Читать книгу Ganz anders - Ein psychologischer Roman - Michael Baumann - Страница 10

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Einleitung

Muss frau oder man wissen, wie ein Oldtimer-Motorrad mitunter zu den Beinamen „goldener Schuss“, „purple Killer“, „kultivierter Wahnsinn“ und „Witwenmacher“ gekommen ist? Oder warum der erfolgreichste Profisportler aller Zeiten – zumal mit Schweizer Wohnsitz – nicht Roger Federer heißt und insbesondere, wie sich seine Tätigkeit genau anfühlt? Obendrein noch – wenngleich kurze – Ausführungen hinnehmen über sogenannte Akategorialität (ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand, benannt von dem Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser) bis zu Zappeligkeit – der Psychologe Erich hat ein ADHS (Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Syndrom) –, ja zwischendurch gar pubertär anmutende Dialoge? Niemand muss müssen oder lesen, aber vielleicht ist es interessant, zu erfahren, was dieses Motorrad mit Betroffenen einer schweren Persönlichkeitsstörung gemeinsam hat oder weshalb ausgerechnet ein Kokainabhängiger dem Sportidol nacheifert. Erübrigt sich beinahe, zu erwähnen, dass – wie zuweilen in anderen Romanen auch – nicht gefällige Abschnitte getrost übersprungen werden können, obzwar manches in dieser Geschichte einer psychologisch-didaktischen Zielsetzung verpflichtet ist. Dieses „Angebot“ für Auslassungen soll beispielsweise die seitenlangen Flirt-E-Mails einschließen – zwischen dem Psychologen Erich alias Jack Bauer und einer Unbekannten alias Renee Walker. Diese Textabschnitte werden durch Kursivschrift gekennzeichnet.

Gewisse Konventionen, die üblicherweise für niveauvolle Romane gelten, werden im vorliegenden Buch absichtlich unterlaufen – etwa indem gelegentlich Obszönität als Stilmittel zum Einsatz kommt. Obermacho Randy wird da und dort Ärger auslösen, aber sein Verhalten hat Gründe, und die ungeschminkte Wiedergabe seines Benehmens geschieht – wie sich später zeigen wird – nicht ohne Ziel. Er wünscht sich, eine integre Führungspersönlichkeit zu sein, sucht jedoch – völlig unreflektiert – die Konfrontation wie Donald Trump.

Generell geht es in dieser Geschichte um das Spiel mit dem Unabsehbaren, dem schnellen Wechsel von bodenständig zu skurril, ernst zu witzig, harmonisch zu verstörend – ähnlich einem leidenschaftlich geführten Kartenspiel, in dem der Joker jederzeit alles über den Haufen werfen kann. Denn funktioniert das Leben nicht oft so, ob wir uns daran erfreuen oder nicht? Die Protagonisten, spezielle Charaktere und wie solche im richtigen Leben bisweilen in innere Widersprüche verstrickt, werden in eine Geschichte eingebunden, in der verschiedene Bäche dahinplätschern, um schließlich in einen Fluss zu münden.

Psychologische Romane sind eine Herausforderung. Es gab sie schon lange bevor die an den Universitäten gelehrte Psychologie ihren Namen überhaupt verdiente, insbesondere natürlich in Dostojewskis Ära. Ihre Blütezeit erlebten sie somit im neunzehnten Jahrhundert. Ungefähr zeitgleich mit der Etablierung von Sigmund Freuds Psychoanalyse im Kreise der Literaten – vielleicht erstmals ansatzweise durch Arthur Schnitzlers Traumnovelle, die später Stanley Kubrick als Vorlage zu seinem letzten Film Eyes wide shut mit Nicole Kidman und Tom Cruise dienen sollte – entwickelte sich die akademische Psychologie langsam, aber sicher zu einer gleichsam von Geistes-, Sozial-und Naturwissenschaften geprägten Disziplin, die zusehends ernster genommen werden durfte. Nicht nur hinsichtlich Wissenschaftlichkeit, sondern auch bezüglich Relevanz. Und in den letzten Jahrzehnten gewann nun die Psychologie eindeutig so viel fruchtbares Land, dass seelenrelevante Deutungshoheit auch in Romanen nicht mehr ausschließlich Freud-inspirierten Literaten überlassen werden kann. Denn das würde bedeuten, mannigfaltige – mit wissenschaftlicher Akribie errungene – Kenntnisse vom Erleben und Verhalten in einer einzigen Bucht der ganzen vielseitigen Insel versanden zu lassen. Vielleicht ist das der Grund, warum er praktisch ausgestorben ist, der explizit„psychologische“ Roman. Natürlich gibt es auch heute ein paar löbliche Ausnahmen – frau oder man denke hier etwa an Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom.

War das vorhin ein Seitenhieb gegen die Literaturwissenschaft oder gar generell gegen Romanautorinnen und -autoren? Nein, keineswegs, einige hartgesottene Alt-Freudianer ausgenommen. Es ist nur so, wie ich persönlich finde, dass Psychologinnen und Psychologen beginnen sollten, Romane zu schreiben, die der Leserschaft fundiertes Fachwissen attraktiv präsentieren – quasi in Ergänzung zu populärwissenschaftlichen Büchern einerseits und exakten, aber dem Laien oft unverständlichen Schriften andererseits. Mal sehen, ob diese Herausforderung gelingt.

Eines noch, bevor gleich Alphatier Randy dem hyperaktiven Psychologen Erich in der Sporthalle aufs Dach gibt und dessen Sohn eine Dummheit mit der vom Vater konfiszierten Pistole eines gemeingefährlichen Patienten begeht: Im Juli 2005 – der introvertierte Architekt Serafin sang gerade frisch verliebt den damaligen Sommerhit„Simona“ – forderten Hermann Haken, Nobelpreisträger für Physik, und Günter Schiepek, Ordinarius für Psychologie an der Universität Graz, in ihrem Buch Synergetik in der Psychologie dazu auf, ihr Gedankengut künstlerisch umzusetzen. Ein zentraler Baustein der Synergetik ist die Theorie dynamischer Systeme. Sie ist es ebenfalls im sogenannten fraktalsystemischen Forschungsparadigma des emeritierten Professors für Klinische Psychologie (Universität Koblenz-Landau), Theologen und Ethnopsychotherapeuten Renaud van Quekelberghe, und überhaupt weisen diese beiden Ansätze einige Gemeinsamkeiten auf. Eine Art Nebenschauplatz stellt nun in diesem Buch der Versuch dar, das fraktalsystemische Paradigma vorzustellen, um es fortan künstlerisch, wenngleich knapp, in diesen Roman einfließen zu lassen. Zu diesem Zweck werden in der „Werbepause“ – im Zusammenhang mit einer Einführung zu den Themenkreisen „Glück, Überbewusstsein und Gewalt“ – Gedankengut von Renaud van Quekelberghe (eine Pionierleistung!) und ein paar eigene Überlegungen eingeführt, um sie sodann gelegentlich in diesem Roman praktisch zu verwenden.

Die besagte Abhandlung erfolgt in Form einer Vorlesung des Psychologen Erich. Es ist jedoch problemlos möglich, den Rest dieser Werbepause zu überspringen oder zu überfliegen und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu folgen. Sie wird (wie bereits das Flirten zwischen Renee Walker und Jack Bauer) in Kursivschrift dargestellt. Im Sinne der Transparenz: Die Vorlesung ist vorwiegend wissenschaftlich ausgerichtet – dies allerdings für universitäre Verhältnisse in moderater Ausprägung und zumindest zwischendurch wohl auch für Laien spannend.

Wer die Vorlesung bei der Lektüre auslässt, könnte sich einzig ab und zu wundern über das Auftauchen von ein paar sonderbaren Begriffen: Ich probiere, mit dem Ansatz von Renaud van Quekelberghe, die Freude am Windsurfen sowie beim Motorradfahren aufzuzeigen und ferner einen Nachttraum zu verstehen, bei dem der Spieler an einem Flipperkasten plötzlich in himmlische Sphären mit wunderbaren Klängen hinaufgleitet. Ebenso wird versucht, die Lust an einem brachialen Geschlechtsakt voller Gewalt in ihrer Bedeutung darzulegen sowie das schönste Gegenteil wissenschaftlich auszuleuchten, namentlich unmittelbares Erleben bei der intensiven Vereinigung eines Liebespaares. Dabei kommt es, wie erwähnt, zur Verwendungungewohnter Begrifflichkeiten. Die „quekelberghianischen“ Erläuterungen zu diesen Beispielen heben sich in ihrer Darstellung vom Rest des Textes ab, indem wiederum Kursivschrift gewählt wird, und können ebenfalls – bei Nichtgefallen – ausgelassen werden, ohne dass es zu einem Informationsverlust in diesem Roman kommt.

Wissenschaftsmuffeln sei hier versichert, dass keiner dieser Interpretationen mehr als eine halbe Buchseite gewidmet wird. Im Übrigen ist hier nochmals festzuhalten: Die Lektüre der Vorlesung kann jederzeit abgebrochen oder ganz ausgelassen werden, ohne dass Verständnisprobleme auftauchen. Es handelt sich eben buchstäblich um eine Werbepause.

Höre ich da jemanden reklamieren „Nur fünf kurze Beispiele, um den fraktalsystemischen Ansatz künstlerisch zu veranschaulichen!“?

Ich entgegne: „Ja, aber es ist ein Anfang in einer Kultur, in der die Kluft zwischen den Domänen Wissenschaft und Kunst nicht größer sein könnte. Vielleicht ist es einzig die Anthroposophie Rudolf Steiners, die (in großem Stil) versuchte, diese Kluft zu überwinden“ – allerdings mit wohl teilweise fragwürdigen Ergebnissen.

Ganz anders - Ein psychologischer Roman

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