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Vorwort

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Flüchtling, Migrantin, Migrant, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Schmerz, Folter, Ware Mensch, Schlepper, Zaun, Mauer, Wachhund, Hetzjagd, Boot, Polizei, Brandanschlag, Zelt, Willkommenskultur, Erstaufnahme, Duldung, Abschiebung – nur ein paar Worte aus einer endlosen Litanei, die in unseren Tagen und Nächten, in unseren Jahren, Monaten und Wochen heruntergebetet wird. Aber die, um die es wirklich geht, die Menschen auf der Flucht, führen ein Schattendasein. Sie wollen ihrem Schatten entfliehen, ins Licht kommen. Das ist ihr innigster Wunsch.

Flucht – ein Reizthema. Die einen reizt es zu Ausbrüchen der Unmenschlichkeit, Brandsätze in Flüchtlingsunterkünfte zu werfen, zu hetzen, zu pöbeln. Die andern reizt es zu helfen, im Guten Hand anzulegen, wo immer es geht, sich zu schämen beim Anblick einer Not. – Es gibt noch eine dritte Gruppe. Es sind die, die alles verdrängen, sich abschotten im Wohlstand, Hornhaut auf der Seele haben, dicht machen. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss, eine Mauer. Flucht – ein Reizthema. Nicht vorübergehend. Nein, bleibend.

Wir erfahren über die, die unterwegs waren und sind, meist nur Klischees, hören stereotype Worte, sehen stereotype Bilder: Millionen auf der Flucht, Flüchtlingsstrom, Flüchtlingskrise, Migrationshintergrund, Kolonnen an Waldrändern, Menschen mit Bündeln und Kindern auf den Armen und an den Händen, Polizisten, Soldaten, die Zäune bauen, Warnungen vor Überfremdung, fahruntüchtige Schlauchboote, Busse, Züge, erschöpfte Gesichter.

Und das tote Kind am Strand des Meeres! – Schon vergessen?

Überhaupt die Kinder auf der Flucht! Geschichten von unabsehbarer Tragweite spielen sich hier ab. Ganze Leben werden davon geprägt.

Nach den neuesten Informationen sind weltweit fünfzig Millionen Kinder unterwegs, begleitet und unbegleitet, immer häufiger allein, ohne jede Begleitung. 17 Millionen sind innerhalb ihrer Heimatländer auf den Straßen, sind sogenannte Binnenflüchtlinge, 28 Millionen flüchten ins Ausland, jedes zweite Kind unter achtzehn Jahren ist von Ausbeutung und Missbrauch bedroht. Davon hören wir, lesen wir, sehen es und gehen vorüber, nehmen es hin in den täglichen Nachrichten! Aber hinter jeder Zahl, hinter jedem Bild steht ein persönliches Schicksal, eine Geschichte, ein Leben!

Das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen. Deswegen haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir sind zu denen gegangen, die nach ihrer Flucht bei uns angekommen sind. Wir haben sie gefragt nach ihren Ängsten, die überlebt haben, und nach ihren übrig gebliebenen Sehnsüchten und Herzenswünschen. Auch nach ihrem Leben vor der Flucht. Das war möglich, weil Elizabeth Fleckenstein die Sprachen der Angekommenen sprach, selber Krieg erlebt hat, in Frontlinien gearbeitet hat, und die Geflüchteten Vertrauen zu ihr hatten.

So konnten wir Berichte hören, bekamen Geschichten erzählt, die uns den Atem stocken und eine Ahnung in uns davon wachsen ließen, was im „modernen“ 21. Jahrhundert abgeht. Der Geschmack des Elends ist nicht mehr Tausende von Kilometern weit entfernt, sondern ist bis vor unsere Haustüre gekommen. Jetzt kann man nicht mehr einfach auf einen anderen Sender umschalten, nicht mehr einfach sagen: Ich wusste es nicht. Jetzt ist die ganze Gesellschaft damit konfrontiert. Altes, nichts Neues. Dafür aber brutaler als je zuvor. – Welches Gesicht trägt der Mensch?

Während wir an diesem Buch arbeiteten, starb Rupert Neudeck. Ein alter Flüchtling, Helfer und Freund in einem, der in die Abgründe unserer Zeit geblickt hat – und nicht davongelaufen ist. Kurz vor seinem Tod hat er noch einen Text verfasst, den wir in dieses Buch aufgenommen haben, weil er beispielhaft ist und erhöhte Nachdenklichkeit auslösen kann – in diesem, unserem Lande.

Wir wissen, dass das Thema, um das es hier geht, fast schon ironisch gesagt, eine Attraktivität ganz eigener Art hat. Das heißt: Es reizt, abzuwehren, zu sagen: Uns reicht’s! Wir wollen und können das nicht mehr lesen, hören und sehen!

Jedoch: Flucht und Vertreibung ist keine einzelne, auf bestimmte Regionen der Erde beschränkte Erscheinung. Flüchtlinge gibt es überall. Viele von ihnen führen auch deswegen ein Schattendasein, weil wir kaum oder gar nicht über sie berichten oder sie nicht in den Blickpunkt unseres persönlichen oder öffentlichen Interesses nehmen. Wir würden das Thema auch überreizen.

Um diesen „Reiz“ wussten und wissen wir. Und dennoch, oder gerade deswegen: Vergesst die Flüchtlinge nicht! In ihnen begegnen wir uns selber. Unseren humanitären Gipfeln und unseren zynischen Abgründen. Machen wir uns nichts vor: An dem Thema entscheidet sich, ob wir noch oder wieder zur Menschlichkeit fähig sind oder nicht. Es geht dabei um uns Menschen selber. Um nichts mehr, aber auch um nichts weniger.

Wir danken, denen, die den Mut hatten, offen zu sein. Ihre Namen haben wir geändert, damit sie nicht unter die Räuber fallen.

Herbst 2016

Elizabeth Fleckenstein Michael Albus

Schattendasein

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