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I.Menschliche Natur und Tugendethik

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Mit dem Hinweis auf affektive Bildung steht die Frage nach dem Verhältnis von Herz und Verstand, von Kognitionen und Affekten in individuellen und kollektiven Bildungs- und Lernprozessen im Zentrum, mehr noch: die Frage nach Bildsamkeit und Bildbarkeit und damit das Problem der moralischen Gefühle. Denn wie soll eine lebbare Moral greifen, wenn Menschen zu ihr nicht von Natur disponiert sind? Die abendländische Tradition verstand Erziehungsprozesse von Beginn an in einem engen und zugleich weiterführenden Verhältnis zur Natur. In ihren Anfängen war dieser Tradition ein anderes Verhältnis von Natur und Kultur gewärtig als der europäischen Moderne seit der Aufklärung. Sie kennt „Natur“ nur noch als einen Bereich kausal wirkender Notwendigkeiten, während sich der Bereich der „Kultur“ – ganz untragisch – mehr oder minder als Feld freien menschlichen Handelns offenbarte. Ein Rückgang auf die Antike freilich zeigt, daß diese Dichotomie weder sinnvoll noch notwendig ist1 Spätestens bei Aristoteles läßt sich lernen, daß man sinnvoll zwischen erster und zweiter Natur unterscheiden kann. Auffällig ist, daß dieser Begriff bzw. die Problematik einer zweiten Natur stets im Zusammenhang mit Bildung und Tugend erörtert wird: „Die Tugenden entstehen in uns“, so Aristoteles, „also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung.“2 Dabei war Aristoteles keineswegs der erste, dem das quasi-natürliche Wesen menschlicher Verhaltensbereitschaften auffiel: „Die Natur und die Erziehung“, so ein Zeitgenosse des Sokrates, der Atomist Demokrit, „kommen einander gleich. Denn auch die Erziehung formt den Menschen um, und indem sie umformt, schafft sie Natur.“3

Diese Überlegung verdichtet sich bei Platon und Aristoteles in dem Gedanken, daß insbesondere menschliche Gewohnheiten zu Natur werden, mehr noch: daß am Ende – so der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo – andauernde Gewohnheit stärker sei als Natur. Spätestens in der lateinischen Klassik, bei Cicero, wird dann der Begriff einer anderen, einer zweiten Natur explizit artikuliert: „consuetudine quasi alteram quandam naturam effici“ – „daß durch Gewohnheit gewissermaßen eine andere Natur hervorgebracht wird.“4

Da tote Gegenstände keine Gewohnheiten ausbilden, kann sich das, was hier als „andere Natur“ bezeichnet wird, sinnvollerweise nur auf lebende Organismen, zu denen auch die Angehörigen der menschlichen Gattung zählen, beziehen. Freilich fällt auf, daß Cicero noch zögert; in der zitierten Passage aus seiner Schrift über die höchsten Güter spricht er von einer „gewissermaßen anderen Natur“ und trifft damit eine Unterscheidung. Beinahe zweitausend Jahre später nimmt der Begründer der modernen Pädagogik, Jean-Jacques Rousseau, derlei Gedanken auf, wenn er in seinem Diskurs über die Ungleichheit der Menschen aus dem Jahr 1755 schreibt:

„Ich sehe in jedem Tier nur eine kunstreiche Maschine, der die Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder aufzuziehen und bis zu einem gewissen Grad gegen alles zu schützen, was sie zerstören oder in Unordnung bringen könnte. Genau das gleiche stelle ich an der menschlichen Maschine fest, nur mit dem Unterschied, daß bei den Bewegungen der Tiere die Natur alles tut, während der Mensch bei den seinen mithilft, insofern sein Wille frei ist.“ Im französischen Originaltext steht für das hier mit „mithilft“ übersetzte Verb „concourt“, das vielleicht genauer mit „mitwirkt“ zu übersetzen wäre. „Jenes“, so fährt Rousseau fort, „wählt oder verwirft mit Instinkt, dieser durch einen Akt der Freiheit, woraus sich ergibt, daß das Tier nicht den ihm vorgeschriebenen Gesetzen entgehen kann, selbst wenn es zu seinem Vorteil wäre, und daß der Mensch sich oft zu seinem Schaden davon entfernt.“5

Das ist die Fähigkeit der Menschen, sich willentlich und frei zu ihrer (ersten) Natur zu verhalten und dabei eine zweite, eine charakterliche Natur zu schaffen. Diese zweite, anerzogene und gebildete Natur entfaltet sich in Zuständen „eines Charakters, dessen Träger im Hinblick auf einen bestimmten Bereich von Verhaltensfragen zu richtigen Antworten gelangt“6 Diese Charakterzustände lassen sich als „Tugenden“ bezeichnen. Um sie besser zu verstehen, ist zu klären, wie menschliche Charaktere, d. h. die je nachdem tugend- oder laster haften, dauerhaften Prägungen und Neigungen eines Menschen entstehen bzw. welches ihre Bestandteile sind. Wenn der Charakter Ausdruck, ja sogar Inbegriff der zweiten Natur ist, diese aber wesentlich durch Gewohnheitsbildung entsteht, und wenn bestimmte Charakterzüge deshalb als „tugendhaft“ ausgezeichnet sind, weil sie es Menschen ermöglichen, bestimmten normativen Ansprüchen zu genügen, dann setzt dies zugleich eine bestimmte Empfänglichkeit dafür voraus, was in gegebenen Situationen zu tun ist. Tugenden basieren mithin auf intelligenten Empfindsamkeiten für eigene und andere Befindlichkeiten, auf Sensitivitäten, genauer gesagt: eine einzige Sensitivität, „die ihrerseits nichts anderes ist als die Tugend überhaupt, also eine Fähigkeit, die von Situationen an das Verhalten gestellten Forderungen als solche zu erkennen.“7

Es geht also um intelligente Gefühle bzw. „eine einzige komplexe Form der Sensitivität“, die zugleich eine moralische Sichtweise begründet. Demnach beruhen Tugenden mindestens so sehr auf affektiven Haltungen, wie sie in kognitive Fähigkeiten münden. Freilich können es kaum alle affektiven Haltungen sein, die zu tugendhaften Charakteren disponieren. Die zweite, in einer bestimmten normativen Form gebildete menschliche Natur resultiert damit aus einer spezifischen Art der Affektbildung, wenn man so will aus einer „éducation sentimentale“8 Ein Verständnis der Tugend, der Tugenden erheischt demnach eine Entschlüsselung des moralischen Charakters von Gefühlen im Lauf des menschlichen Lebens. Dies war das Programm Rousseaus, der in seinem Emile eine Bildung zur Liebe als Basis moralischen Verständnisses forderte.

„Seine ersten Zuneigungen“, so Rousseau über den jungen Menschen, „sind die Zügel, mit denen man all seine Bewegungen lenkt; er war frei, und ich sehe ihn unterworfen. Solange er nichts liebte, hing er nur von sich selbst und von seinen Bedürfnissen ab. Auf diese Art werden die ersten Bande gebildet, die ihn mit Wesen seiner Art vereinigen. Wenn er seine erwachende Empfindsamkeit auf sie richtet, so glaube man nicht, daß sie gleich anfangs alle Menschen umfaßt und daß das Wort Menschengeschlecht ihm etwas bedeutet. Nein, diese Empfindsamkeit wird sich zunächst auf seinesgleichen beschränken, und seinesgleichen werden keine Unbekannten für ihn sein, sondern diejenigen, mit denen er Verbindungen hat, diejenigen, welche ihm die Gewohnheit lieb und notwendig gemacht hat, diejenigen, welche augenscheinlich ebenso denken und empfinden wie er, diejenigen, die er den gleichen Leiden, die er gelitten hat, ausgesetzt sieht und die für die gleichen Freuden, die er genossen hat, empfänglich sind – mit einem Worte, diejenigen, bei denen die natürliche Gleichheit augenfälliger ist und ihm eine größere Neigung zu lieben gibt.“9

Die auf der Basis identifikatorischer Prozesse stattfindende affektive Bindung Gleichartiger führt zu einer partikularen Solidarität, die die notwendige Bedingung zur Ausbildung einer universalistischen Moral hier und einer entfalteten Individualität dort ist, die sich im Prozeß ihrer Herausbildung wechselseitig bedingen. Rousseau fährt fort: „Er wird erst nachdem er sein Naturell auf tausenderlei Art entwickelt hat, erst nach vielen Betrachtungen über seine eigenen Gefühle und über diejenigen, die er an anderen beobachten wird, dahin gelangen, daß er seine einzelnen Vorstellungen unter dem abstrakten Begriff der Menschheit verallgemeinert und seinen besonderen Neigungen diejenigen hinzufügt, durch die er sich mit seiner Art zu identifizieren vermag.“10

Dabei rechnet Rousseaus pädagogische Anthropologie stets mit einem angeborenen Egozentrismus, einer Eigenliebe, der in seiner „natürlichen“ Form als „Selbstliebe“ – „amour de soi“ bezeichnet wird und in seiner denaturierten Form in „Eigenliebe“ – „amour propre“ umschlägt. Grundsätzlich äußert sich auch in geistigen und moralischen Interessen, die in den Haltungen der Tugend ihren Ausdruck finden, eine Art der „Selbstliebe“. Geistige und moralische Interessen beziehen sich „allein auf uns selbst, auf das Wohl unserer Seele, auf unser absolutes Wohl. Es ist ein Interesse, das wesentlich mit unserer Natur zusammenhängt und deshalb auf unser wirkliches Glück gerichtet ist.“11

Damit hat Rousseau, der sich in seiner politischen Theorie als Erbe wesentlicher römischer Traditionen verstanden hat,12 den von der antiken Philosophie postulierten Zusammenhang von Tugend und Selbstliebe wieder aufgenommen – eine Thematik, die die moderne Moralphilosophie zerrissen hat und die derzeit erneut auf der Agenda steht. Freilich scheint die Aufnahme von Kategorien des aufgeklärten Eigeninteresses in eine Theorie der Moral der Moderne fremd – allenfalls in Begründungsdiskursen formal universalistischer Moralen wie in John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit soll ein prudentialer Diskurs eine eher methodologische Funktion übernehmen13 Hinter dieser Nichtberücksichtigung des Eigeninteresses in einer modernen Theorie der Moral steht ein massives moralisches und methodisches Problem, das erst in letzter Zeit aufgefallen ist und seither systematisch bearbeitet wird14 Ellen Key forderte in einer Radikalisierung von Rousseaus Sentimentalismus, daß „eine neue Menschheit hervorgeliebt werden“ solle, und nahm damit das antike Thema einer perfektionierenden Bildung wieder auf, nachdem Christentum und Aufklärung entweder auf Erziehung als Normierung oder auf Bildung zur Mündigkeit setzten.

Der Perfektionismus ist eine ethische Theorie, die als höchstes Gut allen menschlichen Lebens die Selbstvervollkommnung ansieht. Theorien der Perfektionierung und vor allem der Selbstperfektionierung, die vermeintlich unablösbar der Gedankenwelt der Antike angehören, sind in den letzten Jahren nicht nur im Rahmen etwa der humanistischen Psychologie wiederbelebt worden, sondern auch und gerade in der Philosophie, und zwar besonders in ihrem angelsächsischen, dem sprachanalytischen Vorgehen verpflichteten Strang. Daß es dazu einer Wiederbesinnung auf das US-amerikanische, das pragmatistische Erbteil bedurfte, kommt nicht von ungefähr. Ralph Waldo Emerson, der zum wesentlichen Anreger für die Arbeiten von Stanley Cavell15 wurde, war nicht nur eine Quelle für Friedrich Nietzsche, sondern kann selbst als Erneuerer des Tugenddiskurses16 gelten. In Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit findet sich in den späteren, seltener gelesenen, aber systematisch unerläßlichen Kapiteln eine entfaltete Theorie des guten Lebens, die in unterschiedlicher Form z. B. in die neuere politische Philosophie, etwa multikultureller Gesellschaften, eingegangen ist17 Ohne eine Theorie des Guten als des Vernünftigen ginge Rawls das Problem, das er mit seiner Theorie der Gerechtigkeit lösen wollte, verloren. Schließlich hat Alan Gewirth eine umfassende, systematische Arbeit zur Frage menschlicher Selbstentfaltung vorgelegt, die bei aller Strenge der Terminologie doch jenen existentiellen Kern freilegt, um den es aller Ethik geht. Spätestens mit dieser Untersuchung,18 aber auch nach neueren deutschen Beiträgen zu einer „Philosophie der Lebensgeschichte“,19 dürfte denn auch deutlich werden, daß die Versuche der Theorie autopoietischer Systeme, Biographien ohne ein Moment teleologischer Narrativität verstehen zu wollen, aus systematischen Gründen zum Scheitern verurteilt sind.

Die neuere philosophische Diskussion unterscheidet terminologisch zwischen Ethik und Moral, zwischen teleologischen und deontologischen, zwischen Güter. und Pflichtethiken. Moralische Theorien sind Theorien, die das, was allen Menschen unbedingt geboten ist, ermitteln wollen. Das sind in aller Regel unparteiisch eingeführte Gerechtigkeitsgrundsätze, d.h. Prinzipien für eine angemessene Verteilung von Gütern und Übeln. Der „moral point of view“20 zeichnet sich – wie die Allegorie der Gerechtigkeit – dadurch aus, daß er bestimmten Interessen gegenüber systematisch blind ist. Auch Güterethiken interessieren sich für das, was allen Menschen gemein ist. Im Unterschied zu Pflichtethiken und im Unterschied zur Moral geht es ihnen aber nicht um die Frage, was unbedingt gerecht und daher geboten ist, sondern um die Frage, zu welchem Zweck Menschen überhaupt leben. Erst Güterethiken können (vielleicht) eine Frage beantworten, vor der die Moral in ihrem eigenen Bezugssystem verstummen muß: Warum soll ich überhaupt im Hinblick auf Gerechtigkeit handeln, warum überhaupt irgendwelchen Pflichten folgen? John Rawls, dessen begriffliche Mittel in diesem Kontext zureichen, unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus. Ein Perfektionsprinzip sei in seiner strengen Lesart „der einzige Grundsatz einer teleologischen Theorie, die die Gesellschaft anweist, Institutionen, Pflichten und Verpflichtungen so festzulegen, daß die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximiert werden.“21 Der von Rawls als Alternative erwogene gemäßigte Perfektionismus nimmt ein Perfektions- prinzip hingegen nur als ein Prinzip unter mehreren, das im Vergleich zu diesen sorgfältig abzuwägen sei.

Die sicherlich radikalste und bekannteste Variante des Perfektionismus findet sich im Werk Friedrich Nietzsches und seiner Idee vom Übermenschen, von der „blonden Bestie“ gar, eine Theorie, die keineswegs nur mißverständlich zum Hintergrund des europäischen Faschismus und Rassismus gehört. Daß Richard Strauss’ Tondichtung „Zarathustra“ Stanley Kubricks Film „2001“ an entscheidender Stelle instrumentiert, ist keiner effekthaschenden Absicht zuzuschreiben, sondern dem philosophischen Grundgedanken dieses Films, der mit dem Aufstieg des Menschen aus der Lebensform von Voraffen beginnt, um nach einer langen Weltgeschichte in einem kosmischen Baby zu enden: In der von Kubrick inszenierten überwältigenden Bilderwelt wird die Geschichte der Menschheit als Übergangsgeschehen dargestellt, gerade so, wie Nietzsche Kants Gedanken des Menschen als eines Selbstzweckes dementierte und damit auch in der Moralphilosophie einer radikalen Moderne zum Durchbruch verhalf: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. […] Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist […]. Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, daß der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“22

Systematisch widerruft Nietzsche in dieser Passage einen zentralen Lehrsatz der Moral der Aufklärung, nämlich Kants in der Metaphysik der Sitten ausgeführtes Prinzip, nach dem „der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck“ ist und er daher „weder sich selbst noch andere als Mittel zu brauchen befugt ist, […] sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“23

Und so läßt sich fragen: Wenn der Mensch kein Zweck ist, was ist dann überhaupt ein Zweck? Wenn der Mensch eine Brücke ist, dann ist er ein Mittel; offen bleibt lediglich die Frage, wozu? Und wenn es einen Zweck gibt, zu dem der Mensch ein Mittel ist, worin besteht dieser Zweck dann und wer setzt ihn sich in einer Welt nach dem Tode Gottes, die keine metaphysischen Vorgaben mehr kennt? Nach Nietzsche kann es nicht anders sein, als daß der Mensch sich selbst zum Mittel seiner Selbstüberwindung macht und sich ein Ziel steckt, das höher als er selbst ist. Welches wäre der Maßstab, anhand dessen sich bemißt, was höher und was niedriger ist? Für Nietzsche ist dieser Zweck der Übermensch, der ebenso Inbegriff wie reale Möglichkeit wahrer Individualität und überbordender Kreativität ist. Beider Entfaltung aber setzt die Befreiung von den undurchschau- ten Fesseln der Moral voraus. Diese Lehre hat vor allem in der von Nietzsches Schwester überlieferten Form eine rassistische und sozi- aldarwinistische Lesart erhalten, die nachvollziehbare Spuren bis in den tödlichen Rassenwahn der Nationalsozialisten gelegt hat24 Man beraubt sich jedoch aller Erkenntnischancen, wenn man bei der Lektüre Nietzsches vor allem diese eine Folgegeschichte in den Blick nimmt – wie man sich auch aller Erkenntnischancen beraubt, wenn man als hermeneutischen Schlüssel für das Werk von Karl Marx den Stalinismus nimmt. Die moderne Pädagogik, die mit dem Jahrhundert des Kindes ihren Anfang nahm, erweist sich nicht nur in der deutschen Reformpädagogik als zutiefst nietzscheanisch.

Im Werk von Ellen Key finden wir eine Lektüre und Entfaltung von Nietzsches Ideen, die die Fruchtbarkeit dieses Denkens sehr viel deutlicher werden lassen. Ellen Key, daran ist ein redlicher Zweifel kaum möglich, war eine Darwinistin, die den „Kampf ums Dasein“ sublimieren wollte und die bedauert, daß es bisher nicht gelungen sei, „dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen“25 Key war fest von der Unabgeschlossenheit, vom fortwährenden Werden des menschlichen Wesens überzeugt26 und zog aus dem Faktum der Evolution den Schluß, daß dort, wo es bereits eine Höherentwicklung gegeben hat, auch eine weitere Höherentwicklung möglich, wenn nicht gar wünschenswert sei27 Es ist diese, von Darwin und Galton unterschiedlich verstandene Evolutionstheorie, die in Verbindung mit einer Tugendethik, d. h. einer Ethik, die als ihr höchstes Kriterium die Heranbildung edler Charaktere sieht,28 die Pädagogik zur Wissenschaft macht: „Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet, daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird die Erziehung anfangen, Wissenschaft, Kunst zu werden.“29

Damit zielt Ellen Key auf eine durch wissenschaftliche Erziehungskunst gesteuerte Evolution der Gattung, die aber nicht – wie man meinen könnte – Entwicklung als Selbstzweck, als Religion30 ansieht, sondern als Unterpfand des Glücks: „Für das Kind wie für den Erwachsenen gilt Goethes Wort, daß Glück die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist.“31 „Unsere Fähigkeiten“ jedoch äußern sich im kindlichen Egozentrismus und Egoismus und das heißt auch in seinen Gefühlen, die für Key ohnehin der deutlichste Indikator für Individualität sind32 Das Gesetz der Individuierung gilt so als Gesetz der kleinen Abweichung vom Typus, als Erfüllung der gattungsbezo- genen Anpassungsleistung durch die Freigabe und Förderung individueller Macht33 Key verbindet schließlich – in einer systematisch überhaupt nicht, aber praktisch überzeugenden Weise – die antike Tugendethik der Heranbildung edler, glücksfähiger und glücklicher Charaktere mit einem ganz und gar modernen Gedanken: der Überzeugung vom Wert des Neuen als eines Selbstzwecks. „Die noch weiterlebenden Instinkte des Affen“, so führt sie in einer anthropologischen Nebenbemerkung aus, „verdoppeln beim Menschen die Wirkung des Erblichkeitsgesetzes, und der Konservativismus ist daher bis auf weiteres in der Menschenwelt stärker als das Streben, neue Arten hervorzubringen. Aber dieses letztere ist das Wertvollste.“34

Es dürfte deutlich geworden sein, wie weit sich Key in den Spuren Nietzsches von jeder herkömmlichen normativen Pädagogik entfernt und sich zwei Leitvorstellungen verschrieben hat, die von Christentum und Kantianismus gleichermaßen entfernt sind, ohne doch bedacht zu haben, ob und inwieweit diese Leitvorstellungen miteinander verträglich sind: hier das individuelle Glück, dort das Entstehen neuer Arten von Menschen. Ein Rückblick auf die klassischen, die antiken Theorien des Glücks, von Platon über Aristoteles bis hin zu den Epikuräern und Stoikern, würde sofort ergeben, daß sie alle von einer mehr oder minder konstanten Natur des Menschen und seiner Stellung im Kosmos ausgegangen sind und daher „Glück“ als eine Erfüllung menschlicher Wesensmöglichkeiten, nicht aber deren Neuerschaffung oder Neuerfindung verstehen. Auch die Ethiken des christlichen Abendlandes vertreten diese Auffassung, und noch Immanuel Kant hängt ihr in Teilen an. Sogar die nachidealistische Philosophie, namentlich bei dem christlichen Philosophen Kierkegaard und dem Aristoteliker Marx, zehrt von der Annahme einer gegebenen menschlichen Natur, hier in der Annahme ihrer konstitutiven Mangelhaftigkeit und Sündhaftigkeit, dort im Vertrauen auf ihre durch Praxis erreichbare Perfektibilität. Es war in der Tat erst Friedrich Nietzsche, der dieses – seit der Antike auch das Nachdenken über die Erziehung dominierende – Deutungsmuster außer Kraft gesetzt hat: An die Stelle eines Erfüllens vorgegebener und beschreibbarer Möglichkeiten des Menschen tritt jetzt der Gedanke seiner Neuerschaffung und mehr oder minder beliebigen Plastizität, eine Problematik, an der sich die philosophische Anthropologie von Scheler über Gehlen bis zu Plessner, von Mead über Foucault bis zu Judith Butler noch heute abarbeitet. Tatsächlich liegt die Exposition des Problems bereits in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht mit all seinen Dilemmata vor. Die Modernität dieser Exposition besteht zum einen in der schroffen und strikten Zurückweisung einer jeden transzendenten Sinnbestimmung des menschlichen Lebens und zum anderen im ebenso konsequenten Blick auf die nur naturwissenschaftlich leistbare Erklärung dieses Lebewesens: „Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“35

Nietzsche beerbt Kant in systematischer Hinsicht darin, daß er – wie anfangs angedeutet – Kants Lehre vom Menschen als des Menschen Zweck in normativer Hinsicht aufgibt, in explanativer Hinsicht jedoch radikalisiert und damit alle bisherige Anthropologie auf den Kopf stellt. Indem Nietzsche eine Philosophie am „Leitfaden des Leibes“ fordert und damit die bisherige Verankerung des Selbst aus dem eng umgrenzten Bezirk des Bewußtseins löst, visiert er eine Perspektive an, in der das Geistige nur noch als die Zeichensprache des Leibes gilt. Das Streben nach Glück, das sich in dieser Perspektive auslegt, erweist sich dann als das dem Bewußtsein oftmals unzugängliche Streben des Leibes nach Höherbildung, einer Höherbildung, die nicht mehr moralischen, sondern nur noch ästhetischen Kriterien folgt. Auch auf diesem Weg folgt Key ihrem Lehrer Nietzsche: „Die neue Sittlichkeit […] nimmt Humanismus wie Evolutionismus in sich auf. Sie ist von dem monistischen Glauben an Seele und Körper als zwei Formen desselben Seins bestimmt; von der Überzeugung des Evolutionismus, daß das psycho-physische Wesen des Menschen weder gefallen noch vollkommen, doch der Vervollkommnung fähig ist: daß es bildbar ist, gerade weil es konstitutiv noch nicht fertig ist.“36

Key hatte – anders als Nietzsche – einen scharfen Blick für die intersubjektivitätsbezogenen Komponenten der menschlichen Leiblichkeit, sprich für Sexualität und Erotik. Sie hatte erkannt, daß Nietzsche von der Liebe nichts wußte, „weil er vom Weibe nichts weiß“,37 und war bemüht, seine ihrer Auffassung nach zureichende Theorie der Elternschaft und ihrer Bedeutung durch eine Theorie der Erotik zu ergänzen, die durch verantwortungsvolle Elternschaft jenseits aller konventionellen Moral und eugenische Umsicht zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen wird. An dieser Schnittstelle konvergieren dann die beiden scheinbar widersprüchlichen Imperative individuellen Lebensglücks und gattungsbezogener Höherentwicklung und schießen zu einem neuen Glauben, einer diesseitigen Liebesreligion zusammen: „Die Bekenner dieses Glaubens wollen die geschlechtlichen Gefühle und Handlungen des einzelnen durch die Liebe bestimmen, vor allem weil sie glauben, daß das Glück des einzelnen die wesentlichste Bedingung auch für die Lebenssteigerung der Menschheit ist. Sie wollen die Erde mit Glückshungernden erfüllen, weil sie wissen, daß nur so das Erdenleben seinen innersten Willen erreicht, nämlich – in einem ganz neuen Sinne – Ewigkeitsmenschen zu bilden. Das Wort, das durch Eros Fleisch und Blut wurde und in uns lebt, ist das tiefste von allen: ‚Freude ist Vollkommenheit.‘ Wenn wir in diesem Wort Spinozas die höchste Offenbarung vom Sinn des Lebens empfangen, öffnet sich der Blick auch für den Zusammenhang des Daseins. Wir sehen ein, daß das vollkommenere Geschlecht im vollsten Sinn des Wortes hervorgeliebt wird.“38

Der Wille des Erdenlebens – Key präzisiert nicht, ob darunter nur das menschliche Leben zu verstehen sei – bestehe darin, „Ewig- keitsmenschen“ zu bilden, womit Nietzsches radikaler Modernismus mit seinem Glauben an die konstitutive, willkürliche Offenheit des Menschen aufgegeben und einer naturwissenschaftlich erweiterten Form des antiken Perfektionismus das Wort geredet wird. Allen Erschütterungen der Moderne zum Trotz gewinnt der Kosmos hier im ganzen nun wieder genau den Sinn, den er in der griechischen und biblischen Religion auch schon hatte. Obwohl es Key gelingt, die vermeintliche Widersprüchlichkeit von individuellem Glücksanspruch und gattungsbezogener Höherbildung zu überwinden, bleibt die Kluft zwischen zwei axiologischen Prinzipien, dem individuellen Glück und dem Selbstwert des Neuen, bestehen. Diese Spannung sollte ihren Niederschlag dort finden, wo nietzscheanische und dar- winistische Gedanken eine radikal emanzipatorische Politik instrumentierten – ein Einsatz, der heute kaum noch nachzuvollziehen ist.

Die systematische Wiederaufnahme der Kategorie des Eigen- interesses aber führt gegenwärtig auf der Linie von Aristoteles zu Rousseau direkt zur Neuformulierung einer Ethik der Tugenden39 Der Verdacht, daß diese Renaissance sowohl in der Sache als auch in der Wahl ihrer Begriffe zu Regressionen führt, scheint dabei nicht unbegründet40 „Tugend“ – dieser Begriff weckt einerseits unangenehme Erinnerungen an eine muffige Sexualmoral und provoziert andererseits aufgeklärte Distanz zu einem schönheitstrunkenen Übermenschentum. „Tugenden“ – das scheinen Charaktereigenschaften zu sein, die als Gewissen in erzwungene Jungfräulichkeit oder als „virtú“41 in selbstsüchtiges Haschen nach Ruhm münden. Diese Assoziationen treffen zu und verfehlen doch die Sache, um die es geht.

Um den Mißkredit, in den die Tugenden und ihre Theorie geraten sind, richtig zu verstehen, ist es unerläßlich, jene Zeit in den Blick zu nehmen, als sie erstmals veraltet schienen. Dieses Veralten hat seinen Ausdruck nicht zufällig in einer Kunstform gefunden, die wie keine andere der Artikulation der Leidenschaft dient – der Oper. Ihre Geschichte beginnt mit Jacopo Peris inzwischen verlorengegangener „Dafne“, die vor mehr als vierhundert Jahren 1597/98 in Florenz uraufgeführt wurde und dem Zweck diente, eine zeitgemäße Wiedergeburt der antiken Tragödie in der Sprache der Musik zu inszenieren. Mit dem musikalischen Werk des Mantovaner Hofmusikers Claudio Monteverdi erreichte die Gattung gleich zu Beginn ihren ersten Höhepunkt und zeichnete die Linien für alle künftige Entwicklung vor. Seither kreist die Oper um zwei Themenbereiche, um Liebe und Politik42 In der im Jahr 1607 uraufgeführten Oper „Orfeo“ nimmt sich Monteverdi des Mythos von der den Tod überwinden wollenden, aber darin scheiternden Liebe an, während die 1643 uraufgeführte „Krönung der Poppäa“ Liebe und Leidenschaft als Instrumente zur Erhaltung und Sicherung von Macht zeigt. Der Prolog zu dieser Oper besteht aus einem Dialog zwischen fortuna, virtu und amore, zwischen Glück, Tugend und Liebe.

„Deh, nasconditi o virtu, gia caduta in poverta“ – „Ach verbirg dich o Tugend“, hält die Allegorie des Glücks der Tugend entgegen, „die du längst in Armut gefallen bist, Gottheit, an die keiner glaubt, Gottheit ohne Tempel, Gottheit ohne Gläubige und Altäre, davongejagt, unzeitgemäß, verabscheut, unerwünscht“ – „…dissipata, dis- susata, aborrita, mal gradita.“ Die Tugend beschimpft in ihrer Antwort das Glück, jenes niedriggeborene, vor allem den Dummen holde Wesen, um sich selbst als ein reines unbestechliches Wesen zu preisen, das Gott vergleichbar sei. Beider Konkurrenz wird schließlich durch den Machtspruch des Gotts der Liebe, Amors, geschlichtet, der beide zu besiegen ankündigt und darauf wettet, daß die Welt allein durch seinen Wink verändert werde. Der Tugend, so wie sie in Monteverdis Oper auftritt, eignet von Anfang an ein belehrendes, pädagogisches Element: „Io sogn la tramontana, che sola insegno agl’intelletti humani l’arte del navigar verso l’Olimpo“ – „Ich allein bin der Nordwind, der den menschlichen Geist die Kunst lehrt, zum Olymp zu schiffen.“

Die „Tugend“ – handelt es sich bei ihr um eine Größe, die schon vor 350 Jahren in der norditalienischen Renaissance in ihrem unheilbaren Pädagogisieren als veraltet gelten mußte? Von welcher Art der Tugend ist in Monteverdis Oper die Rede? Die Tugend, die hier im Wettstreit mit Glück und Liebe unterliegt, repräsentiert eine bestimmte, stoische Ausprägung des Tugendbegriffs. Die Stoa ist eine der fünf auf Sokrates, Platon und Aristoteles folgenden philosophischen Positionen der späteren Antike: Skepsis, Atomismus, Epikuräismus, Kynismus und eben Stoizismus stellen sich der zentralen Frage griechischen Philosophierens,43 der Frage nach dem richtigen Leben als der Frage nach der Möglichkeit des Glücks.44 Diese Frage, die sich ebenso wie die Frage nach der Metaphysik nicht in der biblischen, der jüdischen und christlichen Tradition findet, spürt den Lebensmöglichkeiten des Individuums nach und geht – wiederum im Unterschied zur biblischen Tradition – im Grundsatz davon aus, daß es den Menschen wesentlich selbst gegeben ist, ihr Leben zu gestalten. Wo die biblische Tradition sich wesentlich der Frage des Unglücks und damit der Frage der Theodizee zuwendet, stellt die antike Tradition die Frage nach einer Anthropodizee des Glücks in ihr Zentrum. Sie beginnt dabei mit metaphysischen Annahmen, mit Annahmen über das Wesen des Kosmos und eines seiner Bestandteile, eben der menschlichen Natur in ihrem kontingenten und riskanten Wechselspiel mit anderen Menschen und der nichtmenschlichen Natur. Kynismus, Epikuräismus, Skepsis und Stoa unterscheiden sich dabei nicht in ihrer Zielsetzung, die in allen Fällen die menschliche Glückseligkeit in den Mittelpunkt stellt, und auch nicht darin, daß sie die Tugend oder die Tugenden als die wichtigste Voraussetzung für ein gelungenes, ein glückliches Leben ansehen. Die entscheidenden Unterschiede dieser philosophischen Schulen bemessen sich an der Einstellung nicht zu den Gesetzen der Natur, sondern zu den Gesetzen der Menschen – die etwa von den Kynikern im Grundsatz abgelehnt werden – und der Frage nach dem Verhältnis von Glück, Lust und Freiheit. Sind Lust und Freiheit miteinander zu verbinden? Sind Glück und Freiheit in letzter Instanz miteinander vereinbar? Lassen sich die pathischen Anteile der Seele, also die menschlichen Leidenschaften, sinnvoll in das Ganze eines Lebens integrieren, oder ist ihnen nur durch Distanz oder Beherrschung beizukommen? In pädagogischer Hinsicht scheint die Antwort von allem Anfang an eindeutig zu sein. Die bei Platon getroffenen Entscheidungen wirken bis heute fort. Der Begriff der „Tugend“ steht bei ihm vor allem für ein Programm wert- und ideenbezogener Einschränkungen, für die säuberliche Trennung von Affekt und Autonomie.

Daher ist es kein Zufall, daß das Thema der Tugend in der Erziehungswissenschaft gelegentlich dort auftaucht, wo sie sich der Entwicklung des menschlichen Lebenslaufs im ganzen zuwendet, vornehmlich in der Theorie der Erwachsenenbildung. Tatsächlich hat sie stets dem Verhältnis von Bildung und Bildungssoziologie, von Erwachsenensozialisation und erwachsener Existenz nachgespürt und dabei – im Fall erwachsener Menschen, die im Idealfall ihr Leben eigenverantwortlich führen – dem Bildungs- vor dem Sozialisationsgedanken Priorität eingeräumt. Das mag der speziellen Sache geschuldet sein. Stärker als andere pädagogische Subdisziplinen nämlich erfordert die Erwachsenenbildung die Einbeziehung sowohl wissenschaftlichen als auch alltäglich gegründeten Reflexionswissens. Dabei scheint der philosophischen Ethik eine besondere Rolle zuzukommen. Philosophische Theorien der Ethik haben es an sich, daß sie einerseits methodisch ungeschützt, und darin dem Alltagswissen nahestehend, Fragen stellen können, die die Wissenschaft nicht mehr stellen darf, und daß sie sich andererseits, darin der Wissenschaft nahestehend, von allem Vorverständnis radikal distanzierend auf das einlassen müssen, was den Alltagsverstand, auch und gerade den wissenschaftlich gebildeten, brüskieren muß. In einem klassischen Beitrag zum Verhältnis von Sozialisationstheorie, Sozialwissenschaften und Didaktik der Erwachsenenbildung findet sich ein auffälliger Verweis45 auf ein weiter nicht vermitteltes oder erläutertes Zitat aus Platons Dialog Menon, dem letzten der frühen Dialoge. Hier fragt Menon: „Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht gelehrt, sondern geübt? Oder ob sie weder angeübt, noch angelernt werden kann, sondern von Natur den Menschen einwohnt oder auf irgendeine Art.“46

So die Eingangssequenz eines Platonischen Dialoges, der sich unter Pädagogen deshalb besonderer Beliebtheit erfreut, weil in ihm mit der Anamnesislehre die Frage kognitiver Lernkonzepte angesprochen wird. Man würde den Menon jedoch mißverstehen, läse man ihn als erkenntniskritischen Traktat; tatsächlich geht es Platon um ein eminent praktisches Problem – um die Lehrbarkeit der Tugend. Wie in den frühen Dialogen üblich, endet auch dieser Dialog aporetisch, die Leserinnen und Leser bleiben um viele Fragen reicher, aber um einige Antworten ärmer zurück: „Zufolge dieser Untersuchung also, o Menon“, so läßt Platon seinen Sokrates sprechen, „scheint die Tugend, durch eine göttliche Schickung denen einzuwohnen, denen sie einwohnt. Das bestimmtere darüber werden wir aber erst dann wissen, wenn wir, ehe wir fragen, auf welche Art und Weise die Menschen zur Tugend gelangen, zuvor an und für sich versuchen, was die Tugend ist.“47

Bildung, die sich in diesem Sinne auf eine realistische Konzeption der Existenz von Erwachsenen und Jugendlichen – bei all ihrer radikalen geschlechts-, einkommens-, bildungs- und lebenslagenbezogenen Ungleichheit – einläßt, wird eine sozialwissenschaftlich reformulierte Theorie der Tugend schon allein deshalb entfalten müssen, weil sie anders ihre Adressaten und deren vitalsten Interessen, einschließlich ihres Glücksstrebens, verkennen würde. Erwachsene und Jugendliche lassen sich nämlich – im Unterschied zu Kindern – bilden, weil sie ihr Leben verbessern und bereichern möchten, weil sie unter dem Druck selbst nicht gesetzter Qualifikationsanforderungen ihrem von ihnen zu verantwortenden Leben eine Wendung geben wollen, das vor dem Ganzen ihrer Existenz bestehen können soll. Daß es der Erwachsenenbildung vor allem darum geht, die Zumutungen des gesellschaftlichen Umfeldes für den erwachsenen Menschen zu analysieren, ist der oft übersehene existentialistische Kern der neueren Theorie der Erwachsenenbildung. Sie zielt auf eine Theorie des Lebenslaufs, die jene Haltungen analysiert, die es Menschen ermöglichen, den Kontingenzen des Lebens in der Moderne zu entsprechen, also auf jene Kompetenzen und Performanzen, die zu einer angemessenen „Realitäts-“ und „Identitätsarbeit“ führen können. Sie sind der formale, keineswegs nur kognitive Rahmen, innerhalb dessen ein gelungenes Leben angestrebt werden kann: „Denn bei keiner der menschlichen Leistungen gibt es eine solche Beständigkeit wie bei den tugendgemäßen Tätigkeiten. Diese scheinen sogar beharrender zu sein als die Wissenschaften, und unter ihnen wiederum sind am beharrends- ten die an Rang höchsten, weil die Glückseligen am meisten und am dauerndsten in ihnen leben. Dies wird auch wohl die Ursache dafür sein, daß sie nicht in Vergessenheit geraten.“48

Doch Aristoteles hatte unrecht. Die tugendgemäßen Tätigkeiten waren schon bei Monteverdi dabei, ihrem Begriff nach in Vergessenheit zu geraten, die Sache selbst schlummerte unaufgeklärt in der Sprache der Qualifikations-, Kompetenz- und Performanztheorie vor sich hin. Die in einer Theorie der Tugend angelegte Frage nach der Glückseligkeit49 scheint zudem eine Frage zu sein, die von einer modernen, sozialwissenschaftlich ausgerichteten, explanativen Theorie kaum, von normativen Theorien bestenfalls vorsichtig und mit eher schlechtem Gewissen angegangen werden. Nicht nur ließ sich nach den Verwüstungen und Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr guten Gewissens von Glückseligkeit sprechen – wie sollte ein unverstelltes Glück im Wissen des Grauens möglich sein? „Aber selbst der endliche Anbruch der Freiheit“, so schließt Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft, „kann diejenigen nicht mehr erlösen, die unter Schmerzen gestorben sind. Die Erinnerung an sie und die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkeln die Aussichten einer Kultur ohne Unterdrückung.“50

Übrig blieb – mit guten Gründen – eine Ethik, die sich bestenfalls daran erinnern wollte, was die Frage nach dem guten Leben einmal bedeutete, und die statt dessen über die Beschädigungen menschlichen Lebens reflektierte.51 Ob sich die Frage nach dem Glück bzw. nach dem guten Leben überhaupt noch guten Gewissens stellen läßt, ob nicht jeder Versuch, angesichts dieser Geschichte subjektives Glück auch nur empfinden zu wollen, zwar verständlich, aber entweder sinnlos oder ungerecht ist, soll hier dahingestellt bleiben. Daß die meisten Menschen dem offenbar unauslöschbaren Streben nach Glück folgen, dürfte nicht zu bestreiten sein, ob „Glück“ als universelles menschliches Handlungsmotiv zu unterstellen ist, hingegen sehr wohl.52 Aristoteles – darin wird ihm Rousseau folgen – legt einen engen Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Tugend nahe, und zwar so, daß bestimmte Arten der Tugend, nämlich die beharrenden, von glückseligen Menschen auffällig oft gelebt würden. Damit ist der Begriff der „Tugend“ seit Beginn des abendländischen Denkens an die Reflexion über gelingende und mißlingende Lebensläufe geknüpft. Das Wechselspiel von Glück – d. h. von Zufall oder Geschick, von Tugend und Liebe, kurz: die wechselnden Konstellationen von bemühter Lebensführung und leidenschaftlichen Affekten, denen stets Kontingenz innewohnt – ist dabei jene Matrix, jener Hintergrund, vor dem ihrer selbst bewußte Individuen ihr Leben führen und führen müssen. Im Begriff der Tugend wird der Anspruch erhoben, das Verhältnis von angestrebten Tätigkeiten, seelischen Zuständen und widerfahrenen Kontingenzen alles in allem doch so steuern zu können, daß das gewollte und widerfahrene Leben schließlich im ganzen bejaht werden kann. Tugenden werden als jene Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten angesehen, die es einem Individuum ermöglichen, sein Leben den eigenen Wünschen gemäß zu meistern und darüber hinaus – und hier beginnen die Schwierigkeiten – ein Leben zu führen, das auch nach objektiven Maßstäben als „gut“ gilt.

Damit ist das zentrale Problem einer Tugendethik benannt und das für eine moderne Moral bisher Zulässige überschritten. In der Moderne schienen allein Fragen der Gerechtigkeit objektivierbar,53 alle Versuche, Züge des guten Lebens als „objektiv“ auszuzeichnen, ziehen mit guten Gründen den Verdacht auf sich, einer staatlich oder gesellschaftlich gelenkten Despotie über die Bedürfnisse, einer Vergewaltigung sogar zulässiger Wünsche das Wort zu reden. Können die Tugenden unter den Bedingungen der Moderne, d. h. unter Bedingungen einer – wenn auch intersubjektiv konstituierten, so doch – autonom gewordenen Subjektivität, überhaupt noch einen Beitrag zur Philosophie der Moral oder wenigstens zu einer allgemeinen Ethik leisten?54

Für die Pädagogik resultierte aus dieser Schwierigkeit ein neues Programm der Bildung von Subjektivität.55 Dieses mehr als zweihundert Jahre alte Programm erfordert heute eine Klärung des Begriffs der Subjektivität im Lichte sozialwissenschaftlicher Theorien. Ob „Subjektivität“ sich als ein Ensemble von Rollen präsentiert oder als ein in sich geschlossenes psychisches System; ob sie sich selbst transparent und zudem hochindividualisiert ist; ob sie ein Geschlecht hat oder als Dreiheit von sex, gender und Begehren auftritt; ob sie das Gefängnis des Leibes darstellt und sich am Ende als Produkt historisch gewordener machtgeprägter Diskurse versteht56 – stets geht es um den begründeten Verdacht, daß die vermeintlichen Freiheitsgewinne der modernen Subjektivität in Wahrheit auf undurchschauten gesellschaftlichen Zwangsmechanismen beruhen. Diese Kritik beerbt letztlich die stoische Distanz zum irdischen Leben.

In der modernen Pädagogik jedoch, in der Linie von Jean-Jacques Rousseau zu Ellen Key interessieren die Subjekte vor allem als Menschen, die in voraussetzungsvollen Sozialisations- und Erziehungsprozessen ihre moralischen Gefühle bilden und mithin Objekt und Subjekt einer „éducation sentimentale“ sind. „Ich fühlte, ehe ich dachte“, heißt es in den Bekenntnissen, „das ist das gemeinsame Los der Menschheit.“57 Rousseau stand dafür, jene Gefühle bis hin zu dem Punkt bildend zu kultivieren, an dem sie den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, in seiner politischen Gemeinschaft zu einem tugendhaften Bürger zu werden.

Tugenden sind, so wurde der Begriff eingeführt – unabhängig davon, ob man das klassische Gespann von Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Besonnenheit sowie Glaube, Liebe und Hoffnung oder einen anderen Kanon in Betracht zieht –, das Ensemble jener individuellen Verhaltensdispositionen, deren Zusammenspiel ein befriedigendes menschliches Leben verheißt. Wohlgemerkt: ein Ensemble! Eine Tugend tritt niemals allein auf; Tugenden haben es an sich, in welcher Kombination auch immer nur in Verbindung mit anderen aufzutreten. Dort, wo eine Tugend verabsolutiert wird, wie etwa das Streben nach Gerechtigkeit im Falle Michael Kohlhaas’, schlägt sie in Sünde um. Heilige und Helden sind keine tugendhaften Menschen. Tugenden sind aber auch nicht – wie vielfach mißverstanden – einfach der individuelle Niederschlag vorausgesetzter Werte. Tugenden sind vielmehr jene Eigenschaften von Personen, die es ihnen überhauptgestatten, sich zu vorfindlichen Werten ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechend verhalten zu können. Damit scheiden sie – nebenbei gesagt – als Kandidaten für pädagogisierende Moralfeldzüge von vornherein aus.

Entsteht jedoch mit dem Rekurs auf Tugenden nicht ein Problem für das Programm einer auf Demokratie und Partizipation zielenden, emanzipatorischen Pädagogik? Wird damit nicht das beste Vermächtnis einer ob ihres Intellektualismus ohnehin oft genug kritisierten Theorie preisgegeben? Wenn Moral die Lehre von den universal gültigen Kriterien richtigen Handelns ist, die Theorie der Tugenden jedoch eine Lehre von wesentlichen, in sich wertvollen Charaktereigenschaften, wie soll es dann möglich sein, zu einem Begriff der Moral, der Rechte und der Gerechtigkeit zu kommen? Rousseau gelang es nicht, diese Schwierigkeit, die später in der Marxschen Sozialphilosophie als Spannung von „bourgeois“ und „citoyen“ wieder auftauchen sollte, aufzulösen: „Wenn“, so heißt es im Emile, „anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, man ihn für die anderen erziehen will? Dann ist jeder Einklang unmöglich. Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen.“58

Rousseaus Alternative ist logisch gesehen nicht zwingend und behauptet gleichwohl ein reales Dilemma: Das Dilemma einer Bildung, die die einzelnen in die Lage versetzen will, ihr Glück zu finden, und sie zudem dazu befähigen möchte, für universale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten, stellt ein echtes, nicht nur begriffliches Problem dar, dem nur durch begriffliche Grundlagenarbeit und empirische Forschung beizukommen ist. Vor allem aber ist zu klären, inwieweit die so beanspruchte Theorie der Tugenden mehr sein kann als lediglich eine mit philosophischen Begriffen verbrämte Motivationspsychologie. Kann eine – sogar eine erneuerte – Ethik der Tugenden überhaupt systematische Ansprüche entfalten?

Theorien der Moral gelten im allgemeinen als Theorien der Kriterien richtigen, meist gerechten Handelns. Eine Theorie der Handlung jedoch, die sich nur auf die Begründung der Handlung und ihre absehbaren Wirkungen bezieht und nicht mindestens am Rande auch eine Theorie der Akteure und ihrer wesentlichen Eigenschaften enthält, bleibt systematisch halbiert. Eine richtige Handlung, die aus inakzeptablen Motiven vollzogen wurde, mag zwar immer noch insgesamt als besser gelten als ihre Unterlassung: Gleichwohl würde etwa eine Lebensrettung, die seitens des Retters ausschließlich und nur aus Gründen des Profits und der Ruhmsucht vollzogen wurde und die beim Fehlen dieser Bedingungen unterblieben wäre, kaum unsere Anerkennung als moralische Handlung finden. An dieser Problematik bricht das in der systematischen Moralphilosophie der Neuzeit verdrängte Thema der „Tugenden“ wieder auf und bestimmt seit neuestem den Fortgang der moralphilosophischen Debatte.

Dies zu bemerken, bedurfte es nicht erst der deutschen Übersetzung von Aufsätzen einer analytischen Philosophin, der in Oxford lehrenden Philippa Foot.59 Spätestens seit den Debatten um den Kommunitarismus60 und dem Erscheinen von Alasdair MacIntyres After Virtue im Jahre 1981 sowie den Arbeiten von Charles Taylor61 über starke Wertungen und die Quellen des modernen Selbst deutete sich an, daß die Frage nach den normativ ausgezeichneten Charaktereigenschaften von Personen nicht im engeren Bereich politischer Philosophie verbleiben würde. Es waren vor allem Entwicklungen des akademischen Feminismus im Rahmen der entwicklungspsychologischen Auseinandersetzung um die Denkbarkeit einer weiblichen Moral, die das hierzulande des Konservativismus verdächtige Thema auf die Tagesordnung setzte.62 Mit den Arbeiten etwa von Annette Baier oder Amelie Oksenberg-Rorty bzw. den deutschsprachigen Beiträgen so unterschiedlicher, oft einander entgegengesetzter Autorinnen wie Herlinde Pauer-Studer, Gertrud Nunner-Winkler und Onora O’Neill63, haben auch in Deutschland nicht nur ein neues Thema und ein neuer Tonfall, sondern auch ein erneuertes Paradigma in der Moralphilosophie Einzug gehalten. Betrachtet man außerdem die steigende Zahl von Veröffentlichungen zu Theorien des guten und geglückten Lebens sowie einer Ästhetik der Existenz,64 so zeigt sich, daß die von seriösen Moraltheoretikern aller Schulen bespöttelten Anstöße des späten Foucault zu einer Ethik der Selbstsorge65 nun ihre systematische Begründung erhalten. Die von Roger Crisp bzw. von E. F. Paul unter dem Titel How Should One Live oder Self-Interest herausgegebenen Anthologien sowie das schon 1992 erschienene Hauptwerk der neuen Richtung, Michael Slotes From Morality to Virtue, beweisen zudem, daß eine erneuerte Theorie der Tugenden in Argumentation und Begrifflichkeit ebenso „hart“ und technisch operieren kann, wie dies Utilitarismus und Kantianismus tun.

Im Zentrum der erneuerten, weil sich reflexiv auf die moderne Moralphilosophie beziehende Theorie der Tugenden steht ein Problem, das die reine, die kantianische Theorie der Moral ins Fach der empirischen Psychologie abschieben zu können glaubte: die Frage nach der Motivation zu einem von der Einsicht ins Richtige geleiteten Handeln. Aufgabe einer Theorie der Moral sei es, so die gängige Lesart, die mehr oder minder unbedingte Begründung von Kriterien richtigen Handelns, den „moral point of view“66, zu beweisen oder zu entfalten.

Die Beantwortung der Frage, ob und warum Menschen sich an diesen Kriterien orientieren, sei dagegen Aufgabe der Wissenschaft. Kant selbst war der Auffassung, daß die Triebfedern eines an moralischen Prinzipien, d. h. vor allem an moralischen Geboten ausgerichteten Handelns den Akteuren niemals zu Bewußtsein kommen können. Da Kant jedoch den Umstand durchaus anerkennt, daß die moralischen Akteure, um die es ihm geht, empirische, sinnliche Menschen sind, sieht er sich im Gegenzug gezwungen, eine vermittelnde Instanz, nämlich den Begriff eines reinen guten, freien und autonomen Willens zu konstruieren, der als hypothetische Größe postuliert werden muß, aber empirisch nicht nachweisbar ist. Anlaß dieser Operation ist die Konstruktion moralischen Handelns als pflichtgemäßen Handelns, als des Entsprechens einer weil formalen, deshalb unbedingt geltenden Norm:67 „Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde. […] Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun, oder aus Liebe zur Ordnung gerecht zu werden, aber das ist doch nicht die echte moralische Maxime unsers Verhaltens, die unserm Standpunkte, unter vernünftigen Wesen, als Menschen, angemessen ist.“68

Kants Unbehagen an dieser Lösung ist nicht zu übersehen und wird von ihm redlicherweise wieder und wieder artikuliert: „Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da sie sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist und die Neigung treibt, der Verstand nur die Mittel vorschreibt? Zusammenstimmung mit sich selbst. Selbstbilligung und Zutrauen. Die Triebfeder, die mit der Pflicht verbunden werden kann, aber niemals an deren Stelle gesetzt werden muß, ist Neigung oder Zwang.“69

Die ursprüngliche Lösung des Problems sollte darin bestehen, die Menschen dazu anzuhalten, sich in sinnvoller Weise als freie Wesen zu denken, um so zumindest einen Anreiz zu schaffen, sich so moralisch wie möglich, genauer müßte man sagen: sich wenigstens moralanalog zu verhalten. Kants klassische Lösung dieses Problems, nämlich eine zugleich empirische wie nicht leidenschaftliche Motivation für die Beachtung moralischer Gebote zu finden, bestand im Postulieren des Gefühls der „Achtung“ – ein Gefühl, das einerseits Wirkung des richtigen Verständnisses des moralischen Gesetzes sei und andererseits Ursache zu dessen Befolgung: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch kein Objekt anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist. Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft; Freiheit, deren Kausalität bloß durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt.“70

Diese Lösung gestattet es einerseits, eine in sich konsistente Theorie moralischer Regeln aufzustellen, verbietet es jedoch andererseits, die Frage nach ihrer Lehrbarkeit, Lernbarkeit und vor allem Anwendbarkeit zu stellen. Entsprechend klingen Kants Auskünfte zur Möglichkeit einer sittlichen Erziehung durchaus realistisch: „Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beiden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dies nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegenteile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, ob er gleich ohne Anreize unschuldig sein kann.“71

Unter diesen Bedingungen setzt auch Kant auf eine Bildung der Gefühle, wenn er fordert, Kindern richtige Gründe aufzustellen und sie begreifbar und annehmbar zu machen. Die Bildung der angemessenen Triebfedern zu moralischem Verhalten besteht in einer gezielten, argumentativen Verfeinerung basaler Affekte: Kinder „müssen lernen, die Verabscheuung des Ekels und der Ungereimtheit an die Stelle der des Hasses zu setzen; innern Abscheu, statt des äußern vor Menschen und der göttlichen Strafen, Selbstschätzung und innere Würde, statt der Meinung der Menschen, – innern Wert der Handlung und des Tun, statt der Worte, und Gemütsbewegung, – Verstand, statt des Gefühls, – und Fröhlichkeit und Frömmigkeit bei guter Laune, statt der grämischen, schüchternen und finstern Andacht eintreten zu lassen.“72

Die auf Kant folgende Moralphilosophie traute dieser Sublimationspädagogik bzw. der in ihr enthaltenen Zivilisationstheorie nicht und war bemüht, die Triebfedern der Moral in genau jenen „Gefühlen“ zu finden, die nach Kants Begriff der Moral mit ihr nichts zu tun haben konnten. An dieser Stelle setzen dann eine Reihe quasi naturalistischer Versuche ein, die entweder – wie der Kantianer Schopenhauer – eine natürliche Anlage zum Mitleid, oder – wie die unterschiedlichen Utilitarismen – einen Hang zur Luststeigerung postulieren, von psychischen Instanzen, die plausibilisieren sollen, warum Menschen nicht nur moralisch handeln sollen, sondern auch können.

Auf den ersten Blick erscheint uneinsichtig, warum ausgerechnet eine Theorie der Tugenden das mit Kants deontologischer Zweiweltenlehre gestellte Problem besser lösen können soll als teleologische Lehren wie Utilitarismus oder Mitleidsethik. In einem nämlich sind sich deontologische und teleologische Lehren einig: daß es bei einer Theorie der Moral um eine Theorie des Handelns aus allgemeingültigen, normativen Prinzipien geht, während doch eine Theorie der Tugenden sich vor allem für persönliche Haltungen und partikulare Lebensentwürfe zu interessieren scheint. Handlungen und ihre Kriterien hier, Haltungen und ihre Ziele dort – scheidet die Theorie der Tugend mit dieser Grundentscheidung nicht von Anfang an als eine Kandidatin zur Begründung einer Moral aus? Im Gegenteil: Eine Theorie der Tugenden kann zur Begründung einer Moral und Schließung jener Lücke, die Kant hinterlassen hat, deshalb etwas beitragen, weil sie vor einem von beinahe allen modernen Moraltheorien ängstlich gemiedenen Problem nicht zurückweichen muß, nämlich der Frage, warum Menschen überhaupt moralisch sein sollen. Diese Frage wird sowohl im Utilitarismus als auch in den meisten kantianischen Moralen – mit Ausnahme von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit – entweder agnostisch beantwortet oder unter Sinnlosigkeitsverdacht gestellt.73 So weist etwa der radikale Utilitarismus diese Frage als sinnlos zurück bzw. glaubt, über Moral nur mit solchen Menschen debattieren zu können, die schon moralisch sein wollen, während die transzendentalpragmatische Diskursethik ein gleichsam naturalistisches Konzept sprachlich vermittelter Sittlichkeit aufbietet, das die philosophische Frage entschärft bzw. mögliche Immoralisten konsequent pathologisiert.74 Dieser Preis für die Lösung einer philosophischen Grundsatzfrage scheint mindestens dann zu hoch, wenn noch nicht alle philosophischen Lösungen ausgeschöpft sind. Zu diesen nicht ausgeschöpften Lösungsversuchen gehört eine Theorie der Tugend, die mit der scheinbar partikularen, existentiellen Frage beginnt, was für ein Mensch ich im Kreise meiner Mitmenschen sein, als wer ich aufgrund welcher Eigenschaften anerkannt und geachtet sein will. Diesen Ausgangspunkt hat Kant ausdrücklich abgelehnt. In einer kritischen Untersuchung zu den unauslotbaren empirischen Motivationen (scheinbar) moralischen Handelns kommt er zu dem Schluß, daß „man doch in keinem Beispiel mit Gewißheit dartun kann, daß der Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde, ob es gleich so scheint; denn es ist immer möglich, daß insgeheim Furcht vor Beschämung, vielleicht auch dunkle Besorgnis anderer Gefahren, Einfluß auf den Willen haben möge.“75

Beschämung, Furcht oder die Erfahrung, mißachtet worden zu sein,76 ist zwar ein Ergebnis moralisch verpönter Verhaltensweisen, darf aber gleichwohl nicht zum Motiv des eigenen, moralischen Handelns werden. Sich an derartigen Gefühlen zu orientieren hieße, sein Handeln an anderen denn vernunftgemäßen Prinzipien auszurichten.

Im Unterschied dazu nimmt die Theorie der Tugend als Preis für die Möglichkeit, die Frage, warum Menschen moralisch sein sollen, beantworten zu können, Abstriche an einem absoluten Autonomieprinzip sowie einer Lehre vom reinen Willen hin. Diese Abstriche dürften um so eher zu akzeptieren sein, als auch die kantianischen Theorien der Moral – namentlich die Transzendental- bzw. Universalpragmatik von Apel und Habermas,77 die sich in dieser Hinsicht einig sind – mit ihrer Wendung zur Intersubjektivität einander anerkennende und sich auch affektiv begegnende Individuen in den Mittelpunkt stellen. Eine auf Intersubjektivität beruhende Theorie der Moral muß darauf verzichten, lediglich das Verhältnis des einsamen Subjekts zu einem ihm wie auch immer zugänglichen Moralprinzip ins Zentrum zu stellen, und wird die im Lauf der Sozialisation gebildete Moralität als Ergebnis von Anerkennungsakten verstehen, die allemal affektiv getönt sind.78

Entgegen dem ersten Eindruck, daß es einer Theorie der Tugend ausschließlich um Haltungen geht, ist weiterhin festzustellen, daß auch sie – gemeinsam mit Kantianismus, Utilitarismus und alltäglicher Moral – davon ausgeht, daß es bei der Moral tatsächlich ums Handeln geht. Haltungen sind Handlungsbereitschaften, Dispositionen, die sich aus moralischen Einsichten, moralischen Gefühlen und motivationaler Stärke zusammensetzen; Dispositionen, bei denen – sofern sie vorliegen – davon ausgegangen werden kann, daß Individuen im Falle entsprechender Herausforderungen auch so handeln werden. Tugenden setzen zwar einen guten Willen voraus, sind mit ihm aber nicht identisch. Tugendhafte Personen haben über einen guten Willen hinaus auch die Kraft, ihn unter gegebenen Umständen sinnvoll zur Geltung zu bringen; von ihnen weiß man, daß sie so handeln werden, wie sie es verkünden und wie es von ihnen erwartet wird. Sie stellen gleichsam personengewordene Garantien für richtiges Handeln dar.

Deshalb betont eine Theorie der Tugenden stärker noch als Utilitarismus und Kantianismus nicht so sehr den Aspekt des richtigen Tuns, sondern des richtigen Tuns. Indem die Theorie der Tugenden mit dem Alltagsverstand darauf beharrt, daß der Kern aller Moral das Tun des Rechten sei, nimmt sie eine Frage auf, die die abendländische Philosophie spätestens seit Platons Staat beschäftigt hat und innerhalb einer Lehre von den Kriterien richtigen Handelns – dem Programm von Kantianismus und Utilitarismus – nicht lösbar war: Warum soll man überhaupt moralisch sein, genauer, warum nicht nur moralisch denken, sondern auch moralisch handeln? Was veranlaßt einen Menschen, sein Selbstverständnis so zu bilden, daß er sich nur dann zu achten vermag, wenn er gemäß der Kriterien von Wohlwollen, Mitleid oder Gerechtigkeit handelt?

Utilitarismus und Kantianismus müssen bei der Beantwortung dieser Frage, der Frage nach der Motivation zur Moral sowie der Begründung von Moralkonzepten, mit spiegelbildlichen Schwächen kämpfen. Kantianische Entwürfe sind zwar in der Lage, universale Rechte und Pflichten, die allen Menschen gebühren, zu begründen, können dafür jedoch das Motivationsproblem nur unzureichend lösen. Den Utilitarismen, die durch ausdrückliche Berücksichtigung von Eigeninteressen bzw. ihre hedonistische Anthropologie das Motivationsproblem immerhin in ihre Begründung aufgenommen haben, gelingt es bekanntermaßen nicht, grundlegende Begriffe wie die des „Rechts“ nachzuvollziehen. Daß das „Recht“ letzten Endes dem Nutzen aufgeopfert werden könnte, ist ein Einwand, den alle Spielarten dieser Theorie, vom Handlungs- bis zum Regelutilitarismus, nicht widerlegen konnten. Vor allem aber, und das hat John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit nachgewiesen, verfehlen die Utilitarismen ihr eigenes, nutzenorientiertes Gerechtigkeitsideal, weil sie die dazu beanspruchte Instanz eines vorurteilsfrei abwägenden unparteiischen Beobachters, der die unterschiedlichen Eigeninteressen gewichtet, nicht konstruieren können. Rawls’ eigene, auf prudentialen Überlegungen zum angemessenen Eigeninteresse beruhende Konstruktion der Gerechtigkeit als Fairneß erweist sich dementsprechend als ein Kantianismus nicht der Form, sondern der Inhalte. Darin folgen ihm die Diskursethiken, die mit guten Gründen auf der Legitimität aller einzubringenden Interessen beharren.

Beide, Utilitarismus und Kantianismus – hier durchaus im Bunde mit dem Alltagsverstand –, stehen darüber hinaus hilflos vor einem Problem, von dem heute noch nicht einmal klar ist, ob und in welchem Ausmaß es in einer Theorie der Moral überhaupt zu berücksichtigen ist: der Frage nach der Legitimität des Eigeninteresses in Handlungskonflikten. Für eine Theorie der Tugend spricht im Sinne einer umfassenden und realistischen Klärung moralischer Orientierungen, daß sie ein meist vergessenes, verdrängtes oder tabuiertes, dafür um so dramatischeres Problem aller Moral offen anspricht: das Verhältnis von Eigen-, Nächsten- und Fernstenliebe. So zeichnen sich Kantianismus und alltägliche Intuition dadurch aus, daß sie unter Moral wesentlich selbstlose Einstellungen verstehen, während die Utilitarismen in dieser Frage zwar freimütiger argumentieren, jedoch das Gewichtungsproblem nicht lösen können: Selbst wenn meine wohlverstandenen Eigeninteressen zu berücksichtigen sind, von welchem Punkt an sind sie dann gegenüber dem Gemeinwohl zurückzustellen? Ist es den Akteuren tatsächlich moralisch zuzumuten, im Zweifelsfall ihre Eigeninteressen gänzlich zu vernachlässigen? Oder wenn diese Eigeninteressen – wie im Utilitarismus – berücksichtigt werden: Sind sie als gleichwertig mit den Eigeninteressen anderer zu gewichten und am Ende dann zu übergehen, wenn sie dem größten Glück der größten Zahl im Wege stehen?

Die Theorie der Tugend antwortet auf diese moraltheoretischen Probleme mit einem Rückgang von Kant über Hume zu Aristoteles. Sie konzeptualisiert Moral als Inbegriff der Kriterien und Dispositionen gerechten Handelns als eines wesentlichen Teils – aber eben nur eines Teils – des guten Lebens und weist darauf hin, daß unsere wertenden Haltungen bezüglich der Verteilung und Zumutbarkeit von Rechten, Pflichten und Gütern in vorreflexiven, moralischen Gefühlen wurzeln, die in einem Sachverhalte bewerten und zum Handeln drängen. In einer Theorie des komplexen Naturalismus läßt sich zeigen, daß sowohl Eigen- als auch Nächstenliebe, sowohl das Streben nach kognitiv ausgewiesenen Verteilungsregeln – das wäre Gerechtigkeit – für alle als auch besondere Loyalitäten zu Freunden und Verwandten wesentliche, unaufgebbare und unaustilgbare Dispositionen der Gattung Mensch darstellen. Es gehört zum Lebensvollzug der Angehörigen dieser Gattung, sich je neu und dem Stand gesellschaftlicher Differenzierung entsprechend in unterschiedlichen Sphären auf unterschiedliche Verteilungs- und Zumutbarkeitsregeln einigen zu müssen. Die Motivation dazu darf in einem naturalistischen Programm einfach vorausgesetzt werden. Diese naturalistische Setzung ist denn auch das Hauptmotiv der aktuellen Kritik der neuen Tugendethik.79 Tatsächlich scheint einer Ethik der Tugenden ein nicht zu beseitigendes voluntaristisches Element innezuwohnen. „Wir Europäer von übermorgen“, so projiziert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse eine antike Lehre in die Zukunft, „wir werden vermutlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unseren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unseren heißesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten.“80

Wenn Moral die Lehre von den universal gültigen Kriterien richtigen Handelns ist, die Theorie der Tugenden jedoch eine Lehre von wesentlichen, in sich wertvollen Charaktereigenschaften ist, wie soll es dann möglich sein, zu einem Begriff der Moral, der Rechte und der Gerechtigkeit zu kommen? Wiederholt sich hier nicht das Problem des Utilitarismus, wonach ob der gewählten Semantik von Interessen die jeder Moral inhärente Forderung nach Überparteilichkeit gar nicht mehr erreicht werden kann? Lassen sich überhaupt methodische Schritte angeben, auch ohne Inanspruchnahme kategorischer Forderungen, bestimmte Charaktereigenschaften auszuzeichnen und sie als sozial akzeptierte Dispositionen und Verhaltensweisen zu stabilisieren? Dem nächstliegenden Einwand, daß sich aus Charaktereigenschaften keine allgemeingültigen verbindlichen Verhaltensregeln ableiten lassen, könnte man immerhin entgegenhalten, daß die Frage, wie man in einer gegebenen Situation handeln soll, sehr wohl beantwortbar sei: „Eben so, wie eine tugendhafte Person in dieser Situation gehandelt hätte!“81 Verfällt diese Antwort nicht dem Vorwurf des Relativismus und Kontextualismus – daß es nämlich keinen Konsens darüber geben könne, welche Tugenden allgemein erwartbar sind, und mithin das für jede Moraltheorie unabdingbare Universalisierungsproblem unlösbar sei?82Und erhebt sich nicht, wenn dieser Konsens dennoch für möglich gehalten wird, der Einwand, daß dann eben an die Stelle kategorischer Imperative beim Tun oder Unterlassen die unbedingte Forderung nach dem „Besitz“ bestimmter Charaktereigenschaften bzw. das Postulieren einer „richtigen“ Kultur oder Lebensform tritt? Läßt sich zumindest eine allgemeinste richtige Lebensform für die Angehörigen der Gattung Mensch postulieren?83 Und wäre mit alledem gleichwohl nichts weiter erreicht als eine der Sache nach überflüssige Psychologisierung oder Kulturalisierung der Moralsemantik? Michael Slote hat deshalb den Vorschlag unterbreitet, diese Vorwürfe gleichsam positiv zu wenden und den Weg, „Moralität“ als Ausdruck menschlicher Lebensverhältnisse zu verstehen, konsequent zu Ende zu gehen. Das heißt aber, anders als in der modernen Moralphilosophie, zur Bewertung von Handlungen und Handlungsbereitschaften nicht mehr kognitiv-evaluative Prädikate wie „richtig“ oder „falsch“, sondern sozial-evaluative Prädikate wie etwa „rühmlich“ oder „erbärmlich“ – Slote nennt diese Begriffe „aretaisch“ – zu verwenden.84 Damit wäre zumindest ein Zirkelschluß vermieden und die Sphäre intersubjektiver Anerkennung von Personen als der wesentliche Hintergrund dessen, was als moralisch zu gelten hätte, beglaubigt. Dann aber läßt sich immer noch nicht zeigen, daß eine Handlungsweise, die aus irgendeinem Grund in einer Kultur als „rühmlich“ anerkannt wird, deshalb bereits das Prädikat „gerecht“ verdient. Zwar mag in einer Kultur „Gerechtigkeit“ als Tugend hochgeschätzt werden, während eine andere „Demut“ als höchste Tugend ansieht – über die Gründe dieser Wertschätzung ist damit noch nichts gesagt und damit auch noch nichts darüber, ob diese zu Recht bestehen. Tatsächlich zielt eine der intersubjektiven conditio humana entsprechende Ethik der Tugenden auf eine Ethik der Lebensformen hin, wie sie etwa Martha Nussbaum als „aristotelischen Essentialismus“85 postuliert hat. Verallgemeinerbarer Maßstab der Bewertung von Kulturen und Lebensformen wäre dann ihr Potential, menschliches Leben in seinen basalsten Funktionen einschließlich des Strebens nach Glück gedeihen zu lassen.

Dieser Aspekt ist für eine Moraltheorie von besonderer Bedeutung, die sich auf wirkliche Menschen und nicht auf die von Utilitarismus und Kantianismus vorausgesetzten Fiktionen eines homo oeconomicus bzw. eines homo theologicus bezieht. Nachdem in der empirischen Moralforschung das kognitivistische Programm Lawrence Kohlbergs in vielen Hinsichten zusammengebrochen ist – sei es, daß die von ihm behauptete präkonventionelle Stufe bei Kindern kaum nachweisbar war, sei es bezüglich der kaum nachweisbaren motivationalen Kraft fortschreitender kognitiver Einsicht, sei es bezüglich der behaupteten Universalität der Stufen des moralischen Urteils –, treten Fragen nach moralischen Kontexten und Gefühlen wieder stärker in den Vordergrund. Dabei geht es nicht – wie man in der Kohlberg-Gilligan-Kontroverse meinen mochte – um die differentialpsychologische Frage, ob Frauen als biologische Wesen eine andere Moral haben. In dieser Hinsicht hatte Kohlberg recht – die Antwort konnte nur Nein lauten. Wohl aber geht es um die Frage, ob grundsätzlich unterschiedliche Moraltypen – solche, die Gerechtigkeit eher an vermeintlich unparteiliche, abstrakte Prinzipien binden, oder solche, die von wohlbegründeten, konkreten, unterschiedlich gewichteten Loyalitäten ausgehen – systematisch gleichwertig sind. Der systematische Vorrang eines bestimmten Verteilungsprinzips für alle Lebensbereiche – das hat nicht nur Michael Walzer86 gezeigt – läßt sich jedenfalls nicht begründen. „Wer Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit ablehnt, muß“, so Onora O’Neill, „anspruchsvollen Maßstäben gerecht werden; doch was diese Maßstäbe fordern, ist unweigerlich variabel und selektiv.“87

Was gerecht ist, erfährt in den Lebensbereichen von Politik und Öffentlichkeit eben eine ganz andere Bedeutung als in den von der systematischen – meist von Männern betriebenen – Philosophie ausgesparten Welten von Familie, Freundschaft und Liebe. Erst eine Theorie der Tugenden kann darüber Aufschluß geben, welche Formen von Wohlwollen, Mitleid, Einsicht und Pflichtbewußtsein, welches Amalgam moralischer Gefühle und Einsichten das „moralische Selbst“ von Menschen in ihrer ganzen Komplexität ausmachen.

Eine Theorie der Tugend vermag also speziell in der Pädagogik und der ihr entsprechenden Theorie moralischer Bildung im Unterschied zu den Reduktionismen von Kantianismus und Utilitarismus

•das Phänomen der Moral unverkürzt unter Einschluß der motivationalen Frage aufzunehmen;

•die Frage nach der sozialen Einbettung von Handlungsbereitschaften in auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Gemeinschaften zu thematisieren;

•die bisher übersehene Frage nach dem Eigeninteresse der Individuen und somit nach einer Bedingung ihres Glücks konstitutiv zu integrieren;

•der Komplexität und Disparatheit moralischen Fühlens und Denkens von Personen in der Spannung unterschiedlicher Sphären, aber eines von ihnen zu führenden Lebens, gerecht zu werden;

•umfassender und angemessener als bisher die Kooperation mit einer empirisch fortgeschrittenen, psychoanalytisch oder kognitivistisch verfahrenden Moralpsychologie aufzunehmen und damit den immer wieder eingeforderten Abschied von der Metaphysik abzuschließen.

Letzten Endes verbirgt sich hinter einer Theorie der Tugenden mit ihrer Betonung des Glücksanspruchs der Individuen jedoch nichts anderes als die alte materialistische Einsicht, daß umfassende Gerechtigkeit nur dann eintreten wird, wenn die Individuen sie als Teil ihres Glücks verstehen. Diese Einsicht muß nicht immer so grob daherkommen wie bei den von Brecht geschaffenen Charakteren Kalle und Ziffel: „Ich seh immer nur Handbücher“, hielt Ziffel seinem Freund Kalle vor, „mit denen man sich über Philosophie und die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man unten nur den Kant nicht kennte!“88

Bildung und Glück

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