus, dass Mira die Arme um ihn schlang und seinen vor Fieber glühenden Körper an sich drückte.
„Mir auch“, flüsterte sie an seiner Schulter. „Und du kommst auch wieder in Ordnung. Hörst du?“
Chas reagierte nicht auf ihre Frage. Er ließ seine gesunde Hand fahrig ihren Rücken auf und ab wandern. Die Berührung war ihr unangenehm. Seit dem Tag ihrer Flucht aus Leonardsburg gab es immer wieder solche Momente inniger Nähe zwischen ihnen. Dabei hatten sie nie über den Kuss und das, was er eigentlich für sie bedeutete, geredet. Und diese unausgesprochene Sache machte die Vertrautheit zwischen ihnen so kompliziert.
In seinen Fieberfantasien gefangen, schien es Chas allerdings gar nicht zu kümmern, und er hielt Mira zu fest, als dass sie ihn hätte abschütteln können. „Ich dachte … Es war nur ein Traum, ja?“
„Ja.“
„Aber …“ Er schluckte. „Aber wenn dir etwas passiert wäre … ich hab mich noch gar nicht richtig bedankt.“
Wenn sein Zustand ihr nicht solche Angst gemacht hätte, hätte Mira gelacht. Morgen würde Chas sich in Grund und Boden schämen für die Dinge, die er im Fieberwahn gesagt hatte. Er war niemals rührselig, und obwohl sein Verhalten irgendwie niedlich war, war es das, was Mira am meisten alarmierte. Mehr noch als die unnatürliche Hitze, die von seinem Körper ausging, oder der glasige Blick.
„Ich hab dir nie gesagt, dass du … du bist wundervoll“, krächzte Chas, ohne die Umarmung zu lösen.
„Chas, nein …“ Sie musste ihn aufhalten. Sie wollte mit ihm über das sprechen, was da zwischen ihnen war. Aber doch nicht so! Er würde jedes Wort morgen bitter bereuen.
„Doch, das bist du. Und so wunderschön. Wie … was soll ich machen, wenn dir etwas passiert? Ich kann nicht ohne dich … ich kann nicht nach Amerika gehen.“
Endlich zog Mira sich aus seiner Umarmung zurück. „Du solltest schlafen, Chas“, sagte sie sanft, aber bestimmt. Er wusste nicht, was er da redete. Nicht nach Amerika? Der Wunsch, dieses Land zu verlassen, trieb Chas an, solange sie ihn kannte, auch wenn sie das am Anfang nicht geahnt hatte. Er wollte nach Amerika zurück, seit sein Vater, König Auttenberg, ihn während der politischen Unruhen dort in Sicherheit gebracht hatte. Nur dort würde er frei und sicher sein. Frei von den Erwartungen seines Vaters und sicher vor den Konsequenzen seiner Flucht aus dessen Residenz, seines Verrates am eigenen Land. Chas musste das Land verlassen. Das wusste Mira so gut wie er.
„Komm schon.“ Sie zwang ihn mit sanfter Gewalt, sich wieder auf das Lager aus platt gedrückten Gerstenhalmen zu legen.
Seine gesunde Hand hielt sie an der Bluse fest. „Bleibst du hier?“
„Natürlich.“ Sie ließ sich widerstandslos an seine Seite ziehen, obwohl die Heftigkeit seiner Umklammerung und die Hitze seines Körpers ihr Unbehagen verursachten.
Was geschah mit Chas? War es die Verletzung an seinem Arm, die einfach nicht heilen wollte? Hatte sie sich entzündet? Mira wusste nichts über Brandwunden, hatte keine Ahnung, ob das Fieber daher rühren konnte, und noch weniger, was zu tun war, um es zu stoppen. Woher sollte sie Medizin für Chas bekommen? Selbst wenn sie die nötigen Sonderrationskarten hätte und wüsste, welches Medikament er brauchte, konnte sie nicht einfach in ein staatliches Gesundheitszentrum gehen und es für ihn besorgen. Nicht ohne ärztliche Zustimmung. Und kein Arzt würde ihr die geben, ohne Chas zuvor angesehen zu haben. Aber Chas ansehen − das ging nicht. Er hatte kein Ausweisband, er existierte offiziell überhaupt nicht. Und das war noch besser als die andere Wahrheit. Besser ein Vergessener ohne Identität als Nicholas Auttenbergs Sohn. Der verschwundene Kronprinz. Ein Verräter.
Miras Gedanken drehten sich im Kreis und ließen sie keinen Schlaf mehr finden. Die glühende Hitze von Chas’ verkrampftem Körper tat ihr Übriges. Sie konnte nur wieder und wieder die gleichen Überlegungen und Gedanken wälzen und lautlos beten.
Irgendwann wurde Chas’ Atem ruhiger und sein Griff lockerer. Aber Mira machte kein Auge mehr zu.
Am nächsten Morgen bereute Chas seine Worte nicht. Mira war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht einmal an sie erinnerte. Zwar bekam sie ihn nach einigem Rütteln und gutem Zureden wach, doch schien er ihr sehr weit weg. Fast vermisste sie seine Ruppigkeit, mit der er jeder Art von Fürsorge begegnet war, solange sie nun schon unterwegs waren. Wenigstens hatte sie dabei den Eindruck gehabt, dass er auf dem Wege der Besserung war. Nun war er kaum ansprechbar. Er starrte nur apathisch vor sich hin, und wenn er sprach, dann mit schleppender Stimme und ohne jeden Zusammenhang.
Mira wusste keinen anderen Weg, als den Plan, der in den vielen Stunden des Wachliegens in Chas’ fiebriger Umarmung in ihr gereift war, in die Tat umzusetzen.
„Hör zu, ich muss dich an einen sichereren Ort bringen“, erklärte sie Chas unnötigerweise. „Weißt du noch, wir haben doch den Schrottplatz gesehen, als wir hier angekommen sind, und überlegt, dort unser Lager aufzuschlagen.“ Es schien ihn nicht großartig zu interessieren. Er lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, die Augen zwar geöffnet, den Blick jedoch glasig ins Nichts gerichtet oder auf irgendetwas, das nur er sehen konnte. Klein-Ararat vielleicht oder Edmund. Mira wusste es nicht.
Es war nicht leicht, Chas in eine stehende Position zu hieven. Er war schwerer, als seine drahtige Statur vermuten ließ, und machte nicht die geringsten Anstalten, mitzuhelfen und ihr ein wenig des Gewichts abzunehmen.
Mira erinnerte sich daran, wie sie Ari nach dem verheerenden Feuer in den Armenvierteln den ganzen Weg bis nach Klein-Ararat getragen hatte. Aber Ari war ein unterernährter Siebenjähriger. Chas dagegen überragte sie um einen halben Kopf und machte es ihr fast unmöglich, ihn aus dem Gerstenfeld zu schleifen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen.
„Bitte“, keuchte Mira, als sie endlich am Rand des Feldes angekommen waren. „Bitte, Chas, du musst dich zusammenreißen. Nur für ein paar Minuten.“ Ihre Kehle brannte, und ein paar vereinzelte kalte Tränen rannen über ihr erhitztes Gesicht. „Wenn sie uns erwischen … Chas!“
Sie drohte unter seinem Gewicht einzuknicken, als Chas’ Blick sich auf ihr verzweifelt verzogenes Gesicht fokussierte. „Nicht weinen“, krächzte er.
Ein erleichtertes Lachen zwang sich aus Miras Kehle. Zum ersten Mal an diesem Morgen nahm Chas sie wirklich und wahrhaftig wahr. „Du musst mithelfen, Chas“, sagte sie eindringlich. „Es ist nicht weit, aber alleine schaffe ich es nicht.“
Chas antwortete nicht, doch er setzte sich, schwer auf ihre Schultern gestützt, langsam in Bewegung. Mira sah, wie viel Mühe es ihn kostete, wie er um jeden Schritt, jeden Atemzug rang. Aber gemeinsam schafften sie es bis zu dem Platz, den Mira im Sinn hatte. Er war näher an der Stadt als ihr Lager im Gerstenfeld, aber gut geschützt und viel schneller zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch würde einen Fuß auf das heruntergekommene Gelände voller rostiger Autowracks setzen. Zerbeulte Metallruinen mit glaslosen Fenstern und zerkratztem Lack drängten sich dicht an dicht, waren zu ganzen Türmen und Bergen angehäuft, die keinen allzu stabilen Eindruck machten.
Obwohl sie unter Chas’ Gewicht alle Kraft für den Rest des Weges brauchte, konnte Mira nicht umhin, die plumpen Fahrzeuge neugierig zu betrachten. Kaum zu glauben, dass früher nahezu jede Familie, wenn nicht jeder Mensch, ein solches Ungetüm besessen hatte und damit herumgefahren war. Weite Strecken sogar, weiter, als sie je in ihrem Leben gereist war, weiter als die Grenzen ihres Landes.
Nach Verbot des Imports hatten die Menschen die antriebslosen Maschinen auf Geländen außerhalb der Städte gesammelt. Ohne Benzin, ohne Erdgas, ohne irgendwelche derartigen Rohstoffvorkommen im eigenen Land waren sie nutzlos geworden. Das Metall freilich war anfangs noch wiederverwendet worden, aber mittlerweile hatte der Rost die Oberhand gewonnen. Das Gelände am Rande von Cem war verlassen, die Autowracks wurden Wetter und Verfall überlassen. Mit einem klammen Gefühl in der Magengrube musste Mira an einen Friedhof denken.
Hinter einem einigermaßen standfest aussehenden Berg aus Karosserien und Reifen ließ Mira Chas zu Boden sinken. Sein Hemd war von der Anstrengung schweißgetränkt, das schwarze Haar klebte ihm nass und schmutzstarr an der Stirn, und sein Blick war wieder ins Nichts gerichtet.
„Danke“, flüsterte Mira, halb an ihn, halb an Gott gewandt, und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Moment den Dienst versagen, und sie gab dem Drang nach, sich ebenfalls kurz zu setzen. Sie trocknete mit ihrem Ärmel Chas’ Stirn ab und suchte nach seinem Puls, aber mehr als dessen rasendes Klopfen beunruhigte sie die immer noch unnatürliche Hitze seiner schweißnassen Haut.
„Du musst durchhalten.“ Mira schluckte. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Chas fehlte, und keine Ahnung, welche Medikamente er brauchte. Aber welche Wahl hatte sie? Einfach hierzubleiben war keine Option. Sie konnten nicht länger abwarten und darauf hoffen, dass Chas von selbst wieder zu Kräften kommen würde. Und dann war da ja auch noch Filip, für den mit jedem Tag der Prozess näher rückte. Doch fortsetzen konnten sie ihren Weg nicht. Das würde Chas nicht schaffen. Und zurücklassen konnte Mira ihn auf keinen Fall. Schon gar nicht in diesem Zustand.
Also was hätte sie tun sollen? Sie konnte nicht tatenlos abwarten, während Chas immer schwächer wurde. Ihr Vorhaben war wahnwitzig, einen besonders guten Plan hatte sie nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie genau sie es anstellen wollte. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste es versuchen.
Chas regte sich nicht mehr. Entweder er war vor Erschöpfung eingeschlafen, oder er hatte das Bewusstsein verloren. Aber das war ihr recht. So konnte er wenigstens nicht fragen, wohin sie ging und was sie vorhatte.