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Fernstenliebe im Zeitalter der Extreme

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Am Mittag des 9. November des Jahres 1923, eines verhangenen, regengrauen Tages, formierte sich in der Münchner Innenstadt ein einige Tausend Menschen zählender Demonstrationszug, an dessen Spitze der in Zivil gekleidete ehemalige Generalquartiermeister des kaiserlichen Heeres, General Ludendorff, und Adolf Hitler im Trenchcoat, eingerahmt von seinen Adjutanten und Mitkämpfern Ulrich Graf und Max Erwin von Scheubner-Richter, gingen. Bei dem schließlich folgenden Schußwechsel mit der Landespolizei am Odeonsplatz, der Hitlers Versuch einer Nachahmung von Mussolinis Marsch auf Rom scheitern ließ und dem vierzehn Nationalsozialisten und drei Polizisten zum Opfer fielen, riß der von einer Kugel tödlich getroffene Max Erwin von Scheubner-Richter, bei dem sich Hitler beinahe schutzsuchend eingehängt hatte, diesen mit zu Boden und renkte ihm den Arm aus. Scheubner-Richter, eine vermeintlich marginale Nebenfigur, war einer der frühesten Anhänger Hitlers in München, dem er sich bald nach seiner Rückkehr nach Deutschland anschloß und den er juristisch sowie politisch beriet. Während des Ersten Weltkrieges war Scheubner-Richter Vizekonsul des Deutschen Reiches im Osmanischen Reich, in Erzerum, und machte sich bei seinen Vorgesetzten, namentlich dem Konsul von der Schulenburg in Erzerum und dem Konsul Dr. Bergmann in Trapezunt, dadurch unbeliebt, daß er zugunsten der von den Deportationsplänen der jungtürkischen Ittihad und Terraki Partei bedrohten Armenier zu intervenieren versuchte.1 Er hatte – eine Art Vorläufer von Oskar Schindler – zehn armenischen Ordensschwestern einen sicheren Transport von Erzerum nach Konstantinopel verschafft und sie damit vor der Deportation gerettet. Wer war dieser Mann, der einerseits begrenzt Menschlichkeit bewies, um auf der anderen Seite zum geistigen Initiator eines weiteren Menschheitsverbrechens zu werden?

Der promovierte Ingenieur wurde als Baltendeutscher in Riga geboren. Zu Beginn des Krieges wurde er als Angehöriger des diplomatischen Dienstes ins Osmanische Reich entsandt. Nach dem Ende des Krieges ins Baltikum zurückgekehrt, wurde er im Zuge des Bürgerkrieges zwischen Roten und Weißen zeitweilig von den Kommunisten inhaftiert. Danach kehrte er nach Deutschland zurück, nahm 1920 am Kapp-Putsch teil, um sich schließlich in München niederzulassen, wo er seine ausgezeichneten Kontakte zum Hause Wittelsbach wie zur antibolschewistischen, russischen Emigration, unter anderem der Gattin des Kronprätendenten Großfürst Kyrill, nutzte, um – wie Ian Kershaw berichtet2 – Geldmittel einzuwerben, die für Ludendorff bestimmt waren und auch der NSDAP zuflossen. Scheubner-Richter gründete 1921 in München eine „Wirtschaftliche Aufbau Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland“, die sich intensiv mit den Vorgängen in Rußland befaßte, und organisierte einen Kongreß der weißen Emigration, der sich sowohl gegen die Bolschewiki als auch gegen die westlich ausgerichteten Kadetten wandte. Als im September des Jahres 1923 Reste ehemaliger Freikorps mit der NSDAP verschmolzen, wurde Scheubner-Richter Geschäftsführer der neuen Dachorganisation, die sich „Kampfbund“ nannte und für die er im Rahmen einer Denkschrift ein „Aktionsprogramm“ entwarf, in dem es hieß: „Die nationale Revolution darf der Übernahme der politischen Macht nicht vorausgehen, sondern die Besitzergreifung der polizeilichen Machtmittel des Staates bildet die Voraussetzung für die nationale Revolution.“3 Damit war erstmals der Gedanke einer Revolution von oben im Rahmen der Legalität, aus dem Herzen des Staates heraus zum politischen Programm formuliert.

Neben dem eines natürlichen Todes gestorbenen antisemitischen Ideologen Dietrich Eckart war der beim Putsch erschossene Scheubner-Richter eine jener Personen, die der ansonsten menschenverachtende Hitler als unersetzbar bezeichnet hatte. Scheubner-Richter, das sei schließlich vermerkt, war nicht nur ein fanatischer Gegner der Bolschewiki, sondern, natürlich, auch ein überzeugter Antisemit. Fragt man nun nach den Motiven, die ihn dazu veranlaßt hatten, verfolgten und von der mörderischen Deportation bedrohten Armeniern zu helfen, so stößt man auf eine ideologische Disposition, die ihn in Konflikt mit dem im Osmanischen Reich abgeordneten deutschen Militär geraten ließ – seine nationalsozialistischen Hagiographen schreiben ihm zu, die Verfolgung und Ausrottung der Armenier durch die jungtürkische Ittihad und Terraki Partei als „zu asiatisch“ empfunden zu haben. Scheubner-Richter – so zu urteilen wird man im Rückblick nicht umhin kommen – tat in der Türkei des Jahres 1915 aus den falschen Motiven das Richtige: Die rassistische Abwertung ihrer Verfolger führte dazu, daß er wehrlosen Menschen half.

Daß den genozidalen, zentral geplanten Ausrottungsmaßnahmen der jungtürkischen Ittihad und Terraki Partei mindestens anderthalb Millionen Armenier zum Opfer fielen, bestreitet außer der heutigen türkischen Regierung und einigen ihr botmäßigen Wissenschaftlern niemand mehr4 – die Methode indes, mit der die Menschen massenhaft umgebracht wurden, war noch nicht die des Konzentrations- oder Vernichtungslagers, sondern jene Praxis, die im Augenblick des Untergangs auch das nationalsozialistische Deutschland wählte: der Todesmarsch. Die „Umsiedlung nach Osten“ wurde von den jungtürkischen Drahtziehern des Genozids als humanitäre Maßnahme getarnt. Eine nicht ganz zeitgenössische, auf den Zeugnissen von Überlebenden beruhende Quelle vergleicht Praktiken des humanitären Kriegsvölkerrechts mit den Deportationen:

„Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten mußte. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.“5 Dieser Feind – so Franz Werfels Reflexion auf dieses Verbrechen – zielt bewußt auf die existentiellen Wurzeln des Menschen:

„Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlornes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen. Dem Haß überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, abertausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf.“6

Diese Passage stammt aus Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, den Werfel im November 1933 in Österreich und der Schweiz publizierte und der im Januar 1934 im Deutschland Hitlers verboten wurde. Neben seinen immer wieder – sofern man sie auf das jüdische Schicksal bezieht – geradezu unheimlich wirkenden prophetischen Passagen besticht Werfels Roman aller oftmals blumigen Sprache zum Trotz durch eine präzise Analyse des Schicksals der Vertriebenen, Entrechteten und Ermordeten des 20. Jahrhunderts, eine Analyse, die in ihrer Eindringlichkeit das vorwegnimmt, was Hannah Arendt später in ihrem Buch Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft entfalten sollte. Indem Werfel die Armenier als schleichendes Rudel von Elenden in einem wandernden Konzentrationslager, in dem niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf, und ihr Schicksal als das von Verfemten, Vogelfreien darstellt, die jeder ungestraft töten kann, hat er vor mehr als siebzig Jahren diagnostiziert, was an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mit Verzögerung, aber umso schmerzhafter sichtbar geworden ist: Im Lager, im Konzentrationslager vollzieht und vollendet sich die politische Logik der Moderne.

Am 22. August 1939, kurz vor dem Angriff auf Polen, versammelte Adolf Hitler seine Generäle, um ihnen seine Pläne bezüglich eines Krieges gegen Polen zu eröffnen. Im Hinblick auf das künftige Schicksal Polens äußerte Hitler: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“7

Das kurze 20. Jahrhundert, das – so der Historiker Eric Hobsbawm8 – Jahrhundert der Extreme, begann im September des Jahres 1914 mit dem Ausbruch des später so genannten Ersten Weltkrieges und endete 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer. Dieses Jahrhundert sah eine in der ohnehin an Grausamkeiten nicht armen Geschichte der Menschheit geradezu unwahrscheinliche Ballung von Leid, Tod und massenhaftem Mord: Die Abermillionen Toten des Stalinismus gingen der in ihrer Unmoral und technischen Perfektionierung einzigartigen Ermordung der europäischen Juden durch den deutschen Nationalsozialismus voraus, auf sie wiederum folgten die 20 Millionen Toten der chinesischen Revolutionen, der millionenfache Klassenmord der Roten Khmer in Kamputschea an einem großen Teil ihrer eigenen Bevölkerung und in den Übergangszonen zwischen 20. und 21. Jahrhundert die genozidalen Massaker im jugoslawischen Krieg sowie die Ermordung von etwa 800.000 Tutsi durch Teile der Hutu in Ruanda. Diese Aufzählung ist durchaus unvollständig und ließe sich in vielen Hinsichten erweitern: die nationalsozialistischen Genozide an Sinti und Roma, die von Stalin angeordneten Mord- und Deportationsaktionen an Tschetschenen und Tataren reihen sich in diesen Totentanz ebenso ein wie der Vernichtungskrieg des faschistischen Italien gegen Äthiopien und die Gasattacken Saddam Husseins gegen die irakischen Kurden.

In diesem „kurzen Zwanzigsten Jahrhundert“ haben sich die die politische Geschichte der Moderne seit der Französischen Revolution prägenden Weltanschauungen des progressiven Veränderns und konservativen Verharrens, der universalistischen Verbreitung und der partikularistischen Einschränkung von Werten vor dem Hintergrund tiefgreifender sozialstruktureller Umbrüche so radikalisiert, daß sich schließlich im Zweiten Weltkrieg zwei totalitäre Weltanschauungen, der linkstotalitäre Stalinismus und der rechtstotalitäre Nationalsozialismus, gegenüberstanden. Zugleich erwies sich dieses Jahrhundert, in dem sich die Industrialisierung mindestens in Europa und Nordamerika auf ihren Höhepunkt zubewegte, als jenes Jahrhundert, das eine weltgeschichtlich bisher ungekannte Entfesselung der Destruktivkräfte erfuhr. Der Höhe-, genauer gesagt der Tiefpunkt dieser Entwicklung war jener von Hunderttausenden Deutschen und Angehörigen anderer Völker an sechs Millionen europäischen Juden begangene Massenmord, den wir uns als „Holocaust“ zu bezeichnen angewöhnt haben. Dieses präzedenzlose Verbrechen, das sich durch die Errichtung von Tötungsfabriken zur Ermordung von Juden auszeichnete, ist ohne jeden Zweifel ein, wenn nicht das Ereignis der deutschen Nationalgeschichte, einer Nationalgeschichte, die ohnehin erst im 19. Jahrhundert begann. In der Erfindung von Tötungsfabriken, der aktiven Vorreiter- und Täterrolle breiter Schichten eines hochgebildeten Bürgertums sowie der Mitläuferschaft von Millionen unpolitischen Landsleuten war dieses Verbrechen, der Holocaust, weltgeschichtlich bisher singulär. Betrachtet man die nationalsozialistischen Verbrechen indes im Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Kontext der Vollendung der Nationalstaaten, der sozialen Revolutionen und des imperialen und kolonialen Ausgreifens Europas sowie schließlich im Kontext des – wie Ernst Nolte es in apologetischer Absicht bezüglich des Nationalsozialismus ausdrückte – „Weltbürgerkrieges“ zwischen Faschismus und Kommunismus, so weicht ihre Singularität auffallenden strukturellen Übereinstimmungen mit anderen Massenverbrechen.

Der Politologe Rudolf Rummel hat berechnet, daß dem, was er im Unterschied zum juristischen Begriff des Genozids politologisch als „Demozid“ – das ist der Mord an Menschen oder Völkern durch eine Regierung, einschließlich Genozid, Politizid und Massenmord – bezeichnet, im 20. Jahrhundert etwa 170 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.9 Ausgehend von der Zahl der Opfer, stellt Rummel eine makabre Hierarchie der von ihm so bezeichneten „Dekamegamörder“ auf: An erster Stelle steht die Sowjetunion 1917-1987 mit 128 Millionen Opfern, gefolgt vom kommunistischen China mit 35 Millionen Toten, den deutschen Nationalsozialisten mit 21 Millionen Ermordeten und schließlich den nationalchinesischen Kräften der Kuo Mintang, die zehn Millionen Menschen zu Tode brachten. Rummel zählt weiter auf: etwa sechs Millionen Tote durch die japanische Aggression, zwei Millionen Opfer der Roten Khmer, fast zwei Millionen durch die Jungtürken ermordete Armenier, 1,6 Millionen Opfer der Vietnamesen, beinahe anderthalb Millionen Deutsche, die im Zuge der Westverschiebung Polens und der Aussiedlung aus der Tschechoslowakei ums Leben kamen, anderthalb Millionen Menschen, die als Bengalen von den pakistanischen Militärs massakriert wurden und schließlich etwa eine Million Menschen, die den politischen Verfolgungen im Nachkriegsjugoslawien zum Opfer fielen. Sieht man von absoluten Zahlen ab und bezieht die Todesrate auf die Größe der Bevölkerung sowie die Dauer der jeweiligen Schreckensherrschaft, so ergeben sich andere Rangfolgen. Rummels ebenso wichtiges wie problematisches Buch verdiente eine eigene Debatte – unabhängig von seinen Deutungen lassen jedoch seine sorgfältig aufgestellten Todesstatistiken kaum eine andere Möglichkeit zu, als den Nationalsozialismus in einem anderen als dem rein nationalgeschichtlichen Zusammenhang zu betrachten. Darauf hat bekanntermaßen die Totalitarismustheorie schon seit langem hingewiesen.

In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sprach Hannah Arendt das Thema vor mehr als fünfzig Jahren an:

„Entscheidend für den Rassebegriff des Zwanzigsten Jahrhunderts sind die Erfahrungen, welche die europäische Menschheit in Afrika machte und die erst durch den ‚scramble for Africa‘ und die Expansionspolitik in das allgemeinere Bewußtsein Europas eindrangen. … Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten. Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß, auf keinen Fall der gleichen Gattung Lebewesen anzugehören. Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlands sie lehrt, und der Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen setzte sich umso stärker fest, als es offenbar war, daß im Gegensatz zu Australien und Amerika Afrika viel zu übervölkert war, als daß die dort erprobten Lösungen des Eingeborenenproblems je ernstlich in Frage kommen könnten.“10

Irrt man sich, wenn man in Arendts Genealogie von Rassismus und Massenvernichtung aller Hellsicht zum Trotz einen apologetischen Unterton hört? Gleichwohl: So spekulativ diese Überlegungen auch sein mögen, so sehr hat sich doch mindestens – jenseits dieser Theorie – herumgesprochen, daß der nationalsozialistische Judenmord Vorläuferverbrechen kennt, die in Deutschland entweder gut bekannt waren, wie der jungtürkische Genozid an den Armeniern 1915, oder in Deutschland erdacht und exekutiert wurden, wie der sich jetzt zum hundertsten Male jährende Genozid an den Herero in Deutsch-Südwestafrika 1904. Mit beiden Verbrechen tritt auf den Plan, was für das Jahrhundert der Extreme in den unterschiedlichsten Kontexten typisch werden sollte: erstens die massenhafte Tötung nicht nur von Kombattanten im Laufe kriegerischer Handlungen, die politisch gewollte Ermordung von Zivilisten also, die typischerweise entweder hinter der Front oder in Bürgerkriegen stattfand; zweitens die systematische Errichtung eines rechtsfreien, nur der politischen oder persönlichen Willkür unterliegenden Raumes, in dem Personen, die nicht unmittelbar getötet werden sollten, vorerst eingesperrt und oft genug ökonomisch ausgebeutet wurden: das Lager; drittens die ebenfalls politisch beabsichtigte Entwurzelung ganzer Völker aus ihren angestammten Territorien: die Vertreibung.

Vernichtung, Lager und Vertreibung stehen allesamt im Dienste dessen, was neuerdings als „Biopolitik“ bezeichnet wird, also der politisch gewollten Umwandlung von rechtsfähigen Personen in bloße Angehörige der biologischen Gattung „Mensch“, in „Menschenmaterial“, mit dem dann nach Belieben verfahren werden kann. Dabei geht es in den meisten Fällen um die Entfernung der zu „Menschenmaterial“ herabgewürdigten Personen aus einem bestimmten geographischen Raum. Alles politische Handeln stößt nämlich an – oder beruht auf – zwei Grenzen, die nicht politischer, kultureller oder symbolischer Art sind, sondern deren anthropologische und physikalische Voraussetzungen darstellen: diese natürlichen Grenzen werden durch menschliche Körper sowie den von ihnen zu reproduktiven Zwecken besiedelten geographischen Raum gesetzt. Die Vernichtungspolitik im Jahrhundert der Extreme zeichnet sich gegenüber älteren biopolitischen Maßnahmen, wie den Ausrottungsfeldzügen der Assyrer, den Massakern der Kreuzritter und Tamerlans oder auch der Conquista Lateinamerikas, dadurch aus, daß sie oft einem präzisen zweckrationalen Plan folgte und auf jeweils höchstem technischen Niveau durchgeführt wurde. In Analogie zu einer berühmten Unterscheidung von Karl Marx ließe sich hier von einer Dialektik von Destruktivkräften und Destruktionsverhältnissen sprechen. Während Marx die von ihm formulierte Dialektik zur Erklärung von politischen Revolutionen dient, wonach Revolutionen wahrscheinlicher werden, wenn die Produktivkräfte den Produktionsverhältnissen nicht mehr angemessen sind, scheint es sich bei der destruktiven Dialektik umgekehrt so zu verhalten, daß der Massenmord wahrscheinlicher wird, wenn eine Passung von Destruktionsverhältnissen und Destruktivkräften erreicht ist.

Es ist mehr als nur ein unerhebliches Detail, wenn auch deutlich weniger als ein Argument zur Gleichsetzung der Exterminationspolitik der Bolschewiki mit der Shoah, wenn die Forschung inzwischen zeigen kann, daß die Gaskriegserfahrung des Ersten Weltkrieges sowie ein messianischer Utilitarismus, dem Leben und Würde des einzelnen nichts galten, auch die frühe sowjetische Politik bestimmten. So erklärte etwa der linke Bolschewik Sinowjew 1918: „Um uns von unseren Feinden zu befreien, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Etwa 90 der 100 Millionen Einwohner des sowjetischen Rußlands müssen wir auf unsere Seite bringen. Den anderen haben wir nichts zu sagen. Sie müssen vernichtet werden.“11 Im Juni 1921, während des russischen Bürgerkrieges, ordnete der General der Roten Armee, Tuchatschewski, etwa folgendes an: „Die Reste der zerschlagenen Banden und einzelne Banditen versammeln sich weiterhin in den Wäldern… Die Wälder, in denen sich die Banditen verstecken, sind mit Giftgas zu räumen. Alles ist so zu berechnen, daß die Gaswolke in den Wald eindringt und alles, was sich darin versteckt, ausrottet. Der Inspektor der Artillerie hat unverzüglich die erforderlichen Mengen Giftgas und die für solche Operationen kompetenten Fachleute zu stellen.“12 Der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß auch Lenin und Trotzki ganz selbstverständlich für die Einrichtung von Konzentrationslagern plädierten: In einem Telegramm vom 10. August 1918 befahl Lenin, „die Kulaken, Priester, Weißgardisten und andere zwielichtige Personen in Konzentrationslager außerhalb der Stadt einzusperren.“13

Während also die Destruktivkräfte dem entsprechen, was aus der Ikonographie des Totalitarismus bekannt ist: Maschinengewehr, Wachturm, Stacheldraht und Eisenbahn mit ihren Viehwaggons, erweisen sich die Destruktionsverhältnisse als eine parasitäre Form des sich entwickelnden Rechtsstaats: als der auf dem Schema des Polizeirechts beruhende Maßnahmestaat im ansonsten rechtsfreien Raum der Kolonie. Konzentrationslager unterscheiden sich von normalen Gefängnissen dadurch, daß dort kein Recht, auch nicht das eingeschränkte Recht eines autoritären oder diktatorischen Staates gilt, sondern einzig die Willkür einer ihrerseits nicht rechtlich verfaßten politischen Polizei.

Die postkoloniale „Rassenfrage“, wie sie heute im angelsächsischen Raum diskutiert wird, scheint für die deutsche Gesellschaft deshalb weniger von Bedeutung zu sein, weil das Deutsche Reich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seine überseeischen Kolonien verlor und mithin die historische Erinnerung an den deutschen Rassismus – wie er sich etwa bei der genozidalen Niederschlagung des Hereroaufstandes im Jahre 1908 tatsächlich vollzog14 – weitgehend getilgt wurde. Vor allem aber ließ die in einer Hinsicht durchaus zu Recht vertretene Hypothese von der Singularität der vom nationalsozialistischen Deutschland betriebenen Vernichtung der europäischen Juden – Yehuda Bauer spricht von einem präzedenzlosen Verbrechen15 – wissenschaftliche Thesen, wonach es die in den europäischen, zumal afrikanischen Kolonien geübten Praktiken der Unterdrückung und Ausrottung16 gewesen seien, die schließlich die Handlungsanweisung für die Massenvernichtung der europäischen Juden abgegeben hätten, als Meinungen von Einzelgängern erscheinen. Das scheint sich heute zu ändern.17

Wenn in der seriösen Forschung derzeit allerdings überhaupt ein Vorbild für die Massenvernichtung der Juden herangezogen wird, dann geht es um den von der jungtürkischen Regierung an den Armeniern begangenen Genozid in den Jahren 1915/16, an dem die deutsche Militärmission in der Türkei mindestens mitwissend beteiligt war.18 Es scheint erwiesen, daß Hitler vom Genozid an den Armeniern gewußt und ihn im Zusammenhang mit Maßnahmen gegen die europäischen Juden erwähnt hat. Freilich führt die Genealogie der Massenvernichtung zunächst nach Afrika. So führte General von Trotha 1904 in Deutsch-Südwestafrika einen erklärten Vernichtungs- und Rassekrieg und trieb etwa 30.000 Herero auf Todesmärschen ebenso in die Wüste, wie das später die Jungtürken mit den Armeniern tun sollten. Ab 1905 richtete das deutsche Kolonialregime Konzentrationslager für gefangene Herero ein, die von deutschen Firmen zum Eisenbahnbau eingesetzt wurden und – einzigartig in der kolonialen Welt – gezielt der Vernichtung durch Arbeit dienten.19 Heute gewinnt die schon früh von einem wissenschaftlichen Außenseiter20 aufgestellte Hypothese von der Vorbildfunktion der deutschen Kolonialkriege für den von ihm als „deutscher Faschismus“ bezeichneten Nationalsozialismus immer stärker an Plausibilität. Immerhin nahmen Rassehygieniker und Lehrer nationalsozialistischer KZ-Ärzte wie Josef Mengele, die bekannten Eugeniker Theodor Mollisson und Eugen Fischer, ihre ersten Forschungen an Eingeborenen während des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika vor.21

Damit steht die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus auf der Tagesordnung, also die in der neueren Theoriebildung übrigens erstmals von Hannah Arendt erörterte Frage nach der Bedeutung des kolonialen Ausgreifens Europas nach Afrika für rassistische und totalitäre Politik in Europa.

„Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung… Diese dahinsterbenden Schatten waren frei wie die Luft – und beinahe so dünn. Dann, als ich nach unten blickte, sah ich ein Gesicht neben meiner Hand. Die schwarzen Knochen lagen längelang da, eine Schulter lehnte gegen den Baum, und langsam hoben sich die Augenlider, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen sahen zu mir hoch, riesengroß und leer, eine Art blindes, weißes Flackern aus den Tiefen der Augäpfel, das langsam wieder erlosch… und überall lagen welche, in allen erdenklichen Haltungen schmerzverkrümmter Erschöpfung wie auf jenen Bildern, die ein Massaker oder die Pest zeigen.“22

Das ist weder eine Schilderung aus dem befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen noch eine aktuelle Reportage aus der Hauptstadt des heutigen Liberia, aus Monrovia. Die zitierte Passage findet sich in Joseph Conrads erstmals vor etwas mehr als hundert Jahren erschienenem Roman Herz der Finsternis, in dem sich Conrad mit den Folgen der kolonialistischen Ausbeutung des Kongogebietes durch den belgischen König Leopold II. befaßt. Tatsächlich hat in den Jahren der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in der Regierungszeit Leopolds, also von 1885 bis 1908, im Kongo das stattgefunden, was wir heute zumindest als „Genozid“, wenn nicht gar als einen „Holocaust“ bezeichnen würden. Durch Mord, Hunger und Krankheit und infolgedessen zurückgehende Geburtenraten wurde die Bevölkerung um 50 Prozent, das heißt um zehn Millionen Menschen, dezimiert.23

Kolonialismus und Sklaverei sind nicht miteinander identisch – wohl aber war die koloniale Unterwerfung des afrikanischen Kontinents eine notwendige Bedingung für die Ausbildung des transatlantischen Sklavenhandels. Wenn es zutrifft, daß der moderne europäische und nordamerikanische Staat von allem Anfang an theoretisch und praktisch auf Rassekonzepten aufbaute, dann trifft dies für ihrer Kolonien benommene Staaten wie Deutschland ebenfalls zu.24 Es muß also das Verhältnis zwischen kolonialer Landnahme, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, Sklavenwirtschaft und beiderseits des Atlantiks befindlichen Nationalstaaten untersucht werden.

Mit Blick auf den modernen französischen Nationalstaat sind die Verhältnisse eindeutig. Der 23. August des Jahres 1791 – inzwischen zum weltweiten Gedenktag an die Sklaverei erklärt – führt in das revolutionäre Frankreich zurück. Dort hatte sich schon im Frühjahr 1790 ein Kolonialkomitee der verfassunggebenden Versammlung konstituiert, das die Interessen der Pflanzer auf Santo Domingo vertrat. In diesem Gremium hatten abolitionistische Gruppen keinerlei Einfluß. Nach öffentlichen Diskussionen, die gleichwohl zugunsten der Abolitionisten auszugehen schienen, erklärte eine Delegation der neugegründeten Patriotischen Armee aus Bordeaux sowohl dem Jakobinerklub als auch der verfassunggebenden Versammlung insgesamt, daß der westindische Sklavenhandel für das Wohlergehen Frankreichs unerläßlich sei und von ihm die Existenz von fünf Millionen französischen Bürger abhänge. Nach längeren Verhandlungen im Vorfeld bestätigte die Konstituante am 15. Mai 1791, daß in den französischen Kolonien auch „unfreie Personen“ existierten – die Öffentlichkeit diskutierte allenfalls die Frage „freier farbiger Menschen“ und ihrer bürgerlichen Rechte: Die Kinder freier Farbiger sollten ebenfalls frei sein. Diesen Debatten zum Trotz ging der Sklavenhandel weiter und Sklavenhalter erhielten zusätzliche Vergünstigungen der Regierung für jeden importierten Sklaven. Nach weiteren Erörterungen sprach sich die Konstituante schließlich im Grundsatz gegen die Sklaverei aus und legte fest, daß jede Person, gleich welcher Hautfarbe, auf französischem Boden frei sei, beschloß aber zugleich, daß die französischen Kolonien, „obwohl Teil des französischen Reiches, nicht der Geltung dieser Verfassung unterliegen“.25

Mit dieser Ausnahmeregelung kam zum ersten Mal in der demokratischen Verfassungsgeschichte die Strukturlogik dessen in Gang, was spätestens mit dem Ersten Weltkrieg seine schrecklichste Form annahm: das Konzentrations- oder Vernichtungslager. Das Lager nämlich wurde zu einem Raum, „der sich“ – wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben gezeigt hat – „öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“26 Das Lager ist demnach ein Territorium, das zwar außerhalb der normalen Rechtsordnung liegt, aber gleichwohl kein Außenraum der jeweiligen Herrschaftssphäre ist. Das Lager entkleidet seine Insassen jeglichen rechtlichen, politischen Status und reduziert sie auf ihr nacktes Leben, es ist der rechtsfreie Raum par excellence, jener Raum, dessen Insassen straffrei getötet werden dürfen, in dem sich nacktes Leben und nackte Macht unvermittelt gegenüberstehen. Das Lager, und das ist für ein Verständnis seines Wesens entscheidend, ist kein Gefängnis. Die Ordnungen des Lagers gehen nicht aus dem Strafrecht hervor, sondern aus dem Ausnahme- und Maßnahmerecht, bzw. dem Kriegsrecht, sofern es nicht humanitäres Kriegsvölkerrecht war. „Rechtsgrundlage“ – wenn man das überhaupt so nennen will – der nationalsozialistischen Konzentrationslager war die sogenannte „Schutzhaft“: eine präventiv wirkende Polizeimaßnahme, die in Preußen ihrerseits aus einem Gesetz über den Belagerungszustand hervorgegangen ist. Welches war der Status ihrer Insassen und wie ließ er sich legitimieren? Wie plausibel ist die Überlegung, daß „die Kolonie“ in diesem Sinne der Strukturlogik des „Lagers“ entsprach?

Sklavenrecht27 konnte nach Maßgabe der modernen Rechtsentwicklung – die seit Hobbes und Rousseau davon ausging, daß jedes Recht und damit alle Gesetze auf einem Konsens der Rechtsetzenden, die zur Rechtsgemeinschaft gehören, beruht und sogar ein Zwangsrecht ein Recht sei – nur auf der Zustimmung aller Teilnehmer der Rechtsgemeinschaft beruhen. Nennt man derartige Rechtsinstitute „bürgerliches Recht“, so würde sich ein bürgerliches, ein öffentliches Gesetz, das die Sklaverei zu rechtfertigen suchte, von selbst ad absurdum führen:

„Welches bürgerliche Gesetz“, so fragt schon Diderots Enzyklopädie, „könnte verhindern, daß ein Sklave sich der Knechtschaft entzieht, da er doch nicht zur Gesellschaft gehört und folglich kein bürgerliches Gesetz ihn betrifft. Er kann nur durch ein Familiengesetz, durch das Gesetz des Herrn, das heißt durch das Gesetz des Stärkeren festgehalten werden.“28 An anderer Stelle, wo die Enzyklopädie sich in einem weiteren Artikel mit dem Thema des Handels mit „Negern“ auseinandersetzt, stellt sie fest: „Man versucht das Abscheuliche dieses Handels, der im Widerspruch zum Naturrecht steht, damit zu rechtfertigen, daß man behauptet, diese Sklaven fänden beim Verlust ihrer Freiheit ihr Seelenheil…“29

Der intensivierte transatlantische Sklavenhandel, der Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Import von Sklaven aus Westafrika nach Portugal begonnen hatte, war ein Ergebnis des chronischen Arbeitskräftemangels in den Plantagen der Neuen Welt, mit anderen Worten, der für diese Form extensiven Wirtschaftens zu geringen Immigration aus den Mutterländern.30 Indem der transatlantische Sklavenhandel das in der europäischen Kultur seit langem bekannte Institut der Sklaverei unauflöslich mit dem Rassengedanken verknüpfte und diesen neuen Rassengedanken erstmals an schwarzhäutigen Menschen aus dem afrikanischen Kontinent erprobte, schuf er dort die Voraussetzungen für eine nach Europa reimportierte Form kolonialer Politik. Die spätere gesamteuropäische Umsetzung totalitärer Politik bedurfte freilich – mit Maschinengewehr, Stacheldraht und Eisenbahn, wie sie erstmals in den Kolonien, in Kuba und in Deutsch-Südwestafrika eingesetzt wurden – nicht nur der entsprechenden Destruktivkräfte, sondern mit dem modernen polizeilichen Maßnahmerecht auch der entsprechenden organisatorischen Verhältnisse.

In dieser Perspektive begann das 20. Jahrhundert auf Kuba und endete auf Kuba. Als kubanische Unabhängigkeitskämpfer 1895 gegen die spanische Kolonialherrschaft rebellierten und in ersten Gefechten die spanische Armee besiegten, schlug der Armeechef der Insel dem spanischen Regierungschef vor, „die Landbevölkerung in städtischen Ballungsräumen zu rekonzentrieren“. Der zuständige Militärgouverneur ließ an der schmalsten Stelle Kubas eine militärische Sperrlinie errichten, durch die eine nur für das Militär gangbare Trasse verlief, die rechts und links mit dem zwanzig Jahre zuvor in den USA erfundenen Stacheldraht gesichert wurde. Um den Rebellen ihre Unterstützung zu nehmen, wurde den Einwohnern der betroffenen Landstriche verboten, sich jenseits ihrer Dörfer aufzuhalten – Maßnahmen, die durch standrechtliche Erschießungen und Massendeportationen nach Afrika und Spanien ergänzt wurden. Dieses Vorgehen wurde allmählich auf ganz Kuba ausgedehnt. Immerhin sollten die an den Stadträndern rekonzentrierten Menschen theoretisch ausreichende Unterkünfte und angemessene sanitäre Einrichtungen erhalten. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus: Die verbliebenen ländlichen Gebiete waren gebrandschatzt, die Unterkünfte der Rekonzentrierten waren voll von bis auf die Knochen abgemagerten, todkranken Menschen, die sich von den Abfällen der spanischen Truppen ernährten. Ein US-amerikanischer Beobachter beschrieb die „Rekonzentrierten“: „Sie sind aus ihrer Heimat verschleppt worden, sie leben auf stinkendem Boden, atmen ungesunde Luft, trinken verdorbenes Wasser und ernähren sich von verfaulter Nahrung, wenn sie überhaupt welche finden. Wer soll sich da noch wundern, daß die Hälfte von ihnen bereits tot ist und daß ein Viertel derer, die noch leben, so krank ist, daß keinerlei Hoffnung mehr besteht.“ Nach konservativen historischen Schätzungen kamen damals 200.000 Menschen um – die Greuel der spanischen Armee ließen die USA schließlich in Kuba intervenieren und die Unabhängigkeit der Insel herbeiführen. In diesem Zusammenhang pachteten die USA die Bucht von Guantanamo Bay, deren exterritorialer Status heute dazu dient, die auf unklarer und somit völkerrechtswidriger Rechtsgrundlage zunächst in Käfigen eingesperrten Taliban und Al Quaida-Kombattanten auf unbestimmte Dauer unter menschenunwürdigen Bedingungen zu inhaftieren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Die Rekonzentrationslager der Spanier mit ihren brutalen und erniedrigenden Grausamkeiten sind mit den bei aller Rechtswidrigkeit wahrscheinlich korrekt geführten Lagern der USA nicht gleichzusetzen; was sie allerdings miteinander verbindet, ist ihre herrschaftliche Logik, nämlich ein Raum zu sein, der sich nach Agamben „öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“31

Im Vorrang einer nur noch polizeilich, also weder rechtlich noch gar demokratisch legitimierten Innenpolitik mit der Bereitschaft zur unbegrenzten Ausübung von Macht kündigt sich zugleich der Wille zu einer totalen Beherrschung aller auf dem jeweils bestimmten Territorium lebenden Menschen an. Wo Politiker über unbegrenzte polizeiliche Machtmittel verfügen, haben sie zugleich die Gewalt über Leben und Tod der in ihrem Machtbereich lebenden Menschen. Scheubner-Richter war Diplomat und Ingenieur, aber kein Jurist. Woher, so läßt sich fragen, hatte er jene zentrale Intuition, die die nationalsozialistische Machtergreifung instrumentierte? Die Suche nach der Antwort führt zurück zum Beginn des Ersten Weltkrieges, zurück ins Osmanische Reich. Wie wir heute wissen, begann die Welle vernichtender Deportationen am 24. April 1915 mit Razzien der türkischen Polizei gegen armenische Notabeln in Istanbul.32 Razzien aber sind Operationen der Ordnungskräfte, eine „summarische Terrormaßnahme, eine organisierte Form kollektiver Verfolgung“. Nicht Steigerung der Macht sei das Ziel der Razzia, so Wolfgang Sofsky, „nicht Angst und Gehorsam der Unterworfenen, sondern deren Ausrottung.“33 Nach den ersten Razzien und Deportationen veröffentliche die türkische Regierung am 27. Mai ein Gesetz, das auf der Grundlage falscher Vorwürfe bezüglich der angeblichen Illoyalität der im Osmanischen Reich lebenden armenischen Bevölkerung festsetzte, „daß alle Armenier vereinigt und nach den Vilajets von Mossul und Syrien gebracht werden sollen, wobei ihre Personen, ihr Eigentum und ihre Ehre geschützt bleiben. Es wurden die nötigen Befehle erteilt, daß für ihre Unterkunft gesorgt werde und daß sie bis zur Beendigung des Krieges Aufenthalt zu nehmen haben.“ Die Vorbereitung zu dieser „Vereinigung aller Armenier“ folgte der Logik polizeilichen Handelns: Dem Einziehen der Inlands- und Auslandspässe, der Konfiskation von Besitz und eventuell vorhandenen Waffen folgte jene kurzfristige Ausweisungsverfügung, die dem Wortlaut des Gesetzes zuwider Hunderttausende von Menschen auf Todesmärsche schickte, die tatsächlich nichts anderes waren als „wandernde Konzentrationslager“, wie Franz Werfel es nannte, Orte im Nirgendwo, von Menschen nicht einmal mehr bewohnt, die vogelfrei von jedem Soldaten und Briganten, sei er nun Türke, Tschetschene oder Kurde vergewaltigt oder ermordet werden durften. Und als ob das Gesetz vom 27. Mai nicht genug gewesen wäre, erließ die Regierung von Taalat und Enver Pascha, den jungtürkischen Staatschefs, am 7. Juli noch eine weitere Verordnung, wonach nun auch die Armee ermächtigt wurde, die Bevölkerung von Städten oder Dörfern gänzlich zu verlegen. Ein österreichischer Bericht aus Konstantinopel stellte entsprechend im Oktober 1915 fest, daß das Gesetz überhaupt nur geschaffen worden sei, um die gänzliche Ausrottung der Armenier unter gesetzlichem Schutze durchführen zu können.

Im Unterschied zu den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten waren die wandernden Konzentrationslager weder streng bewacht noch durch Stacheldraht abgegrenzt. Es handelte sich um Durchgangslager, um – wie Joel Kotek und Pierre Rigoulot sagen – „Vorkammern des Todes, riesige Sterbeheime“, die auf brach liegendem Land errichtet wurden, „weit genug von den nächsten Ortschaften entfernt, damit die Deportierten nicht von den Einheimischen mit Nahrung versorgt werden konnten, und so abgelegen, daß vom Ausland keinerlei Hilfe zu erwarten war“. Ein Augenzeuge berichtet:

„Am nächsten Tag gingen wir bis mittags nicht hinaus, denn es war neblig und furchtbar kalt. Als wir am Nachmittag ins Freie kamen, erblickten wir ein erbärmliches Spektakel. Armselige, wackelige Zelte waren in sich zusammengestürzt, Leute, die im Regen an Kälte oder Hunger gestorben waren, andere, die wie Gespenster geradewegs aus einem Friedhof zu kommen schienen. Viele wimmerten, riefen um Hilfe, während andere sterbend auf dem Boden lagen. An den Zelteingängen stapelten sich Leichen. Jeden Tag wiederholte sich vor unseren Augen dieses schreckliche Schauspiel: Im Durchschnitt starben jeden Tag 120 Menschen. Alle Flächen rund um das Zeltlager waren zu armenischen Friedhöfen geworden.“34

Sind das Ereignisse, die uns damals wie heute berühren sollten? Und wenn sie uns auch in einem vagen Sinne berühren, ja erschüttern sollten, was folgte daraus? Was folgt aus der Erschütterung über das Leiden fremder und ferner Menschen in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, in einer Kultur, die nicht die unsere ist, in einer Region, mit der uns nur wenig verbindet – wenn doch sogar das Leiden gegenwärtiger Mitbewohner dieses Planeten uns in der Regel unberührt läßt und unser Mitleid allenfalls durch drastische Berichte in den Medien kurzfristig erregt wird? Der gelegentlich durch solche Erschütterungen entstandenen „Fernstenliebe“ ist, sofern sie gar zu politischem oder humanitärem Engagement führte, oft genug Kritik, wenn nicht Häme entgegengeschlagen. Liegt dem kostenlosen humanitären Engagement für die Fernsten der Fernen nicht eine letztlich unredliche „Hypermoral“ zugrunde, die – wie Arnold Gehlen und Hans Magnus Enzensberger einhellig meinen – auch noch jene wenigen moralischen Ressourcen aufzehrt, derer es für ein auskömmliches Zusammenleben im Nahbereich bedarf?35

Die von Gehlen und Enzensberger kritisierte Haltung erweist sich indes als ein integraler Bestandteil mindestens der abendländischen Kultur. Tatsächlich hat die jüdisch-christliche Tradition, zu der im weiteren Sinn auch der Islam gehört, der Gott als den gerechten Erbarmer kennt und bekennt, eine Intuition hervorgebracht, die in der Antike – auch wenn man ihre bewegende Tragödienliteratur berücksichtigt – einzigartig war. Diese Intuition hat ihren treffendsten Ausdruck im Evangelium des Matthäus 25,40 gefunden, einer jüdischen Schrift aus dem ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, in der der messianische König beim Jüngsten Gericht zu den Angeklagten sagt: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts wird es auch darum gehen, diesem Gedanken vor dem Hintergrund der Erfahrungen des mörderischen 20. Jahrhunderts sozial-, geschichts- und erziehungswissenschaftlich gerecht zu werden. Der ökonomisch und technisch bereits voranschreitende, politisch jedoch noch kaum gestaltete Prozeß der Globalisierung hat – nicht zuletzt kraft weltumspannender Medien – ein auch den Subjekten zugängliches Wissen von der Einheit des Menschengeschlechts geschaffen, das welthistorisch seinesgleichen sucht. Heute ist die Weltgesellschaft Wirklichkeit geworden. Zugleich stellt der globale Raum alles andere als einen verheißungsvollen Ort dar. Vielmehr gilt ungebrochen, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bereits 1947 feststellten: „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“36 Lassen sich in dieser Weltgesellschaft universalistische Werte überhaupt noch theoretisch nachvollziehen, sozialwissenschaftlich plausibilisieren und pädagogisch konkretisieren? Die Weltgesellschaft, so lehrt die systemtheoretische Soziologie, besteht weder aus Personen noch aus Staaten, sondern aus Kommunikationen unterschiedlichster Art in den autopoietisch prozessierenden Funktionssystemen von Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Religion und Erziehung. In dieser Weltgesellschaft – und es gibt nur noch diese eine Gesellschaft – werden territoriale, von Recht und Politik bestimmte Grenzen durch Wissenschaft, Kultur und Ökonomie ständig durchkreuzt. Die Ordnungs- und Störgrößen der alten, noch nicht globalisierten Welt, nämlich politisch geordneter Raum und personal strukturierte menschliche Körper, scheinen angesichts elektronischer Telekommunikation stetig an Bedeutung zu verlieren.37 Welches wäre das politische System, welches die Öffentlichkeit und welches das spezifische sprachliche Idiom, kurz, welches wäre die Kultur, in der universal bedeutsame Werte erörtert werden könnten? Als Kandidat für diese universal bedeutsamen Werte scheinen heute die Menschenrechte zusehends an Ansehen zu gewinnen. Aber hat die Weltgesellschaft auch eine eigene Öffentlichkeit, in der die Menschenrechte kommuniziert werden können? Als Äquivalent für das politische System des Nationalstaats stehen rechtlich mehr oder minder dicht strukturierte politische Großräume wie etwa die EU oder GUS, eventuell sogar die UN zur Verfügung, als Öffentlichkeit vor allem grenzüberschreitende elektronische Medien – vom Web bis zu CNN – sowie eine zunehmend monopolistisch homogenisierte Produktion von Printerzeugnissen. Die demokratische Öffentlichkeit des Globalisierungszeitalters38 – als deren Akteure heute vor allem die NGOs gelten – wäre demnach Sachwalter der positiv kodifizierten Menschenrechte, die sie mit Hilfe weltumspannender Elektronik und den Institutionen der UN gegenüber den Repräsentanten der politischen Weltgemeinschaft zu vertreten hätte.39 In welcher Weise werden diese Werte heute aufgenommen und kulturell verbreitet? Werden sie abstrakt vermittelt oder über spezifische Narrative, über große Erzählungen konkretisiert? Kann der vom nationalsozialistischen Deutschland an sechs Millionen europäischen Juden begangene Massenmord als jene „große Erzählung“ gelten, die weltweit das Menschenrechtsbewußtsein vorantreibt? Ist der „Holocaust“40 eine universale Chiffre des Einzigartigen geworden? „Neue Räume“, so die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider in einer Studie über „Erinnerung im globalen Zeitalter“, „öffnen sich. Und die von vielen Historikern geschmähte Massenkultur drängt sich in den frei gewordenen Raum. Dieser Erinnerungsraum wird das kosmopolitische Gedächtnis werden… Damit zusammenhängende Fragen der Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit des Holocaust führen dazu, daß diese Unterscheidungen aufgehoben werden. Der Holocaust wird als einzigartiges Ereignis vergleichbar. Die partikulare Opfererfahrung der Juden kann universalisiert werden.“41

Als Beleg für ihre These präsentieren Levy und Sznaider eine Anzeige in der „New York Times“, in der die drei bedeutendsten amerikanisch-jüdischen Organisationen, das „American Jewish Committee“, der „American Jewish Congress“ sowie die „Antidiffamation League“ am 5. August 1992, nachdem erste Bilder von in serbische Lager eingesperrten Bosniern um die Welt gingen, Folgendes feststellten: „Zu den blutigen Namen von ‚Auschwitz‘, Treblinka und anderen Nazi-Todeslagern scheinen die Namen von Omarska und Brcko hinzuzufügen zu sein… Ist es möglich, daß fünfzig Jahre nach dem Holocaust die Nationen der Welt, unsere eingeschlossen, passiv dastehen und nichts tun und vorgeben, hilflos zu sein? … Es sei hier betont“, so schließt die Anzeige, „daß wir jeden notwendigen Schritt tun werden, inklusive den der Gewalt, um diesem Wahnsinn und dem Blutvergießen ein Ende zu setzen…“42

Dieser und ähnlichen menschenrechtlich motivierten Stellungnahmen sollten nicht nur höchst problematische, ihrerseits die Menschenrechte verletzende militärische Interventionen, sondern auch politisch-pädagogische Absichtserklärungen folgen. So versammelten sich Vertreter von vierzig Staaten zur Jahreswende 2000/2001 auf Einladung Schwedens in Stockholm, um über humane Werte im globalen Zeitalter vor dem Hintergrund eines wiedererstarkten Rassismus zu diskutieren und dabei die allfälligen Lehren aus dem „Holocaust“, das heißt aus der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden – und nicht nur der Juden, sondern auch von Millionen Polen, Sowjetbürgern und Angehörigen anderer Minderheiten – durch das nationalsozialistische Deutschland zu ziehen. Die maßgeblich von dem israelischen Historiker Yehuda Bauer verfaßte Abschlußerklärung des „Stockholm International Forum on the Holocaust“ stellt dementsprechend fest:

„Da die Menschheit immer noch an den Wunden des Völkermordes, der ethnischen Säuberung, des Rassismus und des Fremdenhasses leidet, teilt die internationale Gemeinschaft die schwerwiegende Verantwortung, das Böse zu bekämpfen. … Wir sind“, so schließt dieses Dokument, „verpflichtet, uns der Opfer, die umgekommen sind, zu erinnern, die Überlebenden, die noch unter uns weilen, zu respektieren und das der Menschheit gemeinsame Streben nach gegenseitigem Verständnis und Gerechtigkeit zu betonen.“43

Mit dieser Erklärung hat sich eine Reihe von Staatschefs – nicht nur der EU – dazu verpflichtet, in ihren Ländern pädagogische Bemühungen mit dem Ziel in Gang zu bringen, Fremdenhaß, Rassismus und Antisemitismus einzudämmen. Die Erinnerung an die massenhafte Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland soll so einem zukunftsgerichteten Zweck dienen. Damit wird die kollektive und individuelle Erinnerung an ein ebenso herausragendes wie grauenhaftes zeitgeschichtliches Ereignis instrumentalisiert, um einer friedlicheren, gerechteren und demokratischeren Welt den Weg zu bereiten. Allerdings ist – realistisch betrachtet – nicht davon auszugehen, daß die Menschen in den jeweiligen Ländern über ein Wissen von diesen Verbrechen verfügen, das über bloß fragmentarische und ungenaue Kenntnisse hinausgeht – wie überhaupt weltweit ein fundierteres historisches Wissen weder bei Erwachsenen noch gar bei Kindern und Jugendlichen vorausgesetzt werden kann.44 Im übrigen hat die im Dokument von Stockholm ausgesprochene Verpflichtung nicht nur das Gedenken globalisiert, sondern auch die innere Struktur der deutschen Gedenkkultur und damit des deutschen Nachkriegsbewußtseins verändert. Eine neuere Studie zur deutschen Vergangenheitsbewältigung diagnostiziert, daß gegenwärtig, da die Massenvernichtung der europäischen Juden zum zentralen Thema einer weltgesellschaftlichen Erinnerungskultur wird, eben das eintritt, was während des Historikerstreits noch erbittert bekämpft wurde: die unwiderrufliche Historisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Globalisierung und Historisierung gehen so Hand in Hand: Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Mordtaten wächst ihre geographische Bekanntheit.45 So entsteht ein Paradox: Denn während die zuerst zögernd in Gang gekommene, dann jedoch immer intensiver gewordene Auseinandersetzung mit der Massenvernichtung in Deutschland dazu geführt hat, daß mittlerweile alle Verbrechen offen zu Tage liegen, hat sie doch auch zur Folge, daß der Eingliederung dieser Verbrechen in die Geschichte nun nichts mehr im Wege steht. Die weltgesellschaftliche Indienstnahme von „Auschwitz“ benimmt die Massenvernichtung letztlich über die Stationen nicht nur der deutschen, sondern auch einer globalisierten Erinnerungskultur ihrer Einzigartigkeit.

In diesem Sinn läßt sich – wie in der Abschlußerklärung des „Stockholm International Forum on the Holocaust“ – festhalten, daß die Erinnerung an den Holocaust zu einem zentralen Thema jedenfalls der westlichen Zivilisation geworden ist: „Der Holocaust (Shoah) hat die Fundamente der Zivilisation in ihren Grundlagen herausgefordert. Der beispiellose Charakter des Holocaust wird immer eine universale Bedeutung haben.“46

Die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden dient gemäß der „Erklärung von Stockholm“ gleichsam als negative Folie, als unüberbietbares Extrembeispiel für die Verletzung der Würde des Menschen, als ein Beispiel, an dem drastisch sichtbar und fühlbar wird, wohin blinder Partikularismus und eine entfesselte, von aller ethischen Bindung gelöste Sozialtechnik führen kann. So wie das deutsche Grundgesetz aus der Erfahrung des Nationalsozialismus die Prinzipien einer moralisch verantworteten Demokratie entfaltet, wird es demnach in Zukunft darauf ankommen, auf und aus der Erziehung über Auschwitz eine Bildung zu den Menschenrechten zu entwickeln.47 Nun wird deutlich, daß die beiden Perspektiven dieser Pädagogik: Unterweisung im Eingedenken, wie sie etwa Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen forderte, und eine „Erziehung“ – nicht „nach“, sondern – „über ‚Auschwitz‘“, wie sie Theodor W. Adorno postulierte, zeitgemäße Deutungen in einer allgemeinen „Pädagogik der Menschenrechte“48 finden können, die in der globalisierten Weltgesellschaft als „human rights education“ fungiert und sich in Deutschland auf das Grundgesetz stützen kann. Indem die Menschenrechtspädagogik zwischen „education about human rights“ und „education for human rights“ unterscheidet49, macht sie deutlich, daß ein kognitives Verständnis für den universalistischen Kern der Menschenrechte und die Motivation, ihnen in Alltag und Politik handelnd zu genügen, nicht miteinander identisch sind. Gegenwärtig geht es darum, diese Erziehungsziele und ihre moralische Begründung im globalen Zeitalter neu zu justieren und das heißt darum, die Frage nach den sozialen Bedingungen, unter denen derlei universalistische Ziele artikuliert, angestrebt und auch durchgesetzt werden können, deutlich zu stellen. Damit hängen Globalisierung der Erinnerung, Globalisierung des politischen Weltsystems und Globalisierung einer auf die Würde des Menschen ausgerichteten Bildung intern miteinander zusammen. Im folgenden sei der These nachgegangen, daß weltbürgerliche Bildung50 die Form einer Menschenrechtspädagogik annimmt, deren kognitive und motivationale Grundlage die Einsicht in das Leiden der Fernsten ist, eine Einsicht, die besonders gefördert werden muß, da sie verlangt, den Blick auf jene zu richten, die kaum in den Bereich des natürlichen Altruismus kommen.51 Derlei altruistische Haltungen52 im Sinne der Fernstenliebe können als Voraussetzungen für die allmähliche Institutionalisierung einer „Demokratie im Zeitalter der Globalisierung“53 gelten. Menschenrechtliche Bildung angesichts der Verletzung menschlichen Lebens und menschlicher Würde wäre demnach eine wesentliche Bedingung für die Herstellung internationaler Rechtsverhältnisse. Ob dabei auch von einer Globalisierung im Erziehungswesen ausgegangen werden kann, steht derzeit in Frage.54 Versuche, genauer gesagt, Absichtserklärungen, gibt es bereits. Wie erfolgreich können sie sein?

Die Frage nach den Fähigkeiten und Tugenden, welche die Menschen brauchen, die in dieser globalisierten Welt überleben, leben und einander beistehen wollen bzw. sollen, ist indes noch kaum beantwortet, und das, obwohl diese Frage seit Jahrtausenden gestellt wird, und zwar als Frage nach der Tugend der Weltbürger, der Kosmopoliten, also jener, die im Kosmos und damit in der ganzen von Menschen bewohnten Ökumene ebenso wie in der belebten und unbelebten Natur ein Bürgerrecht genießen. Demokrit drückte das so aus: „Einem weisen Mann steht jedes Land offen. Denn einer trefflichen Seele Vaterland ist das Weltall.“55 Es sei dahingestellt, ob die antike Philosophie, die den Begriff des Kosmopolitismus geprägt hat, das Problem, das sie mit seiner Einführung lösen wollte, überhaupt richtig formuliert hat, ob der Kosmos überhaupt ein Raum ist, der politisch geformt werden kann. Womöglich kann von wahrem Kosmopolitismus erst dann gesprochen werden, wenn die Polis, das zunächst begrenzte politische Gemeinwesen, einmal universell geworden ist. Ob das denkbar, wünschbar und letztlich realisierbar ist, steht hier nicht zur Debatte. Vielmehr geht es darum, ob in einer Ökumene, die als politischer Raum aus mehreren Staaten und entsprechend vielen Menschen besteht und auf absehbare Zeit bestehen wird, minimale, allgemeine moralische Standards und eine ihnen korrespondierende, nun freilich nicht mehr minimale, sondern sehr anspruchsvolle ethische Motivation überhaupt denkbar sind. Als moralisches Problem rückt diese Frage spätestens im Zeitalter des Imperialismus um die Wende des 19./20. Jahrhunderts ins Bewußtsein: Friedrich Nietzsche, der für dieses Problem einen Begriff gesucht hat, gibt mit seiner vorläufigen Antwort allerdings immer noch große Rätsel auf: „Rate ich euch“, heißt es im Zarathustra, „zur Nächstenliebe? Lieber noch rate ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe. Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muss immer ein sechster sterben.“56

Die in der globalisierten Weltgesellschaft unumgehbar gewordene Frage nach der „Fernstenliebe“ hat als die Frage, ob und wieweit wir auf Kosten anderer leben und – mehr noch – wieweit wir vital mit ihnen verbunden sind, nicht nur Nietzsche beschäftigt, sondern auch dem Kolonialismus kritisch gegenüberstehende Schriftsteller wie etwa Joseph Conrad, der diese Problematik im Herz der Finsternis ebenso drastisch behandelt hat wie Leo Tolstoi in seiner Novelle „Haji Murat“, in der es um den grausamen zaristischen Kolonialkrieg im Kaukasus geht. Könnte es sein, daß das Fehlen von „Fernstenliebe“ auch das Symptom einer gigantischen Verdrängung ist, die sich gegen unsere konstitutive Abhängigkeit von den Fernsten und Fremdesten wendet? So heißt es in Hugo von Hofmannsthals Gedicht aus dem Jahr 1895:

„Manche freilich müssen drunten sterben,

wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,

Andere wohnen bei dem Steuer droben,

Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben

In die anderen Leben hinüber,

und die leichten sind an die schweren

Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten

Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,

noch weghalten von der erschrockenen Seele

Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,

Durcheinander spielt sie alle das Dasein,

Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens

Schlanke Flamme oder schmale Leier.“57

Der Schatten, der im 20. Jahrhundert auf das Leben mindestens der Deutschen gefallen ist, war der Schatten der von den Nationalsozialisten Ermordeten. Vor diesem Hintergrund wurde schließlich in der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, genauer gesagt in dessen Artikel 1, die „Würde des Menschen“ als Richtmaß aller Gesetzgebung und aller staatlichen Machtausübung bestimmt.

Es war die kosmopolitische Philosophie der deutschen Aufklärung, zumal Immanuel Kants, die die nach dem Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung wesentlich geprägt hat. Als oberstes Prinzip der Tugendlehre weist Kant in der Metaphysik der Sitten das folgende aus: „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist des Menschen Pflicht.“58 Einen Menschen als Zweck an sich zu betrachten, bedeutet, ihn nicht nur zur Kenntnis zu nehmen und zu tolerieren, sondern auch, ihn anzuerkennen, das heißt nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen in den Dimensionen körperlicher Integrität, personaler Identität und soziokultureller Zugehörigkeit. Dieser Anerkennung korrespondiert ein Demütigungsverbot. Das Demütigungsverbot aber bezieht sich auf die „Würde“ eines Menschen. „Würde“ ist der äußere Ausdruck der Selbstachtung, also jener Haltung, „die Menschen ihrem eigenen Menschsein gegenüber einnehmen, und die Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, daß ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet.“59 Diese Selbstachtung wird verletzt, wenn einem Menschen die Kontrolle über seinen Körper entzogen wird, er als die Person, die er sprechend und handelnd ist, nicht beachtet oder ernst genommen wird bzw. wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen er entstammt, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden.

Die Verletzung dieser Grenzen kommt bei den Opfern von Demütigungshandlungen im Gefühl der Scham zum Ausdruck.60 In Primo Levis kristallklarem und nüchternem Bericht über seine Lagerhaft werden die Erfahrungen absoluter Entwürdigung geschildert; der Ausdruck von der „Würde des Menschen“ bzw. der „Würde des Menschen“ gewinnt vor der Kulisse von Auschwitz eine gebieterische und einleuchtende Kraft:

„Mensch ist“, so notiert Levi am 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist.“ Unter diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“61

Angesichts der millionenfachen Verletzung der Menschenwürde durch Lagerhaft, massenhafte Ermordung und Vertreibung62 im 20. Jahrhundert entfaltet sich derzeit ein globaler moralischer Diskurs, in dem die Notwendigkeit eines internationalen Strafgerichtshofs betont wird, der die Verfolgung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ermöglicht, entsprechend der Definition, wie sie etwa in Artikel 5 im Statut des Internationalen Gerichts für das ehemalige Jugoslawien gegeben wird: Eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit machen sich Personen schuldig, „wenn diese in einem ob internationalen oder internen bewaffneten Konflikt begangen werden und gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind: Mord; Ausrottung; … andere unmenschliche Handlungen.“63

Freilich verläuft die kulturelle Globalisierung im Sinne einer großen Erzählung von der Verletzung der Menschenrechte nicht linear. In dem Maße, in dem der „Holocaust“ zur universal einsetzbaren Chiffre für Unrecht und der Wille, solches Unrecht nie wieder zuzulassen, zur Legitimation für die dem eigenen Anspruch nach auf den Menschenrechten basierende Kultur des Westens wird, steigt umgekehrt die Ablehnung dieser Form der Gedenkkultur und werden jene, die dem Holocaust zum Opfer fielen, bzw. deren Nachkommen, gelegentlich selbst zur Zielscheibe des Hasses. Das wurde etwa auf der Antirassismuskonferenz der UN in Durban im Sommer 2001 deutlich. Nicht erst seit diesem Ereignis entsteht auch im globalen Kontext so etwas wie eine Hierarchie, genauer gesagt eine Konkurrenz der Opfer64, in diesem Fall und vor allem in den USA zwischen Schwarzen und Juden.65 Diese Spannungen kamen in Durban in einer höchst einseitigen Kritik am Staat Israel und seiner Repressionspolitik gegenüber den Palästinensern zum Ausdruck – eine Kampagne, der schließlich eines der anderen Hauptziele der Konferenz, eine Aussprache über die Folgen des transatlantischen Sklavenhandels, zum Opfer fiel. Parallel zur Globalisierung des Holocaust verläuft die Globalisierung des Antisemitismus in Form eines haßerfüllten Antizionismus ausgerechnet jener, die in besonderer Weise für die Rechte der Unterdrückten eintreten wollen. Angesichts des Umstandes, daß die Kurdenfrage auf dieser Konferenz – abgesehen von einer kurzen Erwähnung im Papier der NGOs – ebensowenig eine Rolle spielte wie die Unterdrückung in Afghanistan oder die russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, lassen sich Formulierungen aus einer der unzähligen Fassungen der NGO-Schlußerklärung nur als antisemitisch verstehen. Dort wird die Wiedereinsetzung der UN-Resolution 3379, die Zionismus und Rassismus gleichsetzt, gefordert. Zudem wird verlangt, gegen Israel – und nur gegen Israel – ein Kriegsverbrechertribunal einzusetzen und die internationale Gemeinschaft aufzurufen, gegen Israel eine Politik der „vollständigen und totalen Isolation als Apartheidstaat“ zu betreiben. Staaten, die Israels Politik mit seinen „rassistischen Verbrechen gegen die Menschheit“ unterstützen oder dulden, seien zu verurteilen. Als sei dies nicht genug, konnten zwei Delegierte des Weltkirchenrats erreichen, daß mit vierzig gegen eine Stimme beschlossen wurde, eine Passage zur Bekämpfung des Antisemitismus aus der Erklärung zu streichen. Die Passage wurde später wieder aufgenommen – man hatte sich darauf verständigt, den Stimmen der Opfer, aller Opfer, Vorrang vor bestimmten politischen Zielen einzuräumen. Gleichwohl lag die zeitweilige Tilgung der Antisemitismuspassage in der Logik der Sache, der Logik einer Inflationierung des Begriffs „Rassismus“.

Was ist überhaupt Rassismus? In der am 21. Dezember 1965 von der UNO-Vollversammlung verabschiedeten und nach einem Ratifizierungsverfahren am 4. Januar 1969 in Kraft getretenen „Internationalen Konvention zur Eliminierung aller Formen rassistischer Diskriminierung“ wird „rassistische Diskriminierung“ wie folgt definiert: „jede Unterscheidung, Ausschließung, Einschränkung oder Bevorzugung, die auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler oder ethnischer Herkunft basiert und den Zweck oder Effekt hat, die Anerkennung, den Genuß oder das Ausüben von Menschenrechten und grundlegenden Freiheiten im politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen oder jedem anderen Feld des öffentlichen Lebens zu verunmöglichen oder zu verzerren…“. Bevorzugungen zum Schutz bestimmter Gruppen sollen gleichwohl zulässig sein, solange sie die Rechte anderer nicht beeinträchtigen bzw. nicht länger als notwendig aufrecht erhalten werden. Entsprechend war es für die propalästinensischen NGOs entscheidend, Antisemitismus als Problem nicht anzuerkennen, könnte doch unter Hinweis auf ihn auch der Zionismus gerechtfertigt werden.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß trotz einer Reihe maßgeblicher Publikationen kein Konsens darüber zu erreichen ist, was zu Recht als „Rassismus“ geächtet werden soll. Während die einen „Rasse“ funktional als Machtbeziehung verstehen, sehen andere darin eine bedeutungsgeladene Diskriminierungspraxis, ohne doch angeben zu können, worin genau sie sich von anderen, sexistischen oder klassenbezogenen, Diskriminierungen unterscheidet. So wird schnell jede Ungleichbehandlung als „rassistisch“ bezeichnet. Rassistische Diskriminierung aber ist eine Diskriminierung, die uns deshalb moralisch besonders empört, weil sie Menschen für das bestraft, wofür sie per definitionem keine Verantwortung tragen, für wirkliche oder als real erachtete unveränderliche biologische Eigenschaften. Der neue antirassistische Diskurs versucht jedoch über diese enge Definition hinauszugehen: Er möchte das Gewicht der Empörung, das die biologistische Diskriminierung vor dem Hintergrund der Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland auslöst, beibehalten, den historischen Anlaß jedoch aufheben, da faktische Diskriminierung in heutigen westlichen Gesellschaften tatsächlich immer seltener diesem biologistischen Deutungsmuster folgt.66

Das in Durban ursprünglich zentrale Thema: der transatlantische Sklavenhandel entspricht indes diesem klassischen Schema. Hier geht es um „Rassismus“ in eben dem Sinn, in dem die Nationalsozialisten Juden diskriminierten und ermordeten. Tatsächlich war ja das seit der Antike in Europa bekannte Institut der Sklaverei keineswegs von vorneherein rassistisch. Man konnte durch Kriegsgefangenschaft in die Sklaverei gelangen, sich aber unter günstigen Umständen auch aus ihr freikaufen.67 Eine grundsätzliche Minderwertigkeit war damit nicht festgeschrieben, wenngleich etwa Aristoteles „Sklaven“ als eine Art Maschinen ansah, sich dabei aber in unhaltbare Widersprüche verwickelte.68 Ihre fatale Neubegründung fand die Sklaverei in Verbindung mit der Lehre von der Ungleichheit der menschlichen Rassen, die in ihrer extremsten Form dazu führte, Menschen mit dunkler Hautfarbe als eine Art von Tieren anzusehen.69 Dies führte mit einiger Folgerichtigkeit zur Ausbildung des modernen Rassismus.

Als die nationalsozialistische Judenverfolgung 1933 begann, lag das Ende des Sklaverei in den USA knapp siebzig Jahre zurück. Im christlichen Äthiopien wurde sie 1942, im muslimischen Mauretanien erst 1981 aufgehoben. Hugh Thomas, dem die gründlichste Studie zu diesem Thema zu verdanken ist, schätzt die Zahl der in vierhundert Jahren verschleppten, erniedrigten und umgebrachten Schwarzen auf elf, der bekannte Afrikanist Basil Davidson auf zwölf Millionen.70 Die Fülle individuellen Leids, ökologischer, ökonomischer und moralischer Verwüstung, die der transatlantische Sklavenhandel verursacht hat, erweist ihn als ein weitgehend verdrängtes Trauma der nordatlantischen Welt im Zeitalter ihrer Formation. Es war und ist daher nur konsequent, daß die kulturellen Unterorganisationen der Vereinten Nationen, namentlich die UNESCO, historisches Lernen über den transatlantischen Sklavenhandel schon vor Jahren zu einem ihrer wichtigsten Projekte gemacht haben, um ausgehend von diesem Beispiel, das vermeintlich nicht so eurozentrisch wie der „Holocaust“ ist, eine universalistische und universale Erziehung zur Achtung der Menschenrechte zu begründen. Mit dem transatlantischen Sklavenhandel stellt sich übrigens ein geschichtsphilosophisches Problem, das – mit Ausnahme einer kürzlich erschienenen Studie71 – noch kaum behandelt wurde: das Problem einer moralischen Ökonomie der Weltgesellschaft, ihrer arbeitsteiligen Täterschaft und der sinnvollen Zurechnung vergangener Schuld.

Das Streben nach Verständnis und Gerechtigkeit hat die Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft seit ihren ersten Anfängen bewegt. Das damit zugleich angesprochene Verhältnis von Pädagogik und Geschichte erweist sich freilich als schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Diesen Schwierigkeiten folgt der weitere Aufbau dieser Studie: Während der zweite Teil, „Welt- und Lebensgeschichte(n)“, allgemein das Verhältnis von Pädagogik und Geschichte unter der leitenden Frage „Aus der Geschichte lernen?“ zum Thema hat und dabei die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen historischer Wahrnehmung sowie historischen Verstehens untersucht, geht es im dritten Teil unter dem Titel „Philosophien der Geschichte“ um vielfältige Formen systematischen Begreifens der Geschichte. Fragen der institutionellen Lehrbarkeit von Geschichte – zumal in Schule und Unterricht – werden im vierten Teil, „Das Unterrichten des Ununterrichtbaren“, diskutiert. Der fünfte Teil, „Aus der Katastrophe lernen?“, nimmt schließlich die allgemeine Frage danach auf, ob, und wenn ja, unter welchen Bedingungen Kenntnis und Verständnis von Katastrophen wie der Massenvernichtung der europäischen Juden zu langfristigen, die menschlichen Verhältnisse zivilisierenden Einsichten führen können.

Aus Katastrophen lernen?

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