Читать книгу Erst Zopf dann Kopf - Merlin T. Salzburg - Страница 4

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An diesem frühen Nachmittag herrschte die denkbar trübste Geburtstagsstimmung, die man sich im Hause der Kirchners nur vorstellen kann. Solange Rolands Lage noch ungeklärt war, sollte die Geburtstagsfeier erst einmal verschoben werden. Elise hatte Sabrinas Freundinnen bereits auf das kommende Wochenende vertröstet. Nur Tivaro, Elise und Sabrina saßen stumm um den gedeckten Tisch herum. Es gab zwar Sabrinas Lieblingstorte und sogar Chips und Schokokekse. Aber heute schmeckte einfach alles fad. Es wurde kaum gesprochen, und Sabrina sah aus wie drei Tage Regenwetter. Sie war auch verärgert, dass ihre Lieblingsfreundin Saskia heute nicht kommen durfte, doch ihre Mutter hatte sich durchgesetzt.

»Warum ausgerechnet Roland?«, entfuhr es Elise nach einer Weile.

»Solche Überfälle passieren eben«, meinte Tivaro. »So etwas gibt es jeden Tag. Dad war eben diesmal ganz zufällig das Opfer.«

»Wie redest du denn von deinem Vater? Ein zufälliges Opfer! Als wäre alles ganz normal! Mein Gott, wenn sie ihn operieren müssen.«

So ganz zufällig erschien Tivaro der Überfall auf seinen Vater allerdings tatsächlich nicht. Dazu waren die Männer in ihrer auffälligen Kluft zu zielstrebig auf ihn zugegangen. Ja, warum ausgerechnet sein Vater? Aber Tivaro äußerte seinen Zweifel nicht. »Wenn man einem den Schädel öffnet, hat man im ganzen Gehirn keine Schmerzen. Man bekommt seine Operation voll bewusst mit«, sagte er stattdessen.

»Ich muss gleich kotzen«, jammerte Sabrina.

»Ich wollte doch nur trösten«, wehrte sich Tivaro.

»Hast Du gar kein Herz? Wie kann man nur so kalt und gefühllos sein, Tivaro?«, entrüstete sich auch Elise.

Tivaro fühlte sich weit davon entfernt, herzlos zu sein. Denn dass sein Vater heute vielleicht schwer verletzt worden war, hatte ihn doch sehr mitgenommen. »Mom, das ist eben männlich. Als Chef einer Detektiv-Gang muss man nun mal knallhart sein, wenn man es mit solchen Kerlen aufnehmen will. Da muss man den Tatsachen klar ins Auge sehen.«

»Was soll das heißen: Eure Gang will es mit solchen Kerlen aufnehmen? Seid Ihr denn alle verrückt geworden? Ich will nicht auch noch meinen Sohn verlieren!« Elise war den Tränen nahe.

»Können wir jetzt vielleicht von etwas anderem reden?«, schlug Tivaro vor. Auf einem weiteren Tisch im Wohnzimmer waren Geburtstagsgeschenke aufgebaut. »Willst du nicht langsam mal auspacken?«

Aber Sabrina schüttelte den Kopf: »Erst mal wird noch etwas gespielt.«

»Gespielt?«, wiederholte Tivaro und verzog spöttisch seinen Mundwinkel. »Ich habe jetzt echt keine Lust auf Topf-Schlagen oder so.« Eigentlich wollte er so schnell wie möglich in sein Zimmer hinauf und die Jungen von der Gang anrufen. Er hatte auf dem Heimweg nur seinem besten Freund Otto eine kurze SMS über den Überfall geschickt.

Sie spielten schließlich schon eine ganze Weile Halma und Kniffel, als es gegen fünf an der Tür klingelte und das Spiel endlich mal stoppte.

Sabrina öffnete. Es war Otto. »Hallo Otto!«, begrüßte sie ihn freudig mit einem Küsschen links und rechts. »Kommst du zu meinem Geburtstag?«

»Oh, alles Gute natürlich!«, sagte Otto verlegen. »Aber eigentlich wollte ich zu Tivaro.«

Tivaro und Elise standen nun auch an der Tür. »Cool, das du gekommen bist«, sagte Tivaro. »Kannst gleich mit rauf kommen. Dann können wir alles besprechen.«

»Wir haben auch noch Torte da.«, bot Elise an und sagte zu Sabrina gewandt: »Wenn Otto sich schon selbst einlädt, dann kannst du meinetwegen auch Saskia anrufen und fragen, ob sie auch kommen möchte.«

»Ach nö! Ich will lieber nur mit euch spielen«, entgegnete Sabrina und sah Otto verstohlen von der Seite an.

»Otto kommt mit in mein Zimmer«, beharrte Tivaro.

»Jetzt gibt es erst einmal Kaffee und Kuchen, und dann sehen wir weiter«, entschied Elise und führte Otto ins Wohnzimmer.

»Ich weiß schon, was du gerne mit Otto spielen würdest«, flüsterte Tivaro leise zu seiner Schwester, die sofort sichtbar errötete. »Wer hat denn schon mit elf einen Freund?«

»Ich bin zwölf!«, schrie Sabrina ihm ins Gesicht. »Und überhaupt bin ich auch in eurer Bande. Das steht nämlich in Ottos Protokoll, dass ich Mitglied bin.«

»Ja, auf’m Papier!«, entgegnete Tivaro gedehnt. »Aber du bist kein Vollmitglied. Und wir sind auch keine Bande, sondern eine Gang.«

»Gang wie Gangster. Ihr seid also Gangster, super Detektiv-Gangster!« Sabrina lachte gekünstelt.

»Das verstehst du nicht. Eine Gang ist einfach cool, und o-vier ist eine Gang, weil bei uns eben was geht.«

»Hört auf zu streiten und kommt wieder an den Tisch!«, kam es aus dem Wohnzimmer.

»Keine Lust«, rief Tivaro zurück. Er ließ seine Schwester in der Diele stehen, lief die Treppe hinauf und schlug seine Zimmertür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

Erst einmal machte er es sich in seinem Sessel bequem. Neben ihm auf der Ablage lag die Fernbedienung. Tivaro schaltete den Fernseher ein und zappte sich von einer Kochsendung zur anderen. Heute kam natürlich wie immer überall Mist, und die guten Sportkanäle liefen nur im Wohnzimmer.

Mit Otto war in der letzten Zeit überhaupt nichts richtig anzufangen. Seit er mit seiner Schwester Sabrina zusammen war, verhielt sich Otto manchmal einfach wie der letzte Volldepp. Richtig peinlich fand er das. So was wie Liebe würde ihm natürlich nie passieren. Mit albernen Mädels hatte er absolut nichts am Hut. Tivaro kümmerte sich lieber um die wichtigen Dinge. Und die heutigen Ereignisse am Frankfurter Flughafen waren natürlich wichtig. Das war das doch eindeutig ein neuer Fall für o-vier. Schließlich lag sein Vater jetzt im Krankenhaus, und die Schäger liefen noch immer frei herum. Nur Otto schien das wohl völlig kalt zu lassen. Tivaro ärgerte sich darüber, das sein Protokollführer und bester Freund gerade anscheinend nichts besseres zu tun hatte als mit Sabrinas Puppen zu spielen.

Schließlich hielt es Tivaro nicht länger aus. Arbeit geht vor, dachte er. Er brannte darauf, endlich den anderen von dem Überfall erzählen. Das konnte nicht warten. Er legte die Fernbedienung zu Seite und wählte Nicos Nummer von seinem Smartphone aus. Doch auch über Whatsapp war er nicht zu erreichen. Tivaro versuchte es mit Jojos Nummer, obwohl er wusste, dass der sein Handy für alles Mögliche, nur nicht zum Telefonieren benutzte. Jojo besaß zwar neuerdings ein iPhone, aber das diente ihm nur als Fernbedienung für seinen CD-Player.

Zu seiner Überraschung war nur ein paar Sekunden später ein leises Knacken aus dem Handylautsprecher zu hören. »Hi, Tivaro«, meldete sich Jojo daraufhin am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme war kaum zu hören, denn im Hintergrund hämmerten laute Techno-Beats.

»Mach deine Mucke aus und hör zu. Es gibt Neuigkeiten«, begann Tivaro. »Wir treffen uns in einer halben Stunde im Hauptquartier.« Seine ganze Anspannung hatte sich mit einem Mal von ihm gelöst. »Otto ist auch hier, aber gerade noch mit meiner Sister beschäftigt, wenn du verstehst, was ich meine. Und bring unbedingt Nico mit! Ich kann ihn nicht erreichen.«

»Was ist denn überhaupt los?«, wollte Jojo wissen.

Doch Tivaro hatte bereits aufgelegt. Er verließ sein Zimmer wieder und lief schnell die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer packte Sabrina noch Geschenke aus. »Oh wie cool ist das denn?«, quietschte sie vergnügt. »Das ganz neue FunnyFarm Game für meine PS.«

Otto stand wie ein Honigkuchenpferd daneben und freute sich mit ihr. »Oh, sogar mit Ponyhof-Erweiterung«, sagte er und stopfte sich einen Brownie in den Mund.

»Nur falls es dich interessiert. Wir haben gleich Lagebesprechung. Kommst du mit?«, fragte Tivaro.

»Ach, fangt doch schon mal ohne mich an. Ich komme später vielleicht nach.«

»Was?« Tivaro glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Mit einer derartigen Abfuhr hatte er jetzt nicht gerechnet. »Das nächste Mal kriegst du eine Abmahnung!«, schnaubte er nur und verließ wütend das Haus. Sabrina und Otto starrten ihm verdutzt nach.

Was war Liebe doch für eine Zeitverschwendung!

Mit dem Bike brauchte Tivaro nicht mal zehn Minuten bis zum Garten. Dass Otto einfach nicht mitkommen wollte, ließ sein Adrenalin ansteigen. Am Bügel bog er in einen schmalen Feldweg ein und raste dann in voller Fahrt bis zur U-Bahnbrücke herab, rauschte darunter hindurch und trat wieder in die Pedale, das es nur so staubte. Kurz danach hielt er vor einem großen Garten, der von dichten Koniferen umzäunt war. Er lehnte sein Trecking-Rad in den Zaun und schloss das Tor auf. Dann schob er sein Rad in den Garten und ließ die Eisengittertür hinter sich zufallen.

Sobald man den Garten betrat, befand man sich fast wie in einer anderen Welt – ein idyllisches Stück Natur mit Gartenlaube und Grillplatz und einer ausreichend großen Wiese zum Fußballspielen. Ein alter Brunnen mit Wasserpumpe und ein kleiner Bretterverschlag zierten den Eingang. Die große Gartenhütte befand sich weiter hinten inmitten einer Gruppe schattiger Kiefern. Auch ein paar hohe Laubbäume gehörten zum Grundstück ganz am Ende des Gartens. Dort thronte das Hauptquartier von o-vier, ein mächtiges Baumhaus, das gut versteckt hoch oben zwischen den Ästen einer dicken Eiche und einer alten Erle verborgen lag.

Hier im Hauptquartier hielten die Jungen von o-vier regelmäßig ihre Lagebesprechungen ab. Tivaro war der Chef, Otto der Schriftführer, Nico der Computer-Experte und Jojo war eigentlich für alles gut. Er war Halb-Chinese, und niemand wusste, ob er noch weiter wachsen würde. Er konnte zwar Karate, hatte aber Schiss vor Mücken.

Im Hauptquartier wurden hauptsächlich Pläne geschmiedet und Fälle diskutiert. Wenn die Gang allerdings nach einem abgeschlossenen Fall richtig feiern wollte, dann war ihre erste Anlaufstelle die Pizzeria Da Angelo in Bonames, die ihrer Meinung nach die besten Pizzen und Pasta-Gerichte im Stadtteil servierte.

Tivaro kletterte die Strickleiter hoch und stieg ins Hauptquartier. Seit der letzten Erweiterung hatten sie sogar Strom, und das Baumhaus hatte eine neue Etage erhalten. Nico hatte auch die Haustechnik noch einmal mächtig nachgerüstet. Neben Flutlichtlampen bestand er neuerdings auf versteckten Kameras hoch in den Bäumen des Gartens, über die man die Umgebung direkt über einen Laptop-Monitor im Baumhaus beobachten konnte. Sie hatten vor einigen Wochen nämlich zwei Bankräuber im Garten, und solchen Eindringlingen wollte Nico in Zukunft vorbeugen. Ihren Komfort konnte sich die Gang übrigens durchaus leisten: Immerhin erhielten die Detektive für die Aufklärung ihrer ersten beiden Fälle stattliche Belohnungen. Ja, Geldsorgen hatten die Jungen von o-vier wirklich nicht.

Tivaro saß auf der Eckbank am Tisch und daddelte gedankenverloren an seinem Handy herum. Seit ihrem zweiten Fall waren Otto und Sabrina nun also ein Pärchen. Das konnte schon etwas nerven. Tivaro legte sein Smartphone wieder zur Seite.

Gerade als er den Laptop mit dem Überwachungssystem startete, kamen vorm Garten zwei Fahrräder mit einem kaum zu überhörenden Bremsakt zum Stehen. Es waren Nico und Jojo. Die Jungen waren Nachbarn, und Jojo hatte Nico tatsächlich abgeholt. Sie schoben ihre Räder durch das Tor und stellten sie neben Tivaros Bike ab. Die Sonne brannte jetzt am frühen Abend immer noch ordentlich vom Himmel, und kaum ein Wölkchen war zu sehen. Ein heißer Wind blies durch die trockenen Felder, brachte aber keine Abkühlung.

Jojo wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und rief in Richtung Baumhaus: »Hi, Tivaro, was geht?«

Tivaro blickte aus einer versteckten Luke des Baumhauses und pfiff auf zwei Fingern in die Richtung seiner Freunde. Kurz darauf erklommen Jojo und Nico das Hauptquartier über die Strickleiter, setzten sich gleich zu Tivaro an den Tisch und begrüßten sich alle mit ihrem gewohnten Handschlag.

»Gut, dass ihr da seid«, begann Tivaro. »Wir haben einen neuen Fall, Leute.«

In kurzen Sätzen berichtete Tivaro von den Geschehnissen am Flughafen und fasste dann noch einmal zusammen: »Was wir bis jetzt haben oder besser gesagt nicht haben sind ein geklauter Rucksack und zwei Typen im Overall, die meinen Vater zusammengeschlagen haben. Und es gibt noch einen Zeugen, Lars Petersen, dessen Aufenthaltsort wir kennen.«

»Den sollten wir uns vielleicht mal vorknöpfen«, schlug Jojo vor, »damit wir wissen, was er den Bullen gesagt hat.«

»Klasse Idee!«, fand auch Tivaro. »Vielleicht fällt ihm auch noch mehr ein, irgendetwas, das uns weiterbringt. Lars Petersen ist übrigens im Steigenberger Hotel in Bad Homburg abgestiegen. Stand auf der Visitenkarte meiner Mum. Was meinst du Nico? «

Nico hatte die ganze Zeit nur da gesessen und geschwiegen. Erst jetzt fiel Tivaro auf, das sein Gesicht irgendwie wie versteinert wirkte. Nico zog seine Augenbrauen hoch und sagte dann ernst: »Ich kann nicht mit zu diesem Lars Petersen.«

»Wieso denn nicht?« fragte Tivaro.

»Ihr habt ja gar keine Ahnung, was da heute wirklich abging.«

Tivaro und Jojo waren sprachlos. »Was denn? Wo denn?«, stieß Jojo hervor.

»Sorry, aber das kann ich euch jetzt echt nicht sagen. Nur soviel: Ich war heute auch am Flughafen. Ihr wisst doch, mein Praktikum.«

Tivaro fiel es wieder ein. Nico machte gerade ein Ferienpraktikum bei der Frankfurter Polizei. Dort war sein Vater Kriminaloberkommissar beim Raubdezernat.

»Stimmt ja, dein Praktikum. Aber was weißt du denn von dem Überfall?«, wollte Tivaro wissen.

»Leute, ich sag’s euch, da ist eine megaheiße Sache am Laufen«, verkündete Nico geheimnisvoll. »Und ich bin noch bis Morgen am Flughafen eingesetzt. Danach kommt Wasserschutz, dann Autobahnpolizei, Grenzschutz, Demos. Fast jeden Tag ein neues Programm. Da erfährt man viel.«

»Ja, was denn zum Beispiel? Wovon redest du überhaupt?« Tivaro wurde langsam ungeduldig.

»Ich habe Informationen zu gewissen Vorgängen heute am Flughafen, über die ich nicht reden darf.« Nicos Stimme hatte eine Spur von Überheblichkeit.

»Du besprichst also lieber alles mit der Polizei, und mit uns besprichst du plötzlich nichts?«, hakte Tivaro nach. »Du bist gerade mal zwei Tage im Bullenpraktikum. Mal nur so als Denkhilfe, Alter.«

»Das wäre jedenfalls im Augenblick zu gefährlich. Vielleicht sag’ ich euch Morgen was.« Nico genoss es anscheinend, seine Macht über die Unwissenheit der anderen spielen zu lassen. »Glaubt mir, Leute. Das ist ’ne Nummer zu groß für Euch. Ich habe polizeiliche Informationen, die mein Vater nur an mich weitergegeben hat. Und er hat mir verboten, mit euch darüber zu reden.«

Tivaro konnte es nicht fassen. »Aber Morgen könnte mein Dad vielleicht tot sein. Wir haben doch sonst immer gleich alle Fakten auf den Tisch gelegt.«

«Ja, und woher haben wir die meisten Fakten und Infos? Doch wohl von mir, oder?«, behauptete Nico.

»Weil du ein Bullensohn bist«, entgegnete Tivaro.

Nico schien das zu überhören. »Und wer hat wohl das meiste Geld von uns in die Ausrüstung hier gesteckt?«

»Mann, Nico, du bist ja mal nur noch peinlich, seit du Kohle hast«, gab Tivaro verächtlich zurück.

Nico zuckte einfach mit den Schultern. »Wer hat, der hat.«

»Ja, und der hat auch Informationen, die uns vielleicht wegen der Sache mit meinem Vater weiterbringen könnten. Die unser Nico aber leider lieber vor uns zurückhält: Ätsch, ich weiß was, was Ihr nicht wisst. – Los, pack endlich aus, du Vogel!«, rief Tivaro erregt.

»Nicht in diesem Ton, Tivaro!« Beide waren plötzlich ruckartig aufgestanden und stießen dabei ihre Holzstühle um. Der viel stärkere Nico baute sich mit stolz geschwellter Brust vor Tivaro auf. »Polak potrafi!«

»Ok, manchmal sind Polizisten ja auch ganz nützlich«, lenkte Jojo ein, ehe Tivaro Nico zu nahe kommen konnte. Er saß etwas eingeklemmt zwischen den beiden und quetschte sich mühsam nach oben, um Tivaro und Nico zu trennen.

Nico entschied sich für den Rückzug. Er schnappte seine Tasche und stampfte so wütend zum Ausgang. Dann drehte er sich noch einmal um und drohte: »Leckt mich doch! Ab jetzt mache ich Ermittlungen auf meine Weise. Ihr habt ja eh keinen Plan. Und wer weiß, ob Tivaros Daddy nicht auch in der Sache mit drin steckt.«

»Was?«, schrie Tivaro außer sich. »Du Arschloch! Mein Vater ist hier das Opfer!«

»Und meiner macht euch die Hölle heiß, wenn ich ihm sage, dass ihr euch da mit reinhängen wollt.«

»Aber du?? Ich sag dir was, Nico, du bist hier sowas von raus, Mann! Hörst du, du bist raus aus der Gang. Gib mir deinen Gartenschlüssel und verpiss dich!«

Doch Nico war schon verschwunden. Drinnen hörte man noch das Gartentor klappern. Auf dem Monitor sahen Tivaro und Jojo, wie Nico mit seinem Bike davonraste.

»Aber echt voll abgehoben der Typ, heute!«, musste nun auch Jojo zugeben.

Tivaro holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Danach war er kaum noch wütend. Er fühlte sich eher niedergeschlagen. »Was sind wir bloß für eine tolle Gang!«, sagte er. »Der eine hängt lieber mit meiner Schwester ab, und der andere fühlt sich plötzlich als was Besseres.«

»Wollen wir jetzt allein nach Bad Homburg fahren?«

Tivaro schüttelte den Kopf. Er hatte es sich inzwischen anders überlegt. »Ich ruf mir ein Taxi und fahre in die Uni-Klinik. Ich muss wissen, was mit meinem Vater los ist.«

Jojo sah nicht gerade happy aus. »Ich glaub, dann mache ich mich mal wieder auf den Heimweg.«

»Ok, ich halte dich auf dem Laufenden. Im Augenblick bist du wohl unser einziger Mann.«

»Ja klar, Chef!«, antwortete Jojo und grinste dann etwas verlegen. »Aber das mit deinem Vater hat Nico doch wohl nicht ernst gemeint, oder?«

»Was weiß denn ich?«, gab Tivaro zurück. Er nahm seinen Rucksack und wandte sich zum Gehen. »Komm, wir müssen los. Mach den Monitor aus, die Sitzung ist beendet.«

Tivaro und Jojo kletterten nach draußen und saßen schon bald auf ihren Rädern. Jojo begleitete Tivaro noch auf dem Feldweg bis Bonames Mitte, wo sie sich ein Eis im Café Lido holten, bevor sich ihre Wege schließlich trennten.

Tivaro rief zu Hause an, um Elise nach dem neuesten Stand zu fragen. Sie war sehr aufgeregt und riet Tivaro davon ab, ins Klinikum zu fahren, weil Roland immer noch nicht aufgewacht war.

Doch Tivaro bestand auf seine Absicht: »Einer muss schließlich bei ihm sein, wenn er wieder aufwacht. Dad kann ja wohl nichts dafür, dass du kein Blut sehen kannst.«

Elise gab ihm schließlich die Adresse der Unfallchirurgie. Tivaro schloss sein Rad direkt an der Eisdiele an. Dort würde es noch bis Mitternacht unter bester Beobachtung bleiben. Dann schlenderte er zum Taxistand neben der kleinen Ladenzeile und stieg in eines der Fahrzeuge der Frankfurter Zentralvereinigung.

Tivaro hielt dem Fahrer sein Smartphone unter die Nase. »Zu Uni-Klinik, bitte.«

»Ah, VIP-Taxi-App! Hat nix jeder. Haben Sie Pass?«, wollte der pakistanische Fahrer in gebrochenem Deutsch wissen. Im Taxi roch es nach Gewürzen.

Tivaro zückte seinen Ausweis und bestätigte den Fahrauftrag mit einem PIN-Code. Das war alles. Und es kostete nichts. Ein Super-Service für ein ganzes Jahr, den die Jungen von o-vier immer wieder gerne in Anspruch nahmen. Auch dies war ein Teil ihrer Belohnung für die Aufklärung der letzten beiden Banküberfälle.

Auf dem Weg ins Klinikum wurde Tivaro etwas mulmig bei dem Gedanken, dass sein letzter Krankenhausbesuch noch gar nicht allzu lange her war. Erst kürzlich war sein Großvater im Frankfurter Bürgerhospital unerwartet gestorben. Durch Opa Reinhard hatte er auch von dem gewaltigen Nazi-Goldschatz erfahren, den die Gang etwa zwei Wochen zuvor im Taunus entdeckte. Tivaro bedauerte zutiefst, dass sein geliebter Opa diesen Triumph nicht mehr erlebt hatte.

Tivaro wählte die Nummer der Intensiv-Station, auf der sein Vater lag. Die Schwester am anderen Ende erklärte ihm, sie könne nur Angehörigen Auskunft über Patienten geben.

»Aber ich bin doch sein Sohn. Tivaro Kirchner.«, sagte Tivaro etwas genervt.

»Und woher soll ich das wissen, junger Mann? Ich habe nur eine Rufnummer von ihrer Mutter, falls sie das ist. Und nur darüber gehen Nachrichten heraus. Kommen Sie her und weisen Sie sich aus. Dann sehen wir weiter.«

»Vielen Dank! Sie haben mir sehr geholfen. Ich bin auf dem Weg«, sagte Tivaro und legte auf. Immerhin hatte er als Fremder der Schwester trotz ihrer Bedenken entlockt, dass sein Vater überhaupt auf dieser Station war.

»Alles Sischerheit«, sagte der Taxifahrer. »Heute ganz überall alles Sischerheit: Airport, Bahnhof, Hotel, Messe, Kaufhaus, Büro, Bank, Hospital, Autobahn, Taxi, alles Sischerheit.«

»Ja, ja. Fahren Sie einfach weiter. Machen Sie Musik an und das Fenster auf. Ihre Klimaanlage stinkt.«

Der Fahrer brummte etwas und schwieg dann für den Rest der Fahrt.

Vielleicht war ich nicht sehr höflich, dachte Tivaro. Aber draußen waren immer noch dreiunddreißig Grad Hitze, und Tivaro fühlte sich wirklich nicht sonderlich gut an diesem Abend.

Tivaro betrat das Klinikgebäude durch eine große massive Holztür. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Salben strömte ihm in die Nase. Der Eingang zur Intensiv-Station war von außen verschlossen. Erst auf ein Signal hin erschien eine junge Dame in grüner OP-Kleidung und weißem Mundschutz hinter der Glastür und öffnete sie von innen mit ihrem Ellenbogen.

»Ich bin Tivaro Kirchner.«

»Habe ich mir gedacht. Ich bin Stationsschwester Anne. Ich bringe dich mal zu deinem Vater.«

»Wollten Sie nicht meinen Ausweis?«, fragte Tivaro.

»Den brauche ich wohl nicht bei der Ähnlichkeit«, meinte Schwester Anne. Als sie sich dem Krankenzimmer näherten, mahnte sie Tivaro leise: »Du kannst aber noch nicht mit deinem Vater reden. Den kriegst du heute jedenfalls nicht wach. Aber das sagt dir am besten der behandelnde Arzt.«

Die Stationsschwester ließ Tivaro im Zimmer stehen und entfernte sich, um den Stationsarzt zu holen. Tivaro fand Schwester Anne nett.

Professor Doktor Lange erschien wenig später und reichte Tivaro seine weiche Latex-Hand: »Du bist der Sohn?«

Tivaro nickte. Der Arzt führte Tivaro näher an ein Bett an der Wand und wies auf den bandagierten Kopf, der auf einem mit Jodtinktur verklebten Kissen lag.

»Tja, klassisches Schädel-Hirn-Trauma. Wir haben deinen Vater in ein künstliches Koma versetzt wegen der Hirnschwellung. Das passiert oft. Vor allem beim Sport. Aber natürlich auch vor dem Sport und nach dem Sport. Schuld ist in den meisten Fällen jedenfalls der Sport. Treibt dein Vater Sport?»

»Nein, er wurde zusammengeschlagen.«

»Ach so ist das.« Mit einer hastigen Bewegung wandte sich Professor Doktor Lange um und wies auf das gegenüberliegende Bett. »Äh, dort liegt also dein Vater. Ja – kleine Platzwunde am Kopf – zwei Mal getackert. Leichte Gehirnerschütterung, sonst ist sein Zustand stabil. Er bleibt aber noch bis Morgen zur Beobachtung hier. Noch Fragen?.«

»Also kein künstliches Koma. Und warum wacht er dann nicht auf?«, wollte Tivaro wissen.

»Dein Vater war total high. Oder vielmehr so abgehoben, dass er schon wieder down war. Klarer Fall von K.O-Tropfen.«

»Ach so.« Tivaro nickte freundlich. »Vielen Dank für die gute Nachricht, Doktor. Ich geh’ dann jetzt wohl besser.«

Ein bisschen viel abgehoben heute, dachte Tivaro nur. Er drückte seinem Vater freundlich die bleiche Hand mit der Kanüle, die auf seiner Bettdecke lag. Dann entfernte er sich leisen Schrittes. Draußen auf dem Gang rief er nach einem Taxi, das ihn wieder zurück nach Bonames brachte.

Erst Zopf dann Kopf

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