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2. Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen
ОглавлениеRaum und Zeit nur Relationen
Die Position, dass Raum und Zeit kein eigenständiges Seiendes im Unterschied zu Materiellem sind, vertritt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Leibniz entwickelt seine Position in Auseinandersetzung mit Newtons Theorie. Die wichtigste Quelle ist sein Briefwechsel mit Samuel Clarke, der für Newton spricht [3–6]. Nach Leibniz sind Raum und Zeit nur Relationen zwischen Materiellem. Der Raum ist die Anordnung des zugleich Existierenden. Die Zeit ist die Anordnung des nacheinander Existierenden ([3–6], 3. Brief, §4; 4. Brief, § 41 und P.S.; 5. Brief, §§ 29, 47, 104). Der Bewegungszustand eines Körpers ist immer relativ auf den Bewegungszustand anderer Körper ([3–6], 3. Brief, § 5; 4. Brief, §§ 6, 13; 5. Brief, §§ 31, 47). Gegen einen absoluten Raum und eine absolute Zeit argumentiert Leibniz in folgender Weise: Da alle Raum- und Zeitstellen gleich sind, könnte es keinen Grund für Gott geben, Materie an einer bestimmten Raum- oder Zeitstelle zu schaffen. Selbst wenn der absolute Raum voll wäre, beständen mehrere, ununterscheidbare Möglichkeiten, die Materie in diesen Raum zu setzen – die Materie könnte zum Beispiel als ganze um 180 Grad gedreht sein; es könnte keinen Grund für Gott geben, eine dieser Anordnungen zu wählen ([3–6], 3. Brief, §§ 5–6; 4. Brief, § 15). Ohne Bezugnahme auf Gott können wir dieses Argument so formulieren: Wenn es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gäbe, dann beständen mehrere Möglichkeiten, wie das Materielle in Raum und Zeit angeordnet sein könnte. In allen diesen verschiedenen Möglichkeiten sind jedoch alle Relationen zwischen Materiellem gleich. Nur wenn man die Theorie eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit voraussetzt, gibt es einen Unterschied zwischen diesen Möglichkeiten. Nicht nur gibt es also kein empirisches Argument dafür, Raum und Zeit als ein absolutes, von der Materie unterschiedenes Seiendes zu denken; eine solche Konzeption führt vielmehr auch dazu, Situationen, die in Bezug auf die Anordnung von allem Materiellen ununterscheidbar sind, dennoch als real unterschieden anerkennen zu müssen.
Kein Kontinuum
Leibniz lehnt in seinem Briefwechsel mit dem Cartesianer Burcher de Volder (1643–1709) die Position ab, dass ein Kontinuum im Sinne von etwas, das nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, existiert: Ein Kontinuum involviert Unbestimmtheit. Unbestimmtheit kann es in Wirklichkeit nicht geben ([3–8], S. 282 mit Anmerkung/deutsch S. 181–183). Dieses Argument kann man folgendermaßen verstehen (vergleiche [3–9], S. 35–36): Es ist nicht von vornherein vorgegeben, wie Abgrenzungen innerhalb eines Kontinuums vorzunehmen wären. Es könnte folglich, streng genommen, nie einen zureichenden Grund für die Wahl bestimmter Abgrenzungen geben. Daher müssen nach Leibniz alle denkbaren Abgrenzungen vorgegeben sein. Es gibt kein Kontinuum im Sinne von etwas, das nicht aus Teilen zusammengesetzt ist. Leibniz setzt die Teilbarkeit von Materiellem mit Geteiltheit, dem Bestehen aus Teilen, gleich. Alles Reale ist diskret ([3–8], S. 261–262, 276, 281–282 mit Anmerkung/deutsch S. 157, 171, 181–183).
Monaden
Leibniz ist jedoch kein Atomist. Alles Materielle ist nicht nur unendlich teilbar, sondern in der Tat unendlich geteilt. Statt Atomen konzipiert Leibniz Kraftpunkte, die Monaden. Er kritisiert an Descartes’ Naturphilosophie, dass durch die Prinzipien „Ausdehnung“ und „Bewegung“ nicht alle Eigenschaften der Materie (wie Undurchdringlichkeit) und nicht alle Vielfalt des Materiellen erklärt werden können. Hierzu ist der Kraftbegriff notwendig, der fundamentaler als „Ausdehnung“ und „Bewegung“ ist. Leibniz vertritt also eine kausale Theorie der Materie. Diese Kritik führt Leibniz insbesondere in seinem Briefwechsel mit de Volder aus ([3–8], S. 169–171, 184/deutsch S. 125–129, 139–141). Leibniz kann so verstanden werden, dass er eine physikalische Feldtheorie vorwegnimmt: Die Kraftpunkte (Monaden) können physikalisch als Feldquellen aufgefasst werden. Die Monaden übernehmen bei Leibniz die Funktion, welche die Atome in einer atomistischen Naturphilosophie haben. Leibniz bezeichnet die Monaden auch als die wirklichen Atome ([3–10], § 3). Jedes Ganze ist ein Aggregat von Monaden ([3–10], §2). Den Monaden kommen jedoch nicht, wie den Atomen der Atomisten, nur wenige grundlegende Eigenschaften zu – im Gegenteil, jede Monade spiegelt in sich die ganze Welt aus ihrer Perspektive wider ([3–10], § 56; [3–6], Brief 5, § 87). Dennoch handelt es sich bei den Eigenschaften der Monaden, ebenso wie bei den charakteristischen Eigenschaften der Atome, um intrinsische Eigenschaften.
Was für Relationen?
Für diese Theorie von Raum, Zeit und Materie ist es wiederum nicht entscheidend, als was das Materielle gedacht wird – ob als Kraftpunkte (Monaden) und damit in einer feldtheoretischen Weise, als Atome oder in einer anderen Form. Entscheidend ist allein diese These: Raum und Zeit sollen ausschließlich in Relationen zwischen Materiellem bestehen. Es gibt eine Weise, in der diese These ohne Schwierigkeiten ausgeführt werden kann: Man kann diese These einfach als die Verneinung der Position auffassen, dass es Raum und Zeit auch unabhängig von Materiellem in Raum und Zeit geben könnte. In diesem Falle sieht man das Materielle weiterhin so an, dass es unter anderem durch räumliche und zeitliche Ausdehnung charakterisiert ist. Räumliche und zeitliche Ausdehnung sind grundlegende, relationale Eigenschaften von Materiellem. Der Anhänger der These eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit kann in diesem Fall einwenden, dass eine solche relationale Theorie von Raum und Zeit räumliche und zeitliche Ausdehnung als System von Relationen zwischen Materiellem schlicht voraussetzt. Die These eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit ist demgegenüber als eine Erklärung dessen angelegt, was räumliche und zeitliche Ausdehnung ist.
Die anspruchsvolle Variante einer relationalen Theorie von Raum und Zeit versucht, das Anliegen aufzunehmen, welches in diesem Einwand zum Ausdruck kommt. Um das zu erreichen, muss eine relationale Theorie von Raum und Zeit zwei Anforderungen erfüllen. Die erste Anforderung ist, eine Bestimmung des Materiellen zu geben, die dieses nicht als räumlich und zeitlich Ausgedehntes charakterisiert. Leibniz’ Theorie erfüllt diese Anforderung: Er bestimmt das Materielle als etwas Ausdehnungsloses, das eine Kraft ist, nämlich als Kraftpunkte. Die zweite Anforderung ist, von dieser Bestimmung aus räumliche und zeitliche Relationen zu rekonstruieren. Leibniz erfüllt diese Anforderung nicht. Er behauptet, dass alle Relationen einschließlich der räumlichen und zeitlichen Beziehungen durch die intrinsischen Eigenschaften der Kraftpunkte (Monaden) festgelegt sind (zum Beispiel [3–10], §§ 56, 59). Diese Behauptung löst Leibniz jedoch nicht ein: Es ist nicht nachvollziehbar, wie ausdehnungslose Kraftpunkte (Monaden) von sich aus eine Anordnung aufbauen könnten, so dass räumliche und zeitliche Relationen zwischen diesen Kraftpunkten bestehen, ohne dabei räumliche und zeitliche Relationen vorauszusetzen. In Leibniz’ Metaphysik ergibt sich stattdessen ein anderes Bild: Die Monaden, die Kraftpunkte, sind nichts Materielles. Räumliche und zeitliche Relationen ebenso wie Kräfte sind letztlich nichts Reales, sondern, wie alles Körperliche, Vorstellungen in unkörperlichen Monaden (zum Beispiel [3–8], S. 275, 281/deutsch S. 167–169, 179).
Es wäre zu viel verlangt, von einer Konzeption, die Raum und Zeit nur als räumliche und zeitliche Relationen anerkennt, zu fordern, sie müsse diese Relationen von den intrinsischen Eigenschaften dessen aus rekonstruieren, was als das Materielle angesehen wird. Es ist dieser Konzeption freigestellt, das Materielle durch Relationen zu charakterisieren; nur sollten diese, um den genannten Anspruch zu erfüllen, dann keine räumlichen und zeitlichen Relationen sein. Kausale Relationen und die Relationen der Verschränkung in der Quantenphysik können Kandidaten für solche Relationen sein. Ich werde darauf zurückkommen (Kapitel IV.2.c und V.5). Der genannte Einwand bleibt jedoch bestehen: Es ist zumindest nicht leicht zu sehen, wie es möglich sein könnte, Raum und Zeit nicht als grundlegend anzuerkennen, sondern räumliche und zeitliche Relationen auf etwas anderes, Grundlegenderes zurückzuführen.