Читать книгу Das Leben geht immer weiter – irgendwie - Mia Marjanović - Страница 8
Bojana, 25 Jahre Flüchtlingskinder werden zu keiner Geburtstagsparty eingeladen
ОглавлениеLange ist es her.
20 Jahre.
Ich war damals fünf Jahre alt. Als der Krieg ausbrach, war ich gerade mal drei.
Erinnerst du dich?
Nein, wie könnte ich?
Es gibt Ereignisse, die wir, auch wenn wir noch ganz klein sind, in der Erinnerung bewahren. Manchmal erinnert man sich erst als Erwachsener, was einem mit drei Jahren widerfahren ist.
Nur wenn man will.
Willst du dich nicht erinnern?
Ich erinnere mich an den Moment, als mein Vater, der Soldat, plötzlich bewaffnet in unserem Wohnzimmer stand. Meine Mutter schrie ihn an, fragte, was er da mache, bewaffnet vor dem Kind. Ich erschrak und weinte. Mein Vater schrie zurück: Siehst du, was du dem Kind antust? Siehst du, was du machst, schrie er sie an und nahm mich auf den Arm. Er wollte mich beruhigen, aber ich bekam nur noch mehr Angst. Ich weinte, genau wie meine Mutter. Er setzte mich auf den Boden und ging. Erst später habe ich es verstanden: Mein Vater hatte sich den serbischen Milizen angeschlossen und kämpfte gegen Muslime! Davor hatte meine Mutter Angst.
Warum?
Warum? Sie ist selbst eine Muslima!
Das war hart.
Alles in meinem Leben ist hart.
Wir waren wegen deinen kurzen Haaren überrascht. Früher waren sie sehr lang.
Das mag ich nicht mehr. Ich möchte unauffällig bleiben.
Warum möchtest du das?
Ich mag keine Kontakte. Ich bin Flüchtling! Ich meide die Menschen.
Warum?
Sie mögen keine Flüchtlinge. Flüchtlinge lügen und betrügen.
Kommst du mit anderen Menschen nicht klar?
Doch, aber ich brauche keine Menschen.
Wie kann man ohne Menschen leben?
Wenn man will, geht das. Ich habe kein Vertrauen zu anderen Menschen. Mein eigener Vater hat mich verraten und im Stich gelassen.
Wie hat dich dein Vater verraten?
Kurz nach dem Kriegsende besuchte uns ein unbekannter Mann. Er kam angeblich aus Sarajevo und hatte einen Brief meines Vaters bei sich. Im Brief stand, dass er sich von meiner Mutter scheiden lassen wolle. Sollte sie sich weigern, wolle er sie wegen Kindesentführung verklagen. Sollte sie einverstanden sein und die von ihm vorgelegten Unterlagen unterschreiben, wollte er sie in Ruhe lassen.
Hat sie es getan?
Was blieb ihr denn anderes übrig? Ein Flüchtling muss das machen, was von ihm erwartet wird. Du darfst nicht auffallen. Du lebst nicht dein eigenes Leben.
Habt ihr erfahren, warum er das getan hat?
Gute Frage. Er hat eine andere Frau gefunden! Meine Mutter hatte mit mir, angeblich gegen seinen Willen, das Land verlassen. Sie habe mich entführt, um sich an ihm zu rächen. Was für ein Witz! Wir hatten Krieg und er wollte nicht mit.
Ich erinnere mich, damals rief er aus Sarajevo oft an.
Dann weißt du auch noch, dass sie sich immer gestritten haben. In dem Brief schrieb er, es seien Zeiten angebrochen, in denen jeder seinesgleichen finden muss. Er hätte einen großen Fehler gemacht, als er sie geheiratet hat. Schon vor meiner Geburt hätten sie über meinen angeblich bosnischen Namen gestritten.
Dann kam das alles für deine Mutter aber nicht ganz unerwartet.
Eine Scheidung kommt immer unerwartet. Er meinte, ihre Ehe sei ein Kompromiss und er könne nicht sein ganzes Leben lang Kompromisse eingehen.
Wie hat deine Mutter darauf reagiert?
Sie las den Brief und weinte. Dann las sie ihn abermals und weinte. Dieser ‚Scheißkerl’ hat sie kaputt gemacht. Sie rauchte, sie trank, sie verfiel in große Depressionen. Sie hasste mich und sie liebte mich. Sie bestrafte mich, wenn z. B. mein Kleid schmutzig war. Danach kuschelte sie mit mir und entschuldigte sich.
Das ist eine schmerzhafte Erfahrung für ein Kind. Wie alt warst du?
Sieben vielleicht.
Wie hast du dich da gefühlt?
Ich habe mich erstmal für meinen Vater geschämt. Danach begann ich, ihn zu hassen. Meine Mutter sagte, ich müsse ihn nicht mögen, aber ihn hassen solle ich auch nicht. Hass sei nicht gut. Man merkt, wie der Hass einen verändert. Wer die anderen hasst, kann sich selbst auch nicht mögen.
Diese Erfahrung machen viele Leute.
Sie verteidigte ihn, und das war für mich sehr schlimm.
Wie hat sie ihn verteidigt?
Sie rechtfertigte, was er getan hat.
Was hat sie dir erzählt?
Sie hat mir erzählt, dass er schon immer ein Muttersöhnchen gewesen sei und dass seine Familie, besonders seine Mutter, sie nie gemocht habe. Weil sie studierte und er nicht und weil sie eine Türkin sei.
Ich wusste nicht, dass deine Mutter eine Türkin ist.
Ist sie auch nicht. Sie wurde nur so bezeichnet, weil sie Muslima ist.
Deine Mutter hatte es also immer schwer mit deinem Vater.
Er hat uns unser Haus weggenommen.
Welches Haus?
Das Haus in Sarajevo, das meine Großeltern meiner Mutter geschenkt hatten, noch bevor sie ihn überhaupt kannte.
Wie konnte er euch das Haus wegnehmen?
Er nannte es ‚Tausch’. Er bekommt das Haus und sie bekommt das Kind – mich!
Deine Mutter hat sich für ihr Kind entschieden. Hast du danach deinen Vater je wieder getroffen?
Als meine Mutter alles unterschrieben hatte, erfuhren wir, dass er in Berlin lebt. Meine Mutter war außer sich. Anna tröstete sie.
Welche Anna?
Von der Kirche. Sie hat uns damals sehr viel geholfen. Sie meinte, dass sich die Männer im Krieg seelisch so verändern würden, dass sie manchmal nicht sie selber seien. Lass ihm Zeit, sagte sie, um die Gräuel des Krieges zu verarbeiten. Sie ließ ihm einige Monate Zeit. Dann, an einem Samstag, als ich nicht in die Schule musste, holte sie unsere schönsten Kleider aus dem Schrank und wir fuhren in den Wedding. Dort wohnte er. Sogar sein Name stand an der Tür. Unser Name. Sie klingelte und die Tür ging auf. Ich hatte Angst und spürte ihre, die nicht geringer war. Eine junge Frau erschien an der Türschwelle. Sie war schwanger. Meine Mutter entschuldigte sich für die Störung und sagte, sie möchte bitte ihren Mann sprechen. Die junge Frau sagte, da wohne nur ein Mann, und zwar ihrer. Er schlief und sie wollte ihn nicht wecken. In diesem Moment tauchte mein Vater hinter ihr auf. Ich hasste ihn, aber als ich seine Gestalt sah, spürte ich auf einmal eine so große Freude, die ich mir auch heute noch nicht erklären kann. Papa, sagte ich. Er guckte mich nicht einmal an. Ihr habt hier nichts verloren, sagte er. Verschwindet! Meine Mutter nahm mich wortlos an die Hand und zog mich hinter sich her. Wir rannten auf die Straße. Ich schämte mich vor ihr und sie sich vor mir. Das werde ich nie vergessen.
Das kann man ja auch nicht vergessen.
Ich denke fast jeden Tag an dieses Erlebnis.
Wie habt ihr euren Aufenthalt geregelt?
Der Krieg war vorbei. Bosnische Flüchtlinge mussten in ihre Heimat zurück. Wir waren die ersten Flüchtlinge, die abgeschoben wurden.
Wann?
Ich war damals in der 3. Klasse. Ich kam aus der Schule zurück, und zu Hause wartete meine Mutter mit zwei Polizisten. Sie hatte schon gepackt. Alles ging sehr schnell. Zuerst zum Flughafen Schönefeld und am nächsten Tag waren wir bereits in Sarajevo. Sarajevo sah wie Hiroshima aus.
Nach der Atombombe?
Ja, die Fotos haben sie uns in der Schule gezeigt. Ich weinte. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen. Nur, wie sollte ihr das gelingen? Alles war so dreckig. Und wen hatten wir denn in Sarajevo? Niemanden! In Berlin wollten sie uns nicht haben. Aber auch in Sarajevo waren wir immer an der falschen Adresse. Gibt es eine richtige Adresse für uns, fragte meine Mutter, und der Beamte erwiderte: Gnädige Frau, das hätten Sie sich früher überlegen sollen, bevor sie in den Westen abgehauen sind. Was wollt ihr von uns, fragte meine Mutter genervt. Und was wollt ihr von uns, fragte der Beamte zurück.
Gab es keine Unterkünfte für die Zurückkehrenden?
Ihr seid so naiv. Sollten sie für uns ein Empfangskomitee organisieren? Wisst ihr, wie viele Flüchtlinge abgeschoben wurden? Hunderte, dann Tausende aus ganz Deutschland, alle nach Sarajevo. Es war egal, wo sie vor dem Krieg gewohnt hatten.
Ihr habt doch nicht auf der Straße geschlafen?
Wir nicht. Meine Mutter hatte eine Tante in der Altstadt von Sarajevo. Sie hatte den Krieg dort überlebt. Ihre zwei Söhne nicht. Es war nicht einfach, bei ihr Hilfe zu suchen. Wir waren in Sicherheit und am Leben, ihre Söhne aber waren tot. Sie hat uns dann doch aufgenommen. Die anderen waren nicht so freundlich zu uns. Sie meinten, wir wären geflohen, während sie den Krieg zu Hause durchlitten hätten, und jetzt wären wir zurück und hätten viel Geld.
Hattet ihr Geld?
Woher denn?
Vielleicht hat deine Mutter gearbeitet?
Sie hat dafür kein Geld bekommen. Das war ehrenamtlich. Trotzdem waren fast alle böse auf uns. Meine Mutter hat mich getröstet. Mach dir keine Sorgen, sagte sie, wir werden bald nach Hause zurückkehren.
Wo war euer Zuhause?
In Berlin.
Was hatte sie denn vor?
Sie wollte nicht darüber reden. Sie sagte, du bist das Kind, ich bin die Mutter. Jeder trägt seine Last …
Was war deine Aufgabe?
Lernen.
Bist du wieder in die Schule gegangen?
So schnell kam man nicht in die Schule. Auch hier in Berlin nicht.
Wie hast du dann gelernt?
Aus den Büchern, die meine Mutter für mich aus Berlin mitgebracht hatte.
Und du hast immer genau das getan, was deine Mutter sagte.
Ja, das habe ich. Meine Mutter hat mich nie im Stich gelassen. Anders als mein Vater und so viele andere.
Wer noch?
Ich möchte lieber nicht darüber reden.
Wie lange seid ihr in Sarajevo geblieben?
Nicht lange. Es war nach etwa drei Monaten, da wollte ich eines Abends ins Bett gehen. Meine Mutter sagte aber, ich solle mich so anziehen, als ob wir ins Theater gingen.
Wie meinst du das?
Ich sollte schön aussehen. Also bin ich angezogen ins Bett gegangen. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte.
Und was hatte es zu bedeuten?
Die Flucht nach Berlin.
Wie war das möglich?
Wenn man Geld hat, ist alles möglich.
Von wem hattet ihr das Geld?
Das weiß ich nicht. Meine Mutter sagte, ich solle nicht fragen. Ich wusste, es war gefährlich.
Was war gefährlich?
Nach Berlin zurückzukehren. So viele Grenzen! Sie konnten uns jederzeit wieder abschieben. Wie Kriminelle! Wir waren nicht die Einzigen, viele waren unterwegs. Manche sind nach Holland gegangen, manche in die nordischen Länder, Schweden, Norwegen. In Deutschland wollten sie uns nicht haben.
Warum nicht?
Der Krieg war vorbei. Wir sollten das zerstörte Land aufbauen.
Das verstehe ich.
Ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte in die Schule. Wie kann ein Kind ein Land aufbauen? Außerdem wollte ich Erzieherin werden, keine Häuser bauen. Und die Sprache sprach ich auch nicht.
So schnell hast du deine Muttersprache verlernt?
Meine Mutter war Lehrerin. Sie unterrichtete Mathematik und Biologie und meinte, das könne sie auch in Deutschland jederzeit tun. Sie hat Deutsch gelernt und hat mit mir nur Deutsch gesprochen. Sie wollte ein neues Leben anfangen. Sie wollte arbeiten, Geld verdienen. Wie all die anderen.
Hat sie es geschafft?
Nein, Flüchtlinge durften kein Geld verdienen.
Auch nicht arbeiten?
Sie durften zwar arbeiten, aber sie wurden nicht bezahlt.
Was hat deine Mutter gemacht?
Sie hat ehrenamtlich gearbeitet. Sie wollte zeigen, dass sie ein wertvoller Mensch ist und dass sie es verdient hat, hier zu leben. Ihr Traum war, wieder in der Schule zu unterrichten.
Hast du auch Träume?
Ich hatte damals Träume, ja.
Von was hast du geträumt?
Ich habe immer geträumt, dass ich einen deutschen Pass habe und dass ich verreisen kann.
Konntest du mit deinem bosnischen Pass nicht verreisen?
Soll das ein Witz sein?
Nein, das ist eine ernste Frage.
Wir durften nicht einmal nach Potsdam fahren. Flüchtlinge durften den Ort nicht verlassen, wo sie registriert sind.
Und wenn sie das taten?
Das ist gesetzwidrig.
Sie machen sich also strafbar.
So ist es.
Was war die Strafe dafür?
Manchmal eine Geldbuße, manchmal die Abschiebung. Ich habe von verschiedenen Fällen gehört.
Wohin wolltest du verreisen?
Nach Australien.
Warum nach Australien?
Ich hatte gehört, dass da die Leute viel freundlicher zu den Flüchtlingen sind.
Was hast du als Flüchtlingskind vermisst?
Alles.
Du bist doch in die Schule gegangen.
Ja.
Was hast du nach der Schule gemacht?
Gelesen.
Was noch?
Wenn ich ein Buch ausgelesen hatte, ging ich in die Bibliothek, um ein neues zu holen. Ich wollte Klavier spielen, aber meine Mutter konnte den Klavierunterricht nicht bezahlen. Ich spielte Flöte und Gitarre in der Schule.
Was hast du also am meisten vermisst?
Freunde. Eine Wohnung mit eigener Toilette und eigener Küche.
Freunde konntest du doch haben.
Wo konnten mich diese Freunde besuchen? In meinem Zimmer im Heim? Keiner wusste, wo ich wohne, keiner wusste, dass ich ein Flüchtling bin.
Warum hast du das geheim gehalten?
Weil ich mich schämte.
Warum hast du dich geschämt?
Warum? Warum? Ich wollte, dass sie mich in Ordnung finden!
Es ist doch kein Verbrechen, Flüchtling zu sein.
Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie sich die anderen Kinder gegenüber Flüchtlingskindern benehmen?
Keine genaue.
Sie lachen sie aus, sie zeigen mit dem Finger auf sie. Flüchtlingskinder werden zu keiner Geburtstagsparty eingeladen.
Wurdest du eingeladen?
Ja.
Na also.
Weil keiner wusste, dass ich ein Flüchtling war.
Wo hast du dann zu deinem Geburtstag die Kinder hin eingeladen?
Gar nicht.
So was geht?
Ich wurde im Sommer geboren, dann sind alle normalen Menschen im Urlaub. Sie dachten, ich auch.
Wie seid ihr nun zum zweiten Mal nach Berlin geflüchtet?
Uns haben Leute geholfen, die Menschen für viel Geld nach Deutschland schleusen.
Wo kamen diese Leute her?
Sie haben alle Deutsch geredet.
Wie sah die Reise aus?
Wir hatten Pässe von fremden Menschen und so sind wir über alle Grenzen gekommen. Ich hieß Katja und musste die ganze Zeit schlafen.
Was für ein Gefühl war es: Wieder in Berlin?
Anna hat uns geholfen. Wir waren bei ihr versteckt. Meine Mutter sagt, dass sie uns ein zweites Leben geschenkt hat.
Wie lange wart ihr untergetaucht? Was war mit der Schule?
Es waren Sommerferien. Ich war zu Hause. Anna hatte einen schönen Garten. Meine Mutter ging jeden Tag weg und blieb mehrere Stunden fort.
Wo war sie?
Wie immer sagte sie, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie sei auf der Suche nach einer Wohnung.
Hast du ihr geglaubt?
Warum sollte ich nicht?
Ihr seid hier doch illegal gewesen.
Einmal kam sie schnell zurück und war sehr aufgeregt. Sie sagte, sie möchte etwas Wichtiges mit mir besprechen. Im Park, da höre es keiner. So saßen wir auf einer Bank im Viktoriapark in Kreuzberg. Ein paar Meter von uns entfernt saß auf einer anderen Bank ein Obdachloser. Sie zeigte auf ihn. Diesen Mann werde sie heiraten, sagte sie. Wenn ich nicht wolle, müssten wir weiter nach Norden ziehen. Ich wollte diesen Obdachlosen nicht. Er stank. Aber ich wollte auch nicht nach Norden ziehen, da gefiel es mir nicht. Ich weinte und meine Mutter beruhigte mich. Jeder Mensch stinke, wenn er nicht duscht. Wir seien auch obdachlos. Sie fasste meinen Kopf zärtlich mit ihren Händen und sagte: Wenn du es nicht willst, mache ich es nicht.
Sarajevo war auch eine Möglichkeit.
Nein, da war alles zerstört, die Häuser und die Straßen. Die alte Tante sagte, mein Name sei nicht gut für die neuen Zeiten. Sie nannte mich immer nur ‚die Kleine’. Dabei war ich fast neun Jahre alt.
Hat deine Mutter diesen Mann geheiratet?
Nach drei Wochen. Sie heirateten in Dänemark.
Warum in Dänemark?
Dahin fahren alle, weil sie in drei Tagen heiraten können. Hier hat man nur Probleme.
Wie haben sie das vereinbart? Große Liebe war es nicht.
Er musste jeden Tag duschen und neue Unterwäsche anziehen, und sie musste sich um sein Bier kümmern. Und alles andere.
Das hört sich zu einfach an.
Es gibt viele Flüchtlinge, die solche Ehen eingehen.
Warum lassen sich die Deutschen darauf ein?
Manche möchten durchgefüttert werden, manche haben ein sehr großes Herz.
Wie war es im Fall deiner Mutter?
Peter hat ein so großes Herz, so groß, dass er auch mich erobert hat.
Deine Mutter hat es also nicht bereut?
Nein.
Und Peter, hat er es bereut?
Auch nicht.
Das klingt wie ein Märchen.
Peter war ein unglücklicher Mensch. Er wurde arbeitslos. Seine Frau und Kinder haben ihn deswegen verlassen. Die Miete konnte er nicht mehr bezahlen. Das kann wohl jedem passieren.
Wie lange blieben sie zusammen?
Sie sind noch immer zusammen. Und haben ein Kind. Meine Halbschwester ist sieben Jahre alt.
Was ist mit dir?
Ich komme nicht zurecht mit meinem Leben.
Was hast du all die Jahre gemacht?
Ich mochte schon immer lesen. Lernen machte mir Spaß. Ich bin Erzieherin geworden, jetzt aber arbeitslos. Ich habe Angst vor zu viel Nähe. Ich kann nicht lange mit den gleichen Menschen verkehren, die gleichen Gesichter ertragen. Ich habe darüber nachgedacht, in ein armes Land zu gehen und mich dort mit Kindern zu beschäftigen. Vielleicht nach Bosnien.
Bosnien?
Ja, aber nicht für immer. Die Menschen da sind mir fremd. Wenn ich mit Kindern bin, geht es mir gut. Mit Erwachsenen habe ich aber meine Probleme. Ich mag meine Einsamkeit. Seitdem ich achtzehn Jahre alt bin, wohne ich alleine. Das tut mir gut.
Hast du keine Freunde?
Meine Bücher sind meine Welt.
Das ist doch eine fiktive Welt.
Für mich reicht diese Welt völlig.
Deine Mutter wurde von deinem Vater in Stich gelassen. Trotzdem hat sie einen neuen netten Mann gefunden. Eine Erfolgsgeschichte! Warum sollte dir das nicht gelingen?
Das soll eine Erfolgsgeschichte sein?
Ja, sie hat eine neue Familie und Arbeit. Sie wollte bleiben und sie ist geblieben.
Um welchen Preis? Sie hat gelogen und betrogen. Sie hat sich erniedrigt und gegen die eigenen Prinzipien verstoßen. Alles nur, um hier zu bleiben. Das alles bekommen andere Menschen, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Allein durch ihre Geburt.
Zu einem Ziel führen verschiedene Wege.
Mag sein. Oft frage ich mich: Was ist eigentlich mein Ziel? Aber wie hat schon Hans Fallada gesagt: „Jeder stirbt für sich allein“.