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Gespräche mit Sterbenden „Wenn alles weg ist, brauche ich keine Angst mehr zu haben.“ Gespräch mit Helmut Fink und Erika Fink-Grundmann
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Herr Fink, Sie wissen, dass sie bald sterben müssen. Ich will mit Ihnen und Ihrer Frau versuchen, auf das zurückzublicken, was hinter Ihnen liegt. Sie sind 75 Jahre alt. Können Sie mir erzählen, was Sie gemacht und gestaltet haben, woher Sie kommen, welche Erinnerungen Sie an Ihre Eltern haben? Wie ist Ihr Leben gelaufen?
Herr Fink
Ich bin im Jahr 1940 geboren. Mein Vater war Schneidermeister. Er ist 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallen. Ich habe ihn faktisch nie gesehen. Einmal nur, 1943. Ich kann mich aber nur schwach daran erinnern. Ich bin dann bei meiner Mutter und meiner Großmutter aufgewachsen. Die Großmutter war schon lange Witwe, und nun meine Mutter auch. Es waren arme Verhältnisse. Trotzdem hatte ich eine behütete Kindheit. In den Jahren nach dem Ende des Krieges bin ich in die Schule gegangen. Meine Mutter wollte immer, dass ich „auf’s Büro“ gehe, dass ich „was Besseres“ werde. Insgesamt ging es mir damit ganz gut.
Albus
Sie sind in Mainz geboren?
Herr Fink
Ja, ich bin in Mainz-Bretzenheim geboren und wohne immer noch im Haus meiner Eltern. Ich habe eine Lehre als kaufmännischer Industrieangestellter gemacht. Bei der Firma Blendax. Nach einer kurzen Episode als Weinverkäufer bei der Firma Pieroth habe ich dann bei der AZ, der Mainzer Allgemeinen Zeitung, begonnen.
Albus
War das Ihr Traumberuf oder sind Sie das aus Gründen, die mit dem reinen Gelderwerb zu tun hatten, geworden?
Herr Fink
Das war mein Traumberuf. Da ich zunächst mal bei Blendax und bei Pieroth gearbeitet hatte, konnte ich es jetzt kaum fassen, diese Stelle bekommen zu haben. Da habe ich auch endlich richtig gutes Geld verdient.
Albus
Wann und wie haben Sie denn Ihre Frau kennengelernt?
Herr Fink
Ich habe ja schon eine erste Ehe hinter mir. Meine damalige Frau habe ich in der Firma, bei Blendax, kennengelernt. Mit ihr war ich über 25 Jahre verheiratet. Diese Ehe ist dann nach den 25 Jahren einfach zerbrochen. Ich war dann eben wieder alleine. Aber nur recht kurz. Und dann habe ich meine jetzige Frau Erika, die mit uns hier am Bett sitzt, kennengelernt. Mit ihr bin ich schon wieder über 23 Jahre zusammen.
Albus
Wie haben Sie, Frau Fink, Ihren Mann kennengelernt?
Frau Fink
Rein zufällig. Wir haben uns vorher nie gesehen, haben nur telefoniert miteinander. Es war ein rein geschäftlicher Kontakt. Aber wir haben uns sympathisch gefunden. Zu der Zeit habe ich bei der Glashütte in Budenheim gearbeitet. Helmut hat dann gemeint, wir könnten doch mal mit einander etwas trinken gehen. Das haben wir dann gemacht. Und jetzt sind wir zusammen.
Albus
Wie ging das weiter? Haben Sie geheiratet?
Frau Fink
Nein, nein. Wir haben erst vor zwei Jahren geheiratet. Wir hatten vorher nie das Bedürfnis nach einer Heirat. Wir haben zwar ein paar Mal darüber gesprochen. Ich war ja auch verheiratet und habe von meinem Mann Rente gehabt. Das war ein schönes Nebeneinkommen. Nachdem Helmuts Krankheit ausgebrochen war, war ich schon davon angetan, seine Frau zu werden. Ich wollte als „Frau Fink“ weiterleben.
Albus
Haben Sie in der langen Zeit auch Kinder bekommen?
Frau Fink (lacht)
Nein! Er hatte drei und ich hatte zwei. Und wir sind heute noch alle in enger und bester Verbindung miteinander.
Herr Fink
Die haben mich auch alle hier schon besucht. Die sind voll integriert.
Albus
Das heißt also nicht: „Meine Kinder, deine Kinder“, sondern „unsere Kinder“?
Frau Fink
Ja! Wenn seine Tochter da ist, dann ist das meine Tochter, und wenn meine Tochter da ist, dann ist das seine Tochter.
Albus
Gehen wir nochmal einen kleinen Schritt zurück. Zu der Zeit vor Ihrem Eintritt in den „Traumberuf“ bei der AZ.
Herr Fink
In der Zeitung habe eine Anzeige gelesen: „Statistiker gesucht“. Ich hatte von Statistik zwar keine Ahnung, habe mich aber immer unwahrscheinlich für Zahlen und Statistiken interessiert … (Hat Mühe weiterzusprechen)
Frau Fink
Ich glaube vierzig Jahre hast du dann dort gearbeitet …
Herr Fink
Über vierzig Jahre! Mit 22 bin ich eingetreten und mit 63 ausgetreten. Ich war bei der Rhein-Main-Presse immer im Büro. Zuerst war ich Sachbearbeiter in der Anzeigenberechnung. Das war viele Jahre so, und die Arbeit hat mir große Freude gemacht. Der Anzeigenchef war glücklich und sehr zufrieden mit mir. Dann wurde das EDV-System eingeführt. Da war ich „dran“, weil ich der geeignete Mann war. (Muss trinken, weil ihm die Stimme versagt) …
Albus
Sie erzählen ja jetzt von dem, was man als „Lebensstrecke“ bezeichnen kann. Da treibt man alles Mögliche und es treibt einen alles Mögliche um. Schon in der Jugendzeit, in der man Beziehungen knüpft und manches andere versucht. Aber im Blick auf die Lebensstrecke frage ich, was außer dem Beruf oder der Familie für Sie besonders wichtig war, was Sie innerlich und äußerlich beschäftigt, umgetrieben, in Bewegung gebracht und gehalten hat.
Herr Fink
Als ich Erika kennengelernt habe, sind wir viel gereist. Das hing schon damit zusammen, dass Erikas Tochter in Mexiko war.
Frau Fink
Vorher waren wir auch oft in Paris, weil Helmuts Tochter in Paris lebte.
Herr Fink
Wir haben auch Reisen mit den Enkeln unternommen. Sechs Enkel haben wir und einen Urenkel.
Albus
Noch einmal: Was hat Sie in den Jahren besonders interessiert? Wie haben Sie miteinander gelebt?
Herr Fink
Wichtig war für mich die Welt der Pflanzen. Ich bin ein Pflanzenforscher – in Anführungszeichen. Es gibt im Mainz einen Verein, der heißt „Cyperus“ – das ist ein Pflanzennamen. Der Verein interessiert sich für Aquarien, Terrarien und Naturgärten. Im Verein habe ich oft über Pflanzen referiert.
Frau Fink
Anfangs war er ja Aquarianer. Dadurch ist er in den Verein gekommen. Aber dann hat er für die Aquaristik weniger Interesse gehabt und hat sich auf die Pflanzen- und Gartenseite verlegt, hat am Aufbau eines historischen Gartens in Mainz-Kastel mitgearbeitet. Dabei ging es um die Rekonstruktion eines Gartens aus der Zeit Karls des Großen. Das war einer der wenigen Gärten, die es dazu in Deutschland gibt, ein historischer Garten, in dem Pflanzen aus der Zeit Karls des Großen wachsen. Wir sind herumgereist und haben auch in Aachen den Garten angeschaut. Stolz sind wir darauf, dass wir mehr Pflanzen in unserem Mainzer Garten haben als die Aachener. Der lateinische Name heißt: capitulare de villis, nach Karl dem Großen.
Albus
In Ihrer freien Zeit haben sie solche Gärten angelegt?
Herr Fink
Ja! Aber davor gab es ja auch viele andere Interessen. Ich habe zum Beispiel Buntfische im Aquarium gezüchtet. Auch dazu habe ich Vorträge gehalten.
Ich habe immer mal wieder das Interessengebiet gewechselt. Dazwischen gab es Pausen.
Albus
Im Hintergrund – sagen Sie mir’s, wenn es anders ist – erahne ich eine große Liebe zur Natur.
Herr Fink
Das ist genau richtig. Damit wollte ich kein Geld verdienen! Ich habe das aus einem Herzensinteresse heraus gemacht. Geld habe ich verdient durch den Beruf. Mir ging es um das Erlebnis der Natur. Wenn wir zusammen gereist sind, haben wir immer wieder alte Klostergärten besucht, die uns Vorbilder oder Anregung sein konnten.
Frau Fink
Und wir haben Bücher und Bücher gekauft – meterlange Regale haben sich angefüllt – und dazu noch die Bibliotheken in Mainz ausgenutzt. Das war auch nun mein Interesse geworden. Wir haben alles zusammen gemacht. Früher hatte ich andere Interessen. Dieses habe ich durch ihn erworben. Und ich bin glücklich darüber. Das war wunderschön.
Herr Fink
Ja! Wunderschön!
Albus
Das finde ich auch sehr schön und interessant. Gerade in der heutigen Situation, in der die Natur eher zu „kippen“ droht durch die Ausbeutung der Menschen, bekommt das eine ganz wichtige Bedeutung. Sie haben Natur als etwas Schönes, Wertvolles, Lebendiges, Schützenswertes angesehen.
Herr Fink
Ja, das stimmt! Und schön dabei war auch, dass ich das zusammen mit meiner Frau gemacht und durchgehalten habe.
Albus
Haben Sie bei der Beschäftigung mit der Natur noch tiefergehende Fragen interessiert? Fragen über Leben und Tod, über Blühen und Vergehen zum Beispiel?
Herr Fink
Oh ja, solche Fragen haben mich schon beschäftigt. Intensiv. Ich habe mir viele Gedanken gemacht über die Tatsache, dass die Pflanzen vergehen. Es hat mich berührt, wenn ich sie sterben gesehen habe. Dann habe ich alles versucht, um sie so zu pflegen, dass sie wieder aufgeblüht sind. Meine Frau hat dann schon eher mal gesagt: „Tu’ sie doch weg!“
Frau Fink
Ja, manchmal sind sie sogar wiedergekommen, sind wieder richtig gesund und lebendig geworden. – Helmut schneidet keine abgestorbenen Blüten ab, er schneidet überhaupt nichts von den Pflanzen ab.
Herr Fink
Ich lasse alles deswegen dran, weil das der Natur vielleicht noch etwas nützen kann, zum Beispiel Nahrung für die Vögel sein kann.
Albus
Ihnen war daran gelegen – das höre ich jetzt heraus –, dass die Natur ihren Kreislauf bewahren kann, dass sie nicht nur ein Teil, sondern ein Ganzes ist.
Herr Fink
Ja! Darum ging es mir.
Albus
Frau Fink, haben Sie das immer alles mitgemacht oder nicht auch einmal gesagt: „So, jetzt reicht es mir!“?
Frau Fink
Ich habe das immer voll mitgemacht. Es hat mich fasziniert. Früher habe ich mich wenig für Natur interessiert. Die intensive Beschäftigung mit der Natur, das intensive Verhältnis zu ihr habe ich erst durch Helmut kennengelernt – und habe es dann auch geliebt.
Das war mir wichtig: Wir haben immer alles zusammen gemacht. Da gab es keinen Streit zwischen uns.
Herr Fink
Es gibt ja auch bei unterschiedlichen Interessen glückliche Ehen. Da könnte ich Beispiele nennen. Ein Bekannter hat Schlangen gezüchtet. Das war nicht das Interesse seiner Frau, und dennoch haben sie eine glückliche Ehe geführt. Unterschiedliche Interessen müssen kein Trennungsgrund sein.
Albus
Sie sind also durch das wachsende Gemeinsame mehr zueinander gekommen, aneinander gewachsen?
Frau Fink und Herr Fink
Ja, Ja! Unbedingt!
Albus
Ich beginne, mir das immer deutlicher vorzustellen durch Ihre Erzählungen: Sie haben zusammen ein ausgefülltes und erfülltes Leben geführt. Nach der Pensionierung haben Sie das weiter intensiviert, haben irgendwie ohne größere Sorgen gelebt, waren im Rahmen Ihrer Möglichkeiten glücklich. – Und jetzt auf einmal ist die Krankheit in Ihr Leben eingebrochen. Wie hat sich das angekündigt? Wie sind Sie, als Sie es wussten, damit umgegangen?
Herr Fink
Da muss ich noch etwas einschieben: Mein Verhältnis zu meinen Mitarbeitern, meinen Untergegebenen im Beruf war immer gut. Das war auch eine Erfahrung von Glück, dass sie immer, auch wenn es Schwierigkeiten gab, hinter mir und zu mir gestanden sind.
Albus
Es war Ihnen also auch wichtig, zu den Menschen ein gutes Verhältnis zu haben, die man normalerweise als „Unter“-Gebene bezeichnet.
Herr Fink
Darum habe ich mich immer bemüht. Ja, das war mir sehr wichtig!
Frau Fink
Helmut hat zu seinem Geburtstag von einer ehemaligen Mitarbeiterin ein Gedicht von Petrus Ceelen geschenkt bekommen, das für sich spricht und zeigt, wie sein Verhältnis zu den Berufskolleginnen und -kollegen war. Es lautete so:
Ein Geschenk
Manche Menschen wissen nicht,
wie wichtig es ist, dass sie da sind.
Manche Menschen wissen nicht,
wie gut es tut, sie nur zu sehen.
Manche Menschen wissen nicht,
wie wohltuend es in ihrer Nähe ist.
Manche Menschen wissen nicht,
wie viel ärmer wir ohne sie wären.
Manche Menschen wissen nicht,
dass sie ein Geschenk des Himmels sind.
Sie wüssten es nicht, würden wir es ihnen sagen.
Herr Fink
Als ich mich bei der ehemaligen Mitarbeiterin telefonisch dafür bedankte, haben wir gemeinsam miteinander geweint. Das habe ich davor noch nie gemacht. Ich bin kein Typ, der schnell weint.
Albus
Wir kommen wieder auf den Zeitpunkt des Ausbruchs Ihrer Krankheit zurück.
Wie hat sie sich angekündigt? Wie und wann haben Sie etwas gespürt?
Herr Fink
Ich habe Schwierigkeiten beim Wasserlassen gespürt. Mein ganzes Leben lang war ich jedes Jahr zweimal beim Urologen zur Kontrolluntersuchung. Da war immer alles ganz in Ordnung. Der PSA-Wert war immer ganz normal. Nun aber hat das Krankenhaus gesagt, nachdem die Prostata ausgeschält und die Untersuchung durchgeführt worden war: Krebs! Und zwar ein Krebs, der ausgesprochen aggressiv und lebensbedrohlich war.
Albus
Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?
Herr Fink
Für mich war das eine der härtesten Urteile, die ich je in meinem Leben bekommen habe. Und da mir niemand eine Prognose geben wollte oder konnte, habe ich gesagt: Also ich gebe mir noch drei Monate! Dann würde ich in das Grab steigen, das „Fink“ heißt … (Ringt nach Worten, kann nicht mehr weitersprechen).
Albus
Herr Fink, ich frage mal Ihre Frau, wie das war? Ich denke, dass diese Information wie ein Keulenschlag auf Sie niedergefahren ist.
Frau Fink
Bei dem Gespräch mit der Ärztin war ich ja dabei. Ich habe es nicht wie ein Keulenschlag empfunden. Ich habe es einfach weggeschoben. Habe mir gesagt: Das kann nicht sein! Helmut ist dann ziemlich schnell, nach fünf oder sechs Tagen, aus dem Krankenhaus gekommen und ist weiter beim Urologen in Behandlung gewesen. Es ging ihm ein ganzes Jahr so gut, dass ich einfach nicht an die schreckliche Nachricht glauben konnte. 2014 begannen dann wieder die massiven Beschwerden mit der verstopften Harnröhre. Er musste wieder ins Krankenhaus, ist wieder ausgeschält worden. Danach ging es wieder ein Dreivierteljahr gut. Aber im Dezember 2014, als Helmut und ich die Grippe hatten, ging’s ihm auf einmal ganz schlecht, weil noch weitere massive Beschwerden hinzukamen. Schließlich musste er akut ins Krankenhaus und ist dann operiert worden. Von da ab ging es nur noch schlecht und schlechter.
Albus
Sie haben gesagt, Frau Fink, das dürfe nicht wahr sein: diese Nachricht, dieser Befund. – Wieder zu Ihnen, Herr Fink: Wie hat das auf Sie gewirkt? Da sind Ihnen doch die widersprüchlichsten Gedanken durch den Kopf gegangen. Hat sich ein Überlebenswille gemeldet? Oder haben Sie sofort resigniert? Welche Gefühle haben Sie beherrscht? Was können Sie heute dazu sagen, wenn Sie sich zu erinnern versuchen?
Herr Fink
Meine Überzeugung war: Ich habe nur noch kurz zu leben. Ich habe zu Hause angefangen, aufzuräumen, war der Meinung: Das Leben geht jetzt nicht irgendwann, sondern bald, ja schnell zu Ende. Ich habe mich wirklich über jeden Tag gefreut, den ich noch erleben durfte. Ich war innerlich ganz ruhig und habe keine Hektik entwickelt.
Frau Fink
Wir sind sogar noch in Urlaub gefahren.
Albus
Herr Fink, haben Sie sich unter der Oberfläche des Alltags in dieser Zeit mit der Härte der Tatsache und dem, was daraus folgen könnte, auseinandergesetzt, oder haben Sie die neue Wirklichkeit verdrängt?
Herr Fink
Ich habe mich nicht mit der Tatsache auseinandergesetzt, weil ich relativ zufrieden war. Ich habe mir gesagt: Du bist jetzt 75 Jahre alt, bist eigentlich zufrieden.
Albus
Haben Sie sich bei aller Zufriedenheit nicht doch in Ihrem tiefsten Innern gegen dieses Urteil, das Ihnen der Arzt übermittelt hat, aufgelehnt?
Herr Fink
Doch, manchmal habe ich mich aufgelehnt. Aber anfänglich ging’s mir doch noch gut. Auch angesichts des Urteils der Ärzte habe ich keinen Anlass für eine Veränderung in meiner Lebensführung gesehen. Ich habe und hätte mir ja auch erlauben können, in Urlaub zu fahren und das oder jenes zu „drehen“. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte mein Leben ganz normal weiterführen. Ich wollte rausgehen, in den Garten, wollte sehen, was da wächst. Und ich wollte mit meiner Frau zusammen schön frühstücken. Wir haben begonnen – was ich vorher nie gemacht hatte –, morgens einen Piccolo zu trinken. Das hat uns genügt.
Albus
Frau Fink, war das so, wie es Ihr Mann gerade beschrieben hat?
Frau Fink
Nicht ganz! Nach der Diagnose hat sich Helmut im Internet oder in Büchern kundig zu machen versucht. Alles, was er kriegen konnte, hat er erforscht: Über Leute, denen es genauso ging wie ihm nun. Und wie die das erlebt haben. Wir sind in viele Vorträge gegangen. Helmut hat auch sein Essen total umgestellt. Er hat keine Kohlehydrate mehr, sondern nur noch Gemüse gegessen, weil Kohlehydrate den Krebs ernähren würden. Auch Fisch und Fleisch hat er gegessen. Am Frühstückstisch und auch bei den anderen Mahlzeiten hat er eine ganze Palette Gewürze verwendet, die ihm helfen sollten. Manchmal habe ich nicht mehr gewusst, ob ich das, was ich gekocht hatte, richtig abgeschmeckt habe. Ihm konnte keiner mehr, was seine Krankheit betraf, etwas vormachen. Auch der Arzt nicht!
Ich habe manchmal geschimpft mit ihm, weil er die Sachen gar nicht aus seinem Kopf rausgekriegt hat. Ich habe ihm gesagt: Was interessiert dich denn, wie der oder der gelebt oder gestorben ist. Lass’ es doch auf uns zukommen! Es wird doch alles gut! – Ich habe immer geglaubt: Das haben wir im Griff!
Albus
Sie hatten es dann nicht mehr im Griff.
Frau Fink
Ja! Leider ja!
Albus
Sie haben gedacht, es wird doch wieder gut. Und jetzt die Gewissheit, das Todesurteil: Es wird nicht mehr gut. – Was ist da mit und in Ihnen beiden vor sich gegangen?
Was hat es mit Ihnen, Herr Fink, gemacht? Haben Sie die Frage aufkommen gespürt, ob es danach irgendwie weitergeht? Ob etwas – etwa im Blick auf die Kinder – von Ihnen bleibt, was vielleicht sogar „ewig“ bleibt? (Herr Fink wird jetzt sehr müde, schließt die Augen, kann nicht mehr reden)
Frau Fink
Am Anfang, kurz nach der ersten Diagnose, hat mein Mann sich Gedanken gemacht, wie er seinem Leben ein Ende setzen kann. Er wollte den Leidensweg, der unmittelbar vor ihm lag, nicht mitmachen. Das war am Anfang ganz stark, hat sich aber, als er gemerkt hat, dass es ihm eigentlich noch ganz gut geht, wieder verflüchtigt. Er hat dann auch nicht mehr davon gesprochen. Später hat er seiner Tochter gestanden, dass er am Anfang daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Aber dann ging es ihm ja wieder gut, und er wollte das Leben noch genießen. Als aber die Schmerzen wieder kamen, musste halt etwas geschehen.
Dann haben wir uns hier bei der Palliativstation der Universitätsklinik gemeldet. Mitarbeiter von dort kamen zu uns nach Hause und haben mit Helmut gesprochen, haben ihm auch stärkere Schmerzmittel gegeben. Aber das hat alles nicht so richtig geholfen.
Albus
Herr Fink, haben Sie nach der entscheidenden Urteilsverkündung den Gedanken gehabt, sich das Leben zu nehmen? (Frau Fink gibt ihm etwas zu trinken)
Herr Fink
Ja, ganz am Anfang, als die Keule, das Urteil, kam, habe ich mich nach dem besten Sterbebegleiter umgesehen. Ich dachte, das Leben ist doch so nicht mehr sinnvoll. Gefallen hat mir nicht, dass ich dafür ins Ausland reisen und dort das tödliche Mittel einnehmen muss. Ich wollte mich lieber um das Grab kümmern. (Es fällt Herrn Fink sichtlich schwer, weiterzusprechen. Er seufzt immer wieder tief). Das war mir dann wichtiger. – Also ins Ausland reisen zu müssen, das hat mir nicht gefallen. Ich habe mich dann hier um einen Sterbebegleiter gekümmert, habe mich erst einmal ein bisschen informiert über diese Möglichkeiten. Dann habe ich aber auch immer wieder gedacht: Das Leben bringt doch auch jetzt noch schöne Momente. Warum soll ich mich umbringen? Damit war für mich das Thema eigentlich erledigt und kam auch nicht wieder.
Aber eins ist auch klar: Wenn ich nicht eine so fantastische Einrichtung wie die Palliativstation hier kennengelernt hätte, dann wäre der Gedanke unweigerlich wieder gekommen. Ich finde das so toll, wie ich hier aufgenommen wurde und versorgt werde. Das hat den Gedanken wieder vertrieben.
Albus
Haben Sie Zeit ihres Lebens einmal so etwas wie „Religion“ gehabt, wie den Glauben an etwas „Höheres“, an Gott vielleicht sogar?
Herr Fink
Ich bin, Gott sei Dank, am Anfang, in meiner Kindheit, den glücklichen Weg einer katholischen Kleinfamilie gegangen. (lacht) Ich war Messdiener … (lacht wieder)
Frau Fink
… Ja, Schauspieler war er … (Herr Fink lacht wieder)
Herr Fink
… Aber ich bin ja auch mal aus der Kirche ausgetreten, als meine erste Frau weggelaufen ist. Da habe ich gesagt: Jetzt bist du ein armer Mensch! Ich habe nur noch Fisch aus der Dose gegessen. Ich musste ja auch sparen. Nach ein paar Jahren bin ich wieder in die Kirche eingetreten.
Albus
Das ging und geht vielen Menschen so. Irgendwie kommt da im Laufe des Lebens eine Leere, die die Kirche nicht mehr füllen kann. Vor allem dann, wenn sie nur Formeln sagt und auf die Fragen und Nöte des einzelnen, konkreten Menschen nicht eingeht. – Aber abgesehen von der Kirche frage ich Sie jetzt noch einmal: Haben Sie Zeit Ihres Lebens an so etwas geglaubt wie „Gott“, wie ein „Höheres Wesen“, an eine Kraft, die es gibt, die, zum Beispiel, die Pflanzen aufblühen und wieder verschwinden lässt? Haben Sie daran geglaubt?
Herr Fink
Ja!, Ja! Von den Pflanzen habe ich vieles erfahren.
Frau Fink
Mir ging es ähnlich mit der Kirche. Als die Großmutter kontrollierte, ob ich auch zum Gottesdienst gehe, habe ich aus Angst mitgemacht, oder um einfach meine Ruhe zu haben. Als ich mich dann selbst entscheiden konnte, habe ich es sein lassen. Ich war aber immer Christin. Aber keine Kirchgängerin. Ich war in der Natur Gott oft näher als in der Kirche. Dort waren mir zu viele Heuchler. Die sind nach dem Gottesdienst draußen vor der Kirche gestanden und haben sich abfällig über die anderen unterhalten. Das hat man in der Natur halt nicht. Dort ist alles ehrlich.
Albus
Ich habe jetzt noch eine Frage an Sie beide. Zuerst aber an Sie, Herr Fink: Glauben Sie, dass nach dem Tod „alles aus“ ist, oder glauben Sie, dass irgendetwas vom Leben weitergeht? Sollte es nach Ihrer Auffassung irgendwie weitergehen? Welche Vorstellung habe Sie davon?
Herr Fink
Ja, das ist eine große Frage!
Albus
Sie zucken mit den Schultern. Sie wissen es nicht? Haben Sie das Gefühl, in etwas Dunkles, in eine große Nacht hineinzugehen? Haben Sie Angst?
Herr Fink
Nein! Nein! – Ich erinnere mich an die letzte Operation. Da habe ich vorher ein Schnäpschen gekriegt. Danach war ich weg. Und das war’s dann.
Albus
Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie in ihren Kindern, Ihren Enkeln und Ihrem Urenkel weiterleben? Gibt es da so etwas wie eine Hoffnung? Oder ist Ihr Tod einfach für Sie das Ende von allem? – Sie zucken mit den Schultern. Ich kann das gut verstehen. Es gibt viele, die vorgeben, etwas zu wissen, die vermuten, so oder so könnte es gehen. Und die am Ende doch nichts wissen, wissen können.
Sie gehen diesen Schritt! Sie haben keine Angst davor? Das habe ich mehrfach von Ihnen gehört.
Herr Fink
Nein, ich habe keine Angst davor.
Albus
Welche Gründe gibt es denn für Sie, keine Angst davor zu haben? Es gibt Menschen, die vor diesem Schritt, den sie unweigerlich gehen müssen, schreckliche Angst haben, sich mit Händen und Füßen dagegen wehren.
Herr Fink
Wenn alles weg ist, brauche ich keine Angst mehr zu haben. Angst hätte ich nur, wenn ich wüsste, dass ich ins Fegefeuer käme. (lacht).
Albus
Frau Fink, wie empfinden Sie das, was Ihr Mann gerade eben gesagt hat? Haben Sie ihn so erlebt? Erleben Sie ihn so?
Frau Fink
Ich weiß, dass er vor dem Leidensweg Angst gehabt hätte. Aber nicht vor dem Tod.
Albus
Also eher Angst vor dem Sterben?
Frau Fink
Ja! Darüber haben wir oft gesprochen. Das weiß ich. Vor dem Tod hat Helmut keine Angst gehabt. Er hat immer geglaubt, dass es irgendwie weitergeht. Dass es irgendwelche Energien gibt, die dann wirksam und wahr werden. Aber das kann man wahrscheinlich nicht erklären.
Albus
Das ist die Erfahrung vieler Menschen. Man weiß nichts Genaues, kann nichts Genaues sagen. Dennoch glaubt man daran, dass es doch irgendwie weitergeht, und dass nicht das Fallbeil fällt, wenn der Tod eintritt. Es gibt auch Menschen, die sagen: Wenn ich für immer die Augen zumache, ist alles aus, und es war alles nichts gewesen, was gewesen ist.
Wenn Ihr Mann sagt, dass er keine Angst vor dem Tod hat, dann ist das für mich eine starke und positive Botschaft: Er hat ein gutes und sinnerfülltes Leben gelebt. Deswegen braucht er keine Angst zu haben.
Herr Fink
Ich habe wirklich die unzerstörbare Hoffnung, meine Frau wiederzusehen.
Albus
Haben Sie diese Hoffnung auch, Frau Fink?
Frau Fink
Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Aber ich hoffe ja, dass man sich irgendwie wieder erkennt.
Albus
Kann man sagen, dass die gegenseitige Liebe und die Sehnsucht, sich liebend wiederzusehen, einem über den Tod hinaus Hoffnung gibt? Kann man das so sagen?
Herr Fink, Frau Fink
Ja das ist so!
Albus
Dann ist es im Endeffekt auch gleichgültig, welche Vorstellungen man von einem „Danach“ hat. Wenn es Liebe zwischen zwei Menschen gibt, gegeben hat, dann ist das etwas, was über den Tod hinausgeht, was stärker ist als der Tod. Und den Traum, die Sehnsucht und die Möglichkeit wachhält, dass man sich wieder sieht, wieder erkennt – danach. Dass man nicht gestorben ist, wenn man gestorben ist.
Herr Fink, Frau Fink
Ja! Ja!
Albus
Herr Fink, haben Sie noch einen Wunsch, wie Sie sterben möchten?
Herr Fink
Eigentlich so, wie es mit allem jetzt und hier ist.
Albus
Ich habe mehrfach herausgehört, wie wohl Sie sich hier in der Palliativstation fühlen. Da wird Ihnen nicht zum Tod verholfen, sondern beim Sterben geholfen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Herr Fink
Ja, das ist wirklich so.
Frau Fink
Wir fühlen uns hier wie zu Hause. Das muss ich wirklich sagen. Helmut fühlt sich hier wohl. Ich versuche jede Minute, die ich kann, bei ihm zu sein. Wir müssen sehen, wie es jetzt weitergeht. Jedenfalls ist es gut, dass er gut sterben kann. Das ist sehr viel wert. Dafür muss man dankbar sein.
Herr Fink
Ja, sehr dankbar!
Frau Fink
Ich fühle mich gut eingebunden in meine Familie, die mich liebt. Es ist so wichtig, dass man einen Raum hat, in dem man sich geborgen und aufgehoben fühlen kann. Oder Helmut? Du fühlst dich doch aufgehoben und geborgen bei uns allen?
Herr Fink
Ja, ganz unwahrscheinlich!
Albus
Was kann man Besseres und Schöneres geschenkt bekommen in einer Welt, in der immer mehr Menschen allein und einsam sterben müssen!
Herr Fink
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich nicht so eingebunden wäre. Dieses Eingebundensein ist ein starkes Mittel gegen die Angst vor dem Sterben.
Frau Fink
Vorhin haben Sie, Herr Albus, davon gesprochen, dass man in seinen Kindern irgendwie weiterleben wird. Ich glaube, das ist so.
Albus
Aber auch die Kinder müssen wieder sterben.
Frau Fink (lachend)
Aber auch die Kinder kriegen wieder Kinder.
Albus
Damit will ich aufhören, weiter Fragen zu stellen. Es war anstrengend für Sie, Herr Fink und auch für Sie, Frau Fink. Für mich auch. Aber ich bin einfach nur dankbar für das, was Sie gesagt und zum Ausdruck gebracht haben. Die Freude darüber ist stärker als der Schmerz, den Sie – und auch ich – empfinden.
Herr Fink
Es war mir wichtig, dass ich nochmal über alles reden konnte.