Читать книгу Schlachtfest - Mia Wachendorf - Страница 4

Sonntag

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Joris Sollewijn hatte sich früh auf den Weg gemacht an diesem verregneten Sonntagmorgen. Als Oberkommissar bei der Maarsumer Polizei hatte er jedes zweite Wochenende dienstfrei. Eigentlich. Das nutzte er, um seine Familie in Utrecht zu besuchen. Gestern hatte er außer der Reihe einen Dienst übernehmen müssen und konnte erst heute fahren. Es ärgerte ihn, dass sie ständig unterbesetzt waren. Auch wenn er noch heute wieder zurück musste, er würde es sich nicht nehmen lassen, die drei zu besuchen. Die Sehnsucht wäre unerträglich.

Seine Tochter Anouk war acht Jahre alt, sein kleiner Sohn Tim sechs. Er liebte sie über alles. Er liebte auch seine Frau, auch wenn er in letzter Zeit das Gefühl hatte, es würde immer schwerer, Esther von seiner Liebe zu überzeugen. Sie mussten reden, heute. Dringend.

Familie bedeutete ihm alles. Aber er war so wie er war. Und Esther akzeptierte das. Das hatten sie sich bei ihrer Hochzeit versprochen, sich anzunehmen, so wie sie waren. In guten wie in schlechten Zeiten. Sie hatten sich auch versprochen, treu zu sein.

Sein Hochzeitsversprechen bedeutet ihm etwas, es waren keine leeren Worte. Damals vor zehn Jahren im Kasteel de Haar bei Utrecht, und auch heute nicht. Keine Worte, die dahingesagt wurden, weil es so schön feierlich klang und so romantisch, wie der Park der Burganlage, in dem sie gefeiert hatten. Als er sie ausgesprochen hatte, war er sich ihrer tiefen und verbindlichen Bedeutung bewusst gewesen. Er hatte sich auch noch selbst versprochen, alles für diese Ehe zu tun, was in seiner Macht stand. Er hatte es sich geschworen. Joris war glücklich mit Esther und er wollte, dass diese Ehe funktionierte. Um jeden Preis. Dafür wollte er alles tun. Das hatte er immer getan. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.

„Godverdomme!“, fluchte er plötzlich laut. Er war bereits auf der A28 Richtung Amersfoort unterwegs, als ein weißer Lieferwagen dicht vor ihm einscherte und ihn zum Bremsen zwang. „Nur Bekloppte unterwegs hier!“ Bekloppte. Seine Gedanken schweiften zum gestrigen Einsatz auf dem Maarsumer Schlachtfest.

Er hatte die Schlachtfest-Gäste nach den Randalierern gefragt und wie üblich waren die Maarsumer sehr hilfsbereit und auskunftsfreudig gewesen. Er war nun 42 Jahre alt, seit 20 Jahren bei der Polizei, die meiste Zeit davon in den Niederlanden, und er hatte eines gelernt: Wer eine Frage stellt, bekommt meistens auch eine Antwort. Es war so einfach, wie wahr. Er war immer wieder erstaunt, was die Leute bereit waren zu erzählen, einfach nur weil man sie fragte. Je freundlicher man fragte, umso mehr konnte man in Erfahrung bringen. Die meisten Menschen kamen sich bedeutsam vor, vermutete er, wenn sie von der Polizei um ihre Beobachtungen und ihre Meinung gebeten wurden. Einige waren einfach nur froh, helfen zu können. Nur wenige waren gegen die Polizei eingestellt und noch weniger Menschen im Emsland hatten etwas gegen einen Niederländer in einer deutschen Polizeiuniform. Er fühlte sich wohl in Maarsum. Aber Utrecht war sein Zuhause. In weniger als zwei Stunden würde er dort sein. Und er freute sich so sehr, seine Familie wiederzusehen.

Dennoch gab es an diesem Morgen Dinge, die seine Vorfreude minderten. Esther weigerte sich immer noch, mit den Kindern zu ihm nach Maarsum zu ziehen. Sie hatten wieder einmal deswegen gestritten, als sie gestern per Videochat miteinander gesprochen hatten. Er war nun schon zwei Jahre ohne sie dort. Seine Stelle war gesichert und unbefristet und es sprach nichts dagegen, dass sie endlich zu ihm kamen. Anouk und Tim könnten in ländlicher Umgebung aufwachsen, wie er es sich als Kind für sich selbst gewünscht hätte. Utrecht war gefährlich für kleine Kinder, zumindest dort, wo sie wohnten, mitten im Zentrum in der Nähe der Oudegracht. Sie mussten unbedingt heute noch einmal darüber sprechen.

Es wurmte ihn außerdem, dass er die freigewordene Stelle als Hauptkommissar, für die er sich beworben hatte, nicht bekommen hatte.

„Enna Kolder!“, rief er wütend aus, während er den grauen Golf über den Knotenpunkt Hattemerbroek bei Zwolle lenkte. „Was ist das überhaupt für ein Name?“ Man hatte ihm vor drei Wochen mitgeteilt, dass seine Bewerbung sehr großen Eindruck gemacht habe und man sicher wäre, dass er diesen Posten ebenfalls bestens ausfüllen könne, man jedoch einer Kollegin aus Münster den Vorzug gegeben habe. Harald Fehrmann, sein Vorgesetzter aus Papenburg, hatte noch etwas von Frauenquote, Aufstockung des Personals und ein wenig längerer Berufserfahrung gemurmelt, aber da hatte er schon abgeschaltet. Er war enttäuschter, als er sich eingestehen wollte. Morgen würde er der Quotenfrau begegnen.

„Frauenquote! Dass ich nicht lache!“ Wieder sprach er es laut aus. Der Regen prasselte heftiger auf seine Windschutzscheibe und er stellte den Scheibenwischer eine Stufe schneller.

Der Posten hätte ihm zugestanden. Er leitete das Revier praktisch jetzt schon. Außer ihm kam niemand seiner Kollegen für die Stelle in Frage. Paul-Peter war zu jung, Bernd zu alt. Und Frauke war nun überwiegend in der Hauptstelle in Papenburg tätig. Und drei Jahre jünger als er. Den Personalmangel hätte man auch mit jüngeren Kollegen beheben können. Es gab keinen wirklichen Grund, jemanden von außerhalb zu holen. Das sagte ihm nur eines: Man wollte keinen Holländer in einer leitenden Position. Da nahm man lieber eine deutsche Frau. Mehr Berufserfahrung. Welche alte Schachtel man ihm wohl vorsetzen würde.

Sein Berufsalltag würde sich von nun an ändern und das gefiel ihm überhaupt nicht. Vielleicht sollte er doch kündigen. Zurück nach Utrecht zu seiner Familie. Das war eigentlich keine Option. Er war nicht der Typ, der gerne wechselte, zumindest nicht, wenn ihm die Arbeit und die Stadt gefiel. Aber vielleicht sollte er dennoch darüber nachdenken. Er hatte noch eine Stunde Zeit, dann wäre er am Ziel. Es wollte nicht aufhören zu regnen.

#

Es war das zweite Mal heute, dass Enna sich ein Glas Wasser einschenkte, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Übelkeit und Schwindel waren weitgehend verschwunden und so sah sie keinen Grund für einen Arztbesuch. Zumal sie nicht sicher war, ob der Schlag auf den Kopf die Ursache war, oder ein simpler Kater. Sie sah auch keinen Grund für das Einräumen und Einrichten ihrer Wohnung. Eine bessere Ausrede als Kopfschmerzen, um Lästiges zu verschieben, gab es nicht. Und dafür, sich eine Tasse Kaffee nach der anderen einzuflößen, während man es sich auf dem Sofa gemütlich machte.

Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie noch angezogen war. Ihre Kehle war ausgetrocknet und sie war aufgestanden, um zu trinken und sich auszuziehen. Bis sie gegen neun Uhr morgens durch den stechenden Schmerz am Hinterkopf aufgewacht war, hatte sie wieder fest geschlafen. Danach konnte sie, trotz anhaltender Müdigkeit, keinen Schlaf mehr finden. Es gewitterte den ganzen Morgen und sie hatte den Eindruck, dass es im Haus immer schwüler wurde.

Anne hatte bereits mehrfach versucht, sie anzurufen und Enna schickte eine kurze Textnachricht. Sie würde sie zurückrufen, wenn die Kopfschmerzen verschwunden waren. Eine aufgedrehte Anne, wie sie sie gestern erlebt hatte, konnte sie in diesem Zustand nicht ertragen. Sie schloss die Augen und ließ die Ereignisse des gestrigen Tages Revue passieren. Ein seltsamer Einstieg in ihre neue Karriere. Ein zukünftiger Mitarbeiter findet sie angetrunken, von einem Terrassenheizer niedergestreckt auf dem Boden liegend bei einem Stadtfest. Solche Dinge durften nicht zu Gewohnheit werden.

Sie blickte sich im Zimmer um. Es würde noch eine Menge Arbeit sein, bis sie sich hier wohlfühlte. Der Gedanke an Arbeit ließ das Hämmern in ihrem Kopf wieder einsetzen. Frische Luft würde guttun. Sie öffnete die Schiebetür zur Terrasse und trat mit ihrer Kaffeetasse unter die Terrassenabdeckung. Der Regen hatte aufgehört. Sie sog die frische, noch kühle Sommerluft ein.

Das Grundstück ihres kleinen Einfamilienhauses grenzte hinten an ein Waldstück. Sie blickte nach rechts und nach links. Keiner ihrer Nachbarn war zwischen den hohen Büschen und Lebensbäumen zu sehen. Nur perfekt geschnittener, hellgrüner Rasen blitzte hier und dort hindurch. Ihr eigener Rasen sah weniger gepflegt aus. Das Haus aus den Sechzigern hatte einem alten Herrn gehört, der ins Betreute Wohnen umgezogen war. Er hatte den Garten und das an das Haus angebaute Gewächshaus aus gesundheitlichen Gründen vernachlässigen müssen, hatte er ihr erzählt. Von allen Immobilien, die ihr angeboten worden waren, hatte ihr dieses Haus dennoch am besten gefallen. Auch wenn sie kein ausgemachter Gartenfan war, hatte sie sich sofort in das rote Backsteingemäuer auf dem 800-Quadratmeter-Grundstück verliebt. Es hatte sie an das Haus ihrer verstorbenen Großmutter erinnert.

Häuser wie dieses gab es viele in der Gegend. Aber nicht jedes hatte eine so günstige Lage. Es befand sich in einem Abstand zur Innenstadt, der leicht mit dem Fahrrad zu bewältigen war, und gleichzeitig mitten in der Natur durch den Mischwald, der sich an ihr Grundstück anschloss mit dem daran angrenzenden Teufelsmoor. Sie hatte vor, den Garten pflegeleicht umgestalten zu lassen und das Gewächshaus abzureißen. An dessen Stelle könnte sie ein Gartenhaus setzen, groß genug, um eine Party darin zu feiern. Mit all den vielen Freunden, die sie hier noch nicht hatte.

In Münster hatte sie einen bescheidenen Freundeskreis, der in erster Linie aus Leuten bestand, die sie auf der Polizeischule kennengelernt hatte. Die könnte sie dann hierher einladen. Ganz sicher würde sie ihre Münsteraner Clique bald vermissen.

„Moin!“ tönte es von der Seite. Es war Helmut Brackmann, ihr Nachbar zur Rechten. Mit Helmut hatte sie schon kurz gesprochen. Er war Rentner und lebte allein. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatte sie geglaubt, den Prototypen des emsländischen Spießbürgers vor sich zu haben. Nachdem sie sich unterhalten hatten, stellte sie fest, dass der erste Eindruck nicht getäuscht hatte. Sie winkte hinüber. „Moin!“ Dann blickte sie an sich hinunter. Sie trug noch ihre geblümte Pyjamahose, darüber ein altes graues Tanktop, und Schlappen. Sie blickte wieder auf. Helmut war noch da.

„Na? Verschlafen?“ fragte er neugierig.

„Ist doch Sonntag!“ Enna versuchte zu lächeln. Helmut winkte und zog sich dann diskret zurück. Vermutlich war er jemand, der sich auch sonntags den Wecker stellte, um pünktlich in der Frühmesse zu sein. Es war gerade einmal elf Uhr. Da man sie von seinem Haus aus hier nicht sehen konnte, vermutete sie, dass er einen morgendlichen Rundgang durch seinen Garten gemacht hatte, um zu sehen, ob noch alle Blumen und Pflanzen an ihrem Platz waren. Und um dabei zufällig etwas von der neuen Nachbarin zu erspähen. Sie fragte sich, ob sie ungerecht gegenüber Helmut war. Vermutlich war sie das, entschuldigte dies aber mit ihren Kopfschmerzen. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war kalt. Enna verzog angewidert das Gesicht, entleerte die Tasse ins Blumenbeet und ging wieder hinein.

Ihr Telefon klingelte, als sie es sich gerade wieder auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie fragte sich, wer sie auf dem Festnetz anrufen würde, die Nummer hatte sie außer Anne und ihrer neuen Dienststelle noch niemandem gegeben. Eine unbekannte Papenburger Nummer im Display.

„Kolder.“

„Guten Morgen Frau Kolder, Harald Fehrmann hier.“ Harald Fehrmann war Polizeipräsident in Papenburg und ihr Chef. Die Tatsache, dass er sie persönlich am Sonntagmorgen anrief, verursachte sofort eine neue Kopfschmerzattacke.

„Guten Morgen Herr Fehrmann. Was kann ich…?“

„Frau Kolder, ich weiß, Sie haben heute noch dienstfrei,“ unterbrach er sie, „und ich störe nur ungern, aber es ist etwas passiert, das ihre Anwesenheit in der Dienststelle Maarsum, bzw. an einem Tatort, schon heute dringend erforderlich macht.“ Harald Fehrmann war ein Mann, den Sie schon beim ersten Kennenlernen während ihres Vorstellungsgesprächs als unsympathisch abgestempelt hatte. Seine Stimme war übernormal laut. Alles was er sagte, gab er mit der Präzision eines Pistolenschusses von sich, machte nie überflüssige Worte oder verwendete Floskeln. Smalltalk schien er ebenso wenig zu kennen. Ein harter Hund. Und ein verdienter Polizist, zweifelsohne. Umso mehr wunderte sie sich nun über sein angebliches Bedauern, sie am Sonntag zu stören.

„Was ist passiert?“, fragte sie nur, denn sie wusste, dass er von den Menschen in seiner Umgebung ebenfalls erwartete, präzise und ohne Umschweife zu sein.

„Leichenfund nahe des Duisterwald bei Maarsum. Weiblich, etwa 30 Jahre alt, mit Würgemalen am Hals und einer Kopfwunde. Vermutlich Mord. Die weiteren Details erfahren Sie von Kriminalhauptmeister Bernhard Kötter-Stroth, den ich bereits beauftragt habe, Sie von zu Hause abzuholen. Kriminaloberkommissar Sollewijn ist leider verreist, daher werden Sie das zunächst allein übernehmen müssen.“ Der Polizeipräsident sprach emotionslos. Enna erstarrte. Nicht dass sie sich nicht einen spannenden Fall zum Einstieg gewünscht hätte, aber gleich einen Mord! Sie konnte sich nicht erinnern, dass es in Maarsum oder Umgebung jemals einen Mord gegeben hatte.

„Selbstverständlich. Ich stehe zur Verfügung“, antwortete sie. Wenn auch nicht sofort, dachte sie, mit Blick auf ihr lässiges Outfit.

„Danke. Und viel Glück bei Ihrem ersten Fall.“ Damit legte er auf und ließ sie mit dem Mordfall allein. Sie marschierte so schnell es ihr Kopf erlaubte ins Schlafzimmer, wo sie die Umzugskisten nach geeigneter Kleidung für eine Mordermittlung bei Regenwetter durchwühlte. Es klingelte an der Haustür. Sie blickte aus dem Fenster auf die Straße. Es war der Streifenwagen. Ein Polizist in Uniform stand vor ihrer Tür. Enna zog sich eine Jeans über, sprang ins Bad, um sich die Haare zu bürsten und lief dann die Treppe hinab. Es klingelte wieder. Das würde heute nichts werden, mit dem gemütlichen Regentag zuhause. Eine Frau war getötet worden. Sie musste sofort los.

#

Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören, als Enna mit Polizeiobermeister Bernd Kötter-Stroth zur Ems hinunterstiefelte. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Der Fundort, eine malerische Emswiese mit einer Böschung zur Ems hinunter, war nahe einem Waldstück gelegen und hatte etwas romantisches. Ein Ort, an dem man sich ein gemütliches Picknick vorstellen konnte, läge nicht eine tote Frau darin. Enna sog den Duft der nassen Erde ein, der sie an ihre Kindheit erinnerte. An ihre Streifzüge durch die feuchten Wiesen hinter ihrem Elternhaus, auf der Suche nach geheimnisvollen Orten, an denen sie sich phantastische Geschichten ausdachte.

Unermüdlich zog der Fluss vorbei. Regentropfen prasselten auf die nackte weiße Haut der Toten, die mit dem Gesicht nach unten unter einer Anhäufung aus Birkenreisig lag. Nur der Kopf und ein Bein schauten unter dem Gestrüpp hervor, wie unter einer Bettdecke aus Zweigen, die man nicht sorgfältig genug auf sie gelegt hatte.

Ungefähr zehn Personen hielten sich in der Nähe des Fundorts auf und starrten die neue Chefin der Maarsumer Polizei an, während sie mit ungewaschenen Haaren im Trenchcoat über die mit Wasser vollgesogene Wiese stapfte. Es blitzte ununterbrochen, entweder durch das Gewitter, das gerade durchzog oder durch den Polizeifotografen, der um die Leichenfundstelle herumlief wie ein Hütehund um eine Schafherde. Enna kam sich vor wie ein Filmstar im Blitzlichtgewitter, nur dass sich statt des roten Teppichs eine Fläche aus schwarzem Matsch zu ihren Füßen ausbreitete und ihre Füße nicht in eleganten Pumps, sondern in ehemals weißen Sneakern steckten.

„Was machen all die Leute hier?“, fragte sie sofort.

„Das sind hauptsächlich Spaziergänger“, meinte Kötter-Stroth. „Und ein paar Tierschützer, die drüben im Duisterwald kampieren.“

„Hat man die Leute schon befragt?“

„Nur die Spaziergänger, die Tierschützer sind gerade erst dazugekommen.“

„Passen Sie bitte auf, dass niemand in die Nähe der Toten kommt!“, bat sie ihn. „Und dass niemand hier irgendwelche Handyfotos schießt! Sperren Sie den Bereich ab!“ Sie glaubte nicht daran, dass all diese Leute hier zufällig spazieren gingen. Nicht in dieser Anzahl, nicht bei diesem Wetter. Sie hasste Gaffer. Im Zeitalter des Handys war eine Neuigkeit wie ein Mordfall so schnell verbreitet, als hätte sie jemand von einem Maarsumer Kirchturm ausgerufen, vermutlich schneller. Den Tierschützern würde sie später einen Besuch abstatten. Personen, die sich nachts hier im Wald aufgehalten haben, könnten wichtige Zeugen sein.

Enna sah sich den Kopf der Toten an. Das Gesicht war kaum zu erkennen, da der starke Regen die Erde hochgespritzt hatte und lange nasse Strähnen ihres blonden Haares es verdeckten. Der schwarze Dreck wirkte wie zerlaufenes Mascara in ihrem Gesicht. Ihr Kopf lag auf der Seite, als ob sie mit geöffneten Augen schliefe. Man konnte noch erkennen, dass sie Lippenstift trug, knallrot, vermutlich wasserfest. Kleidung war unter dem Gestrüpp nicht zu sehen, ihr Körper schimmerte schneeweiß durch die schwarzen Zweige hindurch. Enna vermutete, dass sie schon mindestens 24 Stunden tot war. Fliegen hatten bereits angefangen Eier auf ihr zu legen, wie das Vorhandensein einiger Maden zeigte. Bei warmem Wetter wie gestern, konnte das sehr schnell gehen. Sie schaute sich in der Nähe um. Nichts deutete darauf hin, dass der Mord hier passiert sein könnte.

Die Ems führte zu dieser Jahreszeit wenig Wasser und strömte gemächlich dahin. Die Männer der Spurensicherung und uniformierte Beamte waren damit beschäftigt die Umgebung abzusuchen. Sie wollte warten, bis der Fotograf fertig war, bevor sie die Zweige weiter entfernte. Und sie würde dafür sorgen, dass die Menschen hier verschwanden. Sie hatte noch nicht oft mit Mord zu tun gehabt. Aber in den Fällen, die sie in Münster bearbeitet hatte, hatte sie große Empathie für die Opfer empfunden und eine tiefe Trauer. Gefühle, die sie nicht abschalten konnte, obwohl das für die Lösung des Falles besser gewesen wäre. Ein tiefes Gefühl des Unrechts und der Unzufriedenheit hatte sie gequält, wenn ein Fall nicht gelöst werden konnte. Aber das gehörte zu ihrem Beruf. Es hatte gut getan, mit Rüdiger über solche Dinge zu reden. Er hatte sie verstanden. Er kannte sich damit aus. Sie vermisste ihn.

Was ist dir nur passiert, fragte sie, als sie die Leiche betrachtete und schwor ihr, es herauszufinden.

„Es ist doch hier nichts am Fundort verändert worden?“ fragte sie ihren Kollegen Kötter-Stroth.

„Soweit ich weiß, nicht.“

„Was heißt, soweit Sie wissen?“

„Da müssen Sie wohl den Herrn fragen, der die Tote gefunden hat. Wir haben hier natürlich nichts verändert.“ Er schien ein wenig beleidigt wegen der Frage, aber genau konnte sie das nicht feststellen. Kötter-Stroths Augen waren hinter der Brille kaum zu erkennen. Seine Brillengläser waren mit Wassertropfen gesprenkelt.

„Und wer ist der Herr?“ Enna hasste es, wenn sie jemandem jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste. Das war schon vorhin im Streifenwagen so, als sie sich mit Kötter-Stroth bekannt gemacht hatte. Der 60-jährige Polizist hatte sie freundlich willkommen geheißen, aber Details zum Fall hatte sie nur auf Nachfrage erhalten. Immerhin war sie nun seine Chefin und sie erwartete, dass jeder spurte. Sie hatte sich vorgenommen, eine freundschaftliche, aber auch strenge Chefin zu sein. Das hatte sie von Rüdiger gelernt.

„Der Herr Haverland hat sie gefunden. Er steht dort hinten beim Streifenwagen.“ Sie sah in der Ferne einen Mann in Reitstiefeln auf und ab gehen. Sein Pferd graste in einiger Entfernung und ein mittelgroßer, brauner Hund lief um ihn herum. „Er hat schon danach gefragt, gehen zu dürfen. Hat wohl noch dringendes in seinem Betrieb zu erledigen.“

„Am Sonntag? Gut, ich spreche gleich mal mit ihm!“ Gab es denn hier niemanden, der am Sonntag ausspannen wollte?

„Die Forensik ist übrigens schon unterwegs.“

„Gut“, sagte Enna nur. Daran hatte sie noch nicht gedacht. Die Spurensicherung war längst vor Ort, ein Rechtsmediziner erschien jedoch nicht immer am Tatort. Normalerweise reichte eine Untersuchung in der Pathologie aus. Aber manche Rechtsmediziner fanden es hilfreich, das Opfer in der Umgebung des Fundorts zu untersuchen. Das gibt ihnen manchmal weitere Aufschlüsse. Enna betrachtete das als großes Engagement für den Fall und war dankbar. Und das an einem Sonntag. Diese Person hatte auf jeden Fall jetzt schon Pluspunkte bei ihr.

„Bei dem Regen werden wohl nicht viele Spuren an ihr hängenbleiben“, meinte Kötter-Stroth dann. Enna nickte.

„Wenn sie vergewaltigt worden ist, könnten wir Glück haben.“

„Sieht ja ganz danach aus. Wer macht sowas?“ Kötter-Stroth schüttelte fassungslos den Kopf. Manchmal ließ ein Mörder aber auch die Kleidung verschwinden, um keine Spuren zu hinterlassen. Sie fragte sich allerdings auch, warum die Tote nicht einfach in die Ems geworfen wurde. Es hätte sicher länger gedauert, bis man sie gefunden hätte. Vielleicht wäre sie auch für immer in den Fluten versunken.

Ein junger Mann mit langem Vollbart kam auf sie zu. Kötter-Stroth stellte ihn vor.

„Frau Kolder, das ist der Kommissar-Anwärter Paul-Peter Schellenberg von der SpuSi.“ Der Mann war in Zivil und kaum 30 Jahre alt.

„Sie sind der Leiter der SpuSi?“, fragte sie ihn ungläubig. In der Ferne hörte man wieder Donnergrollen.

„Nein, das ist der Herr Ollenschläger. Der ist aber leider längerfristig erkrankt, ich vertrete ihn.“

„So, aha. Sehr schön. Könnten Sie dann hier bitte einen Sichtschutz aufstellen? Am besten ein Zelt, wenn ich mir das Wetter so ansehe.“ Enna hätte wirklich freundlicher zu ihm sein können. Sie merkte, dass sie nervös war. Ihr erster Mordfall als leitende Ermittlerin machte sie nervös. Und trieb ihre Kopfschmerzen auf die Spitze.

„Wie es aussieht, ist die Frau unbekleidet, nicht wahr?“, fragte sie ihn dann.

„Es sieht so aus“, antwortete Schellenberg freundlich.

„Das heißt vermutlich werden wir auch keine Papiere bei ihr finden“ Noch während sie diese Schlussfolgerung aussprach, merkte sie wie absurd diese war.

„Oh, wir wissen wer sie ist“, meinte der junge Mann. „Der Entdecker der Toten kennt… äh, kannte sie.“ Enna sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte vergessen, dass in einer Kleinstadt wie Maarsum, beinahe jeder jeden kennt. „Die Tote ist Susanna Schnieders-Kösters, die Frau von Jens Schnieders, eines Wurstfabrikanten aus Maarsum.“

„Und das haben Sie vom Herrn, wie war der Name, Haverland?“, fragte Enna erstaunt. Schellenberg nickte. „Es hat aber vermutlich noch niemand den Ehemann benachrichtigt, nehme ich an?“ Ihr war klar, dass das ihre Aufgabe war, die sie so schnell wie möglich erledigen musste. Bevor die Betroffenen es von jemand anderem erfuhren. Sie war sicher, dass sich die Nachricht von einem vermeidlichen Mord wie ein Lauffeuer in Maarsum verbreiten würde.

„Nein, noch nicht!“ Schellenberg schüttelte den Kopf. Er würde nun das gleiche denken wie sie, da war sie sicher. Es war ihre Aufgabe.

„Wann wird die KTU denn voraussichtlich eintreffen?“ Enna hätte noch gerne ein paar Worte mit dem Mediziner gesprochen, bevor sie die undankbare Aufgabe der Benachrichtigung der Angehörigen übernahm. Schellenberg wandte sich zu seinem Kollegen um.

„Bernd? Weißt du wann Jo hier eintreffen wollte?“ Bernd Kötter-Stroth zuckte mit den Schultern.

„Und Jo ist wer genau?“, fragte sie ungeduldig.

„Jo Engelbert.“

„Okay, … vielen Dank!“ Es gab bei einem Mordfall jede Menge Details zu klären. Die Tatsache, dass man seine Kollegen nicht kennt, machte die Sache nicht einfacher. Sie trat noch einmal an die Tote heran und nahm ein paar Birkenzweige herunter. Die Frau hatte einen durchtrainierten Körper mit Tätowierungen, eine Rose auf dem Schulterblatt und ein Arschgeweih. Sie trug ein silbernes Armband, mehrere Ringe und diverse Piercings in den Ohren.

Enna stapfte über die matschige Wiese die Böschung hinauf, an den Zuschauern vorbei, um mit dem Reiter zu sprechen, der immer noch ungeduldig auf sie wartete.

„Gehen Sie bitte nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen“, bat sie die Menschen.

„Ist die Schnieders-Kösters ermordet worden?“ Eine ältere Frau mit Rosenmuster-Regenschirm wollte es genau wissen.

„Wir können dazu noch nichts sagen, bitte gehen Sie!“, wies Enna die Wartenden an. Die Leute setzen sich langsam in Bewegung.

„Die wird sich wohl nicht freiwillig nackt unter den Haufen Gestrüpp gelegt haben“, murmelte ein älterer Herr. Enna stapfte weiter hinauf zur Straße.

Der Hund begann laut zu bellen. Die Anstrengung, die rutschige Böschung hinaufzusteigen und das Gebell des Hundes ließen ihre Kopfschmerzen erneut aufwallen. Es pulsierte und hämmerte gegen ihre Stirn und ihr Schädel fühlte sich an, als wollte er zerplatzen wie eine Melone. Ihre Hand wanderte in die Manteltasche, um nach den Kopfschmerztabletten zu greifen, doch sie hatte kein Wasser, um sie einzunehmen. Sie hatte den Mann noch nicht ganz erreicht, da erkannte sie ihn wieder. Vor ihr stand der blonde Reinhard, der Mann, der Jeden und Jede kannte. Auch die Tote. Die Welt war noch kleiner, als sie dachte.

„Na sowas! Schon so früh unterwegs?“, rief er aus. Er war völlig durchnässt. Sie reichte ihrer Schlachtfest-Bekanntschaft die Hand.

„Nicht freiwillig. Enna Kolder, Kriminalhauptkommissarin aus Maarsum“, stellte sie sich ordnungsgemäß vor. „Ich habe ja gesagt, ich komme wieder.“ Sie versuchte krampfhaft zu lächeln. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass dieser Trunkenbold und Frauenheld ihr Zeuge war.

„Tja! Ich hatte aber eigentlich noch gestern Abend mit dir gerechnet. Mein Name ist Haverland.“ Er hatte einen enormen Händedruck und seine Hände waren überraschenderweise warm. Da er sie nicht weiter auf das Missgeschick mit dem Terrassenheizer ansprach, vermutete sie, dass er nicht mehr viel von dem Abend mitbekommen hatte. „Dann muss ich dich ja jetzt wohl Siezen“, meinte er lächelnd. Enna überlegte einen Augenblick.

„Nicht nötig.“ Sie war nicht der Mensch für Formalitäten. Der braune Hund, ein kräftiger Airdale-Terrier, kläffte immer noch aus voller Kehle. Schließlich wies er das Tier zurecht.

„Also ich habe die Tote heute bei meinem morgendlichen Ausritt gefunden“, begann er. „Genauer gesagt, mein Hund hat sie gefunden.“

„Hast du, oder dein Hund, irgendetwas am Fundort verändert, zum Beispiel die Zweige abgedeckt?“, fragte sie ihn.

„Ich bin natürlich gleich abgesessen und habe mir das angesehen. Das Bein schaute da raus, und da habe ich natürlich gedacht, da stimmt was nicht“, antwortete Reinhard wichtigtuerisch.

„Also hast du sofort erkannt, dass es sich um eine tote Person handelt?“

„Na ja, so wie meine Hündin angeschlagen hat, dachte ich erst, da ist ein Hase drunter. Dann war’s aber doch ein Häschen!“ Er setze ein frivoles Grinsen auf. „Und das Bein einer Dame erkenne ich auf den ersten Blick, glaub mir.“ Er grinste weiter.

„Ich glaube nicht, dass das ein Anlass für Scherze ist.“, sagte sie streng. Die Tatsache, dass Reinhard Haverland heute nüchtern war, erhöhte nicht die Qualität seiner Sprüche. „Du kanntest die Tote?“, fragte sie.

„Ich kannte sie, jawohl.“ Die Situation schien ihm nicht nahezugehen. Oder er war enorm abgebrüht. „Susanna hatte keine Klasse, … nicht so wie du!“, behauptete er dann. Enna konnte es nicht glauben. Es war ein Mord geschehen und er hatte die Nerven, sie anzubaggern. „Susanna Schnieders-Kösters war die Dorfmatraze“, fügte er hinzu. „Sie ging mit allem und jedem ins Bett.“ Der muss es wohl wissen, dachte Enna bei sich.

„Und du hast nichts am Fundort berührt oder an der Toten?“, fragte sie dann.

„Na ja, ich habe den Kopf etwas freigelegt“, gestand er. „Ich musste doch nachsehen, ob man ihr noch helfen kann. Aber so wie sie aussah, wusste ich gleich, dass sie tot ist. Habe dann noch versucht am Hals den Puls zu fühlen, da habe ich die Würgemale gesehen. Sie war schon eiskalt und ganz starr.“ Enna glaubte ihm. Sie hatte die Leiche gesehen.

„Reitest du jeden Sonntagmorgen hier lang?“, wollte sie wissen.

„Mal hier lang, mal dort lang. Die Pferde wollen ja bewegt werden.“

„Keinen Kater von gestern?“

„Na klar, und was für einen.“ Er grinste ein breites Grinsen. „Reiten macht den Kopf wieder klar. Kannst gerne mal mitkommen, wenn du Lust hast“, bot er an.

„Danke, mein Kopf ist völlig klar.“ Das war eindeutig gelogen, aber sie hatte keine Lust mit Reinhard in eine nähere Beziehung zu treten, nicht einmal zum Reiten. „Wie ist das mit der Schürfwunde in deinem Gesicht passiert?“, wollte sie von ihm wissen. Die Wunde hatte die verdächtige Form von Kratzspuren, ob von einem Menschen oder einem Tier, konnte sie nicht sagen. Reinhard fasste sich ins Gesicht und strich sich über die verheilende, schorfige Wunde.

„Ach das, … das ist vom Radfahren. Ich habe mit dem Gesicht gebremst. Soll man nicht machen, ist ungesund!“ Er lachte.

„Ist das gestern passiert?“

„Nee, am Freitag. Hatte schon was auf. Da konnte ich natürlich nicht mehr Auto fahren, Frau Wachtmeister, das können Sie sich ja vorstellen.“ Und wie genau sie sich das vorstellen konnte! Er war also auch am Freitag schon ziemlich betrunken gewesen. Und prahlte damit. Sie hielt das übermäßige Trinken keinesfalls für ungewöhnlich. Im Emsland wurde viel getrunken, dafür war es bekannt. Und bei Festen hielt sich kaum jemand zurück, das hatte sie in ihrer Jugend oft erlebt. Und auch selbst praktiziert. In Ennas Jugend gab es eine Phase, in der sie das Leben ausprobiert hatte, mit all seinen Möglichkeiten und Facetten. Alkohol hatte dazu gehört.

„Wann hast du Susanna Schnieders-Kösters zuletzt lebend gesehen?“, fragte sie schließlich.

„Puh, keine Ahnung. Wahrscheinlich am Freitag, am ersten Abend des Schlachtfestes. Ja, da habe ich sie kurz getroffen. Sie war mit Heinz dort, ihrem Vater. Und Marita, seine Lebensgefährtin, war auch da. Wird das jetzt ein Verhör, oder was?“ Susannas Tod ließ ihn definitiv völlig kalt.

„Nein. Aber ich möchte dich bitten, morgen auf dem Revier zu erscheinen. Für eine Zeugenaussage. Und ich möchte dich außerdem bitten, umgehend ins Krankenhaus oder zu einem Arzt zu gehen, für einen Blutalkoholtest. Vielen Dank.“ Reinhard pfiff missbilligend durch die Zähne.

„Und wenn ich mich weigere?“

„Macht dich das verdächtig“, antwortete sie kühl. Damit ließ sie ihn stehen. Sie vermutete, dass er noch Restalkohol im Blut hatte.

Reinhard Haverland stieg auf sein Pferd und befahl dem Terrier, ihm zu folgen.

„Bitch“, rief er ihr nach als sie außer Hörweite war.

#

Sie hatte Kötter-Stroth gebeten, sie zunächst zum Ehemann der Toten zu fahren. Jens Schnieders wohnte in einem neu erbauten Einfamilienhaus, das etwa dreimal so groß war, wie ihr eigenes. In einem übergroßen Carport, der an das Haus angebaut war, standen ein neuer 5er BMW und ein Porsche Carrera älteren Baujahrs. In der Einfahrt parkte ein vergleichsweise billiger roter Seat. Das Haus aus cremeweißen Klinkern war ebenso gepflegt wie der Vorgarten. Alles war in einem eher konservativen Stil gehalten, hier und da erhoben sich weißgraue steinerne Figuren aus den flach angelegten bunten Rabatten. Es gab mehr Pflaster, Kies und Stein als Grün. Die Beete waren ordentlich gejätet und geharkt, jedoch fehlte es an jeglicher Üppigkeit und Großzügigkeit, die Staudenbeete prächtig und harmonisch aussehen ließen. Dieser Gärtner wollte Farbe, Vielfalt und Protz, aber auf keinen Fall natürlich wirkende Schönheit. Kötter-Stroth stieg aus und sah sich das Haus und den Vorgarten aus der Nähe an. Es war offensichtlich nach seinem Geschmack. Oder er wollte ihr einen Moment für sich gönnen, bevor sie die traurige Nachricht überbringen musste, da war Enna sich nicht sicher.

Sie blickte in den Spiegel über dem Beifahrersitz. Ihr ungeschminktes Gesicht glänzte regennass und ihre Haare waren durch den Wind zerzaust. Sie versuchte sie mit den Fingern zu glätten und steckte sie hinten unter den Mantelkragen. Enna hasste Aufgaben wie diese und hätte alles dafür gegeben, wieder warm und trocken auf ihrem Sofa sitzen zu dürfen. Selbst ein peinliches nachbarliches Gespräch mit Helmut Brackmann wäre ihr lieber gewesen.

Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Dann hörte sie von innen eine Frauen- und eine Männerstimme im Wechsel. Nach einigem Hin- und Her wurde die Tür geöffnet. Enna war überrascht, Jens Schnieders hatte offensichtlich gerade Damenbesuch. Die Frau um die Dreißig, die durch den Türspalt lugte, trug einen Herren-Morgenmantel und wirkte leicht verschreckt als sie Enna und den uniformierten Kötter-Stroth vor der Tür erblickte.

„Guten Tag, ich bin Enna Kolder von der hiesigen Polizei, das ist mein Kollege Kötter-Stroth. Könnte ich bitte Herrn Schnieders, … Jens Schnieders, sprechen?“ Die Frau im Morgenmantel schaute einen Moment unschlüssig, als ob sie etwas fragen wollte und sich nicht traute.

„Jens?“, rief sie dann nach hinten. „Ist für dich. … Die Polizei.“ Aus dem Wohnhaus war keine Antwort zu vernehmen.

„Könnten wir vielleicht reinkommen?“ fragte Enna freundlich. Die Frau öffnete die Haustür ganz und ließ sie hinein. Enna sah sie sich genauer an. Sie schien das zu bemerken.

„Ich komme gerade aus der Dusche“, entschuldigte sie sich. Ihre schwarzen kurzen Haare waren nass und standen zu allen Seiten ab. „Jens?“, rief sie, diesmal lauter. Im Hausflur roch es nach Kaffee und Rührei.

„Ich komme sofort“, ertönte es aus dem Obergeschoss.

Sie wandte sich entschuldigend lächelnd an die Beamten. Jens Schnieders erschien auf dem Treppenabsatz. Er war ein Mann von Ende Dreißig und unterdurchschnittlicher Attraktivität.

„Die Polizei? In meinem Haus?“ Er erblickte die Beamten und stieg mit schlaksigen Schritten die weiße Marmortreppe hinunter. „Was ist denn passiert?“, fragte er, noch bevor er unten war. Er war lässig gekleidet, seine Jeans wurde von einem Ledergürtel unterhalb eines leichten Bierbauchs gehalten, das buntkarierte Hemd hing halb im Hosenbund, halb darüber. Enna hatte das unbestimmte Gefühl, die beiden bei etwas gestört zu haben. Er schob seine metallgeränderte Brille mit dem Zeigefinger nach oben und blickte die Beamten erwartungsvoll an.

„Habe ich was verbrochen?“, fragte er scherzend. „Ich war die ganze Nacht im Bett, fragen Sie meine Freundin.“ Er blickte zu der Dunkelhaarigen herüber, die im Türrahmen zur Küche stand.

„Herr Schnieders, entschuldigen Sie, dass wir Sie am Sonntag stören, aber ich müsste Sie kurz unter vier Augen sprechen“, begann Enna.

„Ich habe vor Maike keine Geheimnisse.“

„Ist schon gut“, wiegelte diese ab. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

Enna lehnte dankend ab. Kötter-Stroth nicht.

„Darf ich noch Ihren Nachnamen erfahren?“, fragte Kötter-Stroth Maike.

„Wassermann. Maike Wassermann.“ Kötter-Stroth schrieb ihren Namen gewissenhaft in sein Notizbuch und notierte sich noch ihre Adresse und Telefonnummer. Dabei sah er sehr konzentriert aus.

Sie gingen ins Wohnzimmer, in dem sich der Wohnstil wiederfand, den man beim Anblick des Vorgartens erwarten durfte. Alles war hell und wirkte hochwertig, spiegelte aber kaum gegenwärtige Wohntrends wieder und passte nicht wirklich zusammen. Jens Schnieders Wohnzimmer war der Versuch, mangelnden Geschmack mit Geld wettmachen zu wollen.

Enna fand es schwer, die passenden Worte zu finden und zögerte. Für solche Fälle hatte sie sich einmal einen Text zurecht gelegt, aber der genaue Wortlaut wollte ihr nicht einfallen.

„Herr Schnieders, ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen“, begann sie. „Wir haben heute Morgen ihre Ehefrau Susanna tot aufgefunden. Wie es aussieht, ist sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“ Jens Schnieders sah sie ungläubig an. „Mein herzliches Beileid“, fügte sie noch hinzu.

„Susanna? Tot?“ Er konnte es nicht fassen. Maike war ins Zimmer gekommen und schlug die Hände vor das Gesicht. Kötter-Stroth war ihr gefolgt, in der Hand eine Tasse Kaffee.

„Jemand hat Susanna umgebracht? “ Sie wirkte nun beinahe hysterisch. Jens legte den Arm um sie und versuchte sie zu beruhigen.

„Heinz hat mich gestern früh angerufen und mich gefragt, ob sie hier sei.“, klärte er sie auf. „Heinz Kösters, ihr Vater“, fügte er hinzu. Enna nickte. „Wissen Sie, wir leben getrennt. Susanna ist zu ihrem Vater gezogen. Sie ist am Freitagabend wohl nicht nach Hause gekommen. Ich habe ihm gesagt, er bräuchte sich keine Sorgen machen, das ist bei Susanna normal, dass sie mal woanders schläft.“ Er machte eine Pause. Jens Schnieders wirkte teilnahmslos. Enna konnte seine fehlende Reaktion auf den Tod seiner Frau noch nicht einschätzen.

„Sobald Sie dazu in der Lage sind, würden wir Sie bitten, Ihre Frau zu identifizieren“, Sie fand es schwierig, Menschen in einer solchen Situation zu befragen, aber sie wusste, dass die Umstände so schnell wie möglich ermittelt und so viel Informationen gesammelt werden mussten wie möglich. Der Zeitfaktor spielte eine erhebliche Rolle bei Mordermittlungen. Manchmal waren die Menschen am Anfang viel offener. Oft bewegte gerade der erste Schock sie zum Reden. Und das Vergessen wichtiger Details schritt rasend schnell voran, je weiter sich das Ereignis entfernte.

„Herr Schnieders, ich müsste Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“

„Ja, natürlich“, sagte er nachdenklich. Maike hat sich schnell wieder beruhigt und machte sich von ihm los.

„Ich ziehe mir was über“, teilte sie Enna mit.

„In Ordnung. Sie sollten sich aber zu unserer Verfügung halten, wir müssen auch Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Maike nickte.

„Ist sie wirklich ermordet worden?“, fragte Jens, nachdem Maike den Raum verlassen hatte.

„Wir vermuten es, aufgrund der Art und des Zustands, in dem wir sie gefunden haben.“

„Der Art und des Zustands? Was soll denn das heißen?“, fragte er, nun lauter.

„Ein Reiter hat sie auf einer Emswiese gefunden, unter einem Haufen Zweigen versteckt“, antwortete Enna ruhig. „Da sie unbekleidet aufgefunden wurde, können wir auch ein Sexualverbrechen nicht ausschließen.“

„Unbekleidet? Susanna war die meiste Zeit unbekleidet!“ Er schnaubte verächtlich.

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Enna vorsichtig.

„Wie gesagt, wir sind getrennt. Und das nicht ohne Grund. … Sie ist mehr als einmal fremdgegangen. Man könnte auch sagen, sie hat sich durch sämtliche Betten der Gegend gevögelt“, bemerkte er schnippisch.

„Seit wann sind Sie getrennt?“

„Seit drei Monaten etwa.“

„Und die Trennung war unmittelbare Folge eines Seitensprungs Ihrer Frau?“, wollte Enna wissen.

„Nein, nicht unmittelbar. Ich habe immer geahnt, was sie so treibt - getrieben hat“, sagte er resigniert. „Gewusst habe ich es seit ungefähr vier Monaten, da hatte sie was mit einem Kollegen aus dem Fitnessstudio. Ich habe die beiden erwischt, als sie es hier im Haus getrieben haben. Sie hat die angeblich kurze Affäre dann beendet und mir hoch und heilig geschworen, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Aber ich habe mich daraufhin mal umgehört. Da kam so einiges zutage, das kann ich Ihnen sagen!“

„Bei wem haben Sie sich umgehört?“, wollte Enna wissen.

„Bei Bekannten. … Ich habe Susanna dann zur Rede gestellt. Sie hat natürlich behauptet, alle würden lügen.“ Er zog sich selbstgefällig die Jeans höher. „Es stimmte aber.“

„Und dann haben Sie sich von ihrer Frau getrennt?“ Jens Schnieders schien gerade sehr auskunftsfreudig, den Moment wollte sie nutzen.

„Ich habe die Schlampe abserviert. Hat mich sowieso nur ausgenutzt, die ganze Zeit. Sie war nur auf mein Geld scharf. Wissen Sie, sie war die Art Frau, die ständig neue Klamotten brauchte, Schuhe, Schmuck, Kosmetik, was weiß ich!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es stimmte schon eine ganze Zeit nicht mehr zwischen uns. Sie brauchte ständig Aufmerksamkeit. Und ich habe nicht viel Zeit. Die Firma erfordert ständig meine Anwesenheit. Man könnte also sagen, unsere Interessen gingen weit auseinander.“

„Aber sie hatte auch ihr eigenes Geld verdient?“

„Sie hat im Fitnesscenter gearbeitet, hinter der Theke“, sagte er abfällig. „Wenn Sie das als Arbeit bezeichnen wollen! Wenn sie mich fragen, da war sie nur, um Männer abzuschleppen.“ Enna fragte sich, ob er wirklich nichts vom Lebenswandel seiner Frau gewusst hatte, oder ob ihm der einfach egal gewesen ist. Oder ob er ihm vielleicht doch nicht so ganz egal war und er das jetzt nicht zugeben wollte. Aber sie wollte ihn nicht mit Fragen in diese Richtung verärgern. Jetzt nicht. Noch nicht.

„Ihre Frau ist dann ausgezogen und wohnte seither bei ihrem Vater?“

„Richtig.“

„Gab es nach ihrem Auszug noch Probleme zwischen Ihnen?“

„Sie meinen, ob wir weiter gestritten haben? Ja klar! Jedes Mal, wenn wir uns begegnet sind. Sie hat mir gedroht, mich mit Hilfe ihrer Anwälte auszupressen wie eine Zitrone!“

„Hatte Sie denn die finanziellen Mittel, um das durchzusetzen?“, fragte Enna. Sie war überrascht, wie offen er mit den Fakten seiner Ehe umging und überlegte, ob ihn das eher verdächtig oder unverdächtig machte.

„Sie nicht, aber Daddy wird’s schon richten!“ Jens Schnieders blickte sie vielsagend lächelnd an.

„Entschuldigen Sie, aber ich muss das fragen“, sagte Enna dann und machte eine kurze Pause. „Wann haben Sie ihre Frau zuletzt lebend gesehen?“ Maike betrat in diesem Moment das Wohnzimmer und war überrascht und entsetzt über die Frage.

„Schon gut,“ sagte Jens Schnieders. Eine Armbewegung sollte Maike zeigen, dass sie sich nicht weiter aufzuregen brauchte. „Wir haben Susanna zuletzt auf dem Schlachtfest am Freitag gesehen, stimmt’s Schatz?“ Maike ging zu ihm hinüber und er legte wieder den Arm um sie.

„Das stimmt, wir sind ihr dort begegnet. Und es war wieder mal keine freudige Begegnung. Sie hatte einfach Probleme uns zusammen zu sehen, glaube ich.“ Maike schien sich wieder gefasst zu haben und wirkte nun eine Spur selbstsicherer. Jens nickte zustimmend.

„Hatte sie selbst gerade keinen festen Partner?“, fragte Enna.

„Nee, zu der Zeit lief da gerade mal nichts“, offenbarte Jens. „Das machte meine Beziehung zu Maike natürlich noch unerträglicher für sie.“ Enna wandte sich an Maike.

„Und wann sind Sie mit Herrn Schnieders zusammengekommen?“ Maike blickte ihren Freund unsicher an.

„Ungefähr ... also kurz nachdem Jens und Susanna sich getrennt haben.“

„Und das hat sie einfach so akzeptiert?“

„Sie hat mir natürlich eine Riesenszene gemacht und mir vorgeworfen, ich hätte sie hintergangen. Dabei war es im Grunde schon lange aus zwischen ihr und Jens. Das war doch keine richtige Ehe mehr!“ Enna war der Meinung, dass die eher ruhige Maike mit dem Mordopfer nicht viel gemeinsam gehabt haben konnte und fragte sich, wieso zwei so unterschiedliche Frauen befreundet gewesen waren.

„Wir haben nur noch nebeneinanderher gelebt“, pflichtete Jens seiner Freundin bei. Ennas Eindruck war, dass Maike und Jens sich wirklich gut zu verstehen schienen und in vielen Dingen einer Meinung waren. Für ihren Geschmack war das fast ein wenig zu viel Übereinstimmung. Und sie turtelten wie Frischverliebte, er konnte kaum die Finger von ihr lassen.

„Sie sind sich am Freitag auf dem Schlachtfest begegnet und haben gestritten. Worum ging es da genau?“, fragte Enna vorsichtig. Die beiden sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

„Sie hatte wieder mit ihren Anwälten gedroht und mich dann auch noch als Schlampe bezeichnet“, antwortete Maike. „Wir sind dann einfach weitergegangen. Wollten uns nicht den Abend verderben lassen.“

„Und Sie haben sich das einfach so gefallen lassen?“, fragte Enna.

„So was hat sie ständig gesagt. Das haben wir gar nicht mehr ernst genommen.“ Maike schaute selbstzufrieden zu ihrem Partner hinüber.

„Sie war die Verliererin in der ganzen Sache. Das hat ihrem Ego einen ganz schönen Knacks versetzt“, meinte Jens. „Sie hat versucht uns das Leben schwer zu machen, wo sie nur konnte. Aber das ist ihr nicht gelungen. Und falls das Ihre nächste Frage ist: Nein, wir haben sie nicht umgebracht. Wir haben ihr so etwas ganz bestimmt nicht gewünscht, auch wenn wir nicht besonders traurig sind, dass sie nun tot ist.“

„Gut“, sagte Enna nur und blickte von einem zum anderen. Damit wollte sie es fürs erste belassen. „Wir möchten nicht länger stören. Nur eine Frage noch. Sind Sie sicher, dass Sie Frau Schnieders-Kösters nach diesem Freitag nicht noch einmal gesehen, evtl. am Samstag?“

„Nein. Samstag waren wir auch auf dem Schlachtfest“, berichtete Maike. „Aber da sind wir ihr nicht begegnet. Und auch sonst nirgendwo, also ich jedenfalls nicht.“ Sie blickte Jens an.

„Nein. Ich habe sie auch am Freitag zuletzt gesehen. Bei unserem Streit, danach nicht mehr. Da bin ich absolut sicher.“

„Wann haben sie beide das Schlachtfest am Freitag verlassen?“, wollte Enna noch wissen.

„Ich glaube wir waren um sechs zuhause“, meinte Jens. „Wir waren noch Spiegeleier essen bei Kalle. Kalle Meinert, ein Freund von uns. Um fünf ungefähr sind wir vom Schlachtfest aufgebrochen.“

Enna warf Kötter-Stroth einen Blick zu, der bedeuten sollte, dass sie nun gehen wollte. Er verstand und kippte hastig den Rest seines Kaffees hinunter. Jens brachte sie zur Haustür.

„Warten Sie!“, rief Maike plötzlich. Dann zögerte sie. „Sagen Sie, wie ist Susanna gestorben? Wie wurde sie ermordet?“ Enna blickte ihr ins Gesicht. Susannas Tod schien sie nicht völlig kalt zu lassen.

„Das wissen wir noch nicht genau. Es sieht im Moment so aus, als wäre sie erwürgt worden.“

„Guter Gott!“, rief Maike entsetzt. Enna war sich nicht sicher, ob ihr Entsetzen gespielt war. Sie fand außerdem, dass diese Frage ein wenig spät kam.

#

Sie hatte noch darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, die Tierschützer morgen, zusammen mit dem Oberkommissar ihrer Abteilung, zu befragen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und vier Ohren hören mehr als zwei. Es war immer besser, jemanden für eine zweite Meinung dabei zu haben. Auch wenn Enna sich in erster Linie auf sich selbst verließ, sie war nicht so naiv zu glauben, dass eine einzelne Person alles richtig beurteilen konnte. Jede individuelle Sichtweise konnte fehlerhaft sein. Und manchmal schnappte man als Zuhörer mehr auf, als wenn man selbst der Fragensteller war. Sie hatte in Münster Kollegen gehabt, die sie um ihre Intuition und ihr Bauchgefühl beneidet und bewundert hatte, denn das war etwas, an dem es ihr selbst mangelte. Enna war eher ein Mensch, der sich auf Fakten verließ und Gefühl und Intuition wenig über den Weg traute. Im Allgemeinen war sie außerdem sehr von sich und ihrer Meinung überzeugt. Im Laufe ihrer Karriere bei der Polizei hatte sie jedoch mehr als einmal schmerzlich erfahren müssen, dass die Wahrheit oft komplizierter war, als sie sich auf den ersten Blick präsentierte. Es hatte Fälle gegeben, bei denen sie völlig falsch lag, in ihrer Einschätzung von Täter oder Tathergang. Sie hatte daraufhin die falschen Verdächtigen verhaftet, gegen den Rat der Kollegen. In einem Fall hätte der Mörder beinahe einen weiteren Mord verübt, weil er auf Grund ihres Irrtums die Gelegenheit dazu hatte. Inzwischen hatte sie gelernt, die Ansichten und Meinungen der Kollegen bei der Wahrheitsfindung zu nutzen und anderen Meinungen zu vertrauen.

Letztendlich hatte sie sich dennoch dazu entschlossen, den Tierschützern noch heute einen Besuch abzustatten. Der Zeitfaktor spielte die wichtigere Rolle. Sie musste von den Beteiligten oder Zeugen so viel in Erfahrung bringen, wie möglich und das so schnell wie möglich. Erinnerungen konnten verblassen, Personen konnten aus dem Blickfeld verschwinden. Es war nicht auszuschließen, dass der Täter sich noch in der Nähe aufhielt.

Das Schlimmste war für heute erledigt, das Schlimmste war die Benachrichtigung der Angehörigen. Das Furchtbarste, was es mitzuteilen gibt, ist der Tod eines nahestehenden Menschen. Auch wenn man nur der Bote ist, ist man doch derjenige, der diesen Schmerz unmittelbar auslöst. Das war eine Aufgabe, die sie immer betroffen machte. Auch wenn es heute für die Angehörigen offenbar keine traurige Nachricht war, die sie überbracht hatte. Niemand schien etwas für die Tote übrig zu haben. Dennoch, oder gerade deswegen, verstärkte sich das Mitleid, das Enna für das Opfer empfand. Empathie war ihr nicht fremd. Sie war ein Faktenmensch, aber nicht eiskalt.

Sie hatte mit Jens Schnieders vereinbart, dass dieser selbst seinen Schwiegervater Heinz Kösters benachrichtigen würde. Das war für die Betroffenen oft einfacher, als wenn sie die Nachricht von der Polizei erhielten. Mit der Erledigung dieser schweren Aufgabe ließen auch ihre Kopfschmerzen langsam nach. Es war inzwischen später Nachmittag und der Himmel hing voller dunkler Wolken, die langsam von Sonnenstrahlen durchbrochen wurden. Der Regen hatte aufgehört und war einer heftigen Schwüle gewichen. Enna hat das Fenster des Wagens auf ihrer Seite geöffnet, damit frische Luft herein strömte und die feuchte Kleidung trocknete. Der Wind spielte mit ihrem offenen Haar. Doch entspannen konnte sie sich nicht.

Auf der Fahrt zurück in den Duisterwald betrachtete Enna ihren Kollegen Bernd Kötter-Stroth, der den Wagen lenkte. Der leicht untersetzte ältere Mann wirkte ruhig und ausgeglichen, trotz allem, was heute passiert war.

„Sind Sie verheiratet?“, fragte sie ihn.

„Seit vierzig Jahren …glücklich! Und Sie?“

„Ich? Nein.“ Sie machte eine nachdenkliche Pause. „Vierzig Jahre sind eine lange Zeit.“

„Das können Sie auch noch schaffen. Sie sind noch jung!“

„Ich glaube, das schaffe ich nicht mehr!“ Enna lachte. Der einzige Mann, den sie hätte heiraten wollen, war Rüdiger. Doch selbst wenn es zwischen ihnen anders gelaufen wäre, wenn sie bei ihm geblieben wäre, er sich von seiner Frau getrennt hätte. Rüdiger war 58 Jahre alt. Der Gedanke, ihn zu heiraten, erfüllte sie mit Schmerz. Sie atmete tief durch.

„Ist alles okay?“, fragte Kötter-Stroth.

„Ja, alles Bestens!“, log sie. Sie waren im Wald angekommen. Kötter-Stroth parkte den Polizeiwagen am Rand eines Forstwegs. Das letzte Stück bis zum Camp der Tierschützer müssten sie laufen, erklärte der Kollege ihr. Enna war froh, wieder an der frischen Luft zu sein und stapfte zügig los. Der ältere Mann hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen.

Das Camp der Tierschützer befand sich auf einer Lichtung mitten im Duisterwald. Als sie dort eintrafen, schien man die Polizei schon erwartet zu haben. Die jungen Leute, die in Gruppen zusammen standen oder saßen, blickten sie neugierig an. Ihre Gespräche verstummten. Das Camp bestand aus etwa einem Dutzend Zelten, um einen freien Platz herum angeordnet, und einem großen Baumhaus, das ein paar Meter weiter in die Krone einer mächtigen Eiche gezimmert war. Es wirkte wie ein Patchwork aus verschiedenen Holz- und Kunststoffteilen, Möbeltüren, Tischplatten und Bauholz und sah aus wie ein Spielhaus für Kinder, wenn man von Größe und Höhe absah. Eine Strickleiter, die von einem Ast herabhing, führte auf die überdachte Plattform hinauf. Daneben hing eine Absturzsicherung herunter, ein Harnisch aus Lederbändern, wie man ihn beim Sportklettern benutzte. Der Wind rauschte in den Blättern und ließ das Wasser von den Bäumen tropfen. Die warmen Temperaturen zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit, die fast als Dampf wahrnehmbar war, verlieh der Szenerie etwas Tropisches.

Die Gruppe der Tierschützer, etwa zwanzig junge Männer und Frauen, bemerkten die Neuankömmlinge im Wald schon von weitem. Einige standen von ihren Klappstühlen auf. Enna und Kötter-Stroth betraten das Gelände so schnell, wie es der matschige Untergrund erlaubte und sahen sich unter den Jugendlichen um, die hier einen belebten Fleck mitten im stillen Forst geschaffen hatten. Mit ihrem Eintreffen lösten sich zwei junge Männer aus der Gruppe und traten ihnen entgegen. Durch ihr selbstbewusstes Abheben von der Masse erweckten sie den Anschein, die Anführer der Truppe zu sein. Enna hatte die beiden schon unter den Schaulustigen an der Fundstelle der Leiche gesehen. Die beiden Polizisten hielten ihre Dienstausweise in die Höhe.

„Kolder. Das ist mein Kollege Kötter-Stroth“, stellte Enna sie mit lauter Stimme vor. Sie blickte in die Runde. Hier war kaum jemand älter als Fünfundzwanzig. „Wir sind hier, weil wir ein paar Fragen an Sie haben.“

„Geht es um die Tote?“ Einer der beiden jungen Männer, ein großgewachsener sportlicher Typ mit schulterlangen Haaren, trat auf sie zu. „Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen. Das ist friedlicher Protest hier!“ Seine Stimme war laut und rebellisch.

„So friedlich war ihr Auftritt auf dem Schlachtfest gestern aber nicht!“ Enna wollte zumindest den Anschein erwecken, dass sie Bescheid wusste, auch wenn sie bisher noch nichts über die Aktionen dieser Protestler erfahren hatte. Einige der Tierschützer blickten sich an. „Das ist aber nicht der Grund, warum wir heute hier sind“, fuhr sie mit lauter Stimme fort, wie die Lehrerin vor einer Schulklasse. „In diesem Abschnitt des Duisterwalds, nahe der Ems, wurde eine Tote gefunden, wie Sie vermutlich schon gehört haben. Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten, aber alles deutet darauf hin, dass sie erwürgt worden ist. Einige von Ihnen waren ja, bereits am Fundort.“ Sie blickte die vermeidlichen Anführer streng an. „Wir möchten Sie bitten, sollten Sie irgendwelche Hinweise zu dieser Sache geben können, uns diese unverzüglich mitzuteilen. Hat irgendjemand von Ihnen in den letzten Tagen oder Nächten hier im Wald etwas beobachtet?“ Sie lief die Runde ab und schaute den Umstehenden ins Gesicht. „Etwas was ungewöhnlich war, nicht alltäglich oder sogar verdächtig? Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“ Sie schaute in teilnahmslose, desinteressierte Gesichter mit maskenartigem Ausdruck. Niemand schien mit der Polizei zusammenarbeiten zu wollen. Sie bemerkte, wie der jüngere der beiden Anführer den langhaarigen älteren anblickte, während sie ihre Aufforderung aussprach. Dieser ignorierte ihn jedoch völlig. Enna trat auf die beiden zu. „Haben Sie etwas beobachtet?“, fragte sie den jüngeren.

„Ich? Ich habe gar nichts gesehen!“, antwortete der sofort.

„Und Ihr Name ist?“

„Tom Borgmeier.“ Der etwa 20-jährige junge Mann hatte dunkelblondes Haar, das sich durch die Feuchtigkeit kräuselte. Sein durch Akne vernarbtes Gesicht hatte einen aufmüpfigen Ausdruck angenommen.

„Hören Sie, wir hatten von dem Menschenauflauf unten an der Ems gehört und sind dann natürlich hin“, mischte sich der langhaarige ein. Er sah ausnehmend gut aus, hatte strahlende blaue Augen, weiße gleichmäßige Zähne und ein fein geschnittenes Gesicht. Er hätte ein Model sein können. Oder ein Tarzandarsteller.

„Danke, ich kann für mich selbst sprechen.“ Tom Borgmeier fühlte sich offenbar von seinem Mitstreiter bevormundet. Die beiden sahen sich feindlich an.

„Wir benötigen Sie nicht als Zeugen für den Fund der Leiche, sie alle könnten wichtige Beobachter für den Tathergang sein“, teilte Enna mit. „Haben Sie evtl. verdächtige Fahrzeuge gesehen, Spaziergänger, die sich merkwürdig benommen haben oder ähnliches?“

Sie stieß auf eisiges Schweigen. Einige der jungen Leute sahen sich an, schüttelten aber dann mit dem Kopf.

„Wir wissen gar nichts, das sehen Sie doch!“, rief Tom Borgmeier wütend. „Sie verschwenden hier ihre Zeit.“

„Ob wir unsere Zeit verschwenden oder nicht, das dürfen Sie ruhig uns überlassen.“

Enna warf Kötter-Stroth einen Blick zu. „Wir brauchen die Personalien von jedem einzelnen von Ihnen“, verkündete sie dann. Ein Raunen ging durch die Gruppe, gefolgt von aufgeregtem Stimmengewirr. Kötter-Stroth zückte seinen Notizblock und begann sofort damit, die Daten aufzunehmen. Enna wandte sich wieder den Anführern zu.

„Und ihr Name ist?“ fragte sie den langhaarigen.

„Marco Theding. Ich leite diese Gruppe seit drei Jahren“, gab er bereitwillig an.

„Das glaubt er zumindest“, warf Tom Borgmeier ein. Die feindliche Stimmung zwischen den beiden Aktionisten war deutlich spürbar.

„Ich bin ordnungsgemäß per Abstimmung in diese Position gewählt worden.“ Marco Theding sprach ruhig und mit fester Stimme. Er schien seinem aufgewühlten jüngeren Mitstreiter in allem überlegen. Tom Borgmeier wirkte neben der strahlenden Erscheinung des Marco Theding wie zweite Wahl.

„Hach! Gewählt? Weiß doch hier jeder, dass du dir die Position erschlafen hast!“ Tom lachte hämisch. Marco Theding machte einen Schritt auf seinen Widersacher zu.

„Leute, Leute!“, ging Enna dazwischen. So kam sie hier nicht weiter. „Sie beide würde ich in der nächsten Woche gerne auf dem Revier sehen!“

„Ach würden Sie? Da muss ich erst mal in meinem Terminkalender nachsehen“, Tom schien sich in seine Wut hinein zu steigern. Enna hatte keine Ahnung, was ihn so aufregte.

„Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung, der Sie Folge zu leisten haben“, teilte sie im unmissverständlich mit.

„Natürlich kommen wir“, sagte Marco Theding schnell und sah Tom an. Dieser gab einen Grunzlaut von sich, erwiderte aber nichts.

„Mein Kollege hier hat es nicht so mit der Polizei, nehmen Sie das bitte nicht übel!“, sagte Marco.

„Wer hat das schon!“, legte Tom patzig nach.

Enna sah keinen Sinn darin, diesem jugendlichen Kräftemessen weiter beizuwohnen. Offensichtlich hatte tatsächlich niemand etwas gesehen. Die beiden Streithähne würde sie sich noch einmal vorknöpfen. Enna nahm sich vor, die beiden getrennt zu den Hintergründen ihres Streits zu befragen. Heute wollte sie nur noch nach Hause, zurück auf ihr Sofa, umgeben von ihrem Chaos aus Kisten und Kartons. Nachdem ihre Kopfschmerzen sich gelegt hatten, und alles was sie heute tun konnte erledigt war, überfiel sie ein übermächtiges Ruhebedürfnis. Die Auseinandersetzung mit den jungen Leuten hatte sie den letzten Rest ihrer spärlich vorhandenen Energie gekostet. Sie war vorzeitig und ohne Vorwarnung in ihren neuen Job gestoßen worden, ihr erster Fall gleich ein Mordfall. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Aber wenigstens wurde es nicht langweilig.

„Wir benötigen auch noch die Namen aller Personen, die hier gestern und vorgestern Nacht gezeltet haben“, bat sie Marco Theding. Er war auf jeden Fall der Zugänglichere der beiden.

„Das haben wir alle, alle die heute hier sind. Die meisten von uns studieren und in den Semesterferien sind wir fast immer komplett hier im Camp versammelt. Zumindest die, die wirklich bei der Sache sind.“

„Was studieren Sie?“

„Wirtschaftswissenschaften in Münster.“ Tom Borgmeier tauchte wieder neben ihm auf.

„Das studiert er offiziell“, warf er dazwischen. „Und das glauben seine stinkreichen piekfeinen Eltern auch. Über Wirtschaften weiß Papas Liebling tatsächlich auch eine ganze Menge, und noch so einiges mehr, was man nicht an der Uni studieren kann“, stänkerte er weiter. Marco Theding hatte nun anscheinend genug davon. Er packte ihn plötzlich am Kragen und zog ihn zu sich heran, Angesicht zu Angesicht. „Da reden wir später drüber“, zischte er ihn an. Dann ließ er ihn los. Tom stolperte zur Seite, machte eine wegwerfende Handbewegung und ging wortlos davon.

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Tom hatte sich in seinem Zelt entnervt auf die Isomatte fallen lassen und beobachtete durch die halb geöffnete Zelttür, wie sich die Gruppe langsam zerstreute, nachdem die Beamten das Camp verlassen hatten. Es ärgerte ihn, dass Marco schon wieder Aufmerksamkeit bekommen hatte, die ihm nicht zustand. Immer wieder musste er sich in den Vordergrund spielen. Die Aufmerksamkeit der attraktiven Polizistin hätte er gerne selbst gehabt. Warum sah niemand, was für ein Blender und Opportunist Marco war?

Sie waren gerade dabei gewesen, die Sache mit der toten Frau zu besprechen, als die Ordnungshüter eintrafen. Er hatte sofort gesehen, dass es Susanna war, die Tochter seines Ziehvaters Heinz. Zu Susanna hatte er kein Verhältnis. Sie hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Seit er und Marco vom Fundort auf der Emswiese zurück waren, hatten sie unter vier Augen darüber diskutiert. Diesmal würde er sich nicht von Marco ausbooten lassen, das hatte er sich geschworen. Er würde aufpassen, wie ein Luchs. Diesmal war Marco zu weit gegangen. Noch durchschaute er die Sache nicht völlig, aber er würde dahinterkommen, was da gelaufen ist. Marco verhielt sich mehr als verdächtig. Diesmal hatte er die besseren Karten, und die würden Marco definitiv schlecht aussehen lassen.

„Hey!“ Marco blickte durch den schmalen Spalt. „Alles klar bei dir?“

„Klar ist alles klar!“ Doch sein Ärger war immer noch nicht verraucht.

„Darf ich reinkommen?“ Marco lächelte ihn an. Tom blickte den zehn Jahre älteren Tierschützer nachdenklich an.

„Gut. Komm rein!“ Marco kroch in das kleine graue Kuppelzelt und machte es sich auf dem Boden bequem. Er hatte Mühe, seine langen Beine unterzubringen. Schließlich setzte er sich Tom gegenüber in den Schneidersitz.

„Ich war’s nicht!“, begann Marco.

„Ja, ich bestimmt nicht!“ Tom lag auf dem Rücken und starrte auf die Zeltkuppel über ihm. Er hatte nicht die Absicht, sich wieder von ihm bequatschen zu lassen.

„Dann ist doch alles klar, Alter! Ihr habt der Ollen die Klamotten geklaut, das ist vielleicht nicht erlaubt, aber auch kein Verbrechen!“ Marco saß entspannt lächelnd vor ihm. Könnte er so entspannt sein, wenn er Susanna auf dem Gewissen hätte, fragte Tom sich. Aber Marco hatte ein Pokerface, damit hatte er ihn schon oft getäuscht. Alles war immer so easy für ihn. Und fast immer hatte er Erfolg mit seiner lässigen Art.

„Richtig. Das haben wir gemacht“, gab Tom zu. „War nicht korrekt, aber mehr ist nicht passiert. Aber was hast du gemacht?“

„Alter, ich habe die Frau gesucht, weil ich ihr helfen wollte, glaub mir endlich!“, flehte Marco. „Man konnte sie doch nicht nackt im Wald herumlaufen lassen! Hätte sie dich angezeigt, wäre das eine Katastrophe für unser Image gewesen. Da hätten wir einpacken können! Nur weil ihr so eine Scheiße macht!“ Er gestikulierte wild mit den Armen.

„Und deswegen hast du sie kurz mal um die Ecke gebracht! Um alles zu vertuschen.“

„Du spinnst doch! Was traust du mir eigentlich zu? Alter, ich habe das auch für dich gemacht, um deinen verdammten Arsch zu retten!“ Seine Stimme wurde mit jedem Satz schriller.

„Was gemacht?“ Tom wurde hellhörig. Er wartete nur darauf, dass Marco sich verplapperte. „Was genau hast du mit ihr gemacht?“

„Ich habe sie nicht angerührt. Sie lag einfach so da, mitten auf dem Waldweg, mit der Kopfwunde. Hat aber kaum geblutet. Sie war sturzbesoffen! Dachte ich.“

„Kopfwunde?“ Tom pfiff durch die Zähne. „Du lügst! Die Kommissarin sagte, sie wäre erwürgt worden. Und wie kommt sie dann wohl vom Waldweg runter an die Ems?“

„Mein Gott! Es war dunkel und ich habe sie natürlich nicht komplett auf irgendwelche Blessuren untersucht! Jetzt mach keinen Aufstand! Uns kann keiner was. In ein paar Wochen ist das Camp hier aufgelöst und keiner denkt mehr an uns.“ Marco verlor langsam die Beherrschung. „Aber ich habe sie nicht angerührt, damit das klar ist!“

„Ich glaub dir kein Wort.“

„Mann! Ich war selbst total schockiert, als ich sie da hab‘ liegen sehen. Was sollte ich denn machen? Hätte ich die Polizei gerufen, hätte man mich doch sofort verdächtigt! Allein mit ihr, mitten im Wald, angetrunken nach einem Fest! Die reimen sich doch sofort was zusammen. Da habe ich keinen Bock drauf. Wir sind für andere, wichtigere Dinge hier.“

Tom lauschte auf jedes Wort, darauf hoffend, dass er sich irgendwie verriet. Ein Mord lässt niemanden kalt, auch nicht den coolen Marco. Da konnte ihm schnell ein Fehler unterlaufen.

„Ach, glaub doch was du willst!“ Marco resignierte.

Jetzt drehte Tom sich auf die Seite und blickte ihm direkt ins Gesicht. Er hatte ihn da, wo er ihn haben wollte. Und er genoss es. Er war nun völlig ruhig.

„Was soll ich denn glauben? Du steigst mitten in der Nacht angetrunken einer nackten Frau hinterher und zwei Tage später liegt sie tot im Gebüsch. Und du willst mir erzählen, dass du nichts damit zu tun hast? War’s schön mit Ihr? Hast du sie ordentlich durchgefickt?“ Tom war immer noch völlig ruhig, als er das sagte. Endlich konnte er ihm die Demütigungen der letzten Monate heimzahlen. Die Sache mit Eva, die Frauengeschichten, die er ihm kaputtgemacht hatte, alles.

Marco blickte entnervt zu Boden.

„Ich habe sie nicht angerührt. Und jetzt sag ich dir mal was. Das was der Frau passiert ist, geht auf eure Kappe! Ihr habt sie ausgezogen und ausgesetzt. Dann ist sie einem Perversen in die Hände gefallen, der sie vergewaltigt und umgebracht hat!“

„Ja einem Perversen, das sehe ich genauso!“ Tom blickte ihm fest in die Augen. Endlich hatte er ihn in die Enge getrieben. Er kostete den Moment noch einmal voll und ganz aus. Jetzt war er selbst einmal der Coole. Doch Marco schien sich wieder gefasst zu haben und wollte sich nicht provozieren lassen. Er erwiderte seinen starren Blick.

„Und? Was willst du jetzt machen, du Idiot? Es der Polizei erzählen? Dann erzählst du denen auch, was ihr gemacht habt, oder ich werde es erzählen. Und was denkst du, was die dann glauben? Ein paar notgeile kleine Jungs haben Panik gekriegt und ihr Opfer mundtot gemacht, das werden sie denken! Ihr hängt da genauso drin!“

„Du Scheißkerl!“ Tom platzte wieder der Kragen. Er wollte auf ihn losgehen.

„Hey! Hey! Ganz ruhig!“ Marco hob abwehrend die Hände. „Das bringt uns nicht weiter, wenn wir uns an die Gurgel gehen!“ Tom ließ sich wieder zurück auf die Matte fallen und starrte auf seine Füße. Für einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen.

„Wir müssen zusammenhalten! Für unsere gemeinsame Sache. Und für uns selbst“, beschwor Marco ihn.

Wieder einmal hatte Tom keinen wirklichen Trumpf in der Hand. Marco hatte Recht. Was er und eine Handvoll Leute aus dem Camp mit der Frau gemacht haben, war nicht in Ordnung, auch wenn sie ihr nur eine Abreibung verpassen wollten. Und nun machte es sie möglicherweise für einen Mord verdächtig. Das würde ihn davon abhalten, der Polizei alles zu erzählen. Auch wenn dieses Schwein wieder einmal davonkommen würde.

„Also gut“, sagte Tom schließlich. „Für die gemeinsame Sache. Und nur dafür.“

Marco hatte ihn ausgetrickst. Er hatte die Situation ausgenutzt, und jetzt hingen sie da alle drin. Für einen Mord, den sein schärfster Widersacher begangen hatte, wollte er nicht geradestehen müssen. Aber irgendwann würde er es ihm heimzahlen. Irgendwann.

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Sie hatte ihr Emsland wieder. Es war nicht unbedingt gewollt, aber nach der Trennung war es für Enna das Beste. In Münster gab es keine Alternative. Rüdiger war der stellvertretende Polizeipräsident. Irgendwie wären sie über ihre Arbeit immer verbunden gewesen, wenn sie geblieben wäre. Sie hatte einen klaren Schnitt gewollt und sie hatte ihn bekommen. Neben Münster gab es für sie nur einen Ort, an dem sie sich vorstellen könnte zu leben. Ihre Heimat. Und so hatte Rüdiger seine Beziehungen spielen lassen und ihr den Posten der Hauptkommissarin in Maarsum besorgt, Revier Sachsenstraße 10. Trotz allem hatten sie sich im Guten getrennt, einvernehmlich. Da war kein Mittelweg. Enna war nicht der Typ für Kompromisse, für sie gab es nur Alles oder Nichts. Sie hatte ihn gewollt, ganz und gar. Nach drei Jahren hatte sie geglaubt, das Recht zu haben, mehr zu fordern. Sie hatte sich geirrt. Von jetzt an wollte sie keinen Kontakt mehr mit ihm, das hatte sie ihm ganz klar mitgeteilt. Ihr Abschied war still, noch nicht einmal ein ‚Melde dich mal!‘ Sie waren fast wortlos auseinander gegangen, ein leiser Vorwurf in seinen warmen braunen Augen. An Freundschaft zwischen ehemaligen Partnern hatte sie noch nie geglaubt.

Enna lag wieder auf ihrem Sofa, zu erschöpft, um noch ein Buch in die Hand zu nehmen. Sie hatte den Fernseher für die Nachrichten eingeschaltet. Der Tag hatte so viel Kraft gekostet, dass sie nur daliegen und ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Nicht einmal das Neueste vom Tage nahm sie wahr. Was konnte es auch Schlimmeres geben, als eine getötete junge Frau? Mitten aus dem Leben gerissen, nur wenig jünger als sie selbst. Sie hatte es der toten Susanna von Angesicht zu Angesicht geschworen und wiederholte diesen Schwur noch einmal vor sich selbst. Sie würde Susannas Mörder finden. Hatte sie beim Gedanken an Rüdiger noch ihre Gefühle verdrängen können, gab es nun kein Halten mehr. Die warmen Tränen liefen ihr Gesicht herunter und benetzten den Bezug des Sofas. Sie würde nie begreifen, was Menschen dazu trieb, einen anderen zu töten. Es fehlte ihr jegliches Verständnis, wie man einem menschlichen Wesen das antun konnte, was es am meisten fürchtete: Den Verlust des eigenen Lebens. Die größtmögliche Respektlosigkeit, die es auf der Welt gab. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass man sich wehrte und zuschlug, um das eigene Leben zu retten. Auch dass die Gegenwart eines anderen Menschen unerträglich werden konnte, aber die vorsätzliche Tötung wollte ihr nicht begreiflich werden. Es gab immer eine Möglichkeit den Vorsatz zu vermeiden, zum Beispiel durch Flucht. Sie hatte viel mit Rüdiger über solche Dinge diskutiert, Ursachen und Anlässe, warum Menschen Verbrechen begingen. Rüdiger hatte einen unglaublichen Wissensschatz, was Kriminalistik betraf, und sie hatte es geliebt und davon profitiert, sich mit ihm darüber auseinander zu setzen.

Enna schaltete den Fernseher aus und drehte sich schwungvoll auf die Seite, als könne sie so den Schmerz aus ihrer Seele schütten. Rüdiger von Hatten war ihr Leben gewesen. Er war in ihrem Kopf, seit mehr als drei Jahren. Und da wollte er nicht so einfach verschwinden. Sie ahnte, dass seine Vertreibung aus ihren Gedanken ein langwieriger Prozess sein würde.

Es war still im Haus. Er fehlte ihr so. Die einzigen Geräusche, waren die der Dämmerung, die durch die geöffnete Terrassentür nach innen drangen. Die wunderschön melodisch singende Amsel auf ihrem Zaun und der Wind in den Bäumen an ihrer Grundstücksgrenze. Die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen und sie hielt sie nicht zurück. Irgendwann würden sie versiegen. Irgendwann würde wieder alles gut sein.

Sie musste eingeschlafen sein. Das Klingeln des Mobiltelefons drang aus weiter Ferne zu ihr durch. Hastig erhob sie sich und blickte auf das Display. Rüdiger. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, doch sie zögerte. War es vernünftig, jetzt mit ihm zu sprechen? Sie brauchte ihn jetzt, also nahm sie ab.

„Hi, wie geht’s?“ Ihre Stimme klang schrill und heiser.

„Guten Abend!“ Rüdiger hatte aufgehört, sie mit ‚Schatz‘ oder ‚Liebste‘ anzureden, wie er es früher getan hatte. „Wie war das erste Wochenende in der neuen alten Heimat?“ Enna schluckte. Es tat so gut, seine vertraute Stimme zu hören und sie wünschte, sie wäre bei ihm. Seit der Trennung hatte sie ein dumpfes Gefühl der Trauer in der Magengegend, jedes Mal, wenn sie sich begegneten oder telefonierten.

„Hier ist ein Mord passiert“, platzte sie heraus. „Ich war schon heute im Einsatz, nix mit Wochenende!“

„Oh, tut mir leid. Da wirst du gleich ins kalte Wasser geworfen.“

„Ist ja nicht so, dass das neu für mich wäre“, wiegelte Enna ab. Sie wollte nicht als Weichei vor ihm dastehen. Mordfälle hatte sie in Münster schon mehr als einen bearbeitet.

„Ich weiß. Und du schaffst das. Ich hätte dir nur gewünscht, dass dein Einstieg in den neuen Job etwas gemächlicher abläuft“, sagte er mitfühlend.

„Lieber ein Sprung ins warme Wasser“, lachte Enna. „Das hätte ich mir auch gewünscht, das kannst du mir glauben. Aber was soll’s. Ich habe alles im Griff.“ Sie merkte, wie gut es tat, mit ihm zu sprechen. Doch die Vernunft meldete sich zurück.

„Warum rufst du an?“, fragte sie ihn. Die Leitung war so lange still, dass sie fast glaubte, er hätte aufgelegt.

„Ich wollte deine Stimme hören“, gab er dann zu. Enna atmete tief durch.

„Hör mal, du weißt, was wir abgesprochen haben.“

„Ich weiß. Aber es ist das erste Mal, dass wir so endgültig getrennt sind, und so weit voneinander entfernt“, jammerte er.

„Rüdiger, es gibt kein ‚wir‘ mehr. Ich möchte, dass du das begreifst.“ Er sollte sie gut genug kennen, um zu wissen, dass sie einen einmal gefassten Entschluss durchzog, mit allen Konsequenzen. Es war nicht fair, sie auf eine Beziehung anzusprechen, gleich welcher Art diese wäre.

„Nur dies eine Mal“, wiegelte er ab. „Unser Abschied war irgendwie so stumm. Ich wollte dir alles Gute wünschen.“

„Okay. Vielen Dank. Ich wünsche dir auch alles Gute!“ Und das meinte sie auch so.

„Halt die Ohren steif. Du bist eine gute Polizistin, du schaffst das!“

„Ich schaffe das!“, wiederholte sie, wie um sich selbst Mut zu machen. Auf keinen Fall wollte sie sich von ihm einwickeln lassen. Sie sagten sich Lebewohl. Nachdem Enna aufgelegt hatte, wollte das dumpfe Gefühl in ihrem Bauch nicht verschwinden. Sie zwang sich an etwas anderes zu denken. Morgen war ein neuer Tag. Und ein wichtiger. Sie würde ihre neue Stelle antreten. Und sie hatte ein Verbrechen auf zu klären. Das war nun das wichtigste in ihrem Leben.


Schlachtfest

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