Читать книгу Tivaro in Gefahr - Merlin T. Salzburg - Страница 3
Der Steckbrief
Оглавление»Tivaro Kirchner, bitte schön!« Miss Körner, die dicke Klassenlehrerin der 7e, überreichte Tivaro das Zeugnis mit einem gönnerhaften Lächeln. »Gerade noch einmal so durchgerutscht, würde ich sagen.«
Zeugnisausgabe, dritte Stunde. Miss Körner, die eigentlich Frau Korner hieß, hatten sie sonst in Englisch. Heute trug sie einen weißen Jogginganzug, der gerade noch so um ihren Bauchumfang passte. Auf ihrer gelben Jacke, die sie darüber trug, prangte ein ziemlich großer brauner Fleck, und in ihren dunklen, schmuddeligen Haaren hingen kleine Brötchenkrümel. Tivaros Banknachbar Freddy, der Klassenclown, erhielt als nächster sein Zeugnis.
»Alfred Hoffmann, hier ist deine Quittung für Schludrigkeit, Faulheit und mangelnde Aufmerksamkeit. Bei dir sehe ich schwarz, ob du das nächste Jahr in diesem Stil durchhältst.«
»Sie haben da einen Fleck, Miss Körner«, sagte Freddy bloß und zeigte auf ihren Busen. »Was gab’s denn da heute wieder Leckeres zum Frühstück?« Fragend grinste Freddy die Lehrerin an.
»Das muss Pflaumenmus sein«, erwiderte Miss Körner säuerlich und wischte sich mit den übrigen Zeugnissen, die sie noch in der Hand hielt, flüchtig über ihre Jacke. »Ich wüsste aber nicht, was dich das angeht!«
Freddy lachte ihr einfach ins Gesicht, und auch andere Kinder mussten kichern.
Miss Körner verteilte schnell die letzten Zeugnisse an die Schüler. Dann schritt sie zurück zum Lehrerpult und ergriff ihre füllige Handtasche. »Ich bin gleich wieder zurück. Verhaltet euch in der Zwischenzeit bitte ruhig!«
»Jetzt geht sie wieder fressen«, entfuhr es Markus.
»Oder kotzen«, meinte Ina, und die ganze Klasse brüllte vor Lachen.
Als Miss Körner wieder zurück kam, hatte sie sich erneut bekleckert. Zum Glück beendete die Schulglocke nun die dritte Stunde und läutete damit endlich die Sommerferien ein. Johlend stürmten die Kinder aus dem Klassenraum.
»Schöne Ferien, Kinder!«, rief ihnen Miss Körner hinterher. »Für die meisten jedenfalls.«
Draußen an der Bushaltestelle traf Tivaro seinen besten Freund Otto Fröhlich aus der 6a. Otto war zwölf und damit ein Jahr jünger als er.
»Na, wie sieht denn dein Zeugnis aus?«, fragte Tivaro.
»Besser als Vanessas aus meiner Klasse. Da sind ’ne Menge Tränen drüber gelaufen.«
»Meines ist auch nicht so besonders. In Englisch und Mathe gerade mal noch eine Vier. Für mich heißt es nun, dass ich jeden Samstag hierher zur Mathe-Nachhilfe muss. Mann, und das in den Ferien!«
»Ich hab’ in Erdkunde ’ne Fünf gekriegt. Da gibt’s für mich leider keine Hilfe mehr. Ich weiß mal eben, dass die Erde eine Kugel mit Wetter ist. Und das war’s dann auch schon. Aber egal. Hauptsache, ich bin versetzt. Bleibt es bei Morgen Mittag?«
»Klar, Otto! Komm um eins. Dann bin ich von meiner Nachhilfe zurück. Ich habe Fluch der Karibik III zuhause. Den können wir ja gucken. Und das mit deiner Übernachtung bei mir ist mit meiner Mom auch geklärt. Wow, und ich freue mich schon auf das Taunus-Camp nächste Woche.«
»Ich mich auch, Tivaro. Wird bestimmt ’ne coole Zeit.« Dann warf Otto sich seinen Schulranzen über die Schultern. »Fahren wir zusammen bis zu meiner U-Bahn?«, fragte er dann.
»Okay!« Tivaro überlegte nicht lange. Die beiden Freunde besuchten sich häufig und fuhren mal Ottos Route über den Weißen Stein oder die andere Tour mit der Buslinie nach Nieder-Eschbach, wo Tivaro wohnte. Der Bus hielt soeben an.
»Meine Eltern wollen heute mit mir Essen gehen«, erzählte Otto beim Einsteigen.
»Zur Feier des Tages wegen deiner tollen Noten? Was gibt’s denn dafür? Zwiebelsuppe?«
»Nee, ist wegen meinem Dad. Der hat heute Geburtstag.«
Der Weiße Stein war die U-Bahn-Station, an der beide wieder ausstiegen und wo sich ihre Wege trennten. Von hier aus fuhr Tivaro mit der U2 nach Hause. Als er in Bonames Mitte ausstieg, war es ungefähr zwölf und damit Zeit zum Mittagessen. Zwei Straßen weiter lag die Pizzeria Da Angelo. Dort holte er sich drei Mal in der Woche eine Pizza oder ein Pasta-Gericht ab, das seine Mutter regelmäßig im Voraus bezahlte. Tivaros Mutter Elise arbeitete halbtags von zwölf bis vier im Tutti-Frutti, einem Bioladen in Nieder-Eschbach, und mixte dort Fruchtsäfte.
Vor der Pizzeria parkte ein Polizeiwagen. Als er das Da Angelo betrat, bemerkte Tivaro im Lokal zwei Polizisten. Einer von ihnen war gerade damit beschäftigt, einen Zettel von innen an das große Glasfenster zu kleben.
»Hallo Tivaro!«, grüßte ihn Angelo, der Wirt, fröhlich. Tivaro kannte den Wirt schon seit der Grundschule.
»Hi Angelo!«, grüßte Tivaro zurück. »Was ist denn hier los?«
»Es gab hier eine Überfall«, erklärte Angelo in seinem gewohnt gebrochenen Deutsch. »Drüben bei die Volksbanke. Die Polizia mackt hier eine Steckebrief an meine Scheibe.«
Das waren ja aufregende Neuigkeiten. Ein Banküberfall gleich in der Nachbarschaft! So etwas hatte es hier noch nie gegeben. Die beiden Polizeibeamten waren nun offenbar mit ihrer Arbeit fertig, denn sie hoben noch kurz zum Abschied die Hand an ihre Uniformmützen und verließen dann die Pizzeria wieder.
»Was möcktest du heute essen, Tivaro?«, fragte Angelo.
»Pizza Salami mit extra Käse, bitte«, gab Tivaro zurück. »Ich schaue mir derweil mal den Steckbrief an.« Tivaro schritt an das Fenster, und neugierig las er:
Gesucht
Die Frankfurter Kriminalpolizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach zwei derzeit Unbekannten, die am Vormittag des 5. Juli eine Filiale der Frankfurter Volksbank überfallen hatten
Die beiden Männer betraten gegen 9:30 Uhr das Bankgebäude im Unteren Kalbacher Weg. Während ein maskierter Täter mit einer Waffe vor dem Tresen wartete, sprang der andere über diesen, legte eine Handgranate auf den Tisch und verlangte Geld. Der Räuber vor dem Tresen gab dabei einen Schuss in Richtung Decke ab. Anschließend flüchtete das Duo mit der Beute in einem elfenbeinfarbenen Taxi. Die Angestellten der Bank blieben unverletzt. Beide Täter werden wie folgt beschrieben:
zirka 25 – 30 Jahre alt, etwa 175 - 180 cm groß, der größere etwas untersetzt. Beide hatten dunkle mittellange Haare, dunkle Augen und waren mit Strumpfmasken bekleidet.
Die Kriminalpolizei fragt: Wer kennt die Täter? Wer kann Hinweise auf den Fluchtwagen oder den Aufenthaltsort der Gesuchten geben? Zeugen werden gebeten, sich beim zuständigen Raubkommissariat der Polizeidirektion des 15. Reviers in der Homburger Landstraße in Bonames unter der Rufnummer (069) 110-4100 oder bei einer anderen Polizeidienststelle zu melden. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, ist eine hohe Belohnung in Höhe von € 5000,- ausgesetzt.
»Heute Zeugnis?«, wollte Angelo wissen. Tivaro nickte. »Ja, willst du es sehen?«
»Sehr gerne«, sagte Angelo, und Tivaro kramte sein Zeugnis aus dem Schulranzen. Er legte es verkehrt herum vor sich auf die Theke, sodass es Angelo sehen konnte. Der Wirt betrachtete es neugierig und lobte dann: »Soso, Sport Vier, Englisch Vier, Mathe Vier. Sehr gutte Notten, Tivaro!«, sagte er und nickte respektvoll. Die wirklich guten Noten in Deutsch und Geschichte schien er einfach übersehen zu haben. Tivaro lächelte erst geschmeichelt, doch dann fiel ihm ein, dass in Italien die Noten genau umgekehrt vergeben wurden. Sein Lächeln verschwand wieder.
Dann kam die Pizza. Mario, der Küchenchef, trat durch die Flügeltür und balancierte Tivaros Pizza tänzelnd durch den Raum. Mit einem galanten Schwung beförderte er die Pizza auf einen großen Teller, der bereits auf der Theke stand. Dabei spritzte etwas Tomatensoße auf Tivaros Zeugnis.
»So, bitte sehr, der Herr!«
»Mann, Mario, du hast mir mit der Soße mein Zeugnis versaut. Das sieht ja aus wie Blutflecken! Soll meine Mom jetzt etwa mit ihrem Fingerabdruck unterschreiben?«
»Mi scusa, Tivaro! Entschuldigung! Du nächstes Mal Pizza umsonst, okay?«
»Na ja. Vielleicht kriegt man die Flecken ja noch mal weg. Aber trotzdem, danke.« Tivaro ließ es sich nun schmecken. Dabei dachte er die ganze Zeit über den Banküberfall nach.
Als er fertig gegessen hatte, stand er auf und trat noch einmal an das große Glasfenster. Aus seiner Jackentasche holte er sein Handy und hielt es dicht an den Steckbrief. Mit der Kamerataste knipste er dann zwei Fotos und überprüfte die Aufnahmen noch einmal im Display. Sehr gut, freute sich Tivaro. Nun konnte er Otto Morgen die Fahndungsmeldung zeigen. Er verabschiedete sich von Angelo, nahm seinen Schulranzen und machte sich auf den Heimweg. Bis nach Hause waren es noch etwa zehn Minuten zu Fuß.
»Hallo Tivaro!«, begrüßte ihn seine elfjährige Schwester Sabrina an der Haustür. »Ich habe fünf Einser und sonst nur Zweier«, flötete sie und stolzierte zurück in die Küche.
»Kunststück in der vierten Klasse«, meinte Tivaro und verzog gelangweilt seinen Mundwinkel. »Ich hatte in der Grundschule immer nur Einser.«
»Stimmt ja gar nicht!«, widersprach Sabrina. »Und wenn schon. Wie viele Einser hast du jetzt?«
»Gar keine«, gab Tivaro zu. »Gibt’s Nachtisch?«
»Ja, Mama hat uns Schoko-Pudding gekocht. Ich habe extra auf dich gewartet.«
Tivaro schnappte sich eine Schöpfkelle von der Wand, holte zwei Dessert-Schüsseln aus dem Küchenschrank und hob den Deckel des Pudding-Topfs. Als er mit der Kelle eine der Schalen befüllte, rief er angewidert: »Mann, Sabrina! Was für eine Plörre ist das denn?«
»Ich hab’ gar nichts gemacht«, wehrte sich Sabrina.
»Nichts gemacht! Gib zu, du hast genascht und dann deinen Spucke-Löffel wieder in den Pudding gesteckt. Davon kommen dann nämlich die Klümpchen.«
»Gar nicht wahr!«, widersprach Sabrina entrüstet.
»Dann schau mal in den Spiegel! Dein Mund ist doch noch ganz mit Pudding verschmiert.«
»Ah, der große Detektiv!« sagte Sabrina verächtlich. »Na und? Ich war halt hungrig, und ich kann ja nicht ewig warten, bis du mal kommst.«
»Den Pudding kannst du jedenfalls alleine essen. Mir ist der Appetit vergangen«, meinte Tivaro.
»Und was, wenn der Pudding schon vorher so komisch war?«
»Das würde mich auch nicht wundern. Mom kann eben einfach nicht kochen. Ich wünschte, Dad wäre endlich wieder zu Hause.«
»Ich auch. Der kocht nämlich ganz wunderbare Sachen«, schwärmte Sabrina. »Weißt du, wann Papa wiederkommt?«
»Dad ist noch bis Ende des Monats in Skandinavien unterwegs und fliegt von einem Geschäftsessen zum anderen«, erklärte Tivaro.
»Oh, da gibt es sicher jeden Tag Fischgerichte, und Papa bringt wieder leckere Rezepte mit und ...«
»Ich hasse Fisch«, sagte Tivaro angeekelt.
»Heute ist aber Freitag«, beharrte Sabrina. »Und ich hab’ mir vorhin bei den Mackies einen Fish-Burger geholt.«
»Du nervst«, sagte Tivaro und verließ die Küche. »Ich geh’ jetzt chatten.«
»Hallo Kinder!« Tivaros und Sabrinas Mutter Elise kam um halb fünf wie immer. »Habt ihr schön gespielt?«
»Ich habe das dritte Level von Dragon Hunter geschafft«, sagte Tivaro stolz.
»Du solltest dich lieber um deine Level in Mathe und Englisch kümmern und mit deiner Schwester etwas Richtiges spielen. Ständig hängst du am Computer herum!« Die Mutter legte ihre Tasche ab und ließ sich mit einem leichten Seufzer auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder.
»Sabrina hat sich den ganzen Nachmittag den Schwammkopf angesehen«, informierte Tivaro seine Mutter, um von sich abzulenken.
In diesem Augenblick betrat Tivaros Schwester die Wohnstube und wedelte aufgeregt mit ihrem Zeugnis. »Mama, alles Einser und Zweier. Guck mal!«, rief sie und setzte sich mit vor Stolz gerötetem Gesicht neben ihre Mutter.
»Sehr schön, Sabrina«, lobte sie und studierte interessiert die Noten ihrer Tochter. »Und wo ist dein Zeugnis, Tivaro?«, wollte sie dann wissen.
»Im Ofen«, sagte Tivaro. »Ist gleich fertig.«
Noch ehe die erstaunte Mutter weitere Fragen stellen konnte, war Tivaro schon in die Küche gerannt und kehrte nach kurzer Zeit wieder zurück. »Hier, Mom!«, sagte er nur und übergab seiner Mutter das Zeugnis.
»Oh Gott, da klebt ja Blut dran! Habt ihr Euch um die Zeugnisse geprügelt?«, fragte Elise entsetzt.
»Ach Mom, das ist nur Tomatensoße und gar nicht meine Schuld«, verteidigte sich Tivaro. »Das war Mario heute Mittag, als er mir die Pizza servierte. Dabei ist Soße drauf gekommen, und ich habe die Flecken eben im Ofen getrocknet.«
»Wirklich toll, Tivaro. Ich habe dir heute Morgen extra eine Folie für das Zeugnis mitgegeben. Das ist doch ein wichtiges Dokument für’s ganze Leben«, tadelte sie.
»Als ob das je einer sehen will«, begehrte Tivaro auf. »Meinen Kindern zeige ich das bestimmt nie.«
»Denk dran, dass du morgen um elf Mathe-Nachhilfe hast. Frau Schneider kann aber leider wegen eines anderen Jobs nicht unterrichten. Sie hat mich vorhin auf dem Handy angerufen.«
»Was?«, rief Tivaro enttäuscht, der Frau Schneider, die Referendarin an seiner Schule war, gerne mochte. »Wer macht denn dann Mathe mit mir?«
»Das wird sich bis Morgen Vormittag schon klären«, antwortete Tivaros Mutter.
»So ein Mist!«, schimpfte Tivaro. Er verschwand für den Rest des Tages oben in seinem Zimmer und spielte weiter Dragon Hunter. Auch nach dem Abendessen war seine Laune noch nicht besser geworden. Er verkrümelte sich in sein Bett und las noch in einem Jugendkrimi, bis es dunkel wurde.