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Einleitung: Moralische Gefühle und Die Leichtigkeit des Seins
ОглавлениеDie Gedenkstättenpädagogik ist einer jener raren Fälle, der die von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufgestellte Behauptung bestätigt, daß die Erziehungswissenschaft die nachträgliche Reflexion einer vorgängigen Praxis sei. Ohne daß damit nennenswerte Ansprüche verbunden gewesen wären, hat die gedenkpolitische Konjunktur der achtziger Jahre zur Einrichtung einer Fülle von Bildungs- und Begegnungsstätten sowie von Museen am Ort ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager, verbrannter Synagogen und mittelalterlicher Ghettos, aber auch von ehemaligen nationalsozialistischen Erziehungsanstalten geführt. Diese meist von den Kommunen, bisweilen von den Ländern, seltener vom Bund getragenen Institutionen entstanden als Ergebnis eines guten und aufgeklärten politischen Willens, ohne daß die Initiatoren in der Regel wußten, was sie wem gegenüber mit derartigen Einrichtungen bezweckten. Die naheliegenden, den theoretischen Überlegungen der sechziger Jahre entstammenden Programme hielten den neuen Herausforderungen nicht mehr stand. Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern1, eine Arbeit, die – meist ungelesen – eher zitiert als verarbeitet wurde, ließ sich für die Praxis in Gedenkstätten kaum verwenden. Denn erstens war es gerade die These der Mitscherlichs, daß die unterbliebene Trauer um Hitler die wesentliche Ursache des deutschen Neurotizismus war, zweitens wäre sogar beim Akzeptieren von Trauer als Lernziel die Frage offengeblieben, ob man in einem gehaltvollen Sinn um ferne und fremde Opfer tatsächlich trauern kann. Aber auch der Rückgriff auf Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ geriet an seine Grenzen. Adorno konnte nicht wissen, daß eine Pädagogik entstehen würde, der es nicht nur darum ging, die Wiederholung von Auschwitz unmöglich zu machen, sondern vor allem darum, dieses Ziel durch ein Lernen über „Auschwitz“, also durch ein historisches Lernen zu erreichen, das Pogrom, Massaker, Entwürdigung und Ermordung zum sachlichen Gegenstand hatte. Zudem ließ sich mit Adornos auf die Nichtwiederholbarkeit des Verbrechens zielender, sensibilisierender Didaktik eine zentrale Intuition aller Gedenkstätten nicht mehr einholen: das Eingedenken der Opfer, das in Sonntagsreden mit zu Redensarten verkommenden traditionellen Glaubenssätzen wie „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ beschworen wurde.
Damit schälten sich bald zwei Paradigmen der Gedenkstättenpädagogik heraus: erstens eine Pädagogik der Erschütterung und der historischen Information, die zum Motor einer zukunftsgerichteten Menschenrechtsdidaktik wurde, sowie zweitens eine Pädagogik des Eingedenkens,2 deren Ziel in einer nicht instrumentalisierenden symbolischen Wiedereingemeindung der Ermordeten besteht. Die Gedenkstättenpädagogik3 artikulierte damit alle Spannungen, die das Thema kollektiver Erinnerung in der öffentlichen Debatte und im wissenschaftlichen Diskurs provozierte: Ist eine historische Vergewisserung möglich und nötig, die sich darauf beschränkt, zu sagen, wie es gewesen ist – das wäre Erinnerung –, oder führt eine am Gedanken des Respekts und der Versöhnung mit den Opfern ausgerichtete „Unterweisung ins Eingedenken“ nicht zu grundlegenden Veränderungen im Selbstverständnis jener, die sich historisch betrachtend mit dem mörderischen historischen Geschehen befassen? Der von Walter Benjamin erwogene spekulative Gedanke eines Vermächtnisses der Opfer der Geschichte an die Heutigen war in diesem Zusammenhang im Prinzip der anamnetischen Solidarität auch über seine theologischen Gehalte hinaus4 sozialwissenschaftlich zu entfalten. Auf jeden Fall: Die naturwüchsig entstandene Gedenkstättenpädagogik erzwang eine Klärung von Begriffen wie „Schuld“, „Scham“, „Verantwortung“ und „Respekt“ – allesamt Begriffe, die nicht anders denn als Begriffe für „moralische Gefühle“ zu bezeichnen sind.
In einer anderen, aktuellen sozialpädagogischen Debatte geht es um das Gerechtigkeitsempfinden. Lawrence Kohlbergs in der Tradition der US-amerikanischen Reformpädagogik, der „progressive education“, stehende „Just community“-Programme, in denen eine Steigerung der moralischen Urteilsfähigkeit nicht nur durch eine Erörterung hypothetischer Dilemmata, sondern durch die Auseinandersetzung über reale Regelverletzungen und Regelsetzungsprozesse in demokratisch strukturierten Schulen und Jugendgruppen, aber auch in Gefängnissen erreicht werden sollte, wurden in Deutschland und in den USA unter unterschiedlichen Bedingungen wiederholt.5 Inzwischen ist bekannt, daß sich zentrale Annahmen der letzten Fassung von Kohlbergs Theorie nicht halten ließen. Gertrud Nunner-Winkler hat gezeigt, daß sich die von Kohlberg postulierte präkonventionelle Phase moralischer Urteilsbildung einer nur am Eigennutz orientierten Haltung bei Kindern nicht nachweisen ließ und mithin die unterstellte Präkonventionalität jugendlicher Straftäter nicht als Fixierung, sondern als innertheoretisch schwer erklärbare und eigentlich nicht vorgesehene Regression anzusehen war. Sie fand heraus, daß Kinder und Jugendliche im Prozeß des Heranwachsens über ein deutlich ausgeprägtes moralisches Wissen, aber über ungenügende motivationale Kräfte verfügen, sie mithin eher ein Integrations- denn ein kognitives Defizit aufweisen. Zudem konnten sie zeigen, daß sogar die entwickelte Fähigkeit zu affektiver Wahrnehmung, d. h. ein geschärftes Verständnis für den Schaden, den bestimmte Handlungsweisen anderen Kindern zufügen, gegeben war.6 Wäre es denkbar, daß jugendliche Strafgefangene im Vergleich zu ansonsten identischen, aber nicht inhaftierten Kontrollgruppen sich vor allem durch die mangelnde Integration von vorhandenem Regelwissen und moralischen Gefühlen auszeichneten? Oder war anzunehmen, daß die Ausbildung von Empathie unterentwickelt war?
Das Bild gewinnt an Tiefenschärfe, wenn die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit mit Robert S. Selman als semantisch eigenständige Ausformung sozio-moralischer Perspektivenübernahme verstanden wird. Moralisches Wissen und moralische Motivation erscheinen jetzt als regelbezogene Verdichtungen mehr oder minder wechselseitiger, mehr oder minder einfühlsamer Beziehungen vor dem Hintergrund bedeutsamer affektiver, intimer Beziehungen zwischen Gleichaltrigen, die ihnen sowohl zu einem reichen Konzept der Person als auch der damit einhergehenden Fähigkeit zur Einfühlung in andere Nächste verhalfen.7 Damit rückte ein in der Nachkriegspädagogik weitgehend vernachlässigtes Thema ins Scheinwerferlicht: die sozialisatorische Funktion von Freundschaften, die von Monika Keller und Wolfgang Edelstein erforscht wurde.8 So ergaben neuere deutsche Forschungen9 im Unterschied zu US-amerikanischen Untersuchungen, daß männliche jugendliche Strafgefangene in aller Regel nicht auf der präkonventionellen Ebene der Urteilsbildung stehen und daß ihre Fähigkeit, Freundschaften zu schließen, ein wichtiger Indikator auch für ein Lernen von einem sehr schwachen zu einem gefestigteren Konventionalismus darstellt. Darüber hinaus zeigte sich, daß die Fähigkeit zur sachlichen Auseinandersetzung über Regeln im gelockerten Vollzug, verbunden mit der Bereitschaft zur realen Übernahme sozialer Verantwortung, die moralische Urteilsfähigkeit wie das tatsächliche ausgeübte Verhalten fördert. Mit diesen Ergebnissen zeichnet sich ein anderer Ausgang der klassisch gewordenen Kohlberg-Gilligan-Debatte ab.10 Während in der ersten Runde Kohlbergs Verteidiger gegen eine mißverständlich rezipierte Carol Gilligan darin recht behielten, daß es keine wesensmäßigen Unterschiede in der Moralentwicklung zwischen Männern und Frauen gibt, die „andere Stimme“ also nicht differentialpsychologisch zu lesen war, konnten sie mit ihrer weitergehenden Behauptung, daß Gilligans an realen Lebensproblemen von Frauen deutlich werdende beziehungsorientierte Moral nicht lediglich eine Anwendungsform von Prinzipien war, nicht überzeugen. Gilligan behielt – so unhaltbar ihre Ergebnisse und Methoden im einzelnen auch waren11 – im grundsätzlichen sowohl mit ihrer Skepsis gegenüber dem Erkenntniswert rein theoretischer Dilemmata als auch mit ihrer Betonung affektiver sozialer Bindungen recht. Mit den durch Forschung und die theoretische Weiterentwicklung des sozialkognitivistischen Paradigmas hervortretenden Elementen emotionaler Motivation, affektiv getönter Beziehungen wie Freundschaften und einer auf Loyalität und Bindung beruhenden Beziehungsmoral ist die Frage nach der Rolle „moralischer Gefühle“ auch in dem ansonsten als ausgesprochen kognitivistisch geltenden genetischen Strukturalismus in den Mittelpunkt gerückt.
Die Theorie der Bildung und Erziehung im Kontext der Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren einen tiefgreifenden Wandel von einer defizitorientierten „Ausländerpädagogik“ über eine im wesentlichen an Bildungsinhalten ausgerichteten „multikulturellen Pädagogik“ zu einer vor allem die Konstruktion des Selbstverständnisses von Kindern und Jugendlichen im Immigrationsprozeß thematisierende „interkulturelle“ Pädagogik durchlaufen. Dabei schwankt die interkulturelle Pädagogik der späten achtziger Jahre12 zwischen einer Pädagogik besserer Lebenschancen für alle Kinder im Horizont einer gerechten Republik sowie einer postmodern instrumentierten Ermutigung zur Differenz, die zugleich mit der kritisch-befreienden Dekonstruktion bestehender Selbstverständnisse einhergehen soll. Ein näherer Blick auf vielfältige pädagogisch-politische Konfliktfelder wie den muttersprachlichen Unterricht, die Auflösung eigenständiger Ausländerfachbereiche an kommunalen Volkshochschulen, den Streit um die eventuelle fundamentalistische Orientierung in ihren Lebenschancen eingeschränkter muslimischer Jugendlicher und die nach wie vor überdurchschnittlich hohe Sonderschulüberweisungsrate von Kindern italienischer und türkischer Herkunft zeigt auch ein anderes Bild: Wenn nicht alles täuscht, klagen unterschiedliche Minderheitengruppen mit ihren zum Teil strittigen politischen Vorschlägen wie Quotierungen, Maßnahmen zur Subventionierung ethnischer Zusammenhänge sowie staatsrechtlicher Anerkennung als Minderheiten etwas ein, das sich der einfachen Alternative von Ethnisierung bzw. Selbstethnisierung hier und staatsbürgerlich-demokratischer Assimilation dort entzieht. Dabei geht es um mehr als lediglich darum, in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen zu einer wechselseitigen Erweiterung der Kenntnis von Lebensformen für Kinder mit und Kinder ohne deutschen Paß zu gelangen. Im Kern aller vermeintlichen oder wirklichen Wünsche nach ethnischer Segregation oder einer am Vorbild der USA gewonnenen Quotierungsdiskussion geht es um das Einklagen nicht nur besserer sozialer Chancen, sondern auch und vor allem um eine Politik der Achtung,13 mit anderen Worten: um den Kampf für ein Bildungssystem, in dem sich niemand für seine Herkunft schämen muß bzw. in dem alle – trotz unterschiedlicher Herkunft – auf mindestens einige Gehalte der ihnen zugeschriebenen Tradition stolz sein können. Wie das Verhältnis von Repräsentation und Artikulation von Migrantenkulturen im Bildungswesen im einzelnen umgesetzt wird, wird auch in Zukunft Gegenstand politischen Streits sein. Worauf es ankommt, ist die Behauptung, daß die Theorie der interkulturellen Bildung neben ihrem Beharren auf Chancengleichheit, auf Toleranz und Erweiterung von sozialer Wahrnehmungsfähigkeit den Fragen von Selbstachtung, Selbstrespekt und Selbstwert – also wiederum Begriffen, die einer Semantik moralischer Gefühle entspringen – bisher noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat.14
Trauer, Schande, Scham, Schuld und Verantwortung, Gedenken und Erinnerung waren die zentralen Begriffe der Gedenkstättenpädagogik; Probleme der moralischen Motivation, bedeutsamer affektiver Beziehungen und einer loyalitätsgebundenen Moral die Hauptthemen der Weiterentwicklung des sozialkognitivistischen Paradigmas; Selbstachtung und Selbstrespekt die wichtigsten Bezugspunkte einer interkulturellen Bildung, die die Herstellung materieller Chancengleichheit, eines universalistischen Verfassungspatriotismus15 und einer kulinarischen Erweiterung von Lebenschancen nicht für das Ende der Debatte hält. In allen drei Feldern rückte die Frage nach den „moralischen Gefühlen“ ins Zentrum: bei der Gedenkstättenpädagogik in ihrer begrifflichen und sachlichen Begründung; bei der sozialpädagogischen Moralerziehung als Ausweg aus der Erklärungsschwäche eines reinen Kognitivismus; bei der interkulturellen Bildung als politisch-moralische Hypothese über eine bisher weitgehend übersehene wesentliche Dimension.
Eine auf einer Theorie moralischer Gefühle aufbauende grundbegriffliche und forschungsbezogene Neuorientierung wird die normative Grundlegung der Pädagogik nicht unberührt lassen. In einer Zeit, in der eine blinde und oftmals staatstreue Wertediskussion sowie der anschwellende Ruf nach einer Erneuerung der Erziehung zu politischer Loyalität nach wie vor die öffentliche Debatte bestimmen, kommt es darauf an, jene Charaktereigenschaften intellektueller und eben affektiver Art zu identifizieren, die es Kindern und Heranwachsenden ermöglichen, zu Wertzumutungen aller Art reflektiert Stellung zu beziehen und ein gutes, weil selbstbestimmtes und auf andere bezogenes, ja glückliches Leben zu führen. Ich bezeichne diese Charaktereigenschaften mit einem bewußten Rückgriff auf die antike Bildungstheorie als „Tugenden“. Tugenden lassen sich – unabhängig davon, ob man das klassische Gespann von Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Besonnenheit sowie Glaube, Liebe und Hoffnung oder einen anderen Kanon in Betracht zieht – als das Ensemble jener individuellen Verhaltensdispositionen analysieren, deren Zusammenspiel ein befriedigendes menschliches Leben verheißt.
In der antiken Philosophie bezeichnete der Begriff Tugend (griechisch „Arete“, lateinisch „virtus“) ganz allgemein die spezifische Leistungsfähigkeit oder Tauglichkeit – heute sprechen wir von Funktionalität – von Dingen, Organen, Menschen oder auch Handlungen, von der Tauglichkeit des Leibes, eines Nutztieres, der Dienlichkeit argumentativer Praxis, ja sogar von Diebstählen. Bei Aristoteles erst wird Tugend zum Begriff für eine spezifisch menschliche Eigenschaft, zu einer anthropologischen Kategorie. Vor allem aber stehen die so ausgewiesenen menschlichen Fähigkeiten für ihn immer im Horizont der Frage nach dem Glück.16
Gleichwohl: Wer von Tugenden hört, fühlt sich schnell an „Werte“ erinnert, an moralisierende Zumutungen der Gesellschaft, sich so oder so zu verhalten. Eben darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Frage, über welche Fähigkeiten, heute spricht man von Handlungskompetenzen oder auch von „Schlüsselqualifikationen“, Individuen verfügen müssen, um sich gesellschaftlichen Zumutungen gegenüber behaupten und ein glückliches Leben im Verein mit anderen anstreben zu können. Damit ähnelt die Tugendlehre auf den ersten Blick der in den späten sechziger Jahren entwickelten Konfliktpädagogik sowie der emanzipatorischen Erziehung, die ja vor allem auf die Stärkung individueller Kritikfähigkeit setzten. Auf den zweiten Blick unterscheidet sie sich von beiden erheblich. Sie unter- und überbietet nämlich beide Positionen. Anders als die klassenkampftheoretisch ansetzende Konfliktpädagogik verfügt sie über keine politischen Vorgaben mehr, anders als die emanzipatorische Erziehung aber traut sie sich gleichwohl zu, die Frage nach dem „Wozu“ der Emanzipation zu stellen, ohne sie indes abschließend beantworten zu wollen. Anders auch als die stark von moralischen, christlichen Fragestellungen bestimmten Pädagogiken der achtziger und neunziger Jahre mit ihrem Akzent auf Frieden, Verschonung der Umwelt sowie Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Generationen nimmt die Theorie der Tugenden den unvertretbaren Glücksanspruch der Individuen ernst. Sie verhält sich damit zu Forderungen einer universalistischen Moral positiv, aber nicht mehr naiv. Sie weiß, daß auch das allgemeine Wohl nur zu erzielen ist, wenn jenseits aller wertenden Vorgaben Lebensglück und Lebenssinn der einzelnen nicht nur berücksichtigt werden, sondern im Zentrum politischer und pädagogischer Bemühungen stehen. Genauer: Sie weiß, daß umfassende Gerechtigkeit in einer Gesellschaft nur zu erreichen ist, wenn dieses Ziel mit den Wünschen und Ansprüchen der Individuen auf ein erfülltes Leben wenigstens nicht kollidiert und dazu in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis steht. Daß keine Politik Glück – sei es individuell oder kollektiv – herstellen kann, ist die leidvolle Lehre aus der Geschichte des Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert. Daß das Streben nach dem Glück jedoch, wenn es der materiellen und gesetzlichen Absicherung ermangelt, schnell in massives Unglück umschlagen kann, das lehren nicht nur bald fünfzehn Jahre Neoliberalismus. Daß eine Gesellschaft, die die Frage nach dem Glück nicht öffentlich stellt und sie ganz und gar im Umkreis des Privaten hält, stagniert, war und ist die Herausforderung, die der Feminismus einer patriarchalisch geprägten Welt nach wie vor stellt.
Niemand hat die inneren Spannungen, die einer materialistischen Tugendlehre innewohnen, genauer gesehen als der heute bisweilen für veraltet gehaltene Bertolt Brecht. Am Ende der Flüchtlingsgespräche läßt er seinen Helden Kalle sagen: „Ich fordere Sie auf, sich zu erheben und mit mir anzustoßen auf den Sozialismus – aber in solch einer Form, daß es hier im Lokal nicht auffällt. Gleichzeitig mache ich Sie darauf aufmerksam, daß für dieses Ziel allerhand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die größte Selbstlosigkeit und der größte Egoismus.“17
Das Thema der Tugenden, der persönlichen Eigenschaften zumal von Politikern, hat in den letzten Jahren besonders in Deutschland eine überraschende Aktualität gewonnen. Der eine hat kurz nach seinem Amtsantritt sein politisches Amt als Finanzminister fluchtartig aufgegeben, der andere gibt die Rolle des „elder statesman“: Erinnert sich noch jemand an die bittere Auseinandersetzung zwischen Oskar Lafontaine und dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt in den frühen achtziger Jahren, als dieser – schon damals besorgt um den „Standort Deutschland“ – Disziplin, Fleiß und Ausdauer forderte? Der Chef der saarländischen SPD hielt dem Kanzler damals vor, lediglich „Sekundärtugenden“ gefordert zu haben, mit denen man ebenso gut ein Konzentrationslager leiten könne. Schmidt, als ehemaliger Wehrmachtsoffizier verständlicherweise tief getroffen, reagierte beleidigt. Dabei hatte Lafontaine, der bei den Jesuiten in die Schule gegangen ist, ganz recht. Die Tradition der abendländischen Tugendlehre bezieht bezüglich der Unterschiede von Primär- und Sekundärtugenden keine andere Position. Unter den „Kardinaltugenden“, so meinte etwa Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert, sei die vornehmste die Klugheit, die Gerechtigkeit die zweite, die Tapferkeit die dritte, Zucht und Maß aber die vierte.18 „Klugheit“ bedeutet bei Thomas nicht die Fähigkeit zum vorsichtigen Abwägen, sondern die Fähigkeit zum Erkennen der Wahrheit.
Aber sogar wenn Lafontaine gegen Schmidt recht gehabt hätte – was spricht in einer weitgehend von Traditionsschwund, Pluralismus und Multikulturalismus bestimmten Gesellschaft dafür, den alten abendländischen und zopfig gewordenen Tugenddiskurs wieder aufzunehmen? Sollte Helmut Kohls vor zwanzig Jahren pathetisch verkündete „geistig-moralische Wende“, die glücklicherweise eine Wortblase blieb, vor derlei Begriffen nicht ebenso warnen wie die letztlich konservativen Appelle der Kommunitaristen, die zur Lösung aller Gegenwartsprobleme immer nur das „Ehrenamt“ anzubieten haben?19 Über Tugenden und ihre Theorie zu reden ist schon allein deshalb sinnvoll, weil sie nach Lage der Dinge das einzige Programm darstellen, das eine materialistische Ethik zeitgemäß zu Wort kommen läßt. Man mag zu dem britischen Soziologen Anthony Giddens, der sich zum intellektuellen Sprachrohr des zwar der Labour Party angehörenden, jedoch neoliberal regierenden Premiers Tony Blair gemacht hat, stehen wie man will – wenn er in seinem Buch Jenseits von links und rechts20 gegen den allgemeinen Produktivismus eine „Politik des Glücks“ fordert, nimmt er das zentrale Problem einer Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit ins Visier. Das „Glück“ aber, der Wunsch nach einem materiell mehr oder minder sorgenfreien, von sinnvollen Zielen und befriedigenden menschlichen Beziehungen erfüllten Leben ist – jedenfalls der Tradition nach – auf das engste mit den Tugenden verbunden. So sah es Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik notierte: „Es liegt weiterhin auf der Hand, daß wir nach der menschlichen Tugend fragen. Denn wir suchten von vornherein das menschliche Gute und die menschliche Glückseligkeit.“21
Tatsächlich scheinen die Beziehungen zwischen Glück und einem erfüllten, guten Leben22 jedoch komplex, geradezu paradox zu sein: „Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des menschlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde. Desto wirklicher und wahrer ist es. Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.“23
Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erschien 1985 im französischen Exil, vier Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Mit dem Jahr des Mauerfalls verbindet sich nicht nur die Erinnerung an das Ende des Kalten Krieges und an die Vereinigung der getrennten deutschen Teilstaaten, sondern auch an das unwiderrufliche Ende einer verzerrten, mißbrauchten und falsch verwirklichten Utopie, des Sozialismus. Gleichwohl fällt auf, daß der Niedergang der staatsbürokratischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa keineswegs überall der Demokratie den Sieg gebracht hat und daß der Kapitalismus, auf sich allein gestellt, nicht so effizient ist, wie es vor dem Hintergrund des Staatssozialismus schien. Seit die alten Gespenster, nämlich massenhafte Arbeitslosigkeit und vermeintlich steigende gesellschaftliche Gewalt, auferstanden sind, scheint auch im siegreichen Westen der Eindruck unüberwindbar, daß die guten Zeiten endgültig vorüber sind. Von den USA bis nach Deutschland wird verkündet, daß die Generation der heute Achtzehn- bis Zwanzigjährigen den durchschnittlichen Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr werde halten können, daß das über Steuern verteilbare Bruttosozialprodukt abnehme, daß angesichts der globalen und nationalen Probleme Maßhalten, Solidarität, Bescheidenheit, Patriotismus und Disziplin auf der Tagesordnung stünden. Der Begriff „Individualismus“, einst hochgeschätzt, wurde wieder zu einem Slogan, der nicht nur positive Assoziationen hervorrief; der Begriff der „Gemeinschaft“, in Deutschland des Mißbrauchs wegen, den die Nationalsozialisten mit ihm getrieben haben, verpönt, gewann über die US-amerikanische Kommunitarismusdebatte neue Dignität, eine einst hedonistische Linke sucht Bindung, Verantwortung, Verbindlichkeiten und Autorität. Ging es einst um die Kritik an einem oft als repressiv empfundenen Moralismus, so beherrschen heute ethische Debatten, religiöse Sehnsüchte und – aller Rede von „Streitkultur“ zum Trotz – neue Formen der Unduldsamkeit das öffentliche Terrain.
Milan Kunderas Roman, der sich mit den politischen und erotischen Schicksalen dissidenter Intellektueller unter der tschechoslowakischen Parteidiktatur auseinandersetzt, spielt in den letzten Jahren des „Realen Sozialismus“, in der Zeit des Spätstalinismus, einer Epoche, die nicht wenige Beobachter mit einem Etikett aus der neueren Geschichte als „Ancien Régime“ bezeichnet haben. Als „Ancien Régime“ gelten in der Historiographie jene Jahrzehnte vor der Französischen Revolution, als sich die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch zwar schon durchgesetzt hatte, das politische und kulturelle Leben aber nach wie vor von einem mehr oder minder verantwortungslosen Adel geprägt wurde, der sich objektiv überlebt hatte.
Der französische Staatsmann, Schriftsteller und Diplomat Talleyrand, der 1754 noch unter dem Ancien Régime geboren war und bis 1838, im Zeitalter der Restauration, lebte, begann seine Karriere als kirchlicher Funktionär, um sich dann der siegreichen Revolution zur Verfügung zu stellen und kirchliches Vermögen zu liquidieren. Als Royalist verdächtigt, emigrierte er 1792 in die USA, kehrte 1799 nach Frankreich zurück, um Napoleon als Außenminister zu unterstützen und ihm schließlich, weil er mit dessen Eroberungspolitik nicht einverstanden war, die Gefolgschaft aufzukündigen. Nach Napoleons endgültiger Niederlage vertrat Talleyrand Frankreich auf dem Wiener Kongreß, trat 1815 zurück, um fünfzehn Jahre später die bürgerliche Julirevolution zu unterstützen und als Botschafter in London zu wirken. Von Talleyrand, dem der Verrat – an einzelnen Personen und politischen Regimes – ebenso nahe war wie die Treue zu sich selbst und zu Frankreich, wird ein Ausspruch aus seiner letzten Lebensphase überliefert: Niemand könne die ganze Süße des Lebens erfahren haben, der nicht unter dem Ancien Régime gelebt habe. Daß die Revolutionäre diese Süße ablehnten, sich schon in ihrer äußeren Gestalt ernst und gefaßt gaben, wird an den vielfältigen Porträts deutlich, in denen streng wirkende, schwarz gekleidete Männer auftreten. Auf den klassizistischen, historischen Gemälden etwa Jacques Louis Davids präsentieren sich die Revolutionäre im Gewande altrömischer Senatoren mit strengem Faltenwurf und kühlen Farben. In Talleyrands Aussage über die Süße des Lebens, die sofort Erinnerungen an das Rokoko, an Bilder anmutig tändelnder, leichtsinniger höfischer Gesellschaften, etwa auf den Bildern Watteaus oder in den Opern Rossinis, provoziert, drückt sich in nostalgischer Weise die Erfahrung eines Epochenbruchs aus. Heute wissen wir, daß diese Süße kaum für verarmte und hungernde Bauern, unterdrückte Frauen, bettelarme Tagelöhner oder gepreßte Soldaten, kurz: für die Mehrheit der Bevölkerung galt.
Über Sinn und Unsinn, über den offensichtlich ideologischen Charakter wie kulturgeschichtlichen Erfahrungsgehalt von Talleyrands Aussage soll hier nicht gesprochen werden. Worum es hingegen gehen soll, ist die Frage, ob das Bild, das wir uns im Rückblick – sei es von der Bundesrepublik Deutschland, sei es von der DDR – machen, tatsächlich dem Blick Talleyrands auf das Ancien Régime entspricht, wonach das Leben im „Realen Sozialismus“ in Wirklichkeit – wie Milan Kundera es suggeriert – bei aller Repression leicht, weil verantwortungslos war und dementsprechend das Leben in den westlichen Gesellschaften des Kalten Krieges eine leichtsinnige Existenz unter der Käseglocke sinnlos gewordenen Wohlstandes gewesen ist. Eine reumütige Linke, die angesichts rechter Jugendgewalt die Rückkehr zu konservativen Tugenden in Politik, Erziehung und Gesellschaft fordert, unterstützt diesen Eindruck: „Es ist leider so“, so schon vor Jahren ein reumütiger Altachtundsechziger, „daß die ‚Rechten‘ näher an der neuen Realität sich bewegen. Die alten Themen des konservativen Weltbildes – Leistung, Werte, Verantwortung, Autorität, Orientierung – haben eine neue Aktualität. Es ist mithin überaus leicht und verführerisch, die gesellschaftlichen Veränderungen, die den konservativen Wertekanon plausibel machen, darum als einen allgemeinen Rechtsruck wahrzunehmen. Es ist paradox: Die linken Bedrohungsbilder von der rechten Übermacht sind zum ersten Mal realistisch, nicht weil die Rechte stark ist, sondern die Linke gegenüber der Realität schwach. Der konservative Wertekanon ist nicht zufällig näher an der Aktualität. Denn er entspringt einer pessimistischen Anthropologie und der Bewahrung des historisch älteren Wissens von dem barbarischen Kern der Zivilisation.“24
Haben wir zu leichtsinnig, am Ende gar unverantwortlich gelebt, waren die Prinzipien, für die wir in Erziehung, Politik und Gesellschaft eintraten, nämlich Liberalität, Autonomie, Antiautoritarismus und kritische Rationalität, ideologische Luxusgüter, süße Täuschungen – kaum anderes als die Hündchen und Bonbonnieren auf den Bildern Watteaus? Erweist sich im Rückblick der Aufklärungs- und Liberalisierungsschub der sechziger Jahre gleichsam als Sumpfblüte, die nur unter der Käseglocke des Kalten Krieges auf Kosten jener gedeihen konnte, die unter der Repression des bürokratischen Sozialismus ihr Leben fristen mußten? Steht daher die Ablösung jenes individualistischen Leichtsinns durch einen neuen, an beliebigen Gemeinschaften orientierten Tugend- und Moralkult auf der Tagesordnung? Heißt das: „Ende der Leichtigkeit“? Stellt man diese Frage, so ergibt sich eine Reihe von Perspektiven, unter denen sie präzisiert und geklärt werden kann. So geht es erstens um die historische Perspektive: War das Leben zwischen 1949 und 1989 wirklich so leicht? Herrschten keine sozialen Konflikte, gab es keine schmerzhaften gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, war sozialer Wohlstand wirklich alles, worum es in dieser Zeit ging? Und: Kam dieser soziale Wohlstand tatsächlich allen zugute? Die Frage beinhaltet zweitens eine beinahe schon zum Gemeinplatz gewordene soziologische Vermutung: daß das Leben unserer Gesellschaften durch und durch von Individualisierungsschüben durchzogen ist und daß diese Individualisierung von Lebensläufen und Lebensstilen ein Nachlassen des Interesses an gemeinschaftlichen Werten provoziert, um schließlich in eine egoistische Ellenbogengesellschaft zu münden. Beidem mag so sein oder nicht – wir sollten jedoch nicht vergessen, daß es sich bei derlei Vermutungen nicht um unumstößliche Wahrheiten, sondern nur um mehr oder minder plausible soziologische Hypothesen handelt. Immerhin hat die Shell-Jugendstudie des Jahres 2002 erwiesen, daß eine Jugend, die unter dem ideologischen Primat des Neoliberalismus aufgewachsen ist, deutlich weniger bereit ist, an öffentlichen Angelegenheiten zu partizipieren. Indem diese Jugend zugleich stärker den „Sekundärtugenden“ anhängt und größeren Wert auf persönliches Glück legt, beweist sie zudem, daß unter Bedingungen einer politisch immer wieder behaupteten Alternativlosigkeit zum Status quo gesellschaftliche Kreativität nur noch unter Aufbietung größten Idealismus möglich ist. Daß dieser Idealismus immer mehr zu einem Privileg der besser Gebildeten wird, bestätigt lediglich, was bereits Studien zur Bildungsbeteiligung im Bereich der Schule mit deprimierender Deutlichkeit bewiesen haben: Bildung, Moral und Engagement sind inzwischen zu einem sozial vererbbaren Kapital der oberen Dienstklassen geworden. Mindestens in Deutschland ist eine neue Klassengesellschaft entstanden, die auch deren moralisches Selbstverständnis prägt. Im Tenor der Kulturkritik wird dieser Befund umgedeutet: Hier schießt dann der Ärger über demolierte Telefonhäuschen mit subjektiver Verunsicherung ob vermeintlich erhöhter Kriminalitäts- und kritischen Überlegungen zu wachsenden Scheidungsraten zusammen. Eine weitere Frage, die sich aus der Behauptung vom „Ende der Leichtigkeit“ ergibt, ist eine normative Frage, zu deren Beantwortung wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse nicht mehr ausreichen. Diese Frage, die sich an unser – je eigenes – Selbstverständnis richtet, zielt letzten Endes darauf, was für ein Leben wir angesichts weltweiter Armut und furchtbaren Leidens führen können und wollen, angesichts einer über alle Medien unausweichlich verbreiteten wirklichen und fiktiven Grausamkeit, angesichts gesellschaftlicher Notlagen und Stimmungen, die auf der einen Seite immer mehr Armut, auf der anderen Seite rechtsextremistische Ideologien und Theorien begünstigen. Die Stimmung, die aus dieser Situation der schmerzhaften Bewußtheit allseitigen und weltweiten Leidens erwächst, hat Hans Magnus Enzensberger treffend skizziert.
„Gleichwohl mutet die Tagesschau jeder Verkäuferin aus dem Supermarkt zu, zwischen Inguschen und Tschetschenen, Georgiern und Abchasen zu unterscheiden. Berg-Karabach steht seit Jahren auf der Tagesordnung, und wir sind gezwungen, uns an Hand von verstümmelten Leichen ein Bild von dieser Gegend zu machen. Wir sollen uns die Namen von Gangstern merken, die wir kaum richtig aussprechen können, und uns um islamische Sekten, afrikanische Milizen und kambodschanische Fraktionen kümmern, deren Beweggründe uns unverständlich sind und bleiben. Wer dazu nicht fähig ist, gilt als hartherziger Ignorant und als egoistischer Wohlstandsbürger, dem es gleichgültig ist, wenn andere leiden.“25
Der Dichter empfiehlt in dieser Lage ein Abrüsten der moralischen Ansprüche und eine Bescheidung auf das Eigene – und sei es nur, um wenigstens den Frieden im eigenen Land zu wahren und nicht auch hier jenen Zuständen Vorschub zu leisten. Führten doch moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stünden, am Ende nur dazu, daß die Geforderten gänzlich streiken und jede Verantwortung leugnen. Diese Haltung bringt Enzensberger zu einer scharfen Kritik an jeder universalistischen Ethik und der Forderung, sich von allen Allmachtphantasien zu verabschieden und sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern: „Wer von der Endlichkeit und Relativität unserer Handlungsmöglichkeiten spricht, sieht sich sofort als Relativist an den Pranger gestellt. Doch insgeheim weiß jeder, daß er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muß. Selbst das Christentum hat immer vom Nächsten und nicht vom Fernsten gesprochen.“26
An diesem Vorschlag zeigt sich, daß aus der möglichen Diagnose, die guten Zeiten seien vorbei, in der Sache durchaus gegensätzliche Konsequenzen gezogen werden können: einerseits die kluge Beschränkung auf die eigenen Angelegenheiten, andererseits der bewußte Wille, die Belange aller Menschen zum vordringlichen Gegenstand des eigenen Denkens und – womöglich – eigenen Handelns zu machen. Einem tiefenpsychologisch informierten Denken wird dieser Vorschlag unmittelbar einleuchten. Moralische Forderungen, so meinen wir seit Nietzsche und Freud zu wissen, beeinträchtigen nicht nur die vitalen Bedürfnisse von Menschen und dienen nicht nur der projektiven Abwehr eigener Aggressionen, sondern leisten zudem einem grundsätzlich falschen Selbstverständnis, einer systematischen Selbsttäuschung und damit einem unwahrhaftigen Leben Vorschub. Wer in erster Linie moralischen Forderungen folgt, tue dies in aller Regel, um vom eigenen Leben und dessen Problemen abzulenken. Wer sich aber – wie die Debatte um die „hilflosen Helfer“27 gezeigt hat – über sich selbst täuscht, ist schließlich nicht in der Lage, anderen effektiv und angemessen beizustehen. Somit scheint an Enzensbergers Vorschlag kein Weg vorbeizuführen: Das Ende der Leichtigkeit, das bewußte und klare Wahrnehmen des Elends nicht nur dieser Gesellschaft, sondern der ganzen Welt führt zu einer neuen Bescheidenheit, aber auch zu einem eingeschränkten Engagement.
So bietet sich ein verwirrendes Bild: Während hier Philosophen und Politiker angesichts von Kriminalität, Drogensucht, Hedonismus, Liberalismus und Individualismus für einen neuen Wertehorizont, für Tugenden und strikte Regeln optieren, wird dort für ein Ent- und Abspannen der eigenen Ansprüche plädiert. So unvereinbar diese beiden Alternativen auf den ersten Blick erscheinen, so sehr gelten sie doch demselben Gegner: nämlich dem, was in ihrer Sicht als universalistische, abstrakte Ethik gilt. Eine moralische Haltung, die einerseits darauf verzichtet, Menschen bestimmte und konkrete Verhaltensvorschriften zu machen, sie Mores zu lehren, die aber andererseits strikt darauf beharrt, daß Fragen nach Recht und Gerechtigkeit nicht wesentlich durch Hinweise auf Nähe oder Ferne, Freundschaft oder Verwandtschaft der jeweils betroffenen Menschen oder auf der eigenen Gemeinschaft Zuträgliches oder Förderliches zu lösen sind, wird in der Regel „universalistisch“ genannt und – je nach Standpunkt des Kritikers – als überfordernd oder unverbindlich bezeichnet.
Für psychosoziale Berufe, für Pädagogen, Therapeuten und Berater stellt sich damit die Frage, welche Maßstäbe und Ziele sie sowohl an die eigene Arbeit als auch an das Tun all derer anlegen wollen, die ihnen im Erziehungsprozeß überantwortet sind oder die sich ihnen als Leidende oder Ratsuchende anvertraut haben. Damit ist zugleich die Frage nach der beruflichen Verantwortung von Pädagogen, Therapeuten und Beratern als die Frage gestellt, wofür Kinder, Heranwachsende oder Klienten im idealen Fall später Verantwortung übernehmen, d. h. welche Art der Moral sie erwerben sollen.28 Daran zeigt sich, daß mindestens Psychotherapie und professionelle Erziehung insoweit stets am Ende der Leichtigkeit operieren, als beide niemals umhin können, Verantwortung ein- und auszuüben – unabhängig davon, ob sie das beabsichtigen oder nicht. Strittig ist allenfalls, welche Reichweite diese Verantwortung jeweils haben soll. Daß es darauf im Einzelfall keine abstrakte Antwort geben kann, leuchtet ebensosehr ein wie die Vermutung, daß die Reichweite der Verantwortung im Prinzip zu ermessen sein sollte.
Für das Erziehungssystem wird daher vorgeschlagen, sich zur Heilung gesellschaftlicher Übel und Gebresten wieder auf die kleinsten leicht zugänglichen gesellschaftlichen Einheiten zu beziehen, auf Familie und Schule. Wenn überhaupt, so scheint es, konkrete Verantwortung für diese Gesellschaft eingeübt werden kann, dann dort, wo Kinder und Jugendliche zu verantwortungsvollen Bürgerinnen und Bürgern gebildet werden. Nirgendwo wird das Ende der Leichtigkeit so massiv eingeklagt wie im Erziehungsbereich, nirgendwo anders scheinen die libertären Umgangs- und Lebensformen, die ein Ergebnis der Kulturrevolution der späten sechziger Jahre waren, so verhängnisvoll gewirkt zu haben, scheint der Katzenjammer so groß zu sein.29 Die Beunruhigung über jugendliche Neonazis, Drogenabhängige und Vandalismus in Schulen vermengt sich so mit dem Gefühl von Orientierungslosigkeit, an der die Sozialwissenschaften nicht unschuldig seien. Das Einklagen einer allgemeinen erzieherischen Verunsicherung aufgrund des Reflexionsschubs, den das Eindringen erziehungswissenschaftlicher Einsichten in die Lebenswelt von Eltern, Kindern und Schülern verursacht habe, fordert zu der Beschwörung heraus, daß künftig wieder erzogen werden müsse. Darüber hinaus bedienen sich die neuen Erziehungsbefürworter der gerne verwendeten rhetorischen Figur, sich selbst in eine imaginäre Mitte zu plazieren und mögliche, einander ergänzende Extreme zu kritisieren: in diesem Fall den permissiven und autoritären Erziehungsstil. Über deren soziale Positionierung und schichtenbezogene Verteilung lassen sich die neuen Erziehungsbefürworter – unverständlich angesichts einer Fülle von präzisen Forschungsergebnissen, die für im weitesten Sinn auffällige Jugendliche alle auf ein familiär und schulisch durch Leistungsanforderungen30 überstrapaziertes Unterschichtmilieu hingewiesen haben – nur sehr vage aus.31 Die wohlfeile Polemik vor allem gegen die permissive Erziehung gestattet es, den Begriff der „Autorität“ aufzuwerten, ohne autoritär zu wirken, während das in der Sache absolut gerechtfertigte Plädoyer für eine demokratische Erziehung oft keinem anderen Zweck dient, als die konservative Parole „Mut zur Erziehung“ zu assimilieren und eine neue „Autorität“ zu fordern.
Bei dieser Debatte geht es erstens um die pauschale Behauptung einer allgemeinen Verunsicherung von Eltern und Erziehern, Kindern und Jugendlichen, zweitens um die unausgewiesene Rede von „Autorität“ sowie drittens um die unscharfe Rede von „Werten“ und „Werteerziehung“. Daß in bezug auf Erziehungsfragen Verunsicherung herrscht, ist unbestritten. Ob diese Verunsicherung zugenommen hat, könnten wir nur anhand eines Zeitreihenvergleichs beurteilen, für den uns die Vergleichsdaten aus den zwanziger, dreißiger, vierziger, fünfziger und sechziger Jahren fehlen. Wie viele Eltern sich faktisch aus ihrer Rolle als Erzieher zurückgezogen haben, wissen wir nicht. Sogar wenn wir entsprechende Einstellungsuntersuchungen hätten, wüßten wir immer noch nicht, ob sich diese Eltern im Alltag auch tatsächlich so verhalten. Möglich wäre ja immerhin, daß Eltern sich zwar verunsichert fühlen und in reflexiven Situationen meinen, nicht mehr zu erziehen, sich aber tatsächlich sehr wohl erzieherisch verhalten. Da über diesen Fragenkomplex kaum empirische Forschungen vorliegen – nicht zuletzt deshalb, weil klinische Untersuchungen im Alltag von Familien extrem aufwendig sind –, muß hier ein eindeutiges Urteil bis auf weiteres ausstehen. Die wenigen Forschungen, die hierzu vorliegen,32 motivieren dazu, den Strukturen der sozialisatorischen Interaktion mehr zuzutrauen, als es die Befürworter eines jederzeit bewußten Erziehens tun. Obwohl alle möglichen definitorischen Anstrengungen zur Bestimmung des Erziehungsbegriffs vorgenommen werden und immer wieder klargestellt wird, daß eine zeitgemäße Erziehung im wesentlichen im Aushandeln von Bedürfnissen und im Verzicht auf Gehorsam besteht – trotz der klaren Ablehnung autoritärer Erziehungsstile wollen nicht wenige der neuen Werteerzieher unbegründet am Begriff der „Autorität“ festhalten. Dabei ist bezeichnend, daß eine wissenschaftliche Klärung des Begriffs „Autorität“ in aller Regel entfällt. Schlägt man beliebige Lexika auf, so wird man im allgemeinen für den Begriff „Autorität“ Umschreibungen wie etwa „Würde“ und „Ansehen“ finden. Demnach kann es in der Sache nur darum gehen, daß Eltern, die sich im familiären Alltag eines demokratischen Verhaltens befleißigen, aus nicht nur motivationalen Gründen wünschen, von ihren Kindern anerkannt zu werden. Die entscheidende Frage lautet dann, als was sie anerkannt werden wollen: als Personen, denen im Zweifelsfall fraglose Folgebereitschaft gezollt wird, oder als Partner, deren Argumente gehört werden? Geht es um letzteres, ist der Begriff „Autorität“ fehl am Platz, geht es um ersteres, läuft die Polemik gegen den permissiven Erziehungsstil ins Leere. Die Verwendung des Begriffs „Autorität“ verhindert in diesem Zusammenhang lediglich, daß das Paradigma des demokratischen Erziehungsstils zur vollen Entfaltung kommt.
Was heißt endlich Werteerziehung? Die Soziologie unterscheidet schulmäßig zwischen Normen und Werten33 und will damit ausdrücken, daß Normen jene Verhaltensmaßgaben sind, die um der Verwirklichung eines von mehreren Personen für wichtig gehaltenen Gutes willen etabliert worden sind. Gilt etwa persönlicher Respekt als das wünschbare und schützenswerte Gut, so beschreibt „Höflichkeit“ die Normen, die im zwischenmenschlichen, alltäglichen Umgang zu beachten sind. Die schulmäßige Unterscheidung führt zu der Frage, welche „Werte“ in einer menschlichen Sozialität nicht nur faktisch vorfindlich, sondern auch normativ akzeptabel sind. Die Werte „Reichtum“, „sexuelle Attraktivität“, „Liebe zur Heimatgemeinde“, „Vorrang der eigenen Rasse“, „Toleranz“, „Pünktlichkeit“ etc. sind offensichtlich weder gleichermaßen legitim noch gleichermaßen weitreichend. „Werte“ der persönlichen Lebensführung sind einerseits von „Werten“ des öffentlichen Zusammenlebens zu unterscheiden, während andererseits faktische, legale und legitime „Werte“ auseinanderzuhalten sind. Wie weit eine dezentrierte, demokratische Gesellschaft überhaupt noch beliebige „Werte“ verkörpern und durchsetzen kann, ist in politischer Soziologie und Philosophie strittig. Ob der Wertepluralismus und die mit ihm einhergehende Verunsicherung nur ein Desaster oder nicht doch eine große Chance darstellt, ist ebenfalls umstritten. Auf jeden Fall: In Gesellschaften dieses Typs dürften nur noch sehr allgemeine, individuelle Lebensweisen, nicht mehr zensierende „Werte“ allgemein akzeptabel sein: vor allem die Würde des Menschen (einschließlich der entsprechenden rechts- und sozialstaatlichen Sicherungen). Diesen soziologischen Befund unterschlägt die „Wertedebatte“. Letzten Endes schrumpfen in demokratischen Gesellschaften die allgemein als legitim erachteten und deswegen positiv sanktionierten Werte zu minimalen Verfahrensgrundsätzen zusammen. Mehr ist weder möglich noch nötig. Was bleibt, sind Vorschläge zur geregelten Auseinandersetzung über Wertkonflikte. Bedarf also die Motivation von Eltern und Lehrern, die bereit sind, sich in diesem Sinn auf sozialisatorische Interaktionen einzulassen, der Semantik von Ordnung, Verantwortung und Grenzen? Tatsächlich ist davon auszugehen, daß diejenigen, die ohnehin demokratisch und partnerschaftlich erziehen, entsprechende Appelle zustimmend oder nachdenklich zur Kenntnis nehmen werden, während derlei Erklärungen an den Eltern derjenigen Kinder, die als delinquent, verhaltensgestört, gewalttätig oder gar als rassistisch angesehen und behandelt werden, resonanzlos vorüberrauschen dürften. In diesen Fällen, das ist Lehrerinnen und Lehrern ebenso vertraut wie Sozialarbeitern, hilft nur die mühsame Praxis am Arbeitsplatz oder ein politisches Handeln, das die Verstetigung des Unterschichtmilieus mit seinen Überforderungen in der Schule durch radikale Reform überflüssig macht. Dieses Thema – das rückständig gegliederte Schulwesen34 in Deutschland und die Ausbreitung von Armut – interessiert die neuen Wertepolitiker jedoch nicht im mindesten. Wie sollte es auch? Eine gehaltvolle bildungspolitische Diskussion würde den trivialen Konsens im luftigen Bereich der Werte sofort zum Einsturz bringen. So einleuchtend die Rede von der Leichtigkeit des Lebens vor 1989 auch war – am Ende handelt es sich wohl doch nur um eine suggestive Floskel, der in der Sache nur wenig entspricht und die nur deshalb verbreitet wird, um ohne weitere Begründung konservative Ideologien zu propagieren. Der beste Sinn, den wir dem Problem der Leichtigkeit und ihrem vermeintlichen Gegenpart, der Verantwortung, geben können, resultiert in der Frage nach dem richtigen Leben.
Als Resümee kann gelten, daß in komplexen, ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaften mit konkreten Werten allein nicht auszukommen ist und es mindestens so sehr prinzipieller, eher abstrakter Haltungen und Einstellungen bedarf, etwa der Fähigkeit zur Reflexion, zur Distanz, zum hypothetischen Denken – Eigenschaften, die ich vorläufig als „Tugenden“ bezeichnen möchte. Womöglich läßt sich dem, was als „Leichtigkeit“ kritisiert wird, ja doch noch ein guter Sinn verleihen, womöglich läßt sich die Leichtigkeit sogar rehabilitieren. Denn „Leichtigkeit“ – paradox genug – ist keineswegs einfach zu vollziehen, sondern bedarf der Übung und Disziplin. Im oben beschriebenen Sinn „leicht“ zu leben, bedarf ebensosehr einer Anstrengung wie eines Weges, die Bürde des menschlichen Lebens besser, d. h. distanzierter zu tragen. Die Leichtigkeit scheint den jeweiligen Ancien Régimes unauflöslich anzuhaften – Regimes, unter denen das gute Leben, Leben und Überleben davon abhingen, daß man in Distanz zu seinen Rollen und Lebensentwürfen stand. Die folgenden Zeilen wurden 1910 geschrieben und kommen in einem Drama, in einer Farce vor, die im Ancien Régime, im Österreich der Kaiserin Maria Theresia spielt. Die Hauptfiguren dieses Stücks sind durch gesellschaftliche Zwänge und ökonomische Rücksichtnahmen an der Entfaltung ihres Lebens behindert und versuchen, dies mit Fassung zu tragen. In Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier bekundet die Marschallin, eine Frau in den Dreißigern, die weiß, daß sie noch am selben Tag von ihrem siebzehnjährigen Geliebten verlassen werden wird, diesem auf seine Treueschwüre:
„Nicht quälen will ich dich mein Schatz.
Ich sag, was wahr ist, sags zu mir so gut wie zu dir.
Leicht will ichs machen dir und mir.
Leicht muß man sein:
mit leichtem Herz und leichten Händen,
halten und nehmen, halten und lassen …
Die nicht so sind, die straft das Leben und Gott
erbarmt sich ihrer nicht.“35
Die Leichtigkeit des Seins, mit leichtem Herzen halten und nehmen, das scheint für pädagogisches Handeln nicht selbstverständlich zu sein. Auch Selbstaufforderungen, Dinge mit Gelassenheit zu vollziehen, verweisen nur darauf, daß Menschen meist dem, was sie tun, zutiefst, ja zu sehr verhaftet sind. Diese Bindung, die jede Leichtigkeit zu einer enormen Anstrengung macht, resultiert daraus, daß Bildung und Erziehung allem aufklärerischem Wollen zum Trotz weniger eine Frage intellektueller Einsicht denn affektiver Bildung sind.
Diesen Gedanken versuche ich in den folgenden zwölf Kapiteln darzulegen. Dabei geht es zunächst um einen der antiken Philosophie entnommenen, erneuerten Begriff der menschlichen Natur, der in normativer Hinsicht auf eine Alternative zu Pflicht- und Nützlichkeitsmoralen, nämlich auf eine Tugendethik zielt. Das zweite Kapitel sucht den hier vorgestellten Begriff der Tugend durch eine Reflexion auf sein Gegenteil, das Laster, zu schärfen. Auch eine erneuerte Theorie der menschlichen Natur kann freilich, zumal wenn es ihr um die tragende Rolle der Gefühle beim Entstehen von Moralität geht, die Ergebnisse einer Naturwissenschaft vom Menschen, wie sie seit Darwin vorliegt, nicht vernachlässigen. Das dritte und das vierte Kapitel erläutern die moralische Funktion von Gefühlen und plädieren für eine evolutionsbiologische Perspektive. Im fünften, sechsten und siebten Kapitel, die Platon, Aristoteles und Luhmann konfrontieren, geht es zunächst um den Nachweis, daß die Vernachlässigung der Gefühle in der Bildungstheorie Ergebnis einer bewußten, zweieinhalbtausend Jahre alten Verdrängung ist und daß eine Theorie der Bildung und Erziehung nur auf den Lebenslauf im ganzen bezogen entwickelt werden kann. Ohne einen Begriff vom „Glück“ ist das freilich unmöglich, wie Aristoteles gezeigt hat. Im siebten Kapitel weise ich dann nach, daß die systemtheoretische Umformulierung des Bildungsproblems mißlingen muß und warum die von Luhmann süffisant als „alteuropäisch“ bezeichneten humanistischen Überlegungen nach wie vor aktuell sind. Das achte und neunte Kapitel entfalten schließlich das Verhältnis von Tugend, Bildung und Charakter im einzelnen. Ein gutes, tugendhaftes Leben verharrt jedoch nicht im Privaten. Im zehnten, elften und zwölften Kapitel will ich zunächst zeigen, warum ein lange Zeit in der Pädagogik vernachlässigter Begriff, der der „Freundschaft“, unerläßlich ist, um das Bildungsgeschehen nicht nur zu begreifen, sondern auch zu befördern. Im Begriff der „Freundschaft“ liegt zugleich das Modell einer Lebensform vor, auf deren Basis eine normativ gehaltvolle politische Organisation, die Demokratie, pädagogisch bedeutsam wird.