Читать книгу Käpt'n Sansibo — Die Canneloni und die verbotene Insel - Micha Luka - Страница 4
2. Kapitel: Die Hüter des grünen Hauses
ОглавлениеKäpt’n Sansibo und Toby verließen die Kajüte. Kullerjan und Bullerjan schoben immer noch Wache.
»Kein Schleicher an Bord, Käpt’n«, riefen sie wie aus einem Mund.
»Gut Jungs, kommt mit. Wir schleichen uns an Adschid ran.«
Toby führte sie durch enge und verwinkelte Gassen, vorbei an vielen offenen Türen. Es wimmelte nur so von Menschen und der Lärm, den sie machten, war ohrenbetäubend. Die Kinder schrien, wenn sie die riesigen, einäugigen Matrosen sahen. Sie wussten ja nicht, dass Bullerjan und Kullerjan überhaupt nicht zum Fürchten waren. Käpt’n Sansibo kam der Weg endlos vor. Schließlich erreichten sie einen großen Platz, der von kleinen, weißen Häusern gesäumt war. Sansibo wusste sofort, dass sie am Ziel waren. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein riesiges Haus mit unzähligen Fenstern. Das große Eingangstor aus Dschungelholz war genauso dunkelrot wie Adschids Turban. Es stand offen und eine Menge Leute gingen hinein und kamen, beladen mit allen möglichen Waren wieder heraus.
»Das ist Adschids Haus«, sagte Toby. »Er hat da ein riesiges Lager und alle kaufen bei ihm ein. Er hat alle anderen Händler dazu gebracht, dass sie ihr Geschäft schließen.«
»Wie hat er das gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ein paar Männer für ihn arbeiten, die sehr unfreundlich werden können.«
»Aha. Kanns mir schon denken«, sagte Käpt’n Sansibo. Er hat die anderen Händler eingeschüchtert oder bedroht oder verjagt, stimmts?« Toby kniff die Augen zusammen und nickte.
»Aber das darf keiner wissen. Wenn Adschid herauskriegt, dass ich Ihnen davon erzählt habe, geht’s mir sehr schlecht«, flüsterte der Junge. Sansibo klopfte ihm auf die Schulter.
»Wie soll er das rauskriegen? Von mir erfährt er jedenfalls nichts.« Der Käpt’n blickte auf das Gewimmel von Leuten, die über den ganzen Platz liefen, wie Ameisen über ihren Ameisenhaufen.
»Ich glaub, es ist besser, wenn du nicht mit uns zusammen gesehen wirst. Warte hier in dieser Gasse. Wenn die Sache gelaufen ist wie geplant, kommen wir hierher zurück und du führst uns zur Canneloni, abgemacht?« Toby nickte.
»Sie haben sich alles gut gemerkt, Käpt’n?« Sansibo grinste breit hinter seinem Vollbart.
»Den Dreh werd ich nie vergessen, das kannst du mir glauben. Kommt Jungs, bleibt direkt hinter mir, damit wir uns in dem Durcheinander nicht verlieren. Bis später Toby.«
Käpt’n Sansibo bahnte sich mit Kullerjan und Bullerjan im Schlepptau einen Weg durch die Menschenmassen. Toby blieb zurück und verbarg sich in einer der vielen offenstehenden Türen. Er sah noch lange die Köpfe der beiden riesigen Matrosen, die alle anderen überragten, bis ein Tempelelefant ihm die Sicht versperrte. Ein mürrischer, alter Mann trieb ihn mit einem dünnen Stock durch die engen Gassen bis zum Tempel des schwarzen Panthers. Toby wich ihm aus. Sein Blick fiel auf ein Gesicht in der Menge. Er erstarrte vor Schreck.
»Oh nein, bitte nicht!« dachte er. »Nicht jetzt, ausgerechnet jetzt!« Und er begann fieberhaft nach einem Ausweg zu suchen.
Zur selben Zeit hatte Sansibo mit seinen beiden Matrosen das dunkelrote Eingangstor von Adschids Kaufhaus erreicht. Sie blieben stehen, um ein paar Frauen mit ihren Kindern vorbeizulassen. Ihnen folgten vier alte Männer, die jeder einen Korb trugen. Im Gegensatz zu dem Lärm draußen auf dem Platz und in den engen Gassen, war es hier drinnen ruhig wie in einer Kirche. Sansibo, Kullerjan und Bullerjan blickten sich staunend um. Sie kamen sich vor wie in einer riesigen Lagerhalle. Überall an den Wänden standen hohe Regale. In der Mitte waren unzählige Tische in langen Reihen angeordnet. Es gab alles zu kaufen, was man sich nur denken konnte. Der Duft von Mandarinen, Mangos und Äpfeln mischte sich mit dem von Knoblauch, Zwiebeln und Oliven. Gewürzpyramiden in rot, gelb und braun ragten aus hölzernen Schüsseln hervor. Stoffballen in allen Regenbogenfarben türmten sich auf den Tischen neben eisernem Werkzeug und bunten Glasvasen. Die Leute drängten sich an den Regalen vorbei und zwischen den Tischen durch. Viele griffen nach den edlen und köstlichen Dingen. Dann sprang jedes Mal ein Bedienter mit strengem Blick herbei und kassierte den Preis. Die Gold- und Silbermünzen klimperten leise, wenn sie in die schwarzen Beutel fielen.
Sansibo beobachtete aufmerksam, wie die Kassierer damit regelmäßig zu einem erhöhten Podest aus Holz liefen, das sich genau in der Mitte der Markthalle befand. Dort oben sah er von weitem schon einen dunkelroten Turban. Es war Adschid. Ihm entging nichts. Er hatte freien Blick nach allen Seiten. Die Kassierer leerten die mit Münzen prall gefüllten Beutel in eine große schwarze Truhe aus Ebenholz. Adschid stand neben ihr und hob jedes Mal den schweren Deckel. In der Luft lag das leise Gemurmel der Leute, die unaufhörlich hereinströmten.
»Lasst die Finger von den Sachen, Jungs. Sonst kommt gleich einer von Adschids Leuten und will Geld sehen.«
»Aye, Käpt’n, wir gucken bloß«, sagte Kullerjan und knuffte Bullerjan in die Seite, der vor einem Regal mit blitzblanken Kochtöpfen stehengeblieben war. In diesem Moment hatte Adschid die beiden riesigen Matrosen entdeckt und gleich darauf auch Käpt’n Sansibo. Er zeigte sein breites, zahnreiches Lächeln und winkte ihnen zu.
»Es geht los, Jungs. Bleibt hinter mir und haltet um Himmelswillen den Schnabel. Egal, was ihr zu hören bekommt, ihr sagt keinen Ton! Ist das klar?«
»Aye Käpt’n, wir gucken bloß«, sagte Bullerjan und stieß Kullerjan in die Seite, der gerade etwas sagen wollte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zu Adschids Podest durchgedrängelt hatten.
»Ah, Käpt’n Sansibo. Sie haben gehalten Wort und sind gleich gekommen in mein bescheidenes Haus. Die Treppe ist nicht steil. Sie erweisen mir viel Ehre, wenn Sie kommen herauf.«
»Der führt doch was im Schilde«, dachte Sansibo. Aber er ließ sich nichts anmerken. Furchtlos machte er sich an den Aufstieg. Adschid legt die Hand auf seine Brust und verneigte sich lächelnd.
»Euer Haus ist nicht bescheiden, es ist riesig«, sagte Sansibo etwas atemlos, »und die Treppe ist sehr steil.«
»Nun ja, nicht jeder ist dafür geeignet zu stehen hier oben«, erwiderte Adschid.
»Das glaube ich euch gern«, sagte Sansibo und wunderte sich im Stillen, wie der dicke Mann da wohl hinaufkam. Er wollte schnell zur Sache kommen.
»Wie ich sehe, habt Ihr Kurkuma zu verkaufen.«
»Gewiss. Allerbeste Ware.« Adschids Lächeln war wie eingemeißelt.
»Ich brauche acht Säcke, noch heute«, sagte Sansibo mit fester Stimme. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass einige Leute vor dem Podest stehengeblieben waren. Adschid hob beide Hände und verbeugte sich erneut, während er bereits im Geist die Goldstücke klimpern hörte.
»In diesem Fall«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »mache ich Euch einen Sonderpreis.« Er neigte den Kopf zur Seite und blickte Sansibo aus schmalen Augen an.
»Sagen wir: Zwölf Goldstücke pro Sack. Das wären dann 96 Goldstücke.« Sansibos Herz setzte für einen Schlag aus, aber er verdeckte seinen Schreck, indem er den Kopf zurücklegte und lauthals lachte. Das Lachen verjagte Adschids Lächeln und lockte noch mehr Neugierige an, die sich um das Podest versammelten. Adschid war etwas verwirrt.
»Ihr freut Euch über den guten Preis, nicht wahr?«, fragte er. Sansibo schüttelte den Kopf. Dann verschränkte er beide Arme und legte ebenfalls den Kopf schief.
»Der Preis ist sicher gut«, gab er zur Antwort, »aber nur für Euch. Ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Aber mein lieber Käpt’n Sansibo, besseres Kurkumagewürz werdet Ihr nicht finden, in ganz Indien nicht. Und der Preis ist mein letztes Wort. Ich muss es nicht verkaufen, aber Ihr wollt es haben. Ihr müsst es einfach nur bezahlen.« Der dicke Mann mit dem dunkelroten Turban breitete die Arme aus. »So ist das Geschäft.«
Sansibo ließ sich nicht beirren.
»Man hat mir erzählt, dass Ihr gut rechnen könnt. Man hat mir auch erzählt, dass Ihr gegen ein Spielchen ab und zu nichts einzuwenden habt.« Adschid zog die schwarzen Augenbrauen so hoch, dass sie fast unter seinem dunkelroten Turban verschwanden.
»Aber Käpt’n Sansibo, Ihr überrascht mich. An was für ein Spielchen habt Ihr denn gedacht?«
»An eine Wette.«
»Ha! Was für eine Wette denn?«
»Ich wette, dass ich schneller rechnen kann, als Ihr, Adschid, großer Gouverneur von Mangalore.« Sansibo biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, denn beinahe hätte er »Dicker Gouverneur von Mangalore« gesagt. Adschid winkte ab.
»Das ist nicht sehr spannend, denn Ihr habt die Wette schon verloren. Es gibt niemanden, der schneller rechnen kann, als ich«, sagte er und lächelte. Dieses Mal aber nur mit einem Mundwinkel. Er hatte sehr laut gesprochen und nun drängte sich eine Menschenmenge um das Podest.
Kullerjan und Bullerjan standen ganz vorne an der Treppe und wussten noch nicht, was auf sie zukommen würde.
»Das kommt doch wohl auf einen Versuch an, nicht wahr?«, rief Käpt’n Sansibo ebenso laut. Nun konnte Adschid keinen Rückzieher machen. Er verschränkte die Arme und sah Sansibo aus zusammengekniffenen Augen an.
»Bevor ich Euch den Gefallen tue, Käpt’n Sansibo, wüsste ich gern, wie er aussieht, Euer Wetteinsatz. Bin ich sehr gespannt, denn es ist offensichtlich, dass Ihr ja nicht einmal habt das Geld für ein paar Säckchen Kurkuma«, sagte er und lachte. Einige der Zuschauer lachten mit. Doch die meisten riefen »Pst!« und brachten sie zum Schweigen. Sansibo blickte Adschid scharf in die Augen.
»Wenn Ihr so viel wisst, dann macht mir doch einen Vorschlag.«
Adschid legte wieder seinen Kopf schief und blickte auf die Menschenmenge, die sich rund um das Podest versammelt hatte und gespannt zu ihnen hinaufschaute. Die Leute hatten noch nie erlebt, dass jemand zu Adschid hinaufdurfte. Da es nun auch noch dieser fremde Kapitän von diesem merkwürdigen Schiff war, warteten sie atemlos, was aus der Begegnung mit Adschid werden würde. Unter ihnen waren auch einige Gelehrte, die rasch übersetzten, was Adschid und Sansibo sprachen. Adschids Blick ging in die Runde und blieb an Kullerjan und Bullerjan hängen, den beiden größten und stärksten Männern, die er je gesehen hatte. Er drehte sich zu Sansibo um, der schon ahnte, was Adschid im Sinn hatte.
»Nun, Käpt’n Sansibo, wenn Ihr so sicher seid, gegen mich gewinnen zu können, dann könnt Ihr ja auch wagen einen großen Einsatz, hab ich Recht?«
»Jeden Einsatz, den Ihr vorschlagt, mit Ausnahme der Canneloni. Wie sollte ich wohl sonst das Kurkuma nach Sansibar bringen?« Adschid wedelte lässig mit seiner fetten Hand hin und her.
»Wenn Ihr verliert, bekommt Ihr kein Kurkuma, schon vergessen? Aber keine Angst, ich brauche Euer Schiff nicht. Was soll ich damit? Darauf warten, dass es untergeht oder von Piraten überfallen wird? Nein, Käpt’n Sansibo, habe ich eine andere Idee.« Er stieß mit seinem dicken Zeigefinger zweimal in die Luft. Kullerjan und Bullerjan kamen sich getroffen vor und zuckten zusammen.
»Eure beiden Matrosen geben ab eine prächtige Leibgarde für mich. Eine bessere kann ich mir gar nicht wünschen. Natürlich sie bekommen ordentliche Kleidung und einen Turban, der passt. Was meint Ihr dazu?« Als die beiden das hörten, liefen sie ganz rot im Gesicht an.
»Käpt’n!«, rief Bullerjan, »das geht auf gar keinen Fall gar nie nich!«
»So ’ne Windel kommt nich auf mein’ Kopf, Käpt’n!«, rief Kullerjan. Sansibo hob beschwichtigend seine Hände.
»Nur die Ruhe, Jungs. Ich hab nicht vor, euch als Leibwache für den Gouverneur hierzulassen. Die Sache ist ganz sicher.« Kullerjan und Bullerjan wurden bleich. Sansibo drehte sich langsam zu Adschid um.
»Also gut, Adschid, ich bin einverstanden. Aber es soll gerecht zugehen, findet Ihr nicht? Ihr könnt meinen Wetteinsatz sehen, daher möchte ich Euren Wetteinsatz ebenfalls sehen.« Adschid nickte, dann klatschte er zweimal in die Hände, worauf einer der Kassierer zu ihm eilte. Adschid rief ihm im Befehlston ein paar Worte auf Bengali zu. Wenig später schleppten acht Männer acht Säcke Kurkuma herbei und legten sie vor dem Podest neben Kullerjan und Bullerjan ab. Adschid zeigte sein breitestes Grinsen, als er sich zu Sansibo umdrehte.
»Nun, Käpt’n Sansibo, zufrieden?« Der Käpt’n nickte.
»Dann bin ich gespannt auf Eure Rechenaufgabe.« Sansibo zwinkerte den beiden großen, starken Matrosen zu, um sie zu beruhigen. Es half aber nicht, sie waren jetzt nicht mehr rot im Gesicht, sondern blass. Käpt’n Sansibo wandte sich Adschid zu.
»Wir wetten also, dass ich schneller rechnen kann als Ihr.« Er hob eine Hand. »Ich kann so schnell rechnen, dass ich das Ergebnis weiß, bevor Ihr überhaupt angefangen habt.« Adschid lächelte spöttisch und schwieg. Sansibo zog ein Stück Papier aus seiner Westentasche. »Wenn Ihr erlaubt«, sagte er zu Adschid, nahm einen Rötelstift, der auf der Ebenholztruhe lag und hielt ihn hoch. Mit diesem Stift notierte Adschid jeden Abend, was er den Tag über verdient hatte.
»Nur zu«, sagte Adschid.
»Gut. Zum Beweis werde ich auf dieses Blatt eine Zahl schreiben, es zusammenfalten und oben in Euren Turban stecken.« Adschid zog die Augenbrauen hoch, lächelte immer noch und breitete die Arme aus.
»Alles was Ihr wollt, Käpt’n Sansibo.« Die Menschenmenge mitsamt Kullerjan und Bullerjan beobachtete staunend, wie Sansibo seine Worte wahr machte. Er schrieb eine Zahl auf den Zettel so dass Adschid sie nicht sehen konnte. Dann faltete er das Blatt zusammen, bevor er es, für jedermann sichtbar, an Adschids Turban steckte.
»Mach dich bereit, Kullerjan«, flüsterte Bullerjan, »kann sein, dass wir gleich losrennen müssen, wenn der Käpt’n seine Wette verliert.«
»Wir rennen in die erste Gasse links«, flüsterte Kullerjan zurück, »wenn wir hier überhaupt rauskommen.« Und beide spähten mit großem Auge über die dichtgedrängte Menschenmenge hinweg zum Ausgang. Es kam ihnen so vor, als sei er viel zu weit entfernt. Sie sahen sich an und holten tief Luft.
»Seid Ihr bereit?«, fragte Sansibo Adschid.
»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte Adschid. Sansibo hob seinen linken Zeigefinger und sprach langsam und deutlich. Alle kamen mit, auch die Gelehrten, die jedes Wort für die vielen Zeugen dieser Wette übersetzten. Sansibo sagte also:
»Denkt Euch irgendeine beliebige Zahl zwischen eins und neunundneunzig. Verdoppelt sie. Zählt zwölf hinzu. Halbiert das Ergebnis. Und davon«, Sansibo machte eine Pause und sah dem immer noch grinsenden Adschid scharf in die Augen, »zieht Ihr die Zahl ab, an die Ihr zuerst gedacht habt.« Kaum hatte er ausgeredet, als Adschid auch schon rief:
»Sechs ist das Ergebnis!« Sansibo starrte ihn an.
»Ihr seid wirklich sehr schnell im Rechnen.«
»Habe ich Euch gewarnt, oder nicht, Käpt’n Sansibo«, erwiderte Adschid von oben herab und zuckte mit den Schultern. Sansibo nickte.
»So schnell habe ich wirklich noch keinen rechnen sehen. Er deutete auf den dunkelroten Turban. »Aber wollt ihr nicht nachsehen, was ich aufgeschrieben habe?«
Kullerjan und Bullerjan hielten die Luft an und der Rest der Menschenmenge sah atemlos zu, wie Adschid nach dem Zettel auf seinem Turban tastete. Schließlich kriegte er ihn zu fassen. Er hielt ihn mit einer Hand hoch in die Luft. Er warf Kullerjan und Bullerjan einen Blick zu.
»Ihr werdet euch schnell an so einen Turban gewöhnen. Er ist sowas wie eine Krone.« Die beiden schluckten schwer. Sansibo hatte seine Arme verschränkt und nickte wortlos zu dem Zettel hin.
»Ach ja«, sagte Adschid gelangweilt, »was steht denn da?« Er faltete ihn umständlich auseinander. Er sah, was darauf geschrieben stand und sein Blick wurde starr. Er starrte Sansibo an, er starrte den Zettel an, er starrte auf die Menschenmenge, die zurückstarrte. »Das ist unmöglich!«, rief er und schnappte nach Luft. »Wie habt Ihr das gemacht? Woher wusstet Ihr …« Er brach mitten im Satz ab. Der Zettel fiel ihm aus der Hand und flatterte auf den Boden. Einer der Gelehrten hob ihn blitzschnell auf.
»Käpt’n Sansibo hat die Zahl sechs aufgeschrieben!«, rief er, worauf Adschid ihm einen bösen Blick zuwarf. Sofort begannen die Leute zu flüstern und zu tuscheln. Ein Raunen ging durch die Menge und flog wie ein Vogelschwarm zum großen Eingangstor hinaus. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht in der ganzen Stadt: Adschid, der Unbesiegbare, der immer und immer gewinnt, hatte verloren!
Sansibo sah in Adschids Gesicht. Der kleine dicke Gouverneur stand da wie vor den Kopf geschlagen. Er begriff nicht, wie das passieren konnte. Sansibo wollte nicht abwarten, bis er es begriffen hatte. Er spürte, dass sie jetzt schnell handeln mussten. Kullerjan und Bullerjan blickten erleichtert zu ihm hoch. Er gab ihnen ein Zeichen.
»Nun Adschid, ich habe die Wette zweifellos gewonnen. Ihr habt das Kurkuma an mich verloren. Wir werden es jetzt mitnehmen«, sagte Käpt’n Sansibo. Adschid sah ihn an, als hätte er Sansibos Worte nicht gehört, doch dann nickte er ganz benommen. Kullerjan und Bullerjan hatten bereits die Kurkumasäcke paarweise mit festen Knoten zusammengebunden und die vier Paare hintereinander aufgestellt. Sie nahmen einen langen Balken, der neben dem Podest auf dem Boden lag, und schoben ihn unter den Knoten hindurch. Die Leute ringsum schüttelten die Köpfe. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie die beiden die acht schweren Säcke allein tragen wollten.
»Seid ihr soweit, Jungs?«, rief Käpt’n Sansibo und kam die steile Treppe herab.
»Jo Käpt’n, wird Zeit, dass wir verschwinden«, sagte Kullerjan.
»Jo«, sagte Bullerjan, »nicht, dass uns doch noch einer ’nen Turban verpasst.«
»Na dann — auf mein Kommando: Hebt auf!«, rief Käpt’n Sansibo. Und jetzt sah die sprachlose Menschenmenge zu, wie die beiden großen, einäugigen Matrosen den Balken mit den Säcken anhoben, als sei er nicht schwerer als ein paar Tüten mit Obst. Sie legten ihn sich auf die Schulter, Kullerjan, der vorne stand, auf die rechte und Bullerjan, der hinten stand, auf die linke. Die acht Säcke Kurkuma baumelten an dem Balken herab, wie an einer Wäscheleine. Und dann gingen sie los, gefolgt von Käpt’n Sansibo. Wieder ging ein großes Raunen durch die Menge und die Leute machten ihnen ehrfürchtig Platz. Adschid beobachtete ihren Abmarsch ohne ein Wort zu sagen. Doch als sie durch das Eingangstor verschwunden waren, fing er an, zu überlegen. Adschid konnte rasend schnell nachdenken und er war sehr schlau. Der Vorsprung von Käpt’n Sansibo und seinen beiden Matrosen war nicht sehr groß.
»Schneller Jungs, schneller!«, trieb Sansibo sie an, als sie draußen waren. »Da drüben auf der anderen Seite des Platzes wartet Toby. Los beeilt euch!« Kullerjan und Bullerjan strengten sich so an, dass sie sich den Atem für eine Antwort sparten. Von Weitem sahen sie schon die Gasse, in der sie Toby zurückgelassen hatten. Er würde sie durch das Gewirr der Altstadt sicher zum Hafen führen. Allein wären sie aufgeschmissen. Doch als sie in der Gasse ankamen, war von Toby keine Spur zu sehen. Er hatte sich in Luft aufgelöst. »Heiliger Klabautermann!«, stieß Sansibo hervor, »hier war es doch. Hier wollte Toby doch auf uns warten. Wo steckt er nur?« In diesem Moment war Adschids laute Stimme zu hören. Er rief etwas auf Bengali und es hörte sich gar nicht freundlich an. Sansibo drehte sich um. »Auch das noch!«, rief er. »Adschid hetzt seine Männer auf uns!«
Erinnert ihr euch noch, dass Toby ein Mordsschreck in die Glieder gefahren war? Im letzten Moment hatte er die Hüter des grünen Hauses entdeckt. Sie waren zu dritt unterwegs, wie immer. Toby war blitzschnell im Hauseingang verschwunden und die Treppe in den ersten Stock hochgerannt. Dort war er aus dem Fenster und an der Regenrinne entlang auf das flache Dach des kleinen Häuschens geklettert. Von hier oben konnte er den großen Platz vor Adschids Haus überblicken und in der anderen Richtung die schmale Gasse, in der er auf Käpt’n Sansibo hätte warten sollen. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Zwei seiner Verfolger sah er die Gasse entlang hasten. Der dritte musste im Haus sein. Toby hörte ihn, wie er die Treppe heraufrannte. Hier oben konnte er also nicht bleiben. Toby holte tief Atem und hielt die Luft an. Bis zu seinem nächsten Atemzug musste er sich was überlegt haben. Diese Methode hatte er sich angewöhnt, um immer schnell einen Ausweg zu finden, wenn es brenzlig wurde und das war in letzter Zeit oft der Fall gewesen. Er drehte sich im Kreis und suchte das Meer von Dächern ab, das sich um ihn herum ausbreitete. Hier kannte er sich gut aus. Seit seine Urgroßmutter Sania auf ihren Baum geklettert war, um in der anderen Welt zu verschwinden, hatte er sich oft auf die Dächer geflüchtet. Die allermeisten Häuser hatten nur ein Stockwerk. Sie standen direkt nebeneinander und fast alle Dächer waren flach, so dass Toby dort oben genauso spazieren gehen konnte, wie unten auf den Gassen und Plätzen. Auf jedem Dach stand oder lag irgendetwas herum: große Fässer aus Holz, um den Regen aufzufangen, Gestelle, auf denen Fischernetze zum Trocknen hingen, Tonkrüge in allen Größen, Regale aus Bambusholz, alte Fahrräder, große Truhen voller Gerümpel und überall dazwischen waren Wäscheleinen gespannt.
Toby hörte den dritten Mann schon ganz oben an der Treppe. Gleich würde er auf das Dach herauskommen. Und ausgerechnet dieses Dach war leer. Da war nichts, wo er sich hätte verstecken können. In diesem Moment trat sein Verfolger schnaufend ins Freie heraus. Es war der dickste der drei Männer. Für einen Augenblick war er von der grellen Sonne geblendet und hielt eine Hand vor die Augen. Toby konnte die Luft nicht mehr anhalten und atmete keuchend aus. Er sah nur einen Ausweg. Ein Gedanke an seine Urgroßmutter Sania schoss ihm durch den Kopf.
»Alles ist ganz leicht, bevor es schwer wird«, hatte sie oft zu ihm gesagt.
»Wie meinst du das?«, hatte er gefragt. Sie hatte ihre zerbrechliche Hand sanft auf seine Schulter gelegt und ihm tief in die Augen gesehen.
»Wenn du einen Weg gefunden hast und er dir richtig vorkommt, dann geh ihn. Denk nicht darüber nach, was alles passieren könnte. Je länger du nachdenkst, desto mehr Schwierigkeiten wirst du finden.« Dieser Satz klang ihm jetzt in den Ohren. Toby schloss die Augen und dachte: »Ich hoffe, du hast nicht nur gehen, sondern auch springen gemeint, Sania.« Er dachte diesen Satz noch einmal. Dann dachte er nichts mehr und rannte los so schnell er konnte. Als er den Rand des Daches erreicht hatte, riss er die Augen ganz weit auf und sprang mit aller Kraft so hoch ab, wie noch nie in seinem Leben und es war weit genug, um auf dem Dach des Hauses gegenüber zu landen. Toby konnte es nicht fassen: Er war einfach quer über die Gasse gesprungen.
Sein Verfolger sah wütend zu ihm herüber. Er schüttelte drohend beide Fäuste und fluchte laut. Daran merkte Toby, dass er ihm ganz bestimmt nicht nachspringen würde. Der Mann konnte höchstens die Treppe wieder hinunterrennen, die Gasse überqueren und die Treppe im anderen Haus wieder hochrennen. Doch bis dahin würde Toby längst verschwunden sein.