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Der König

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Der Dienstag brachte für die beiden Freunde Tivaro und Otto erst einmal schlechte Nachrichten. Im Camp erfuhren sie, dass sich die Gangmitglieder Nico und Jojo doch nicht nachträglich anmelden durften. Außerdem hatte Ernst, der eine Betreuer, es sich nicht nehmen lassen, überall im Lager herum zu posaunen, dass Tivaro und Otto zwei Jungdetektive waren, die kürzlich zwei Bankräuber überführt hatten. »Wenn wir vier von eurer Sorte im Lager haben, wird es hier wohl sicher bald wieder vor lauter Polizisten wimmeln«, meinte Ernst ironisch. »Eure Freunde sollen ruhig woanders kampieren.«

»Wir vielleicht auch«, meinte Otto leise zu Tivaro gewandt.

»Na toll!«, stöhnte Tivaro genervt. »Das hat der Typ sicher alles jetzt erst in der Zeitung gelesen. Unsere Tarnung ist nun jedenfalls dahin. Was sind wir denn für Detektive, wenn hier jeder gleich weiß, wer wir sind?«

»Da hast du Recht«, gab Otto zu. »Ich für meinen Teil habe hier jedenfalls genug herumgeschnuppert. Mir reicht es hier.« Otto spielte damit auf die sogenannten Schnuppertage an. Damit sich die Kinder ein Bild von der Umgebung und vom Leben im Zeltlager machen konnten, wurden nämlich drei Schnuppertage angeboten. Der dritte Tag war heute.

»Mir reicht es hier auch, Otto. Außerdem wäre ich viel lieber bei uns im Garten als hier im Wald mit diesen beiden Betreuer-Spackos. Heute Abend sage ich Mom, dass sie mich hier erst gar nicht anmelden soll.«

»Das gilt auch für mich«, pflichtete ihm Otto bei.

Der Tag wurde nicht besser. Das Mittagessen schmeckte heute abscheulich nach Kantinenfraß, und nachmittags fing es auch noch an zu regnen. Elise holte die beiden Freunde wieder pünktlich um sechs ab. Sie eröffneten ihr sogleich, dass das heute ihr letzter Tag im Camp war.

»Bis jetzt hat euch doch alles noch so gut gefallen?«, wunderte sich Elise.

»Aber Nico und Jojo werden nicht aufgenommen«, erklärte Tivaro. »Und jetzt, wo wir eine Gang sind und unser Hauptquartier im Garten haben, fühle ich mich im Camp ohne die anderen echt fehl am Platze.«

Otto nickte zustimmend. »Außerdem hat Nico gesagt, dass es auch noch andere Camps im Taunus gibt, die vielleicht noch Leute nehmen.«

»Hast du das Schachspiel dabei?«, wollte Tivaro wissen.

»Ja, und hier sind noch zwei Bücher, die auf Opas Nachttisch lagen.« Elise reichte ihrem Sohn zwei dicke Taschenbücher und einen Holzkasten, den man zu einem Schachbrett aufklappen konnte. Er enthielt auch die Figuren, die man zum Spielen brauchte.

Am weißen Stein stiegen die beiden Jungen aus.

»Bis nachher, Mom«, verabschiedete sich Tivaro.

»Ich könnte ein paar Einkäufe erledigen und dich dann abholen«, bot Elise an. »Es soll nachher nämlich wieder regnen.« Tivaro willigte ein. »Aber nicht vor halb neun. So ein Schachspiel braucht lange.« Elise nickte lächelnd. »Bis später, Tivaro!« Tivaro und Otto unterhielten sich noch ein Weilchen auf Ottos Heimweg, und dann fuhr Tivaro wie am Montag mit der U-Bahn weiter bis Miquel-Adickesallee und lief dann den restlichen Weg zum Bürgerhospital zu Fuß.

Wieder betrat er die chirurgische Abteilung im zweiten Stock. Der Fußboden glänzte im Licht der Sonne, und die Luft roch nach Bohnerwachs. Tivaro klopfte leise an die Zimmertür seines Großvaters und trat dann ein. »Guten Abend, Opa Reinhard!«, grüßte er.

»Guten Abend, mein lieber Tivaro. Schön, dass du kommst.«

Tivaro nickte. »Wie geht’s dir denn nach der Operation?«

»Wie man sieht lebe ich noch«, erwiderte der Großvater. Aus seinen Nasenlöchern traten zwei durchsichtige Plastikschläuche, die irgendwo unter der Bettdecke verschwanden. Opa Reinhard bemerkte Tivaros Blicke. »Durch diese Schläuche bekomme ich zusätzlichen Sauerstoff. Das ist nur zur Unterstützung«, erklärte er. »Hast Du denn das Schachbrett mitgebracht? Und meine Lektüre?«

»Klar habe ich«, sagte Tivaro und holte das Schachspiel und die Bücher aus seinem Rucksack.

»Du kannst die Figuren ja schon mal aufbauen«, sagte der Großvater und legte die Bücher in eine Schublade seines Nachttisches. »Das Tablett nehmen wir als Unterlage. Hilf mir mal!«

Tivaro zog das eingehängte Tablett aus dem Nachttisch und klappte es nach außen. Dann begann er die Schachfiguren aufzustellen.

»Der weiße König fehlt ja«, bemerkte Tivaro nach kurzer Zeit.

»Das ist ja seltsam. Wo denn wohl der König ist?« Opa Reinhard spielte den Erstaunten. »Geh mal an meinen Spind, Tivaro. Dort hängt mein Jackett. Und gib mir mal das, was du in der rechten Innentasche findest.«

Tivaro gehorchte und öffnete die Tür des schmalen Blechschranks, der dem Krankenbett gegenüber stand. Als er in die Innentasche des Jacketts griff, zog Tivaro erschrocken seine Hand zurück. Dann griff er erneut hinein und hielt zwei Gebisshälften in der Hand. »Deine Zähne, Opa«, meldete Tivaro etwas verwirrt.

»Falsche Seite. Such in der anderen Innentasche«, lachte der Großvater.

Tivaro angelte den fehlenden Schachkönig aus der Innentasche des Jacketts. »Wieso hast du denn den König in deiner Jacke?«, wunderte er sich.

»Weil er dort vermutlich am besten aufgehoben ist. Bei Leuten wie Rupert Raff kann man nie wissen, was sie im Schilde führen. Wenn Rupert gewusst hätte, dass ich den weißen Schachkönig bei mir im Jackett habe, hätte er mich gestern bestimmt bestohlen. Deshalb bat ich dich, das Schachspiel zu holen. Ich möchte nämlich, dass du es an dich nimmst mitsamt diesem König. Ohne König kann man schließlich nicht gut spielen.«

»Was hat es denn mit dem König auf sich, Opa?«, fragte Tivaro neugierig.

»Sieh mal draußen nach, ob die Luft rein ist«, sagte Opa Reinhard.

Tivaro ging zur Tür, öffnete sie und blickte auf den Gang hinaus. »Niemand zu sehen«, sagte er.

»Gut. Nimm dir einen Stuhl und setze dich zu mir ans Bett. Ich will dir nämlich die Geschichte mit dem Nazi-Schatz zu Ende erzählen. Dann wirst Du auch gleich mehr über den König erfahren. Oder willst du lieber Schach spielen?«

»Natürlich will ich die Geschichte weiterhören«, sagte Tivaro voller Eifer und hatte schon einen Stuhl neben Opas Bett geschoben.

»Ich erzähle dir nun etwas von damals, als ich selbst noch ein kleiner Junge war«, begann Tivaros Großvater. »Ich war gerade mal sieben, und mein Vater war Förster im Taunus. Der Krieg war schon fast vorbei, als die Nazis eine Menge Gold im ganzen Land versteckten. Mein Vater erzählte uns damals von seltsamen Grabungen im Wald, von denen niemand Genaueres wusste. Wir waren natürlich neugierig. Viele Gebiete im Wald wurden damals von den deutschen Soldaten abgesperrt. Als dann gegen Ende des Krieges die Amerikaner kamen, verschwanden die deutschen Soldaten aus dem Wald. Manche flüchteten auch aus der Armee. Und so kam es, dass eines Tages ein verletzter deutscher Soldat Zuflucht bei uns im Forsthaus suchte. Dieser Mann besaß eine Karte ...«

»Was für eine Karte?«, hakte Tivaro gespannt nach.

»Eine Schatzkarte. Auf ihr ist ein unterirdischer Stollen eingezeichnet, der sich mit mehreren Gängen irgendwo durch den Taunus zieht.« Tivaros Großvater nahm den weißen König vom Schachbrett. Dann löste er den grünen Filzbelag vom Boden der Schachfigur und zog ein Röllchen Papier daraus hervor. »Sieh mal, Tivaro! Dies ist eine Kopie der Karte. Genauer gesagt, meine eigene Kopie.«

Opa Reinhard übergab Tivaro das Röllchen, und während Tivaro die Karte entrollte und sie neugierig betrachtete, fuhr der Großvater fort: »Der Soldat bat meinen Vater diese Karte vor den Amis zu verstecken. Oder er sollte sie der Nachhut der deutschen Kameraden übergeben, falls diese das Forsthaus noch vor den Amerikanern erreichten. Er erzählte meinem Vater auch noch viele weitere Einzelheiten über die Grabungen und einen gewaltigen Nazi-Schatz. Ich versuchte, mir soviel wie möglich von diesen Gesprächen zu merken. Aber ich war nun mal erst sieben Jahre alt, weißt du?«

Tivaro nickte nur und hörte weiter gebannt zu.

»Nun, kurze Zeit später starb der verletzte Soldat in unserem Haus«, erzählte der Großvater weiter. »Doch vorher zeichnete ich die Karte heimlich nach. Und das, was du da in der Hand hältst, ist die Zeichnung deines siebenjährigen Opas. Außerdem fehlt die Hälfte der Karte.«

Tivaro blickte seinen Großvater erstaunt an. »Und wo ist die andere Hälfte?«

»Die hat Rupert Raff«, sagte Opa Reinhard, und Ärger breitete sich in seinem Gesicht aus. »Auf der anderen Hälfte sind die Gänge eingetragen. Doch davon später. Du musst zuvor noch ein paar andere Dinge wissen. Meine Eltern fanden nämlich bei dem Toten auch die vier Silberschlüssel, von denen ich dir gestern erzählte. Diese vier Schlüssel gehören zu vier Schatzkisten, die im Taunus unterirdisch versteckt wurden.«

Der Großvater wies auf die Karte, die Tivaro in der Hand hielt. »Auf deinem Teil der Schatzkarte siehst du zum Beispiel diese vier Symbole: einen Ring, eine Perle, eine Münze und ein Symbol, das ich bis heute nicht richtig deuten konnte. Auch Rupert Raff nicht.«

Tivaro suchte die Karte nach den Symbolen ab. »Mit ein wenig Phantasie könnten das Steine sein oder so etwas ...«, versuchte Tivaro.

»Ich war vielleicht erst sieben, aber Steine habe ich da sicher nicht abgezeichnet«, verteidigte sich Opa Reinhard. Er hüstelte etwas, und Tivaro bemerkte, dass seinem Großvater das Atmen recht schwer fiel. »Der Soldat hat meinem Vater genau gesagt, was sich in diesen Goldkisten befindet. Und ich habe vieles mit angehört.«

Tivaro nickte und wickelte die Schatzkarte langsam wieder zu einem Röllchen zusammen. »Was habt ihr eigentlich mit dem toten Soldaten gemacht?«, wollte er dann wissen.

»Nun, er wurde noch am selben Tag abgeholt. Da kam ein Trupp deutscher Soldaten mit einem Geländewagen zum Forsthaus. Sie nahmen den toten Soldaten mit, und mein Vater übergab dem Hauptmann die zusammengerollte Karte.«

»Da waren die anderen Soldaten sicher froh, dass die Karte nicht den Amis in die Hände fiel, oder?«, fragte Tivaro.

Opas Gesicht wurde plötzlich sehr traurig. »Das hätte man meinen können. Aber die Sache verlief ganz anders als erwartet, mein lieber Tivaro. Als mein Vater die Karte übergab, wurde er vor unseren Augen vom Hauptmann mit einem Kopfschuss getötet.«

Tivaro war entsetzt: »Wie furchtbar! Warum haben die das getan?«

»Wahrscheinlich fürchteten sie, dass mein Vater schon zuviel Wind von der Sache bekommen hatte. Sie konnten keine Zeugen gebrauchen, die etwas über ihre Grabungen im Wald wussten.«

»Und wie erging es dir und den anderen damals?«

»Mir und meiner Mutter taten sie nichts. Sie durchsuchten noch das ganze Haus, konnten aber nichts finden.« Tivaros Opa kicherte. »Ich hatte nämlich meine Zeichnung zuvor unter die vielen Pläne, Karten und anderen Papiere meines Vaters geschoben, die überall herumlagen. Und die Silberschlüssel habe ich einfach in unsere Besteckschublade gelegt, wo sie nicht weiter auffielen.«

»Geniales Versteck«, gab Tivaro zu.

»Und in dieser Besteckschublade liegen sie heute noch. In meiner Küche. Sie sind natürlich nach über sechzig Jahren schon schwarz geworden und nicht mehr so schön silbern wie vorher.« Tivaros Großvater machte eine kleine Atempause, bevor er weiter sprach. »Du musst unbedingt auch diese vier Schlüssel aus meinem Haus holen, bevor sie vielleicht in falsche Hände geraten. Ich muss dich also noch einmal bitten, so schnell wie möglich in meine Wohnung zu gehen. Auch wenn Rupert Raff nichts von den Schlüsseln weiß, glaube ich doch, dass sie bei dir sicherer aufgehoben sind als bei mir.«

»Okay, Opa. Ich fahre gleich morgen früh mit Elise hin und bringe sie mit, wenn ich dich morgen wieder besuchen komme«, versprach Tivaro.

»Nein, Tivaro, nicht hierher! Verstecke sie einfach irgendwo gut. Vielleicht in einem Werkzeugkasten. Auch das Schachspiel muss weg. Am besten ist es, wenn sich beides an verschiedenen Orten befindet. Rupert Raff darf dieses Schachspiel jedenfalls niemals finden.«

»Woher weiß denn dieser Rupert Raff eigentlich von deinem Schachspiel?«, wollte Tivaro wissen.

»Weil er auch so eines besitzt.« Tivaros Großvater kicherte verschmitzt. »Du magst uns ja für kauzig halten, mein lieber Tivaro. Aber ältere Menschen unseren Schlags haben da eine – wie soll ich sagen – besondere Ehre. Wir waren beide damals leidenschaftliche Schachgegner, musst du wissen.« Der Großvater holte kurz Luft. »Jedenfalls steckt in seinem schwarzen König der andere Teil der Schatzkarte mit dem Tunnelsystem. «

»Aber wieso besitzt Professor Raff einen Teil von deiner Karte?«

»Ich will dir erklären, wie es dazu gekommen ist«, sagte der Großvater. »Ich lernte Rupert bereits während meiner Studienzeit in den siebziger Jahren kennen. Rupert war ein richtiger Experte, was alte Karten betraf. Aber es sollte noch Jahre dauern, bis ich ihm meine Schatzkarte zeigte. Ich hatte meine Karte damals schon über fünfundzwanzig Jahre mit mir herumgetragen und bis dahin noch niemandem gezeigt. Ende der Neunziger weihte ich Rupert jedoch in mein Geheimnis ein. Ich bat ihn um Hilfe und zeigte ihm meine Zeichnung von der Karte. Ich selbst bin ja nie so recht schlau aus dieser Karte geworden. Sie enthielt nur verschlüsselte Angaben und merkwürdige Zeichen, die ich nie entziffern konnte.«

»Aber du weißt doch, was manche Symbole bedeuten«, warf Tivaro ein.

»Um diese Symbole geht es aber nicht. Diese Karte enthält noch viele weitere zusätzliche Angaben über die Lage der Goldkisten. Und ich hatte damals beim Abzeichnen der Karte sicher auch Fehler gemacht. Und da kam mir Rupert zu Hilfe. Der kannte sich damit aus.«

Tivaro nickte. »Hat er dir etwas über die anderen Zeichen gesagt?«

»Koordinaten und Runen. Interessant, interessant!«, äffte der Großvater Ruperts Stimme nach. »Wenn ich den Schatz finde, gehört mir die Hälfte. Gib das mal her!« Opa Reinhard griff in die Luft und schien ihr etwas zu entreißen. »Aua, mein Bein!«, schrie er, weil er sich zu heftig bewegt hatte.

Tivaro sprang auf. »Opa!«, rief er ängstlich.

»Ach, es geht schon wieder«, stöhnte der Großvater. »Jedenfalls gerieten wir in einen heftigen Streit um die Karte, und am Ende hatte jeder von uns eine Hälfte davon in der Hand.«

»Und jetzt versteckt jeder von euch einen Teil in seinem Schachspiel?«, fragte Tivaro belustigt.

»Genauso ist es. Ich habe Rupert damals aus meinem Haus geworfen, und seither sind wir uns nicht wieder begegnet.«

»Aber der Rupert hat dir doch einen Teil der Karte gestohlen...?«, begann Tivaro.

»Einen Teil, mit dem er nichts anfangen kann, solange er nicht die andere Hälfte der Karte hat«, ergänzte der Großvater.

»Wieso hast du ihn denn nicht wegen Diebstahls angezeigt?«, wollte Tivaro wissen.

»Dann wäre alles herausgekommen. Der Schatz wäre sicher längst geborgen, und keiner der beraubten Juden hätte jemals wieder etwas davon gesehen«, sagte Opa Reinhard.

»Und Rupert Raff wollte das Gold nur für sich allein?«

»Nach geltendem hessischen Recht gehört die Hälfte des Schatzes dem Finder und die andere Hälfte dem Landkreis oder dem Eigentümer des Grundstückes, auf dem ein Schatz gefunden wird«, erklärte der Großvater.

Tivaro verstand. »Und du willst, dass das Gold wieder zurückgegeben wird?«

»Es wäre das beste«, sagte Opa Reinhard. »Ich bereichere mich doch nicht an einer Kriegsbeute!«

»Und was kann ich nun mit der Karte und den Schlüsseln anfangen?«

»Gar nichts, solange Rupert noch den anderen Teil der Karte hat. Aber ohne die Schlüssel wäre selbst die ganze Karte für ihn völlig unbrauchbar.«

»Warum?«, wollte Tivaro wissen.

Der Großvater senkte seine Stimme. »Es wurden mehr als nur vier Kisten versteckt. Sieh auf die Karte! Sie enthält neun Symbole, die für Schatzkisten stehen könnten. Aber nur vier sind echte Schatzkisten.«

»Und die anderen?«, hakte Tivaro nach.

»Das sind ganz gemeine Sprengfallen. Die explodieren, wenn man sie mit dem falschen Schlüssel öffnet.«

»Wow!«, staunte Tivaro und eine leichte Gänsehaut bildete sich auf seinem Rücken.

»Ja«, bestätigte Opa Reinhard. »Das ist ein ganz raffiniertes System, mein lieber Tivaro. Etwas für Detektive, wie du einer bist. Ich hätte dir die Karte und die Schlüssel eines Tages vererbt, wenn ich nicht mehr bin. Aber nun, nachdem Rupert plötzlich hier aufgetaucht ist, hat sich alles geändert. Die Gegenstände sind bei mir nicht mehr sicher, und darum vertraue ich sie dir an. Denn du bist klug, und ich glaube an dich, Tivaro.« Der Großvater griff nach Tivaros Handgelenk und zog seinen Enkel an sich. »Ich weiß es«, sagte er, und ein Glanz huschte über seine Augen. »Du wirst diesen Schatz finden.«

»Hat man denn nie einen Tunnel oder geheime Gänge im Taunus entdeckt?«, fragte Tivaro.

»Doch. Der Taunus ist voll mit alten Stollen und unterirdischen Gängen. Aber nach Nazi-Gold hat da bis heute noch niemand gesucht, soweit ich weiß. Es ist gut möglich, dass die Nazis damals auch einen bereits vorhandenen Stollen benutzten. Und Rupert hatte sogar schon einen Verdacht: er glaubte, solche Tunnelverläufe gäbe es vermutlich heute noch irgendwo zwischen Königstein und dem Altkönig. Und das könnte er inzwischen durchaus genauer wissen.«

Der Großvater machte eine kurze Pause und runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja ja, diese Könige. Darum sind die beiden Karten auch in Königen gut aufgehoben«, fuhr er fort. »Aber ohne die Schlüssel und die andere Kartenhälfte fliegt Rupert Raff da höchstens in die Luft.« Plötzlich wandte sich sein Blick der Zimmertür zu. »Hörst du das Klappern da draußen?«

Tivaro nickte.

»Das ist sicher wieder die Nachtschwester«, vermutete der Großvater.

»So früh?«, wunderte sich Tivaro. »Es ist doch erst viertel nach acht. Für mich ist das ganz früher Abend.«

»Das ist nun mal in Krankenhäusern so. Hier passiert immer alles zu früh.« Opa Reinhard rümpfte die Nase, sodass sich die Schläuche darin leicht bewegten. »Räum das Schachspiel wieder ein!«

Tivaro gehorchte. Dann hörten sie ein leises schnelles Klopfen an der Tür, die sich gleich darauf öffnete. Schwester Marlies schob einen Wagen mit verschiedenen Geräten ins Zimmer.

»Wieder Besuch zu später Stunde? Sie sollten sich nach der OP schonen, Herr Wallenberger. Haben Sie Schach gespielt?«, fragte sie mit einem Blick auf Tivaro, der gerade das Schachbrett auf seinem Schoß zusammenklappte. »Sie wissen, dass Sie jede Aufregung vermeiden sollen, Herr Wallenberger, nicht wahr? Jetzt wird aber erstmal der Blutdruck gemessen«, entschied die Nachtschwester.

»Dann ist es wohl an der Zeit, dass du wieder gehst, mein lieber Tivaro«, sagte Opa Reinhard. »Dein Besuch hat mich sehr gefreut, und ich denke, dass du diese ganze Sache erst einmal gut durchdenken musst. Du weißt schon, wovon ich rede. Nimm das Schachspiel mit und denke daran, dass du morgen die Schlüssel aus meinem Haus holst.«

»Ist okay.« Tivaro steckte den Schachbrettkasten in seinen Rucksack. »Mach’s gut, Opa. Ich komme dich morgen wieder besuchen.«

»Grüße Elise und deine Schwester von mir.« Opa Reinhard hob seinen Arm und winkte schwach.

Obwohl es noch nicht halb neun war, erblickte Tivaro den roten Fiat seiner Mutter auf dem Besucherparkplatz vor dem Krankenhaus. Elise wartete bereits im Auto, und tatsächlich regnete es inzwischen ziemlich stark.

»Können wir morgen früh noch mal zu Opas Haus fahren? Er braucht ganz dringend bestimmte Sachen», eröffnete Tivaro. Er wollte Elise eigentlich nicht sagen, dass es sich um Schlüssel handelte.

»Du tust ja geheimnisvoll. Was denn für Sachen?’«, fragte Elise.

»Noch ein paar Sachen eben. Ein paar Schlüssel oder so«, entgegnete Tivaro.

Elise sah zu Tivaro herüber und kniff ihre Augen etwas zusammen. »Oder so«, wiederholte Elise forschend. »Für einen Detektiv schwindelst du aber ziemlich schlecht. Ich möchte bloß wissen, was dahinter steckt. Hast du mir etwas zu sagen, Tivaro?«

Tivaro schluckte. »Nein, Mom, ehrlich! Da ist nur das Schachspiel, die Bücher und eben die Schlüssel, die er haben wollte. Sonst nichts.«

»Aber wozu in aller Welt braucht Opa Reinhard denn im Krankenhaus irgendwelche Schlüssel?« Elise schien sichtlich etwas nervös. »Das eine sage ich dir, Tivaro. Wenn da wieder etwas ist, irgendetwas mit eurer Gang, das du mir verheimlichst, dann mache ich das nicht mehr mit. So läuft das nicht. Ist das klar, Tivaro?«

Tivaro musste erneut schlucken. So ernst erlebte er seine Mutter selten. Aber er konnte ihr um keinen Preis von dem sagenhaften Schatz erzählen, der plötzlich in nahezu greifbarer Nähe irgendwo im Taunus lag. Die Eltern hätten die Jungen von o-vier womöglich niemals auf Erkundungen, geschweige denn auf eine richtige Schatzsuche bei Tag und Nacht gehen lassen.

»Da ist weiter nichts, Mom«, sagte Tivaro einfach. »Opa sieht echt ziemlich fertig aus. Und richtig Schach haben wir eigentlich auch nicht gespielt. Wir haben die ganze Zeit nur geredet.«

Elises Gesicht hatte sich schon wieder entspannt. »Okay, wir fahren morgen früh um neun nach dem Frühstück zu Opa. Aber um elf muss ich im Tutti-Frutti sein. Sabrina ist morgen den ganzen Tag bei ihrer Freundin Saskia. Das heißt, du kannst dir zu Mittag selbst etwas warm machen oder ins Da Angelo gehen.«

»Alles klar, Mom.« Tivaro war erleichtert. Die ganze Gang soll sich morgen im Da Angelo treffen, überlegte er freudig. Er konnte es kaum erwarten, seinen Freunden die ganze Sache mit dem Nazi-Schatz zu erzählen. Mit einem Mal überkam ihn ein wahres Glücksgefühl. Über einen echten Schatz Bescheid zu wissen, war wirklich etwas unglaublich Großartiges.

Zuhause zog sich Tivaro nach dem Abendbrot gleich in sein Zimmer zurück. Er holte das Schachspiel aus seinem Rucksack und legte es behutsam auf seinen Schreibtisch. Dann schaltete er seinen Computer ein. Tivaro wollte seinen Teil der Schatzkarte auf seinem Rechner abspeichern. So könnte er beliebig viele Kopien der Karte bearbeiten und ausdrucken. Einen Drucker hatte Tivaro, aber er besaß keinen Scanner. Deshalb entschloss sich der Jungdetektiv, ein Foto von der Karte mit seinem Smartphone zu machen und an den Computer zu senden. In den technischen Dingen des Alltags kannte sich Tivaro ziemlich gut aus. Sicher nicht so gut wie Nico. Aber Nico war ja auch ein Spezialist. Vor allem wusste er über das Internet gut Bescheid.

Tivaro öffnete die Holzkassette, zog vorsichtig das Papierröllchen aus dem weißen Schachkönig und strich die Karte mit den Händen auf der Arbeitsfläche seines Schreibtisches glatt. Doch das alte feste Papier erwies sich als ziemlich widerspenstig, sodass Tivaro die aufgerollte Karte schließlich an den Seiten mit zwei Holzlinealen beschwerte. Dann sorgte er für die richtigen Lichtverhältnisse. Sein Zimmer lag im Lichtschatten des Hauses, und wegen des Regens dämmerte es draußen früher als sonst.

Also knipste er seine Tischlampe an und richtete sie über dem eingespannten Papier aus. Außerdem wollte Tivaro unbedingt eine verwackelte Aufnahme seiner Schatzkarte vermeiden. Daher behalf er sich mit einem Bücherstapel, auf den er sein Handy legte, sodass die Kameralinse genau über der Karte zum Vorschein kam. Tivaro klickte den Auslöser seiner Kamera einige Male und fand, dass seine Arbeit ziemlich professionell war. Als er schließlich das Ergebnis als Vollbild auf seinem Monitor sah, war er wirklich hingerissen. Alles erschien ihm auf einmal viel klarer, größer und übersichtlicher als auf der kleinen zerknitterten Kartenhälfte.

Man konnte am unteren Rand der zerrissenen Karte nun sogar noch kleine Reste der zweiten Kartenhälfte erkennen, vage Umrisse und Striche. Warum hatte Opa bloß nie eine Kopie der vollständigen Karte gemacht?, ging es Tivaro durch den Kopf. In nur wenigen Minuten hatte Tivaro seinen Teil der Schatzkarte im Computer gespeichert und damit erst einmal doppelt abgesichert. Eine Kleinigkeit: Eine Kopie auf seiner Festplatte, ein Foto von der Karte in seinem Handyspeicher und das Original in der Figur des Schachkönigs! Sein Computerbild ließ er gleich fünfmal ausdrucken, farbig und im DIN A4 Format. Eine Kopie für jedes Gangmitglied und eine Extrakopie für besondere Zwecke. Als Detektiv hat man manchmal nichts als Büroarbeit, dachte Tivaro amüsiert. Aber auch Otto als Protokollführer hatte bereits seinen Teamgeist gezeigt. Für Nico kamen nur Spezialaufgaben wie die Internetrecherche in Frage, soviel war klar. Nur für Jojo fiel ihm gerade nichts ein, das irgendwie mit Bürotätigkeit zu tun gehabt hätte.

Tivaro machte es sich in seinem Sessel bequem und wählte Ottos Nummer über das mobile Haustelefon. Otto meldete sich sofort. »Hi, Tivaro. Wie war’s bei deinem Opa?«

Tivaro atmete tief durch. Er wollte so beherrscht und ruhig wie möglich am Telefon wirken, aber all die angestaute Spannung löste sich nun stoßweise in kurzen Sätzen: »Halt dich fest, Otto! Es gibt unglaubliche Neuigkeiten. Wir haben eine echte Schatzkarte. Von meinem Opa. Ein riesiger Schatz gleich hier im Taunus. Mensch, und wir haben einen Teil der Karte. Wenn wir den Schatz finden, sind wir alle reich!«

»Waaas??? Echt?? Ein Schatz?«, kam es schrill und hoch aus dem Telefonlautsprecher. Ottos Stimmbruch meldete sich zurück.

»Ja, Otto. Aber schrei nicht so laut! Nur unsere Gang darf davon etwas wissen.«

Otto wiederholte sich noch einmal: »Echt?? Kein Scheiß?«

»Ich erzähle keinen Mist, Ehrenwort«, entgegnete Tivaro. Dann fuhr er fort: »Ja, und morgen gibt’s noch mehr. Ich kriege nämlich auch die Schlüssel zu den ganzen Schatzkisten. Mann, ich bin so aufgeregt.« Tivaro konnte sich vor Tatendrang kaum noch im Sessel halten.

»Wissen die anderen schon Bescheid?«, wollte Otto wissen.

»Du bist natürlich der Erste, den ich anrufe, ist doch klar, Mann«, gab Tivaro cool zurück. »Pass auf! Wir treffen uns morgen alle punkt zwölf an der Bonameser U-Bahn-Station und gehen dann ins Da Angelo. Ich rufe Nico an, und du übernimmst Jojo, okay. Gute Nacht.«

»Alles easy, Chef! Dann also bis morgen«, rief Otto noch, bevor Tivaro das Gespräch beendete.

Tivaro gähnte. Er konnte Nico telefonisch nicht erreichen. Da schickte er ihm eine Email mit folgendem Inhalt: »Hi Nico! Achtung! Kein Fake! Lust auf eine Schatzsuche? Treffen der Gang morgen um zwölf an der U-Bahn Bonames Mitte. Einzelheiten (Schatzkarte etc.) danach beim Essen im Da Angelo. «

Zufrieden ließ Tivaro anschließend seinen Rechner herunterfahren. Er war noch nicht so richtig müde, aber er wollte es genießen, sich in seinem Bett all die wundervollen Gedanken auszumalen, die so mit dem Glück einer Schatzsuchergang zusammenhängen. Wie sie endlich auf die ersehnten Kostbarkeiten stoßen würden. Nur schwer ließen sich die Truhen öffnen, die eine nach der anderen ihren funkelnden Inhalt preisgeben würde. Tivaro hatte immer mehr Bilder von Reichtum und Glanz vor Augen. Aber auch das Gefühl des gemeinsamen Erfolgs und das Abenteuer der Suche mischten sich in seine schwärmerischen Gedanken. In dieser Nacht träumte Tivaro von Sonne, Mond und lauter glitzernden Sternen.

Vier Schlüssel zum König

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