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1. Aristoteles
ОглавлениеBedeutung von „Natur“
Das Wort „Natur“ wird in der heutigen Umgangssprache in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Wir sprechen von der Natur im Sinne des Zusammenhangs des Seienden in der Welt und insbesondere unserer Umwelt – zum Beispiel, wenn von Naturschutz die Rede ist oder wenn es um die Beziehung zwischen Natur und Geist geht. Und wir sprechen von der Natur einer Sache im Sinne dessen, was die wesentlichen Eigenschaften der betreffenden Sache sind, also was deren Identität ausmacht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Bedeutungen?
Ursprung des Naturbegriffs
Gehen wir zum Ursprung des Begriffs der Natur zurück. „Natur“, griechisch „physis“, ist von dem Verb „phyein“ abgeleitet, das mit „hervorgebracht werden, wachsen“ übersetzt werden kann. Die Physis ist der Bereich dessen, was von selbst ist, indem es in sich selbst den Anfang von Veränderung und Bestand hat. Die Physis eines Dinges ist das, was dieses Ding von sich aus ist – was der ihm innewohnende Anfang von Veränderung und Bestand ist. Wir sehen, wie hier die beiden heutigen Bedeutungen des Wortes „Natur“ zusammenlaufen – Natur als das, was ein Ding an sich selbst ist, und Natur als der Zusammenhang der Dinge, die von sich aus sind. In der ersten systematisch ausgearbeiteten Naturphilosophie, der Physik des Aristoteles (384–322 v. Chr.) [2–1], wird dementsprechend dem Bereich der Natur als dem Bereich dessen, was von selbst ist, nicht der Bereich des Geistes gegenübergestellt, sondern der Bereich der Technik als der Bereich der Dinge, die von uns hervorgebracht werden (insbesondere Buch 2, Kapitel 1). Geist im Sinne geistigen Lebens – Wesen mit Wahrnehmungen, Gefühlen, Wünschen, Gedanken und Absichten – gehört zur Natur, weil es zu dem gehört, was von sich aus ist.
Vier Arten von Ursachen
Im Hintergrund dieser Position von Aristoteles steht ein viel weiteres Verständnis von Ursächlichkeit als das heute übliche. Aristoteles unterscheidet vier Arten von Ursachen: die Form (eidos) und die Materie (hylé) eines Dinges, den Ursprung einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung, und das Ziel oder den Zweck (télos) einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung ([2–1], Buch 2, Kapitel 3). Jedes Ding in der Natur hat eine Form. Die Form ist insofern etwas Geistiges (Intelligibles), als sie dasjenige ist, was die Seele eines denkenden Wesens von dem betreffenden Ding aufnimmt und über das die Seele dann als Begriff verfügt: Die Form des Steines zum Beispiel ist im Stein und als Begriff „Stein“ in der Seele ([2–2], Buch 3, Kapitel 4 bis 8, insbesondere 431b 21–432a 1). Auf dieser Grundlage besteht kein Gegensatz zwischen Natur und Geist, sondern ein mehr oder weniger kontinuierlicher Übergang von unbelebtem Materiellen über Pflanzen und Tiere zu denkenden Wesen. Aristoteles konzipiert seine Abhandlung Über die Seele [2–2] als eine biologische Schrift, und er versteht die Seele als die Form eines lebendigen Wesens ([2–2], Buch 2, Kapitel 1; das Problem, wie der vernünftige Seelenteil verstanden werden soll, klammere ich hier aus). Die Formen sind unentstanden und unvergänglich in dem Sinne, dass es immer Exemplare jeder Art gibt.
Ferner hat jede natürliche Veränderung nicht nur eine Ursache im Sinne des bewirkenden Ursprungs, sondern auch ein Ziel oder einen Zweck. Das Handeln von Lebewesen aufgrund von Wünschen und Begierden einschließlich des absichtsvollen Handelns denkender Wesen fügt sich auf diese Weise in die Natur ein – und zwar in der Weise, dass sich das neuzeitliche Problem, wie Denken und absichtsvolles Handeln in die Natur integriert sein könnte, gar nicht stellt. Aristoteles’ Hauptargument dafür, von Zweckursachen auch im Bereich des Unbelebten zu sprechen, ist, dass sich auch dort Regelmäßigkeit findet. Aristoteles denkt Regelmäßigkeit eo ipso auf ein Ziel hin ([2–1], Buch 2, Kapitel 8, insbesondere 198b 33–199a 8). Die Mathematik wird nicht auf den Bereich des Veränderlichen angewendet; sie bezieht sich auf abstrakte Formen ([2–1], Buch 2, Kapitel 2).
Gegensatz zwischen Natur und Technik
Zwischen den Dingen der Natur (physis) und den Produkten der Kunst oder Technik (techné) besteht folgender Gegensatz: Im Falle von Produkten der Technik ist die Form zunächst im Geiste des Herstellenden, und der Zweck der Veränderung ist etwas, das der Herstellende setzt und das nicht dem Ding als solchem zukommt. Dieser Gegensatz besteht in Bezug auf die technisch hergestellten Dinge. Die Absicht, etwas durch den Einsatz von Technik herzustellen, gehört hingegen zur Natur des Menschen. Trotz dieses kategorialen Unterschiedes zwischen Dingen der Natur und Produkten der Technik vollenden die Produkte der Technik das, was in der Natur angelegt ist ([2–1], Buch 2, Kapitel 8).
Suche nach Unveränderlichem
Nicht nur die Physik des Aristoteles, sondern nahezu die gesamte altgriechische Naturphilosophie ist durch die Suche nach dem Unveränderlichen gekennzeichnet. Der von allen Seiten geteilte Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung vielfältiger Veränderungen. Die Fragestellung ist dann aber nicht, Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, nach denen diese Veränderungen selbst ablaufen, so dass sie berechenbar, damit beherrschbar und schließlich technisch nutzbar werden. Die Fragestellung ist vielmehr, was das Unveränderliche ist, das diesen Veränderungen zugrunde liegt. Das gilt nicht nur für Platon (428–347 v. Chr.) und Aristoteles, sondern auch für die altgriechischen Atomisten wie Demokrit (ca. 460–380 v. Chr.). Die Atome, die Demokrit annimmt, sind unveränderlich. Sie sind durch wenige grundlegende Eigenschäften gekennzeichnet – wie zum Beispiel Raumgestalt und Undurchdringlichkeit – die immer gleich bleiben (insbesondere Fragmente 68 A37, 68 A45, 68 A57, 68 B141 in [2–3]). Eine Ausnahme bilden lediglich Heraklit (um 480 v. Chr.) und dessen Anhänger, für die gilt, dass alles im Fluss ist, es also gar nichts Unveränderliches gibt.
Intrinsische Eigenschaften
Unter Bezugnahme auf Aristoteles können wir diese auf Unveränderliches fokussierte Position so kennzeichnen: Es gibt eine Vielzahl von einzelnen Dingen. Diese Dinge sind durch Eigenschaften gekennzeichnet, die den Veränderungen zugrunde liegen und die in den Veränderungen der Dinge erhalten bleiben (insbesondere [2–4], Kapitel 5, und [1–1], Buch VII). In philosophischer Fachterminologie ausgedrückt handelt es sich dabei um innere oder intrinsische Eigenschaften. Intrinsisch sind alle und nur diejenigen Eigenschaften, die ein Ding unabhängig davon haben kann, ob es andere Dinge gibt oder ob es solche nicht gibt. Es handelt sich also um Eigenschaften, deren Beschreibung in keiner Weise eine Bezugnahme auf andere Dinge erfordert. Ein Mensch zu sein ist ein Kandidat für eine intrinsische Eigenschaft, während Vater zu sein keine intrinsische Eigenschaft ist; denn Vater zu sein impliziert die Existenz einer anderen Person, deren Vater die betreffende Person ist.
Dieser Hinweis auf die Grundzüge der Naturphilosophie von Aristoteles soll den Hintergrund bilden, vor dem die zentrale Problemstellung der neuzeitlichen Naturphilosophie skizziert wird. Wir können heute nicht zu der altgriechischen Naturphilosophie zurückkehren. Antworten auf die heutigen Fragestellungen müssen aus der Reflexion auf die heutige Situation erwachsen, die durch einige Jahrhunderte neuzeitlicher Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Technik geprägt ist. Aber für diese Reflexion kann es hilfreich sein, alle philosophischen Konzeptionen im Bewusstsein zu haben, die zu unserer Tradition gehören.