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Einleitung
ОглавлениеSterben und Tod sind Teile des einen und einzigen Lebens. Die letzten Abschnitte unserer irdischen Existenz. Dass diese Phase nicht einfach ist, liegt auf der Hand. Der letzte Abschied ist endgültig. Und er ist mit Schmerzen verbunden. Eine Konsequenz, die sich aus der Würde des Menschen ergibt, ist, dass er würdig sterben kann. So schmerzfrei wie möglich.
Dafür gibt es in unserem Land seit einigen Jahren Palliativstationen. Der Begriff palliativ leitet sich vom lateinischen pallium, „Mantel“, ab und bedeutet wörtlich „ummantelnd“. Die Maßnahmen der Palliativmedizin haben das Ziel, bei fortschreitenden unheilbaren Erkrankungen den Verlauf zu verlangsamen und Symptome wie Übelkeit, Schmerz oder reaktive Depressionen zu lindern. Die Palliativstationen sind keine Sterbehäuser, in die Menschen abgeschoben werden. Sie sind Häuser des Lebens, in denen dem letzten Weg, den ein Mensch gehen muss, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Palliativstationen schweben nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in eine Gesellschaft, in der in den letzten Jahrzehnten vermehrt und oft heftig, privat und öffentlich über das Thema „Sterbehilfe“ diskutiert, ja gestritten wird. Das hat auch damit zu tun, dass frühere Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Sterben und Tod nicht mehr selbstverständlich sind. Das hat auch mit dem Stellenwert der Religion in den modernen Gesellschaften zu tun. Ihr Einfluss ist zurückgegangen. Auch deswegen stellen sich neue grundsätzliche Fragen. Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod schwindet weiter, verdunstet. Man mag es bedauern oder nicht: Es ist so. Nicht selten tragen die entstandenen Unsicherheiten das Gesicht der Angst. Es ist eine neue Unübersichtlichkeit entstanden. Fragen stehen unvermittelt im Raum: Wie viel Freiheit habe ich? Was heißt Selbstbestimmung? Ist mit dem Tod alles aus oder geht „es“ doch oder noch irgendwie weiter? Welchen Sinn hat das Leben?
In der letzten Phase des Lebens entscheidet sich – ob man will oder nicht –, was das Leben war und ob es noch etwas ist oder sein wird. In diesen und vielen anderen unsicheren Kontexten spielt sich das tägliche und nächtliche Leben auf einer Palliativstation ab.
Die Titelformulierung Alles ist Übergang steht auf einer alten Brücke in der Nähe eines Klosters in meiner Heimat am Oberrhein. Ich las diesen Satz als junger Mensch. Er ist hängen geblieben in meinem Kopf und in meinem Herzen. Er bringt das symbolisch zum Ausdruck, was das Leben für mich in seiner Grundgestalt ist und bleibt: Übergang. Das Überschreiten der Brücke von einem Ufer zum anderen. Die Ankunft am Ausgangsufer, meine Geburt, haben andere für mich entschieden. Ich wurde nicht gefragt. Im Übergang entscheidet sich, was war, was ist, und – vielleicht – was sein wird. Ob ich ans andere Ufer kommen, ob ich sterben will oder nicht, danach hat mich auch niemand gefragt. Zwischen beiden Ufern ist die Brücke, mein Leben, die mich über Tiefen und Untiefen führt, über einen reißenden oder still dahinströmenden Fluss – vielleicht auch über ein ausgetrocknetes Flussbett. Auch darauf habe ich keinen Einfluss. Ich muss mich entscheiden: Annehmen oder Ablehnen. Die Alternative hat den Nachteil, dass ich zwar ablehnen kann, dass die Ablehnung mich aber nicht vor dem anderen Ufer bewahrt. Ich muss dorthin. Warum es so ist, bleibt ein unergründliches Geheimnis. Und ein schmerzliches.
Dieses Buch der Gespräche ist über einen längeren Zeitraum entstanden. Ich habe mich dafür entschieden, es bei den Gesprächen zu belassen, weil sie am Besten wiedergeben, dass es auf einer Palliativstation, bei den Kranken und ihren Angehörigen, bei den Ärztinnen und Ärzten, bei den Pflegekräften, bei den Psychologinnen und Psychologen und bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgern keinen fertigen Text gibt. Alles ist und bleibt im Fluss.
Zu danken habe ich den drei Schwerstkranken, die sich für ein Gespräch bereit erklärt haben. Das war keine leichte Sache. Ich werde sie in lebendiger Erinnerung behalten. Vor allem auch deswegen, weil ich angesichts ihrer spürbaren, sichtbaren, hörbaren Endlichkeit unendlich viel über mein eigenes Leben erfahren habe. Sie sind wenige Tage nach diesen Gesprächen gestorben.
Zu danken habe ich den Pflegekräften.
Zu danken habe ich den Ärztinnen und Ärzten.
Zu danken habe ich der Psychologin und der Seelsorgerin. Sie haben die laufenden Arbeiten jeweils für die Gespräche unterbrochen. Mein Respekt vor ihrer Arbeit ist mit jedem Tag gewachsen. Ich bin kompetenten, einfühlsamen, freundlichen und nichtroutinierten Menschen begegnet. Sie haben mich berührt.
Warum ich die Palliativstation an der Mainzer Universitätsmedizin gewählt habe, wählen konnte, hat seinen einfachen Grund in der Person des Leiters der Palliativstation, Prof. Dr. Martin Weber. Ihm bin ich seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden. In vielen Gesprächen ist die Idee zu diesem Buch entstanden.
Inmitten von Diskussion und Streit, die oft von Ideologie bestimmt sind über das, was am Ende unseres Lebens ist oder sein soll, wie weit unser kleiner Freiheitsraum reicht, um wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn es ums Letzte geht, wollte ich dieses Buch als „Argument“ beisteuern. Als ein Feuer in der Nacht.
Michael Albus