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Samstag

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Schlachtfest

Ein Krimi aus dem Emsland

von

Mia Wachendorf















Umschlagfoto: Philipp Deus auf unsplash.com

Copyright © 2021 Mia Wachendorf

Alle Rechte vorbehalten.


Es war ein seltsamer Anblick, als das aufgeplusterte Ding seinen Weg durch die sanft fließende Strömung des Flusses nahm, mal schneller, mal langsamer dahintrieb, sich drehte und wendete, still zu stehen schien, um dann wieder mit Macht voran zu schießen. Es trieb eine Weile auf der Oberfläche, ein unförmiges rosafarbenes Objekt, das nach unten gezogen wurde und sich wieder aufbäumte gegen den Sog der Strudel, die sich zahlreich in dieser Biegung befanden. Zwei vorbeischwimmende Stockenten beäugten es neugierig. Eine einzelne im Uferbereich schwimmende Biberratte riskierte einen Blick, sanft an der Wasseroberfläche dahingleitend, und tauchte dann gelangweilt ab. Das bauschige Etwas blieb im Gestrüpp der Uferböschung hängen, wo es sich wand und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Es kam nicht frei, schwappte auf und nieder im Rhythmus der Wellen und schien sich seinem Schicksal zu ergeben.

Die Morgendämmerung tauchte das Flusswasser in ein Rosa, das dem des festhängenden Treibguts ähnlich war. Und doch passte das rhombenförmig abgesteppte Kleidungsstück nicht in das malerische Idyll dieser morgendlichen emsländischen Angelstelle. Eine Jacke, ein Fremdkörper aus Kunstfaser, weggeworfen, vergessen, verloren oder davongeweht. Und wasserfest. Sollte sie angefangen haben sich vollzusaugen, so würde sie nun von den Zweigen des Gebüsches an der Oberfläche gehalten. Ein Abtauchen war unmöglich. Sie blieb hängen und gesellte sich zu einer alten Plastikflasche, Treibholz und abgebrochenen Ästen.

Die Bäume hinter der Böschung rauschten im Wind und nur wenige Vögel zwitscherten eine gleichförmige Melodie. Kein intensiver Balzgesang wie noch vor wenigen Monaten, als der Frühling in diesen platten nordwestdeutschen Landstrich einzog. Doch der Gesang ließ erahnen, dass es wieder ein schöner sonniger Tag werden würde, wie schon die vorangegangenen in dieser heißen Juliwoche. Zum Vogelgezwitscher gesellte sich das ferne Muhen der Kühe, die auf den zum Wasser hin abfallenden Weiden am Ufer der Ems grasten. Die Kühle der Nacht verschwand nur langsam und mit den Sonnenstrahlen stieg ein süßlicher Duft aus den vertrockneten Grasflächen auf, die die sonnenbeschienenen Böschungen bedeckten. Der Wind trieb den typischen leicht modrigen Geruch des Flusswassers an den Strand herüber, an dem die beiden Angler saßen. Ihre Silhouetten hoben sich grau gegen den prächtigen Morgenhimmel ab. Sie saßen auf Hockern, nebeneinander, unbeweglich wie Statuen, auf das Wasser starrend als meditierten sie.

„Hast du das gesehen?“, fragte der eine, ein junger Mann, bekleidet mit Fleecepullover und dunkelgrünen Gummistiefeln. Der andere, ein älterer bärtiger Mann in Wachstuchjacke, begann seine Angel mit einem Köder zu bestücken. Er fluchte plötzlich, fuchtelte mit der Hand durch die Luft, in der der Haken mitsamt Angelschur steckte. Dann beförderte er schmerzverzerrt den Widerhaken heraus und steckte den Daumen in den Mund, damit das Blut nicht heruntertropfte.

„Gesehen? … Was gesehen?“, fragte er genervt.

„Na, da hinten! Im Gestrüpp. Da schwimmt was. Ne Jacke, oder so.“ Der Alte blickte kurz in die ihm angezeigte Richtung.

„Joh! Nicht meine Farbe.“ Er lachte röchelnd in sich hinein.

Der jüngere setzte das Starren aufs Wasser fort.

„Die schmeißen da allen Scheiß rein“, sagte der Alte ein paar Minuten später. „Neulich haben sie bei Haverlands Wiese einen kompletten Grill aus‘m Wasser gezogen.“

„Hhmm.“

„Da lag noch Grillfleisch drauf.“

„Is klar.“ Der Jüngere wirkte gelangweilt. Er kniff die Augen zusammen und fixierte die nun gleißend helle Wasseroberfläche am Anfang der Flussbiegung. Etwas bierflaschengroßes, weißschimmerndes schien sich aus der Lichtflut zu lösen und näherte sich in der Sonne glitzernd dem Ufer. Es tänzelte auf den Wellen wie ein verlassener Kahn. Zunächst kaum erkennbar, bewegte es sich dann schneller und erreichte bald die Angelstelle, an der es in Ufernähe vorbeitrieb. Er sprang auf und griff hektisch nach seinem Kescher, lief ein Stück über den Strand und konnte noch das Netz darüber ziehen und es an Land holen, bevor es um die nächste Biegung abgetrieben oder unter dem dichten Uferbewuchs unerreichbar geworden wäre. Er ließ es abtropfen und fummelte umständlich das Netz des Keschers herunter. Skeptisch besah er seinen Fang von allen Seiten.

„Das is’n Schuh.“ Die Enttäuschung über die jämmerliche Ausbeute stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Und was für einer!“ Wieder das röchelnde Lachen des Alten, das wie ein Automotor mir Startschwierigkeiten klang. Er war aufgestanden, um den seltsamen Fund zu betrachten. Der weiße Damensneaker war großzügig mit den verschiedensten Verzierungen besetzt. Kleine Perlen entlang der Schnürung und mehrere große Kristalle aus transparentem pinkfarbenem Kunststoff an den Seiten. Der junge Mann drehte den Schuh um, um das Wasser heraus zu kippen und sein Inneres zu inspizieren. Da war nichts außer Feuchtigkeit.

„Größe 39“, stellte er fest. Dann warf er ihn desinteressiert hinter seinen Angelstuhl auf den Strand. Gerade als sie sich wieder auf ihre Hocker fallen ließen, trieb eine pinkfarbene Damenhandtasche mit Henkeln direkt auf sie zu. Sie sprangen auf. Der Jüngere hatte sofort seinen Kescher zur Hand. Er stapfte mit den Gummistiefeln ein Stück ins Wasser hinein, währen der Alte ihn anfeuerte.

„Die kriegste noch!“ Er schaffte es, das schwimmende Damenaccessoire an Land zu befördern, ließ das Wasser ablaufen und öffnete den Reißverschluss. Er grinste, als er ein weißes längliches Damenportemonnaie zu Tage förderte, öffnete es und fand darin einige Geldscheine und Münzen.

„Finger weg!“, befahl der Alte. Der Jüngere zuckte mit den Schultern.

„Wer wirft denn sowas ins Wasser?“, fragte er und sah sich in der Gegend um, wobei ihn nicht wirklich interessierte, wem das Geld gehörte. Er hoffte vielmehr, der Besitzer wäre in weiter Ferne. Weiter gab die Tasche nichts her, das interessant für ihn wäre. Neben Kamm und Bürste, einem Lippenstift, knallrot, einem Kondom, violett, einer überschwemmten Puderdose und einer kleinen Dose Haarspray förderte er eine vollgesogene Packung Papiertaschentücher zutage. Außerdem ein Handy, dass sich als nicht mehr funktionstüchtig herausstellte.

„Vielleicht zieht sich da gerade eine aus“, meinte der Alte und blickte in Richtung der ufernahen Bäume, aus der die Fundstücke herangetrieben wurden. „Of da slapen twee mitnanner.“

„Hier buten?“ Das hatte der junge Mann in seiner kurzen Anglerkarriere zwar schon erlebt, aber noch niemals um halb fünf in der Früh.

„Und dann schmeißen sie vor Begeisterung ihre Klamotten in den Fluss, oder was?“ Die Wiesen und Strände der Ems hatten schon einiges gesehen, aber für gewöhnlich kamen die Paare nicht vor dem frühen Nachmittag, um sich hier mit Picknick und Liebesgetändel die Zeit zu vertreiben.

„Ach! Dat kann von sonst wo hergetrieben sein!“, meinte der Alte und rieb sich den stoppeligen Bart. Nachdem sie die Steppjacke geborgen hatten, ergänzten sie den Stapel der Fundsachen noch um ein T-Shirt mit Leopardenmuster, das wenig später angetrieben wurde. Dann angelten sie weiter.

„Meinst du, da kommt noch wat?“, fragte der junge Mann wenig später.

„Nee.“

#

„Das war’s!“ Der Möbelpacker pustete heftig und wischte sich mit einem riesigen graublauen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war fast Mittag. „Feierabend.“ Er schwitzte so heftig, dass seine kurzen schwarzgrauen Locken glänzten, als wären sie nass. Enna hatte Bedenken, dass er ihr schönes altes Parkett volltropfen könnte.

„Den haben Sie sich redlich verdient!“, sagte sie und versuchte ein Lächeln. Das Wohnzimmer war ein Kistenlager und wirkte vollgestopft und unordentlich, auch wenn die Möbel schon größtenteils an ihrem Bestimmungsort standen. Sie zeichnete den Lieferschein, der ihr hingehalten wurde, lächelnd ab. Das gröbste war erledigt. Nun war es an ihr, hier für Ordnung zu sorgen.

„Was ist denn eigentlich heute hier im Ort los? “, fragte sie. „Ich bin kaum mit dem Auto durchgekommen. Da war eine ganze Straße abgesperrt.“

„Ja, wegen der Aufräumarbeiten. Ich hatte auch so meine Probleme mit dem LKW. Wir feiern dieses Wochenende Schlachtfest. Das ist hier jedes Jahr um diese Zeit. Gestern ist’s angefangen. Heute wird wahrscheinlich noch mehr los sein als gestern. Samstags ist es immer am vollsten.“

„Schlachtfest? Ist das eine öffentliche Veranstaltung?“

„Ja sicher. Kommen Sie doch vorbei!“ schlug er vor. „Die Maarsumer gehen da alle hin, ist immer eine Menge los. Bier und Grillfleisch bis zum Abwinken. Oder sind Sie Vegetarier? Bei den Leuten aus der Stadt weiß man das ja nie.“ Er grinste über das ganze Gesicht.

„Nein, nein. Ich esse Fleisch, …“ Der Gedanke an ein Schnitzel vom Grill war ihr dennoch gerade zuwider. Außerdem zog sie ein gutes Glas Chardonnay einem Bier grundsätzlich vor. Eine leichte Übelkeit hatte sie befallen. Der Mann vor ihr roch nach Schweiß und sie war heute Morgen schon um vier Uhr aufgestanden, um rechtzeitig in Maarsum einzutreffen und die Möbelpacker hereinzulassen. Ihr Magen hatte sich schon vor zwei Stunden gemeldet. Ihr Frühstück hatte nur aus einem Hörnchen und einem Kaffee bestanden und sie hatte es bereits um halb fünf in der Frühe eingenommen. Das war sechs Stunden her.

„Kommt Ihr Mann noch nach?“, fragte er ganz direkt. Enna wusste, dass seine Art zu fragen nicht unhöflich gemeint war und eher daher rührte, dass die Menschen hier geradeheraus waren. Umschweife wurden nicht gemacht, man schlug sich nicht mit Floskeln oder Wordhülsen herum. Das gesprochene Wort wurde, wo möglich, auf das nötigste reduziert, ohne jedoch wichtiges wegzulassen oder mit notwenigem hinter dem Berg zu halten. So kannte sie ihre Heimat. So hatte sie sie in Erinnerung.

„Nein. … Nein, der bleibt in Münster“, antwortete sie nur. Einen Mann, in dem Sinne, gab es nicht. Aber sie hatte keine Lust ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Weit herumgekommen war sie nicht, es gab nichts zu berichten. Maarsum war der Ort an dem sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war, bis sie mit 19 Jahren in Münster ihre Ausbildung bei der Polizei angefangen hatte. Mit Anfang Vierzig hatte sie nun, bis auf Ausnahmen von kurzer Dauer, immer in Münster gelebt. Ihr halbes Leben. Und nun war sie wieder hier, weg von Rüdiger. Ohne Rüdiger. Sie musste sich noch an den Gedanken gewöhnen, wieder Single zu sein. Aber so hatte sie es selbst gewollt.

„Münster! Schöne Stadt.“

„Ja, sehr schön“, sagte sie nur.

„Herrlich!“ Er schnaufte immer noch. Sie schwiegen eine Weile, wie um der Schönheit der Stadt Münster angemessen zu gedenken. Der blaue Overall des Mannes war staubig und befleckt. Enna fragte sich, ob ein körperlich arbeitender Mann wie er nicht eigentlich fitter sein müsste. Für einen Möbelpacker war er schmächtig und kurzatmig. Für eine Kommissarin hast du ganz schöne Klischeevorstellungen, schalt sie sich selbst. In ihrem Job versuchte sie den Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen.

„Und warum gerade ein Schlachtfest? Hat das irgendeine Tradition?“, fragte sie dann.

„Das kommt wohl daher, weil wir hier so viel Fleischindustrie haben. Familienbetriebe meistens. Dem Kösters, dem gehört der Schlachthof, ein Legehennenstall und ein Hähnchenmastbetrieb. Seinem Schwiegersohn die Wurstfabrik. Der Kösters sponsert das Ganze ein bisschen, tut eine Menge für den Ort, muss man schon sagen.“

„Aha. … Ist das Heinz Kösters?“ Der Name kam ihr bekannt vor. Der Heinz Kösters an den sie sich erinnerte, musste im Alter ihres Vaters sein.

„Heinz, ja. So heißt er“, antwortete der Mann, der seinen Atem schließlich wiedergefunden hatte. „Kennen Sie den?“ Enna schüttelte den Kopf.

„Nein, ich denke nicht.“ Enna hatte keine Lust, ihre Gedankengänge einem Fremden offen zu legen. Sie betrachtete sich inzwischen als Münsteranerin. Ihre Zeit dort war zu lang, um sich hier wieder sofort heimisch zu fühlen. Die Menschen, die hier wohnten, kannte sie größtenteils nicht mehr. Ihre Eltern waren beide nach ihrem Abitur nach Emden gezogen, wo ihr Vater einen neuen Job angenommen hatte. Später sind sie dann nach Langeoog übergesiedelt, um dort ihren Ruhestand zu verbringen, und Enna, die außer ihnen nur einen Bruder hatte, hatte es seither nicht mehr oft in die Gegend verschlagen. Moritz, ihr Bruder, war zwei Jahre jünger als sie und ist damals zum Studieren nach Gießen gegangen. Und dort geblieben. Hin und wieder schrieb sie ihm und er schickte Fotos von seiner kleinen Tochter. Aber jeder führte sein eigenes Leben. Es hatte sie nichts mehr zurück hierher gezogen. Bis jetzt.

„Ja, vielleicht gehe ich tatsächlich hin.“ Enna dachte nicht ernsthaft darüber nach, dieses fleischlüsterne Spektakel aufzusuchen. Eigentlich wollte sie nun lieber allein sein mit ihren Habseligkeiten und ihren trüben Gedanken. Es würde ewig dauern, bis alles ausgepackt und eingeräumt war.

„Machen Sie das! Vielleicht sieht man sich dort. Ich wünsche ein schönes Wochenende und viel Glück im neuen Heim!“, sagte der Mann und reichte ihr die Hand. Enna bedankte sich und begleitete ihn zur Haustür. Er stieg in den Umzugswagen, in dem schon der Kollege saß, der vorhin beim Auspacken geholfen hatte. Der Motor lief. Enna winkte ihnen kurz zu. Dann schloss sie die Haustür und lehnte sich von innen dagegen. Viel Glück im neuen Heim, hallte es in ihrem Kopf nach. Glück – das wäre schön. Vielleicht würde sie hier wirklich ihr Glück finden, in diesem kleinen roten Backsteinhaus am Rande des Teufelsmoors. Aber irgendwie zweifelte sie daran. Sie vermisste Rüdiger. Mehr als sie je für möglich gehalten hätte.

Auch der Flur war vollgestellt mit Umzugskartons, Lampen und Klappkisten. Enna sah sich um.

„Shit! Verdammte Scheiße!“ Das Fluchen war in letzter Zeit zu einer Gewohnheit geworden. Sie kannte eine Menge Flüche. Das Fluchen passte nicht zum Bild einer niveauvollen, modernen und ehrgeizigen Frau im besten Alter, dass sie nach Außen von sich vermitteln wollte, aber das störte sie nicht. Das Fluchen war sie selbst. So war sie. Sie bildete sich ein, es von ihren vielen „Klienten“ übernommen zu haben. So bezeichnete sie die straffällig gewordenen Menschen, mit denen sie täglich zu tun hatte. Das Fluchen hatte auf sie abgefärbt. Es war ein Ventil, um mit dem Schweren, dem Sinnlosen und dem Traurigen, dass ihr Job mit sich brachte, zurecht zu kommen. Aber sie schaffte es meistens, das Fluchen auf ihre eigenen vier Wände zu beschränken, oder zumindest auf ihr Privatleben.

Noch heute und morgen hatte sie zur Verfügung, zum Aufräumen dieses Durcheinanders, am Montag würde sie die neue Stelle antreten. Ihr neuer Posten als Hauptkommissarin. In Münster wollte sie nicht bleiben, nach der Trennung von Rüdiger. Sie war immer schon für einen klaren Schnitt, wenn es darum ging Altes hinter sich zu lassen. Alles andere schmerzte umso mehr. Sie wollte es so, um neu anzufangen. Enna wusste, sie konnte sich neu erfinden. Das ist ihr damals gelungen, und heute würde es wieder gelingen. Auch wenn es schwer fiel.

Sie hatte noch alle Zeit der Welt, um es sich hier gemütlich zu machen. Was das Einrichten betraf, stand sie nicht unter Druck, außer sie machte ihn sich selbst. Es gab niemanden, der sie antrieb, niemanden, dem sie es recht machen musste. Niemanden für den sie es schön machen konnte, nur sie selbst. Sie musste wieder an Rüdiger denken. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie jedes Mal das Verlangen, ihm eine Kurznachricht zu schicken. Jedes Mal tat sie es dann doch nicht. Es war besser so.

Das war es also, ihr neues Zuhause. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Es roch immer noch nach Schweiß. Sie öffnete ein Fenster. Dann noch eines in der Küche. Sie atmete tief durch als wollte sie etwas herauslassen. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Etwas Neues würde beginnen, sie sollte nach vorne blicken. Doch es kam Enna Kolder so vor, als hätte sie in ihrem Leben gerade einen Schritt zurück gemacht.

#

Der Hunger hatte Enna fluchtartig aus dem Haus getrieben. Beim Durchfahren durch das Zentrum von Maarsum am Morgen hatte sie festgestellt, dass heute Wochenmarkt war. Gegen gedrückte Stimmung halfen als frische Lebensmittel vom Markt immer. Die Fahrt mit ihrem alten Golf in die Stadt war eine Reise in die Vergangenheit. Sie hatte sich nie Gedanken gemacht, wie ihre erste Begegnung mit Maarsum sein würde, nach der langen Zeit. Der Schock war groß. Und es war ernüchternd. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass sie hier nun eine Weile aushalten musste, empfand sie die Stadt als langweilig und spießig. Maarsum hielt in keinster Weise stand gegen das wunderschöne historische Münster mit dem Flair einer Studentenstadt. Ohne den Gedanken an eine Endgültigkeit hätte sie es als einen netten Ausflug empfunden, nun war es einfach nur trostlos. Irgendwann würde sie sich ein Fahrrad besorgen, wie früher. Und wie in Münster. Irgendwann, wenn sich alles eingespielt hatte.

Automatisch hatte sie ihr Handy an die Freisprechanlage angeschlossen. Als Kommissarin wollte sie erreichbar sein, auch wenn sie noch nicht im Dienst war. Wenn sie außer Dienst war, war ihr Handy die einzige Verbindung, die sie zu Rüdiger hatte. Rüdiger von Hatten, stellvertretender Polizeipräsident von Münster, ihr altes Leben. Attraktiv, zwölf Jahre älter als sie, zwei erwachsene Söhne und verheiratet. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken, aber ihr Heimweh führte dazu, dass es ihr wieder nicht gelang, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen.

In Maarsum gab es wenig, an das sie sich noch erinnerte. Selbst für den Weg in die Stadt musste sie sich konzentrieren, um nicht falsch abzubiegen. Die Stadt hatte sich gewaltig verändert. Viele der alten Häuser waren neueren modernen Bürokomplexen und Geschäften gewichen. Sogar ein überdachtes Einkaufszentrum hatte man gebaut. Maarsum war nie eine reiche Stadt gewesen, aber alles war immer ordentlich und sauber, soweit sie sich zurückerinnern konnte, die Verkehrsinseln üppig bepflanzt, die Häuser renoviert. So war es immer noch. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Sie parkte auf dem Johannes-Kolbe-Platz, wie früher.

Als sie die Fußgängerzone betrat, fand sie eine Reihe neuer Läden und Cafés vor, dazwischen gab es nur wenige leerstehende Geschäfte. Hier fühlte sie sich etwas mehr zuhause. Die alten unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhäuser waren noch vorhanden, ebenso wie die zu ihrer Schulzeit gebaute Bücherei, damals hochmodern. Die wirkte nun ein wenig abgenutzt, aber immer noch einladend, mit ihren großen, mit bunten Plakaten beklebten Glasfronten im Eingangsbereich. Sie hatte schon lange keine Bücher mehr entliehen, auch in Münster nicht. Der Berufsalltag ließ ihr zum Lesen kaum Zeit. Wenn sie ein Buch lesen wollte, dann kaufte sie es sich. Der Gedanke ein einmal gelesenes Buch wieder ab geben zu müssen, hatte ihr noch nie behagt. Zumindest nicht bei Büchern, die sie mochte. Aber als Schülerin hatte sie als Tochter eines Werftarbeiters und einer Friseurin nicht das Geld, um sich alle Bücher, die sie lesen wollte, zu kaufen.

Der Springbrunnen in der Friesenstraße war immer noch da. Wie vor über zwanzig Jahren lief das Wasser kaskadenartig über die flachen alten Mühlsteine herab. Ebenso gab es die dazugehörige Sitzbank unter der riesigen alten Kastanie noch. Es sah alles genauso aus wie damals, als sie mit Leonard, ihrem ersten festen Freund, hier gesessen hatte, in den Sommerferien, ein Jahr vor dem Abitur. Er hatte sich auf der Bank ausgestreckt und seinen Kopf mit den krausen schwarzen Haaren auf ihre Beine gelegt. Dabei hatte er mit verträumtem Blick abwechselnd in ihr Gesicht und in die gewaltige Krone der Kastanie geblickt, während sie miteinander diskutierten. Der Baum musste inzwischen noch höher gewachsen sein, aber es fiel ihr nicht auf, denn schon damals kam er ihr gigantisch vor. Sie war glücklich gewesen. Das wusste sie auch noch.

Je weiter Enna in das Zentrum hinein ging, ein kurzer Fußmarsch vom Parkplatz, umso bekannter kam ihr alles vor. Der historische Ortskern war weitgehend unverändert und der Markt, der hier jeden Mittwoch und Samstag stattfand, schien immer noch derselbe zu sein, wie vor 25 Jahren. Es gab hier keine Marktcafés, wie sie es vom Wochenmarkt aus Münster kannte. Mit überdachten Stehtischen, an denen die Frühaufsteher oder Spät-zu-Bett-Geher ihre Brötchen mit einer unendlichen Auswahl an Käse-, Wurst- oder Frischkäsecremes belegen lassen konnten und dazu sämtliche italienischen Kaffeespezialitäten bestellen konnten. Oder eine heiße, würzige Suppe, um den Kater zu vertreiben. Auch gab es keine Töpferwaren-, Schmuck-, Kerzen- und Taschenstände, an denen Enna selten vorbei gehen konnte, ohne zu stöbern. Alles war in einem bescheidenen ländlichen Rahmen geblieben. Man promenierte hier nicht Hand in Hand. Man shoppte nicht. Man kaufte, was man am Wochenende benötigte. Käse, Schnitzel vom Bunten Bentheimer Schwein, Bio-Gemüse, fangfrische Scholle, importierte griechische Oliven und Blumen. Hier traf man sich, um den neuesten Tratsch mitzunehmen, den man dann beim Kaffeetrinken mit der Familie oder Freunden zum Besten geben konnte.

Hatte ihr die Erinnerung an Rüdiger gerade noch den Appetit verschlagen, so kam der Hunger schlagartig zurück, als sie die Marktstände sah. Sie kaufte frisches Olivenbaquette und Schafskäse beim Griechen, Äpfel, Möhren und Kartoffeln beim Bio-Bauern und ein Lachsfilet beim holländischen Fischhändler. Die Sonne brannte heiß um diese Tageszeit und sie war froh, dass sie sich beim Stand, der „Frische Landeier“ anbot, unter einer Markise in die Schlange stellen konnte. Nur noch die Eier, dann hätte sie das wichtigste, um das Wochenende zu überleben.

Es ging nur langsam voran. Enna erschrak, als ihr plötzlich von hinten jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich abrupt um, schob ihre Sonnenbrille auf das dunkelblonde lange Haar und musterte die alte grauhaarige Frau, die sich hinter ihr eingereiht hatte. Sie musste sich fast hinunterbeugen, um ihr ins Gesicht zu sehen, obwohl sie mit einem Meter siebzig selbst nicht gerade groß war.

„Sie kommen mir bekannt vor!“ ließ die schmächtige alte Dame verlauten und schob die Unterlippe bedeutungsvoll nach vorne. Ihre Stimme war leise, aber resolut. Sie war von geringer Größe, aber nicht unauffällig, und trug ein kaftanähnliches Kleid, das aus vielen verschiedenen buntgestreiften Stoffquadraten zusammengesetzt war und von einem schmalen Ledergürtel gehalten wurde. Um den Hals trug sie mehrere dunkle Perlenketten und eine goldene Kette mit einem Medaillon. Auf den kurzen Pagenkopf hatte sie einen gelben Strohhut gesetzt, der mit einem farbigen Band und einer Kunstblume verziert war. Sie musste mindestens achtzig Jahre alt sein. Alles in allem war sie tadellos gekleidet, in ihrem bunten Hippie-Look. Enna kam sich neben ihr farblos vor, in ihrer dunkelblauen Jeans und dem hellgrauen T-Shirt.

„Ich wüsste nicht…“ begann sie.

„Doch. Ich kenne Sie.“, beharrte die Frau.

„Woher denn?“, fragte Enna. Die alte Dame zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie nur.

„Und wer sind Sie?“

„Josefa Beckmann.“ Enna konnte mit dem Namen nicht viel anfangen. Beckmanns gab es in dieser Gegend viele und sie hatte keine Freunde oder Bekannten mit diesem Namen.

„Sie sind Enna.“ Die Alte schien ihr Wissen nur in Stakkato-ähnlichen Kurzsätzen preis zu geben. Enna war überrascht. Sie hatte die Frau noch nie gesehen.

„Und woher kennen wir uns?“

„Von der Schule“, sagte Sie dann langsam. Das machte keinen Sinn. Enna hatte ein gutes Gedächtnis. An einen solchen Paradiesvogel im Lehrerkollegium würde sie sich bestimmt erinnern. Sie erwartete, dass die Frau weitere Informationen preisgeben würde, doch dieser letzte Satz schien sie vorerst überfordert zu haben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese Unterhaltung zu etwas führen würde. Josefa Beckmann schien durch Ennas Auftauchen auf eine merkwürdige Weise betroffen und Enna wollte nicht unfreundlich sein.

„Ich kenne hier jeden“, behauptete Frau Beckmann.

„Es tut mir leid, ich kenne Sie nicht. Oder zumindest kann ich mich nicht an Sie erinnern.“

„Ich habe auch Leonard gekannt.“ Die alte Frau Beckmann sah sie mit ihren wässrigen grau-blauen Augen an und lächelte. Dabei ragten ihre Schneidezähne etwas über ihre Unterlippe hervor.

„Leonard? Woher?“, fragte Enna, nun energischer. Doch sie antwortete nicht.

Leonard war tot. Natürlich war jeder im Ort entsetzt gewesen über den Unfall mit Fahrerflucht, der einen jungen Mann mit besten Zukunftsaussichten so früh aus dem Leben gerissen hatte. Jeder im Ort hatte von Leonard gewusst. Die Erinnerung an die Zeit nach seinem Tod kam hier, am Ort des Geschehens, wieder in ihr hoch. Sie war wie in Trance gewesen, hatte tagelang nicht mehr gegessen, tagelang geweint, bis keine Tränen mehr kamen.

Josefa Beckmann kam ihr vor wie eine Erscheinung. Der Blick aus ihren trüben Augen war starr, auf den Lippen stets der Anflug eines Lächelns, der Gesichtsausdruck undurchdringbar, die Stimme sanft. Sie bewegte sich mit einer für ihr Alter unglaublichen Eleganz, fast tänzelnd.

„Es ist was passiert“, teilte die alte Beckmann in ihrer verlangsamten Sprechweise mit. Es war, als ob ihr Kopf nicht mit dem was sie sagen wollte Schritt halten konnte. Enna war perplex. Sollte sie die alte Dame ernst nehmen, oder sprach da nur eine verwirrte alte Frau, die sich etwas zurechtfantasierte? War sie möglicherweise dement? Immerhin kannte sie ihren Namen. Und den von Leonard. Und das nach über zwanzig Jahren.

„Hören Sie, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es bitte!“ Sie befahl es beinahe. Die alte Dame lächelte nur.

„Was darf’s sein?“ Die energische Stimme der Eierfrau. Enna drehte sich abrupt zu ihr um. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie inzwischen an der Reihe war.

„Zehn Bio-Eier bitte.“ Sie bezahlte und packte die Eier eilig in ihre Einkaufstasche. Dann dreht sie sich wieder zu der alten Dame um, doch sie blickte in die Augen eines jungen Mannes mit einem Kleinkind an der Hand. Die alte Beckmann war verschwunden.

#

Nachdem sie den Nachmittag mit dem Versuch das Umzugschaos zu beseitigen verbracht hatte, war sie am frühen Abend unter eine wechselwarme Dusche gesprungen. Nach Ausstoßen dutzender Flüche unterschiedlichster Art und Schwere, gelang es ihr endlich die passende Wassertemperatur einzustellen. Die Duschkabinenausstattung verfügte über keinen Thermostaten zum automatischen Einstellen der Wassertemperatur. Ein Fakt, den Enna so schnell wie möglich ändern würde.

Nach dem staubigen und schweißtreibenden Auspacken, Hin- und Herräumen, treppauf und treppab laufen, war das kühle Wasser belebend. Sie atmete tief durch und fühlte sich endlich ein wenig entspannt nach der Aufregung des Tages. Es war ihr nicht klar, was sie mehr gefordert hatte, der Umzug und die Tatsache, dass sie endlich Münster und ihrer unseligen Affäre den Rücken gekehrt hatte oder die Begegnung mit der alten Dame. Oder der Schock, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Beim Gedanken an ihre Vergangenheit fiel ihr Anne wieder ein. Sie hatte vor einer Woche mit ihrer alten Schulfreundin telefoniert und ihr mitgeteilt, dass sie wieder in die Gegend ziehen würde. Sie hatten sich während Ennas Zeit in Münster hin und wieder getroffen. Zumindest so häufig, dass ihre Freundschaft nicht eingeschlafen war. Obwohl Enna nicht glaubte, dass das jemals geschehen könnte. Sie waren sich so vertraut, es spielte keine Rolle, wie oft und wie lange sie sich nicht gesehen hatten.

Zwischen den Treffen telefonierten sie hin und wieder und jedes Mal, wenn sie sich tatsächlich trafen, war es, als wenn sie sich gestern erst gesehen hatten. Es gab nie ein Gefühl der Verpflichtung zwischen ihnen oder des Sich-fremd-geworden-seins. Sie waren schon in ihrer Schulzeit unzertrennlich gewesen und sie führte das damals im Scherz darauf zurück, dass sie im Prinzip den gleichen Vornamen hatten. „Enna“ ergab rückwärts gelesen „Anne“. Und Anne war wie Enna, und doch auch anders. Sie hatten beide etwas Wildes, Unbändiges, einen Hang zu Verrücktheiten und ein ihnen eigenes, tiefes Verlangen nach Leben und Glück. Nur dass jeder dieses auf seine eigene Weise auslebte. Anne war ein Muttertier. Auch wenn sie es liebte auszugehen, und dieses meist in einer Aufmachung, die Starqualitäten hatte, und mit Enna liebend gerne nächtelang um die Häuser zog. Ihre eigentliche Bestimmung sah Anne darin, sich um ihren Mann Jan und ihre beiden Kinder zu kümmern. Enna hatte nie eine große Sehnsucht gehabt, Mutter zu werden. Sie hatte es nie ausgeschlossen und war dafür offen. Doch für dieses Vorhaben hatte ihr der richtige Partner gefehlt. Dieses gab sie stets als Begründung für ihre Kinderlosigkeit an. Heute, mit 43 Jahren war es für Kinder fast zu spät. Doch sie hatte nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Sie war in ihrer Arbeit zuhause.

Es schien, als würden die langen Pausen zwischen den Treffen mit Anne ihre Freundschaft noch vertiefen. Anne war begeistert über die Neuigkeit, Enna wieder in ihrer Nähe zu haben. Und Enna hatte versprochen, sich zu melden, sobald sie in Maarsum angekommen wäre. Sie trocknete sich hastig ab und warf sich einen Morgenmantel über. Dann wählte sie Annes Nummer. Während es klingelte, sah sie auf die Wanduhr, die sie, als allererste Handlung im neuen Haus, in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatte. Es war schon sechs. Ein Treffen mit Anne wäre genau das, was sie brauchte, aber sie bezweifelte, dass Anne so kurzfristig Zeit hatte. Ihre beiden Jungen, 10 und 13 Jahre, beanspruchten sie meistens um diese Zeit. Und Jan war Kapitän zur See und oft nicht zu Hause.

„Lüken.“ Sie freute sich Annes tiefe wohlklingende Stimme zu hören.

„Anne, ich bin es, Enna. Ich bin da, gerade eingezogen – wenn man es so nennen will“, rief sie fröhlich ins Telefon und blickte sich in ihrem Chaos um.

„Enna! Wie schön!“ Anne war begeistert. „Und? Wie geht es dir jetzt damit? Wie fühlt es sich an?“ Anne kannte natürlich die ganze unselige Geschichte mit Rüdiger. Es tat gut, zu wissen, dass sie ihren Kummer notfalls mit ihr teilen konnte.

„Super geht es. Wirklich. Ich hätte Lust dich heute Abend zu treffen und ein wenig meine Heimkehr zu feiern, was hältst du davon?“ Sie rechnete mit einer Absage. Sie hätte Anne eher kontaktieren sollen, um ihre Ankunft anzukündigen. Aber der Frust war so plötzlich über sie gekommen, sie konnte nicht wissen, dass sie Anne jetzt brauchen würde.

„Natürlich! Das machen wir. Das feiern wir, ist doch wohl klar!“ Annes Begeisterung ließ sie aufatmen. Sie brauchte keinen trübseligen Abend zuhause verbringen.

„Toll! Und du hast auch wirklich Zeit? Was machen die Kinder?“

„Meine Mutter ist hier. Sie wird zwar nicht begeistert sein, wenn ich sie gleich wieder allein lasse, aber sie wird es verstehen. Ich muss schließlich auch mal raus, oder?“

„Unbedingt! Hier ist so ein Schlachtfest in der Innenstadt, mit Grillen. Das ist anscheinend das Event, wo hier heute jeder hingeht. Wäre das okay? Ich glaube für einen Club bin ich heute schon zu müde.“

„Grillen? Was immer du willst, Süße. Ich bin dabei! Lass und den Bullen bei den Hörnern packen!“ Sie lachte ihr unvergleichliches melodisches Lachen.

„Du spinnst!“ antwortete Enna nur. Sie wusste, was Anne vorhatte. Ihre Freundin war Flirts noch nie abgeneigt gewesen. Aber niemals würde sie ihren Jan betrügen. Ihre Familie war ihr heilig.

Sie verabredeten sich für 20 Uhr. Das ließ Enna Zeit, sich noch etwas auf der Couch auszuruhen, nachdem sie diese von Taschen, Büchern und diversen Textilien befreit hatte. Dann würde sie der Stadt ihr schönstes Gesicht zeigen. Sofern sie ihr Makeup in dem Chaos finden würde. Die Verabredung mit Anne ließ ihre Stimmung augenblicklich steigen. Doch um nachher fit zu sein, musste sie den verlorenen Schlaf von heute Morgen nachholen. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, sich hier wieder einleben zu können und schloss die Augen, versöhnt mit ihrer Situation. Die Bilder ihres ersten Tages zogen an ihr vorüber. Dann fiel sie in einen leichten Schlaf.

#

„Du hast das absolut richtig gemacht. Der Kerl hat es nicht anders verdient!“, pflichtete Anne ihr temperamentvoll mit den Armen gestikulierend bei, nachdem Enna ihr die Gründe für ihren Umzug noch einmal ausführlich erklärt hatte. „Ich meine, Rüdiger ist ein guter Typ, aber man muss sich irgendwann mal entscheiden“, stellte sie fest. „Man kann nicht ständig so ein geborgtes Leben führen!“ Sie war dabei, sich in Ennas Lage hineinzusteigern, wie es ihre Art war. Aber auch wenn Anne ein richtiges Feierbiest war, in den grundlegenden Dingen des Lebens waren ihre Ansichten oft konservativer als die von Enna.

„Geborgtes Leben?“ Enna lachte.

„Ist doch so! Ich kann verstehen, dass man eine Zeit braucht, um zu wissen, was man will. Man kann zwei Leben führen, aber nicht auf Dauer. Wie lange wart ihr jetzt zusammen? Drei Jahre? Mal ganz ehrlich, als stellvertretender Polizeipräsident einer Stadt wie Münster, er wollte doch nie etwas anderes als die Sicherheit und den gesellschaftlichen Status durch seine Frau und seine Familie und seinen Spaß mit dir. Und du wusstest das!“

„Du hast Recht“, gestand Enna seufzend. „Aber ich hatte gehofft, dass sich irgendwann daran etwas ändert.“

„Ja, so wie wahrscheinlich jede Geliebte das hofft.“ Anne schaute sie mitfühlend an. Enna spielte gedankenverloren mit den Bierdeckeln, die auf dem Tisch lagen. Die beiden Frauen hatten sich in einer ruhigen Ecke einen Stehtisch gesucht, an dem sie ungestört reden konnten. Das Schlachtfest war in vollem Gange und das warme und trockene Wetter hatte zur Folge, dass es immer voller wurde. Die Menschen drängten sich schwatzend oder essend an ihrem Stehtisch vorbei. Nur wenige kamen Enna bekannt vor.

Anne sah verführerisch aus. Die paar Kilos, die sie zu viel hatte, wusste sie gekonnt in Szene zu setzen. Heute trug sie ein enges tief ausgeschnittenes T-Shirt mit Goldprint, dass ihre üppige Oberweite vorteilhaft zur Geltung brachte und dazu enge schwarze Jeans. Das von kurzem schwarzen Haar umrahmte Gesicht wirkte edel durch ihre blasse Haut, und sexy durch den knallroten Lippenstift und die dunklen Augen. Wie kam es, dass Enna, die schlank war, ein ebenmäßiges Gesicht und langes glänzendes Haar hatte, sich heute so wenig attraktiv neben ihrer mit Schönheit und Charme glänzenden besten Freundin vorkam? Ennas Haut war nicht mehr so glatt, wie vor zwanzig Jahren, aber eigentlich fand sie immer, dass sie sich für ihr Alter gut gehalten hatte. Dabei hatte sie sich heute besonders sorgfältig geschminkt, für die erste Begegnung mit ihrer Heimatstadt nach langer Zeit. Zwar musste sie anziehen, was sie in ihrem häuslichen Durcheinander finden konnte, aber immerhin trug sie ihre geliebte rot-geblümte Bluse aus Seide und darüber eine leichte hellbraune Lederjacke im Biker-Stil.

„Alles okay?“, fragte Anne. Enna nickte. „Du siehst so nachdenklich aus.“

„Ich habe nur gerade gedacht, was für eine tolle Freundin ich habe.“ Enna strahlte sie an. „Dein neuer Kurzhaarschnitt steht dir übrigens ausgezeichnet“, fügte sie hinzu. Anne hatte ihr langes dunkles Haar vor Kurzem abschneiden lassen und das passte perfekt zu ihrem Typ.

„Lenk nicht ab.“ Anne sah sie durchdringend an. Enna seufzte.

„Ich habe geglaubt, ich würde das Richtige tun, wenn ich mich von ihm trenne.“

„Und das hast du auch!“

„Ja, sicher. Aber vielleicht habe ich auch ein wenig geglaubt, indem ich ihm die Pistole auf die Brust setze, kann ich ihn noch umstimmen.“

„Na, das funktioniert bekanntlich nie“, stellte Anne voller Überzeugung fest.

„Ich weiß. Und ich weiß auch, dass es keine andere Möglichkeit gab. So wie es war, wollte ich es nicht mehr. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, als Geliebte an der Seite eines Mannes alt zu werden!“

„Aber Enna, du wirst doch nicht alt!“ Anne grinste.

„Wir werden alle alt“, meinte Enna. „Du ausgenommen. Du bleibst immer ein Kind!“ Sie lachten. „Ach Anne. Ich möchte einfach auch nur mal jemanden ganz für mich allein“, sagte sie dann frustriert. „Ein gemeinsames Heim, gemeinsame Freunde. Warum klappt das bei mir nicht?“ Anne ließ sich durch Ennas leicht gedrückte Stimmung nicht ausbremsen.

„Ich bin sicher, du wirst ihn noch finden. Du wirst nicht allein alt werden, da bin ich 100prozentig sicher. Wenn einer sein Glück finden wird, dann du! Und weißt du was, darauf trinken wir!“ Anne wandte sich zur Theke und bestellte zwei Prosecco. Enna blieb nichts anderes übrig, als sich dem Tempo ihrer Begleitung zu fügen. Aber sie hatte auch gar nichts dagegen. Heute konnte sie hier noch tun und lassen was sie wollte. Niemand kannte sie. Ab Montag wäre sie Hauptkommissarin im Revier Sachsenstraße 10. Bald würde man sie als Beamtin des gehobenen Dienstes wahrnehmen und sie würde darauf achten müssen, wie sie sich in der Öffentlichkeit gab. Eine Zechtour könnte dann schon problematisch werden.

„Prosit!“ Anne prostete ihr zu und trank das Glas im ersten Zug halb leer. Enna nippte an ihrem Glas. „Weißt du was? Wir werden gleich heute damit anfangen, einen Mann für dich zu suchen“, beschloss Anne. „Die Gelegenheit ist günstig!“

„Oh, bitte nicht!“ Enna lachte. Darauf hatte sie überhaupt keine Lust.

„Wie wär’s mit dem da drüben? Der sieht schon die ganze Zeit hier rüber.“ Sie visierte einen großen blonden Mann an, der ihnen, als er bemerkte, dass man auf ihn aufmerksam geworden war, von der gegenüberliegenden Straßenseite zuprostete. Er war um die fünfzig, hatte eine sportliche Figur und seine Kleidung sah nach Geld aus. Sein dichtes blondes Haar fiel ihm in die Stirn, wodurch er jungenhaft wirkte. Seine Haut war gebräunt, als käme er gerade von einem Urlaub auf Mallorca zurück. Enna blickte kurz hinüber. Irgendetwas störte sie an dem Mann. Die Uhr an seinem Handgelenk war für ihren Geschmack etwas zu groß, seine Kleidung eine Spur zu protzig. Enna liebte einen hochwertigen, aber schlichten Kleidungsstil, an sich selbst, wie auch an Männern. Das Understatement, mit dem Rüdiger sich kleidete, hatte sie immer gemocht. Da durfte ein schlichtes Karohemd auch ruhig mal hundert Euro kosten.

„Der wäre eher was für dich“, stellte sie fest.

„Ach, und wieso wäre?“ Anne kippte den Rest des Prosecco hinunter. „Also, wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn gern!“ Sie lachte. Der Mann auf der anderen Straßenseite lächelte Enna zu.

„Kannst ihn gerne haben. Nicht mein Typ.“

„Wieso nicht? Der ist doch süß“, flüsterte Anne ihr hinter vorgehaltener Hand zu.

„Ich bin noch nicht so weit.“, sagte Enna langsam und mit gedämpfter Stimme.

„Du sollst ihn ja auch nicht heiraten, du Träumerin! Hab‘ ein bisschen Spaß!“ Anne stütze ihr Gesicht auf dem Stehtisch in die Hände und lächelte in Richtung ihrer vermeidlichen Eroberung.

„Achtung, Blondie kommt herüber!“, flüsterte sie und konnte ihr Vergnügen kaum verbergen. Tatsächlich setzte sich der Mann langsam in ihre Richtung in Bewegung. Behindert durch die immer noch dichten Menschenmassen, die sich an Grill- und Bierbuden vorbei schoben, kämpfte er sich voran. Enna versuchte ihn zu ignorieren und nippte an ihrem Glas. Das änderte nichts daran, dass er ihren Stehtisch schließlich erreichte.

„Guten Abend, die Damen!“ Er baute sich vor ihnen auf und strahlte sie an. Enna fand ihn bei näherer Betrachtung noch weniger attraktiv als aus der Ferne. Was wie Sonnenbräune gewirkt hatte, sah nun eher nach Sonnenbrand auf seinem rundlichen Gesicht aus. Seine Augen waren zwar von einem strahlenden Blau, jedoch eher klein und tiefliegend und kamen nicht zur Geltung. Das Blond seiner Haare hatte einen Rotstich. Obendrein stach eine Schürfwunde, die fast über die Hälfte seiner rechten Wange reichte, sofort ins Auge und machte ihn nicht attraktiver.

„Darf man sich dazustellen?“ fragte er und sein Akzent wies ihn eindeutig als Landbewohner aus.

„Wir beißen nicht!“ sagte Anne strahlend und zwinkerte ihm zu. Enna sagte nichts.

„Na, wie schön.“ Er räusperte sich. „Euch beide habe ich hier ja noch nie gesehen“, begann er das Gespräch.

„Dann schau mal gut hin!“, sagte Anne ausgelassen. Der Typ grinste.

„Mach ich ja schon.“ Sein Blick wanderte wieder zu Enna herüber. „Ich bin übrigens Reinhard“, stellte er sich ihr vor.

„Enna.“ Reinhard wartete einen Moment, aber Enna war nicht unbedingt angetan durch sein Auftauchen und sagte nichts weiter. Sie wäre lieber mit Anne allein geblieben und schielte vielsagend zu ihr hinüber.

„Ich bin Anne“, sagte Anne schnell. Enna ahnte, wieviel Vergnügen es ihr bereiten musste, sie zu verkuppeln.

„Wo seid ihr her, wenn ich fragen darf?“, versuchte Reinhard es weiter.

„Ich bin aus Rümgum, und du?“ Anne versuchte die Situation zu entschärfen, indem sie eine lockere Plauderei begann.

Reinhard machte sich offensichtlich nichts aus Ennas abweisender Art. Er schien zu den Männern zu gehören, die sich umso mehr herausgefordert fühlten, wenn eine Frau desinteressiert war. Er grinste sie an. Enna ignorierte ihn und hoffte, dass Anne ihn von ihr ablenkte.

„Ich bin von hier, aus Maarsum. In Rümgum hab ich mal eine tolle Stute gekauft“, Anne grinste über diesen Vergleich.

„Wow, reitest du?“, fragte sie interessiert.

„Ich reite nicht nur, ich handle auch mit Pferden. Mir gehört der größte Hengststall Niedersachsens“, verkündete Reinhard stolz.

„Und was willst du dann mit einer Stute?“, neckte Anne ihn.

„Stuten sind gute Reitpferde“, sagte Reinhard und wandte sich zu Ennas Freude nun vermehrt ihrer Freundin zu. „Die aus Rümgum, war, wie gesagt, besonders gut. Hatte einen klasse Charakter. Und Temperament.“ Enna war sich nicht sicher, ob Reinhard nun mit Anne flirtete, aber sie hoffte es.

„Cool“ meinte Anne nur. „Pferde sind ja auch irgendwie Menschen. Treu, anpassungsfähig, kontaktfreudig, … und sprunghaft.“ Nun war Enna sich nicht sicher, ob Anne ihn auf den Arm nahm.

„So ist es“, pflichtete Reinhard bei. „Aber manche sind auch bissig.“ Enna vermutete, dass diese Äußerung ihr galt. Aber es war ihr egal.

„Deine Freundin hier sieht aber nicht aus, als wäre sie von hier“, bemerkte Reinhard dann.

„Ach, und woran glaubst du das zu erkennen?“ Enna ließ sich nun doch dazu hinreißen, am Gespräch teil zu haben, was Reinhard schlagartig zum Strahlen über sein ganzes rundes Gesicht brachte.

„Nun, das weiß ich, weil ich dich nicht kenne. Und ich kenne sonst jeden hier. Und jede.“ Enna fand, dass es nicht nötig wäre, dass er sie dann auch noch kennenlernte, aber verkniff sich eine Antwort.

„Ihr Mädels habt ja gar nichts mehr im Glas!“, stellte Reinhard plötzlich fest. Er winkte der Thekenbedienung und machte ein paar geheimnisvolle Zeichen mit den Fingern, die die Frau hinter der Theke erstaunlicherweise zu verstehen schien. Sie stellte kurze Zeit später drei Sektgläser auf den Tresen, die Reinhard sofort auf den Stehtisch verfrachtete. Enna war das nun auch schon egal. Der Hengststallbesitzer ließ sich offensichtlich nicht abwimmeln, vielleicht ließ ein weiteres Glas Sekt ihn erträglicher werden.

„Auf die schöne Enna aus dem unbekannten Ort!“ Der Trinkspruch war so einfallslos, wie der Mann selbst, fand Enna. Anne lachte hysterisch. Wenigstens sie hatte ihren Spaß. Eine Eigenschaft ihrer Freundin war, dass sie den unmöglichsten Situationen etwas Spaßiges abgewinnen konnte. Der Sekt roch nicht wie üblich und hatte eine bläuliche Farbe. Sie stießen an und kippten das Zeug herunter. Es schmeckte scharf und süß.

„Holala! Das ist ja ne ganz spezielle Mischung!“, bemerkte auch Anne, die für gewöhnlich trinkfester war als Enna.

„So trinke ich Sekt am liebsten, nennt sich The Blue Planet und ist übrigens gerade total hipp.“ Reinhard war begeistert. „The Blue Planet, also der blaue Planet“, sagte er zu Enna. Enna bekam einen Schluckauf. Das Getränk zeigte außerdem eine unmittelbare alkoholische Wirkung, denn sie hatten noch nichts gegessen. Auch bei Reinhard, der wie sie vermutete, schon ein wenig länger auf dem Fest war und ihnen bezüglich Alkoholpegel deutlich voraus war.

„Bist du Naturschützer?“, meldete sich Anne zu Wort. Das Grinsen wollte nicht mehr aus ihrem Gesicht weichen.

„Bei dem Getränk könnte ich es glatt werden.“ Reinhard lachte laut über seinen eigenen Nicht-Witz. Er wurde Enna immer unsympathischer und sie dachte darüber nach, Anne mit ihrer Saufbekanntschaft allein zu lassen. Nur die Tatsache, dass sie heute nicht für das Alleinsein in Stimmung war, ließ sie diesen Gedanken wieder verwerfen. Vorerst. Der Schluckauf ließ zum Glück schnell nach.

„Danke für den leckeren Cocktail.“ Enna wollte nicht unhöflich sein.

„Gerne. Verrätst du mir jetzt, wo du herkommst?“, bohrte Reinhard weiter.

„Ich stamme von hier, aus Maarsum.“ Er sollte sie ruhig kennenlernen, dachte sie nun. Schließlich würde sie fast so etwas wie eine Person des öffentlichen Lebens in dieser Stadt werden.

„Nee! Wie das denn?“ Reinhard rückte am Stehtisch näher an sie heran. „Wo hast du dich denn bis jetzt versteckt gehalten.“

„In Münster“, sagte sie schnippisch und rückte von ihm ab.

„Münster! Wie kommt man denn von Münster nach Maarsum?“ Enna lächelte nur. Er glaubte doch wohl nicht, dass ihn das irgendwas anginge.

„Na ja, geht mich ja auch nichts an.“ Reinhard lallte inzwischen. „Aber schön, dass du nun hier bist.“

„Wie man’s nimmt“, murmelte Enna leise vor sich hin. Anne zwinkerte ihr grinsend zu. Reinhard kippte den Rest seines Blue Planet hinunter und wirkte nun beinahe, als müsste er selbigen verlassen.

„Warum kommt ihr nicht mit ins Zelt?“, lallte er. „Ich würde euch gerne mal zum Tanz auffordern.“ Es gab ein großes Tanzzelt am Eingang zum Festgelände. Anne war sofort begeistert.

„Ja klar, super Idee!“ Sie trank ihr Glas aus und sah Enna erwartungsvoll an. Enna glaubte nicht, dass Reinhard ein großer Tänzer war, zumindest nicht heute Abend. Sie verdrehte die Augen, willigte aber ein. Sie schoben sich schließlich zu dritt durch die Massen.

„Wenn das so weiter geht, muss ich erst mal was essen“, flüsterte sie Anne zu.

„Das Bisschen, was du isst, kannst du auch trinken.“ Anne lachte. Enna wusste, heute brauchte sie von Anne nicht mehr viel erwarten. Es war der Punkt, an dem sie sich entscheiden musste, ob sie mitmachte, oder sich von den beiden absetzte. Sie entschloss sich, mitzufeiern. Mal sehen, was der Abend noch brachte.

Reinhard orderte neuen Sekt für die beiden Frauen und für sich ein Bier, nachdem sie das Zelt erreicht und sich einen Platz an einem Tisch gesichert hatten. Enna nutzte die Zeit, in der er an der Theke stand, um mit Anne zu reden.

„Also so habe ich mir den Abend eigentlich nicht vorgestellt“, beklagte sie sich.

„Sei nicht immer so spießig!“, beschwerte Anne sich lachend.

„Spießig? Das hier ist spießig!“ Sie schnaufte missbilligend.

„Lass dich einfach gehen, dann wird es dir auch gefallen“, riet Anne. Enna sah sich zu Reinhard um.

„Ich habe Angst davor, was dann passieren wird“, flüsterte sie.

„Von dem Typen geht heute keine Gefahr mehr aus!“ Anne schien die hiesigen Feierbräuche besser einschätzen zu können. Zumindest wollte Enna ihr das gerne glauben.

„Lass mich aber bloß nicht allein mit dem!“, verlangte sie, da Anne bereits begonnen hatte, in ihrer näheren Umgebung zu flirten. Ein kleingewachsener Dunkelhaariger vom Nachbartisch war aufmerksam geworden.

„Mach dir keine Sorgen, Süße! Das wird ein toller Abend.“ Sie sagte das, während sie dem Mann am Nachbartisch zuzwinkerte. Anne war unglaublich.

Reinhard traf mit Sekt und Bier ein, oder mit dem, was aufgrund seiner eingeschränkten Motorik davon noch übrig war. Er stellte die Gläser ab und ließ sich auf einen der Klappstühle fallen.

„Mädels, Prost!“, war alles was er sagte, bevor er sein Bier in einem Zug halb leerte. Enna und Anne blickten sich vielsagend an. Dann prosteten sie sich zu.

„Ich muss unbedingt was essen.“ Ennas Magen meldete sich wieder. Wenn sie weiter Alkohol auf nüchternen Magen trank, würde ihr schlecht werden. Anne hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Nachbartisch gelenkt und sah nicht so aus, als wolle sie mitgehen.

„Klar, … ich zeige dir den besten Bratwurststand … von allen“, bot Reinhard sich an. „Ich geb dir … was aus!“ Es dauerte eine Weile, bis die Sätze heraus waren.

„Danke. Musst du nicht. Bleib lieber hier und pass auf Anne auf!“ Damit war Reinhard sofort einverstanden.

„Du kommst aber wieder!“, forderte er lautstark. Enna versicherte es ihm, stand auf und begann sich durch die Menge nach draußen zu kämpfen. Sie blickte auf die Uhr, es war inzwischen elf geworden und sie war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war. Am Zeltausgang angekommen atmete sie tief durch. Es war immer noch sehr warm und die Anzahl Festbesucher schien sich nicht zu verringern. Enna hatte vergessen, wie man im Emsland feierte. Mit viel Alkohol – vor allem. Sie dachte darüber nach, sofort nach dem Essen zu verschwinden. Aber konnte sie Anne das antun? Andererseits würde es heute kein persönlicher Abend zwischen ihnen mehr werden, so viel war klar. Sie drängelte sich zur nächsten Würstchenbude durch und bestellte eine Pommes mit Majo. Der Pommesverkäufer kam ihr bekannt vor.

„Geht aufs Haus!“ Er stellte die fettige Mahlzeit auf den Tresen. Ihr wollte nicht einfallen, wer er sein könnte und sie verfluchte den Alkohol.

„Wie komme ich zu der Ehre?“

„Als Begrüßung für unsere neue Polizeichefin.“ Enna war überrascht und überlegte einen Moment, ob sie das annehmen sollte.

„Kennen wir uns?“, fragte sie.

„Ich bin’s, Bertram. Wir waren in einer Klasse.“ Enna sah ihn sich genauer an. Der Mann um die Vierzig sah aus, wie ein Bertram den sie mal kannte, hatte aber offensichtlich im Laufe der Zeit an Bauchumfang zugelegt. Bertram grinste.

„War mal schlanker. … Aber du hast dich überhaupt nicht verändert, Enna!“

„Bertram, ja klar“, rief sie aus. Sie freute sich, doch noch einen alten Bekannten zu treffen. „Danke! Für die Pommes.“ Enna steckte sich eine Pommes in den Mund. „Aber das mit der Polizeichefin vergiss mal schnell wieder. Ich bin Hauptkommissarin und Nebenstellenleiterin.“ Die Pommes waren gut und ihr Hunger ließ sie hastig essen. Sie erinnerte sich an Bertram als eine angenehme und freundliche Person.

„Du hast es ja weit gebracht!“, sagte Bertram, während die anderen Mitarbeiter in Hektik um ihn herum liefen. Es war Stoßzeit an der Pommesbude. Wer beim Trinken durchhalten wollte, musste sich um diese Zeit unbedingt stärken.

„Und du?“, fragte Enna kauend. „Ist das dein Betrieb … oder hilfst du hier aus?“

„Nee, nee, das ist hier schon meins“, sagte Bertram stolz. Sein Nachname wollte ihr nicht einfallen, sie mochte aber auch nicht nachfragen.

„Auch nicht schlecht.“ Enna nickte anerkennend und kaute weiter auf ihren Pommes frites. Es hatte sich also schon herum gesprochen, dass sie den Weg zurück in die Heimat gefunden hatte.

„Ich muss weitermachen. Ich hoffe man sieht sich“, sagte Bertram. „Äh, natürlich nicht beruflich“, fügte er grinsend hinzu.

Enna nickte ihm freundlich zu und merkte, wie gut es tat, etwas in den Magen zu bekommen. Sie fühlte sich gerade wieder mit diesem Abend versöhnt, als plötzlich lautes Gejohle und Geheule am Ende der mit Grill- und Getränkebuden gesäumten Fußgängerzone zu hören war. Sofort mischten sich aufgebrachte Stimmen darunter. Sie hielt inne und drehte sich zum Geschehen um. Sie konnte zunächst kaum etwas erkennen, ein seltsames Treiben spielte sich dort ab. Vermummte Gestalten mit Gegenständen in der Hand tanzten wild zwischen den Festbesuchern hin und her. Die Leute wichen erschreckt zur Seite. Mit den langen Stöcken oder Besen schlugen die Störenfriede um sich und bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Im ersten Moment war ihr nicht klar, ob es sich um ein Spiel, eine Art Aufführung handelte oder ob ein Aufruhr im Gange war. Enna versuchte auszumachen, wie viele Personen beteiligt waren, aber die Vermummten schienen überall zu sein. Verschwanden von einem Ort, um urplötzlich woanders wieder aufzutauchen, sie waren überall zugleich. Und es waren mindestens Zehn. Als der Mob näher kam, stellte sie fest, dass es sich bei der Vermummung um Tiermasken handelte, teilweise mit langen Hörnern bestückt, die die schwarzgekleideten Personen wie tanzende Teufel wirken ließen.

„Die Tierschützer schon wieder!“, hörte sie eine Frau neben sich sagen. „Die können’s nicht lassen!“, sagte ein anderer. Auch die Menschen neben ihr wichen zurück, als die wilde Bande auf sie zukam.

Die Aufrührer schlugen den entrüsteten Gästen die Schalen mit Bratwurst und Senf aus den Händen. Einige der so ihres Essens beraubten liefen erschreckt davon, anderen versuchten nach den Stöcken zu greifen und sich zu wehren, meist ohne Erfolg. Die als Vieh verkleideten Tierschützer, begannen damit, Stehtische umzuwerfen. Gläser zerbrachen, die Menge kreischte. Die gesellige sommernächtliche Stimmung schlug in Rebellion um. Ein als Stier verkleideter Mann schlug mit einem Besenstiel eine Ketchupflasche und einen Serviettenhalter von einem der Tresen, hielt dann seine Waffe vor seinem breitbeinig aufgestellten Körper in die Höhe und blickte sich um wie ein in die Enge getriebenes Tier. Einige Betrunkene taumelten zur Seite. Ein anderer Aktionist, mit dem Kopf eines Schafbockes, hangelte sich an einer Markise hoch. Ein vermeidliches Schwein machte laute Grunzgeräusche und kämpfte sich eine Schneise durch die Reihen an der Sektbar, an der Enna selbst noch vorhin gestanden hatte. Es war unwirklich, wie ein Einfall aus der Unterwelt, und hatte trotz der vorherrschenden Gewalt etwas Mystisches, an diesem mittlerweile dunklen, mondlosen Abend.

Die Revolte schien in einen handfesten Tumult auszuarten. Enna sah sich gezwungen etwas zu unternehmen und nahm ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Sie konnte hier unmöglich allein eingreifen, das würde keinen Sinn machen. Sie musste Verstärkung anfordern. Die Nummern des Polizeireviers, ihres Polizeireviers, hatte sie noch nicht gespeichert, ihr Dienst würde erst übermorgen beginnen und so wählte sie den Notruf. Nach dreimaligem Klingeln hörte sie eine Männerstimme.

„Notruf Leitzentrale.“ Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, um eine möglichst präzise Beschreibung des Vorfalls zu geben.

„Kolder mein Name. Es gibt hier einen Zwischenfall auf dem Schlachtfest in der Innenstadt, nahe Markt. Sie sollten mit wenigstens drei Streifenwagen vorbeikommen.“ Enna dachte kaum darüber nach, dass noch niemand auf dem Revier sie kannte.

„Was ist denn passiert?“, fragte der Polizist am Ende der Leitung.

„Es gibt einen Tumult, ungefähr ein Dutzend Randalierer würde ich sagen, die sich als Nutzvieh verkleidet haben. Es kommt zu Sachschäden. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Personen zu Schaden kommen werden.“

„Nutzvieh? Sie meinen Schweine und Rinder?“, fragte der Diensthabende belustigt. „Also, Personen werden ganz bestimmt zu Schaden kommen, auf dem Fest, da bin ich sicher! Wie war noch ihr Name?“ Enna hörte ihn lachen. Offensichtlich glaubte er an einen Scherzanruf.

„Sie kommen bitte augenblicklich zum Geschehen! Sonst werde ich mir Ihren Namen merken!“, rief sie wütend ins Telefon. Ihr fiel ein, dass der Polizist seinen Namen gar nicht genannt hatte, aber das war ihr im Moment egal.

„Und Sie sind sicher, dass es sich nicht um einen Partygag handelt oder um eine Werbemaßnahme?“ Der Mann wirkte nun doch etwas verunsichert durch ihr entschiedenes Auftreten. „Hören Sie, hier ist der Teufel los. Ich bin die neue …“ Lautes Getöse hinter ihr hinderte sie daran weiterzusprechen. Dann war auf einen Schlag alles schwarz.

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„Enna! … Enna, du liebe Güte!“ Enna schlug die Augen auf und sah Annes besorgtes Gesicht über sich. Erst dann wurde ihr bewusst, dass sie auf dem Boden lag. Festbesucher standen um sie herum und starrten sie an, unter ihnen Bertram. Wie hieß er nur mit Nachnamen? Es wollte ihr nicht einfallen. Zwei ältere Frauen schlugen die Hände vors Gesicht. Enna konnte nicht genau ausmachen, ob sie nur entsetzt waren oder hinter vorgehaltenen Händen tuschelten.

„Geht es wieder? Du meine Güte!“ Anne wollte sich nicht beruhigen. Enna richtete sich auf. Ihr Kopf schmerzte höllisch. Sie fasste sich an den Hinterkopf und ertastete eine gewaltige Beule.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie heiser.

„Du bist in das Gemenge gekommen, mehr weiß ich auch nicht! “ Anne war fassungslos. Zumindest hatte der Zwischenfall Anne wieder nüchtern werden lassen.

„Der Terrassenheizer ist ihr auf den Kopf gefallen“, sagte jemand aus der umstehenden Menge. Enna blickte sich um und bemerkte das Chaos. Neben dem umgekippten Terrassenheizpilz lag Abfall verstreut. Sie erinnerte sich wieder an die randalierende Bande in den tierischen Verkleidungen. Die wilde Meute war hier gewesen und hatte die Mülleimer von Bertrams Pommesbude umgekippt. Und sie selbst niedergeschlagen. Aus Versehen oder Absicht? Ennas Polizistengehirn begann zu arbeiten. Aber wo war die Polizei? Sie erinnerte sich, dass sie den Notruf gewählt hatte. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Ihre zukünftigen Kollegen hatten es offensichtlich nicht für nötig befunden, sich her zu bemühen.

Enna wollte aufstehen, doch zu den Kopfschmerzen gesellte sich ein heftiger Schwindel.

„Bleib liegen, ich habe einen Krankenwagen gerufen“, sagte Anne und drückte ihr eine Hand auf die Schulter. „Man kann dich aber auch keine Sekunde allein lassen!“ Sie blickte sie vorwurfsvoll an. Enna wollte nicht ins Krankenhaus.

„Mir geht’s gut“, wehrte sie ab. Sie wollte heraus aus dieser Lage und vor allem aus dem Unrat.

„Du könntest eine Gehirnerschütterung haben. Bleib liegen!“

„Wie konnte das überhaupt passieren?“, fragte sie. Sie hatte geglaubt, immer gut vorbereitet zu sein, gegen jede Art von Gefahr. „Hat mich jemand angegriffen?“, fragte sie an Anne gewandt.

„Ja, der Heizpilz! Ganz gemein und hinterrücks. Und nun bleib bitte liegen!“, antwortete diese.

Im Hintergrund ertönte endlich ein vertrautes Geräusch. Das Martinshorn eines Polizeiwagens. Enna legte ihren Kopf auf die angewinkelten Knie. Sie hätte Lust, selbst Ordnung zu schaffen, in diesem Chaos, aber ihr Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu.

„In welche Richtung sind die Randalierer verschwunden?“, fragte sie ihre beste Freundin.

„Hör mal, du willst doch jetzt hier keine Ermittlungen anstellen! Das überlass mal lieber der Polizei!“ Anne war entrüstet.

„Und die ist schon da!“ ertönte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihr. Enna wollte gerade anmerken, dass sie selbst die Polizei sei, als die beiden Beamten neben sie traten.

„Was ist hier passiert?“, fragte der ältere der beiden Männer, der in Zivil war. Er sprach mit holländischem Akzent. Die niederländische Grenze war nicht weit und man traf häufig auf Niederländer, die sich im Emsland oder in der Grafschaft niedergelassen hatten.

„Hier ist eine Gruppe Bekloppter eingefallen und hat alles verwüstet“, entrüstete Anne sich erneut und gestikulierte wild mit den Armen. Sie konnte herrlich theatralisch sein. Aber jetzt war es Enna eher peinlich. „Und dann haben diese Chaoten meine Freundin hier k.o. geschlagen. Mit dem Terrassenheizer!“

„Sind Sie verletzt?“, fragte der Niederländer und sprach dabei das S auf die typisch holländische Weise aus, so dass es viel weicher klang als im Deutschen.

„Es geht schon wieder.“

„Wirklich?“ Der Mann schien ihr nicht zu glauben und sie befürchtete, dass ihre Erscheinung nichts anderes zuließ. Wie peinlich war das! Hier standen ihre neuen Kollegen und Mitarbeiter und sie lag vor ihnen im Dreck! So hatte sie sich ihre erste Begegnung nicht vorgestellt.

„Wirklich!“ bestätigte sie. Aber es half nichts, Enna musste aus dieser Lage herauskommen und Klarheit schaffen. Mit größter Anstrengung schaffte sie es, sich zu erheben, und dieses auch nur, weil Anne nun mit den Beamten beschäftigt war, und ihnen eine Standpauke wegen ihrer fehlenden Anwesenheit bei diesem Event hielt.

Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, wurde ihr wieder schwindelig. Sie glaubte sich fast schon wieder am Boden als sie den kräftigen Arm des Zivilbeamten aus Holland um sich spürte.

„Hoppla! Wo wollen wir denn hin?“, fragte er und sie blickte ihm in das bartstoppelige Gesicht, das sie von oben anlächelte. Er musste um die Vierzig sein und seine graugrünen Augen wirkten freundlich.

„Es geht schon. Sie können mich wieder loslassen, danke!“ Warum musste ihr das gerade jetzt passieren? Trotz ihrer eher zierlichen Figur war sie für gewöhnlich hart im Nehmen. Aber der Schlag hatte ihr mehr zugesetzt, als sie zunächst geglaubt hatte.

„Sie sollten ins Krankenhaus gehen!“, sagte er und ließ sie vorsichtig wieder auf ihren eigenen Beinen stehen.

„Das habe ich ihr auch geraten“, mischte Anne sich ein.

„Ich glaube, ich höre den Krankenwagen schon“, bemerkte der Polizist in Uniform.

„Schon ist gut!“, sagte Anne besorgt. „Das hat eine Ewigkeit gedauert. Sie hätte tot sein können!“ Wenn Anne einmal in Fahrt war, konnte sie nichts bremsen. „Und wenn Sie sich etwas schneller herbewegt hätten, hätten diese Spaßverderber hier nicht so ein Gemetzel anrichten können!“, fügte sie wütend hinzu.

„Bitte, beruhigen Sie sich!“, forderte der uniformierte Polizist, ein junger Mann mit kurzgeschnittenem, weißblondem Haar sie auf. Anne öffnete den Mund, um zu erneuten Beschuldigungen anzusetzen.

„Anne, lass gut sein!“, versuchte Enna zu vermitteln. „Es geht mir gut!“ Das laute Sprechen verursachte ihr einen erneuten Kopfschmerzanfall.

„Das ist gelogen und das weißt du! Dir hätte Gott weiß was passieren können! Die hätten uns alle massakrieren können und keiner wäre gekommen! Wo leben wir denn?“

„Wenn die Damen sich einig sind, wie es Ihnen geht, dürfte ich dann noch Ihre Personalien aufnehmen?“, fragte der Niederländer Enna freundlich. „Vorausgesetzt Sie fühlen sich dazu schon in der Lage.“ Enna wollte gerade zustimmen, als zwei Rettungssanitäter mit einer Trage erschienen, die sich den Weg zu ihnen gebahnt hatten. Es standen immer noch Menschen um sie herum, die das Geschehen beobachteten.

„Ich komme am Montag zu Ihnen auf das Revier“, antwortete sie ihrem zukünftigen Kollegen. Sie hatte nicht die Kraft, ihre persönliche Situation hier und jetzt aufzuklären. Am Montag würde sie sich in aller Form im Revier vorstellen. Am liebsten hätte sie sich auf die Trage der Sanitäter gelegt und sich aus dem Gemenge heraustragen lassen, aber das war ihr vor den neuen Kollegen zu peinlich. Es war wie eine Schwäche, sich vor ihnen so angeschlagen zu präsentieren. Sie musste Stärke demonstrieren, in der Position, die sie zukünftig innehaben würde. Außerdem hatte sie das Gefühl, die Beamten würden ihr Trunkenheit unterstellen.

Der Beamte schaute verdutzt drein, als sie mit Anne den Schauplatz des Gemetzels verlassen wollte.

„Sagen Sie mir bitte wenigstens Ihren Namen und Ihre Adresse?“, bat er. „Ich muss Sie das fragen…“

„Haben Sie ja jetzt getan.“

Damit ging sie davon. Sie hatte sich dafür gerächt, beim Notruf so nicht ernst genommen worden zu sein. Was Disziplin betraf, verstand sie keinen Spaß. Das war schon immer so gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich oft in ihrem Leben selbst hatte disziplinieren müssen. Nach Leonards Tod. Oder auf ihrer Afrika-Mission während der Ebola-Epidemie.

Sie war gespannt auf die Gesichter der Kollegen, wenn sie in zwei Tagen als neue Chefin vor ihnen stehen würde.

„Du solltest wirklich zu einem Arzt gehen“, meinte Anne, als sie auf ein Taxi warteten. „Warum bist du nicht mit ins Krankenhaus gefahren? Ganz schön leichtsinnig!“

„Ich möchte jetzt einfach nur nach Hause!“ Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihrem eigenen Bett zu schlafen, in welchem häuslichen Chaos auch immer es sich befinden mochte. „Ich kann ja immer noch zum Arzt gehen, wenn es nicht besser werden sollte.“

„Ja, aber morgen ist Sonntag.“

„Na und? Dann gehe ich zum Notdienst.“

„Kann es sein, dass es dir peinlich war, dich vor dem attraktiven Holländer auf die Trage zu legen?“ Anne grinste verschmitzt.

„Du spinnst doch! Außerdem, wo war der denn attraktiv? Der typische Holländer. Lang und dünn.“

„Und eben die fandest du doch immer sooo gutaussehend!“

„Ach wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Sooo schlimm kann es also gar nicht gewesen sein. Und ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, mir darüber Gedanken zu machen, sonst platzt mir der Kopf.“

„Natürlich nicht“, sagte Anne breit grinsend.

Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, wie diese Antwort gemeint gewesen sein könnte. Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie, als endlich ein Taxi vor Ihnen anhielt. Enna setzte sich auf den Rücksitz.

„Kotzt mir aber nicht den Wagen voll!“, rief der Taxifahrer barsch. Anne sah ihn verständnislos an. Enna fühlte tatsächlich eine Übelkeit. Oder war es nur der Gedanke daran, sich übergeben zu müssen? Sobald sie in den weichen Polstern saß, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Sie wachte erst wieder auf, als das Taxi vor ihrem Haus stand und Anne sie wachrüttelte.

„Komm jetzt Enna! Wir sind da!“ Anne versuchte sie aus dem Auto zu zerren. Widerwillig ließ Enna es sich gefallen. Sie war unsagbar müde und die Kopfschmerzen hatten nur wenig nachgelassen.

„Warten Sie hier“, rief Anne dem Taxifahrer zu, „ich muss noch weiter.“

„Bevor Sie bezahlt haben, fahre ich bestimmt nicht weg!“, meinte der Mann und grummelte vor sich hin.

Anne brachte sie bis in ihr Schlafzimmer und zog ihr die Schuhe und die Lederjacke aus.

„Du bist ein Schatz, …!“, sagte Enna als sie sich verabschiedeten. „Das Taxigeld, das … machen wir später“, stammelte sie noch. Heute war sie zu nichts mehr in der Lage.

„Klar doch. Mach dir keine Gedanken. Jetzt schlaf erst mal und kurier dich aus! Und wenn es dir morgen nicht besser geht, gehst du zum Arzt. Oder ruf mich an und ich fahre dich!“ Enna fragte sich, wie das gehen sollte. Hatte Anne nicht ihre Mutter zu Besuch? Oder war es die Schwiegermutter?

Sie hörte, wie die Haustür hinter ihrer Freundin ins Schloss fiel. Als sie die Augen schloss, sah sie das grinsende Gesicht des Holländers vor sich. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.


Schlachtfest

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