Читать книгу Ganz anders - Ein psychologischer Roman - Michael Baumann - Страница 12
Оглавление1 Erotisches Internet-Dating
Die folgenden Ereignisse finden zwischen Mittwoch, 21.00 Uhr und Donnerstag, 21.00 Uhr statt.
Randy verlässt nach dem Badmintonspiel als Erster die Sporthalle, nachdem er seinen beiden geschlagenen Gegnern befohlen hat, die Netze abzubauen: „Tut noch was für eure Fitness, ihr Mumien!“ Die Dusche verlässt er als Letzter und betritt den Umkleideraum, ohne sich vorherabzutrocknen. Übrigens duscht Randy nur einmal pro Woche, weil er Körperhygiene für Zeitverschwendung hält. Ebenso hält er es mit dem Rasieren. Dafür desodoriert sich Randy täglich und schmiert sich – buchstäblich stinkbilliges – Aftershave ins Gesicht und gelegentlich in die Leistengegend. Sein blendend aussehender Architektenfreund Serafin – wir werden ihn später kennenlernen – duftet stets am ganzen Körper außerordentlich gut, rasiert sich meist zweimal täglich und trägt nur selten einen kurzen, aber sehr gepflegten Bart. Der tropfnasse Koloss mit grünen Augen, schulterlangen Haaren und nahtlos gebräunter Haut stellt sich nun nackt neben Erich, der gerade in die Jeans gestiegen ist. Randy wendet das Haupt in Erichs Richtung, als würde er den Blickkontakt suchen, starrt aber demonstrativ über den Kopf des viel kleineren Freundes hinweg an die Wand. Dann versetzt er Erich mit seitlich gestrecktem Bein einen deftigen Tritt in den Hintern. „Beeil dich gefälligst, damit der Hauswart endlich Feierabend machen kann!“ Danach dreht er seinen Kopf in die andere Richtung und zwinkert keck Erichs Sohn zu.
Der Pubertierende lacht über seinen Vater, der zunächst etwas erschrocken aussieht. Theoretisch hätte Erich auf den Fußtritt gefasst gewesen sein können. Einen Augenblick später gibt er sich gelassen und fragt Randy mit einem amüsierten und gleichsam etwas mitleidigen Lächeln, ob das die aktuelle Version seines vorsintflutlichen Gags sei. Drei Jahrzehnte zuvor gingen die beiden in die gleiche Schulklasse. Die Jeanswerbung der Achtzigerjahre pries damals eine angeblich besonders robuste Hose an, und Randy nahm dies immer wieder zum Anlass, einen Kumpel mit den Worten „Das ist doch die zum Reintreten!“ zu Fall zu bringen, wenn dieser sich gerade in eine enge Jeans zwängte.
In der Schulzeit – anno 1985 – gab sich der damals Fünfzehnjährige selbst den Namen Random, um zum Ausdruck zu bringen, dass er als überzeugter Atheist ausschließlich an das Zufallsprinzip glaubte. Dieser Beiname wird von seinen beiden ehemaligen Schulfreunden Erich und Serafin seit jeher akzeptiert – nicht nur, weil Randy ein dominierender Aggro ist, sondern auch infolge der zweiten Bedeutung des Begriffes „Random“: ein Zugpferd im Dreiergespann. Getauft worden war er entweder auf den Namen Ramon oder Roman. Atheist ist er geblieben – in jungen Jahren ließ er sich auch von Charles Darwin inspirieren –, Vulgärdarwinist ist er geworden. Obwohl Random Naturwissenschaften am Gymnasium unterrichtet, scheint ihm entgangen zu sein, dass das Mutationsprinzip in Fachkreisen schon seit Jahren mehrheitlich als überholt gilt. Vielleicht ist ihm auch nur der Gedanke unsympathisch, dass Darwin nicht alles wissen konnte. Denn sollte nebst dem Zufallsprinzip eines Tages auch das Recht des Stärkeren fragwürdig werden, was wäre Randy dann noch? Seit seiner schrecklichen Kindheit boxt er sich erfolgreich durch ein Leben, dem er aber letztlich keinen Sinn abgewinnen kann. Vulgär, ja respektlos obszön ist – nebenbei bemerkt – auch oft Randoms Sprache, und zwar nicht zu knapp!
Nach dem Verlassen des Schulareals – Random arbeitet hier als Physik- und Chemielehrer und benutzt bei schlechtem Wetter gelegentlich abends mit Freunden die Sporthalle – steigen die drei in Erichs Wagen. Der Frühsommerabend ist kühl, aber noch recht hell. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der 17-jährige Elias überlegt, wie er seinen Vater Erich davon überzeugen soll, dass er die Gymnasialzeit baldmöglichst abbrechen kann, um in die Fremdenlegion einzutreten. (Und der Vater soll es dann der Mutter beibringen.) Random hängt schräg im Rücksitz, und auch seine Gedanken kreisen um einen möglichen Abgang von dieser Schule, allerdings um einen unfreiwilligen. Er sieht sich erneut mit der Frage konfrontiert, die sich während der Dusch-Monotonie vorhin schon nicht mehr aus dem Bewusstsein drängen ließ: Wie er in den verbleibenden 36 Stunden das außerordentlich unerquickliche Nachspiel einer „erotischen“ Internetbegegnung verhindern soll. Vor ein paar Tagen ließ sich Random dazu verleiten, nach angebandelter Bekanntschaft mit einer verkappten Prostituierten, vor seiner Webcam zu masturbieren. Nachdem heute Mittag ein Erpressungsversuch begann, fragt er sich, wie den Hintermännern dieses vermutlich organisierten Verbrechens der Garaus zu machen ist, bevor sie – wie angedroht – die erpresserische Videoaufnahme in das angeblich gehackte Intranet seiner Schule stellen werden.
Erich sitzt am Steuer und lässt den Tag Revue passieren. Dabei hat er seine Ruhe, zumindest vorläufig, denn eine wesentliche Gemeinsamkeit seines Kumpels und seines eigenen Sohns besteht darin, dass sich beide gerne wortkarg zeigen – auch wenn sie, anders als jetzt, gedanklich nicht gerade bei einer kniffligen Problemstellung sind. Betont pragmatisch führt Randy oft sowohl Unterhaltungen als auch eigene Schilderungen abrupt mit der Formulierung„der langen Rede kurzer Sinn“ zu einem vorschnellen Ende und Elias, der Random bewundert, hat diese kleine Unsitte kürzlich von diesem übernommen.
Als Psychologe und praktizierender Psychotherapeut hat Erich morgens eine Vorlesung an der Universität Zürich gehalten. Der Mittwoch bedeutet für ihn seit wenigen Monaten jeweils das Highlight der Woche, denn endlich darf der Mittvierziger seine Theorie über das Bewusstsein im akademischen Kreis vortragen, ohne jemals mit seiner Habilitationsschrift zu einem Ende gekommen zu sein. Die Vorlesung ist gut besucht, und er liebt es, anschließend ausgiebig mit interessierten Studierenden zu diskutieren. Ein paar von ihnen haben sich bereits Anregungen für Bachelor- und Masterarbeiten bei Erich geholt, und er sieht in seinen Gesprächspartnern – vielleicht zu optimistisch – Multiplikatoren bei der Verbreitung seiner Ideen.
Dennoch etwas in der Midlife-Crisis steckend – falls eine solche überhaupt mehr als ein Etikettenschwindel ist –, tummelt sich der verheiratete Vater neuerdings auf der gleichen Seitensprung-Datingplattform wie Random, um unverbindliche prickelnde Erotik-Dates mit gleichgesinnten Frauen zu genießen. Erich tritt auf der Plattform mit dem Nicknamen Jack Bauer auf und versucht damit, seine sportliche und initiative Seite durch die angebliche Ähnlichkeit mit dem Helden der amerikanischen Action-Fernsehserie 24 hervorzuheben. Die zehn Staffeln dieser Serie wurden bereits in den Nullerjahren ausgestrahlt, doch Erich und seine Freunde finden es kultig, sich ihre Nicknamen von dort zu leihen. Damit erreichen sie auch Frauen, die dasselbe tun. Ganz absprechen kann man Erich eine Ähnlichkeit mit diesem Jack (Kiefer Sutherland) nicht. Trotz unterdurchschnittlicher Körpergröße – etwa ein Meter siebzig – und mit halbwegs sportlicher Figur kommt er fast an Jack Bauer ran. In seinem Profil gibt Erich eine Körperlänge von 175 Zentimetern an. So viel maß er vielleicht im vorletzten Frühling, allerdings höchstens für zwei Stunden, nachdem er mit den Skiern in eine Gletscherspalte gefallen war und kopfüber ausharren musste, bis Random ihn rettete.
Erichs Haare sind weniger hell als die des Fernsehhelden – braun statt dunkelblond – und leicht gelockt statt glatt. Die Gesichtszüge wiederum passen einigermaßen, auch wenn Erichs Kinn weniger markant ist. Bisher ist er auf seiner Pirsch durch das Dickicht der scheinbaren Fülle an Seitensprungoptionen allerdings nicht über die Textkommunikation hinausgelangt. In diesem Moment denkt er gerade an die Dreißigjährige (auf dem Foto sehr hübsch), der er mittags – hastig ein Sandwich verschlingend – kurz, bündig und etwas zotig gemailt hat, in der Hoffnung, dass sich seine Favoritin auf ein Date mit ihm einlassen würde.
Erich handelte sich nämlich am Vorabend einen Korb ein, möglicherweise infolge seiner vielleicht fragwürdigen Standardbewerbung:
Lebensmitte erfolgreich Gemeisterter, charmant, initiativ, einfühlsam, gebildet, gepflegt, tageslichttauglich und fit wie ein Apfel sucht niveau- und humorvolle Sie mit Stil (30- bis 45-jährig) zum Anbeißen. Ist bei seiner Ausschau auf dein ansprechendes Profil gestoßen und – mit ersten Anzeichen von Appetit – neugierig geworden.
Jäger- und Sammlerinstinkt (fast) überwunden, regelmäßige Treffen mit ein und derselben Frau somit erwünscht, gemeinsame Wohltaten für Leib, Geist und Seele zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten möglich.
Sinnliche Grüße Jack Bauer
Umgehende Antwort:
Obwohl amüsiert-angetan von der Anfrage des freundlichen, unbekannten Herrn, muss ich ihm leider mitteilen, dass es sich beim Apfel der Gegenseite um einen biologischen handelt, wenngleich mit dem Vorteil, dass auch von der Schale bedenkenlos gekostet werden kann. Die Dame legt ferner – deutlich mehr als auf Äußeres – Wert auf ein gesundes, authentisches, feinsinniges Inneres eines Mannes und würde somit bevorzugen, das Konterfei desselben erst bei einer etwaigen Begegnung in natura zu betrachten – wozu es allerdings aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen nicht kommen dürfte. Diese äußern sich auch darin, dass es mir persönlich nicht in den Sinn käme, als Datingpseudonym einen Fernsehstar zu verwenden. (Diese amerikanische Fernsehserie ist mir flüchtig bekannt.)
Natürliche Grüße
Ab dem frühen Nachmittag sah Erich in der Praxis, die er zusammen mit seiner Frau führt, hintereinander fünf Patienten. Das klingt nicht nach viel, kann aber ziemlich nahrhaft sein, je nachdem, wer vorstellig wird. Heute fing es unbeschwert an, mit einer fünfzigjährigen Patientin, die in ihrer Ehe in eine Entwicklungskrise geraten ist, deren Mann aber Paartherapie ablehnt. Erich versteht die meisten seiner Patienten gut in ihren Verstrickungen, verborgenen Motiven und Sehnsüchten, bisweilen auch in ihren seelischen Abgründen, und er begreift oft, wie unvorteilhafte, manchmal absurde Realitätskonstruktionen zustande gekommen sind. Doch Verstehen ist eine Sache, Geduld eine andere. In diese erste Patientin von heute kann er sich nicht nur besonders gut einfühlen, weil er selbst in einer vergleichbaren Ehesituation steckt, er wird in Gesprächen mit ihr auch kaum je innerlich unruhig, da sie reflektiert ist und sich offen zeigt für konstruktive Veränderungen.
Der zweite Patient kostet jedes Mal ein bisschen Nerven: ein vergeistigter Germanistik-Doktorand, kaum jünger als Erich, der unter seinem eigenen Perfektionismus leidet, sich vordergründig sehr bescheiden gibt und an und für sich ein sympathischer Mensch ist. Er entwertet seine Mitmenschen, indem er sich moralisch über sie stellt oder bei anderen Männern vorschnell Angeberei zu identifizieren glaubt. Seit vielen Therapiestunden legt er beharrlich Widerstand an den Tag, wenn es darum geht, seine unbewusste Motivdynamik zu entdecken – oder zielt Herabsetzung des Gegenübers nicht auf einen ungeschickten Selbstaufwertungsversuch ab? Natürlich versucht er, auch Erich wiederholt zu entwerten, etwa mit der Behauptung, dass diese Therapie ihm nichts bringe, weil sie auf unzulänglichen Erkenntnismethoden beruhe. Ein Vorwurf, den kein Psychotherapeut gerne hört. Sei es, weil der Einwand den Heilungsprozess sabotieren kann, oder aber, weil er bei gewissen Vertretern dieser Zunft tatsächlich etwas antrifft …
Danach ist die depressive Patientin erschienen, deren suizidale Krise sich verschärft hatte und ein sorgfältiges Abwägen erforderte, ob sie in die Klinik müsse oder ob die Abmachung reichen würde, dass sie ihn bei einer weiteren Verschlechterung umgehend auf dem Handy kontaktiere – was eine Erreichbarkeit von Erich rund um die Uhr voraussetzt, versteht sich.
Gestorben war dann – nach überzogener Zeit dieser Therapiestunde – die ersehnte Kaffeepause, und Erich saß einem Patienten gegenüber, der seit einiger Zeit nicht Selbstmord-, sondern Mordgedanken hegte und neuerdings im Besitz einer Schusswaffe war. Erich hatte mit ihm kürzlich vereinbart, dass die Waffe entsorgt werden müsse. Könnte der Patient ihm heute nicht glaubhaft darlegen, wann, wo und wie die Pistole entsorgt worden sei – so Erichs Vorhaben –, würde er den Schutz des potenziellen Opfers über das Berufsgeheimnis stellen und die Polizei kontaktieren. Doch sein Patient legte ihm heute die Waffe provokativ auf den Beistelltisch mit der Bemerkung: „Bewahren Sie die Pistole doch hier auf. Wenn mein Chefmich noch mal vorführt, hole ich sie wieder ab.“ Der Therapeut nahm sie überrascht entgegen – ein klarer Fehler – und schloss sie im Aktenschrank ein.
In der letzten Stunde an diesem Mittwochnachmittag sah Erich eine junge Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Um ihre innere Anspannung zu reduzieren, schneidet sie sich regelmäßig in die Unterarme oder trinkt exzessiv und die oft wechselnden Liebesbeziehungen verlaufen dramatisch: In ihren intensiven Verschmelzungswünschen idealisiert sie den Mann jeweils zu Beginn einer Beziehung extrem, um kurz darauf an dem hohen Thron zu sägen, auf den sie ihn gesetzt hat. Meistens hat sie wohl narzisstische Männer, die sich besonders gerne schmeicheln lassen oder sich als Retter der kranken Partnerin sehen wollen. Regelmäßig fallen diese sehr plötzlich vom Thron (und sehr tief), indem sie von der Patientin völlig unerwartet massive Zurückweisung, oft auch Verachtung erfahren. Manchmal kippt die Stimmung wieder zurück, oft bedeutet der Sturz vom Thron aber das Ende der Beziehung. Damit beweist sich die junge Frau schmerzlich (der berühmte Freud’sche unbewusste Wiederholungszwang), was sie schon früh noch schmerzlicher erfahren musste: Männer sind Schweine – oder Versager. Ihr Vater hatte sie lange sexuell ausgebeutet und sie befindet sich bei Erich seit zwei Jahren in Folgetherapie, nachdem sein verbrecherischer Vorgänger das Gleiche mit ihr getan hatt wie der Vater. Auf ihrer Suche nach dem Mann, der sie ganz versteht und annimmt, tritt sie auch Erich gegenüber immer wieder verführerisch auf und kann mit Grenzen schlecht umgehen. Nach Stundenende fragte sie Erich heute noch im Türrahmen mit einem neckischen Lächeln, ob er auf Oralverkehr stehe.
Diese Patientin steht – nebenbei bemerkt – für den„Prototypen“ der an Borderline-Störung Erkrankten. Doch nicht jeder Betroffene schneidet sich oder hat ein Nähe-Distanz-Problem, und oft wird die tiefere Motivdynamik den Therapierenden erst verzögert oder zuweilen gar nicht augenscheinlich, etwa wenn eine uneinsichtige, aber manipulativ geschickte Patientin von ihrer eigentlichen Problematik ablenkt.
Jedenfalls war der Arbeitstag danach für Erich richtig bündig. Die Pistole wollte er nicht in der Praxis lassen – seine Frau hatte abends noch Patienten, und die Eingangstür zum Haus ließ sich deshalb nach dem Klingeln noch öffnen. Denn was würde geschehen, wenn der potenzielle Mörder heute nochmals aufkreuzte, um seine Waffe wieder abzuholen? Das Schloss des Aktenschranks ließe sich jedenfalls im Handumdrehen knacken.
Erich schaute nach dem knappen Führen der Krankengeschichten per Hand noch kurz im PC nach, ob auf der Dating-Site eine Antwort von der hübschen Dreißigjährigen eingegangen war – und musste zur Kenntnis nehmen: „Hi Jack, tut mir leid, aber das mit dem Date wird nichts. Hab’s mir noch mal überlegt. Der richtige Jack Bauer war mir eigentlich schon in den Nullerjahren zu alt, und du siehst auf dem Bild in deinem Profil nicht jünger aus. Wünsche dir auf dieser Plattform viel Glück mit deiner Actionheld-Nummer. Gruß, Hibiscus.“
Dafür hatte ihn zwischenzeitlich eine Frau angeschrieben, die laut ihrem Profil den gleichen Jahrgang hat wie seine Ehefrau: „Hello Mister Bauer, instead of being killed by the Russians after having great sex with you, I would prefer to make love a second, third, fourth time … Please show me your picture and write something about you. Then you will immediately get my own pic. Curious, Renee Walker.“ Das verblüffte Erich, denn normalerweise macht auf dieser Plattform nicht die Frau den ersten Schritt bei der Kontaktaufnahme. Die Dame mit dem Nicknamen Renee Walker spielte offensichtlich auf eine der selten angedeuteten Sexszenen in 24 an, bei der Jack Bauer nach vollendeten Heldentaten endlich mit seiner Geliebten Renee geschlafen hatte und sie unmittelbar danach von einem russischen Killer erschossen wurde. Erich beantwortete dann die E-Mail etwas ausführlicher, als er zunächst wollte – kam deswegen zu spät zum Badmintonspiel –, und schaltete sein Foto für diese Renee frei.
Random, Erich und Sohnemann Elias fahren jetzt auf der Überlandstraße, und hinter ihnen drängelt ein großer schwarzer Offroader, ohne Anstalten zum Überholen zu machen. Erich bemerkt ihn, ist aber gedanklich immer noch mit der Borderline-Patientin beschäftigt. Wie tragisch sind doch ihre Geschichte und ihr Wiederholungszwang bei der krankhaften Beziehungsgestaltung. Gleichzeitig erlebt er sie immer wieder als Vampir, denn die Sitzungen mit ihr sind extrem energieraubend. Und sie erinnert ihn an jene Frau, von der sich sein Freund Serafin – der Dritte im alten Männerbund und jungen WhatsApp-Grüppchen mit Random und Erich – seit vielen Jahren immer wieder unglücklich machen lässt. Wie oft hat sich Erich schon darüber aufgeregt (er pflegt mit Serafin seit der Schulzeit eine zuweilen innige Freundschaft), was dieser sich regelmäßig bieten lässt. Erich nennt diese unglückliche Liaison notorisch „langweilig“: Als Psychologe glaubt er, das vorhersehbar unglückliche Beziehungsmuster erkannt zu haben. Aber er spürt mehr als Langeweile – Ärger über diese Unbekannte (Erich hat sie in all den Jahren noch nie zu Gesicht bekommen, sondern nur vernommen, dass sie sehr feingliedrig sei und zerbrechlich aussehe) und Ärger über Serafin, der das ungesunde Spiel nicht durchschaut. Sehr wohl weiß Erich eben, dass Partner von Borderlinern zur meist unseligen Beziehungsgestaltung beitragen, und umso mehr widert es ihn beinahe an, wie tief (und lange!) sein Freund Serafin in diesem Nixenteich versunken ist. Serafin lernte nämlich seine Simona bereits 2005 auf der Datingplattform kennen – beide mit Nicknamen aus den damals aktuellen 24-Staffeln – und abgesehen davon, dass seine beiden Freunde klar sahen, dass ihm diese spezielle Frau nicht gut tat, hielten sie damals ein 24-Nicknamen-System für wenig originell und vielversprechend. Dass allerdings Erich eines Tages selbst einmal so etwas Unglückliches und „Langweiliges“ passieren könnte, hielt der Psychologe für ausgeschlossen. Wobei hier ausdrücklich vermerkt sein soll, dass er Borderlinerinnen nicht diskriminieren will und er sich dem vielseitigen Leidensdruck von Betroffenen klar bewusst ist.
Erich spürt, dass er immer noch etwas genervt ist. Die Badmintonmatches hatten ihn nicht wirklich runtergebracht. Außerdem ist er ein bisschen frustriert über die Tatsache, dass er verloren hat. Nicht nur gegen seinen Freund Randy – das ist keine Überraschung, denn dieser ist seit jeher eine Sportskanone und immer noch topfit –, sondern auch gegen seinen eigenen Sohn Elias, der heute erstmals mitgekommen ist. Und dann noch mal im Doppel mit Elias zusammen gegen Random alleine.
Der schwarze Riesen-Offroader klebt immer noch praktisch am Wagen – im Rückspiegel beträgt der Abstand für Erich gefühlte eineinhalb Meter. Das macht ihn immer gereizter. Was muss nur für ein gehetzter Idiot darinsitzen? Er zeigt ihm zweimal kurz die Bremslichter, was umgehend mit einem Lichthupenfeuerwerk beantwortet wird. Jetzt stellt Erich die Scheibenwischeranlage an, um die lästige Schleudertrauma-Bedrohung hinter sich wegzuspritzen. Doch statt dass sich der Abstand vergrößert, kommt jetzt vom Hintermann ein Hupkonzert.
„Was geht ab, Pa?“, fragt Elias.
„Wir werden von einem Drängler genötigt.“
„Na und, flippst du jetzt mal wieder aus?“
„Junge, der hirnlose Typ sitzt in einem drei Tonnen schweren Offroader. Wenn ich bremsen muss, sind wir platt.“
„Und der Psychologe glaubt jetzt, die Eskalationsspirale mit dem Scheibenwischer aufzulösen?“
„Elias, du bist altklug, und jetzt halt die Kiemen, diese Karre nervt schon genug.“
Erich mag es nicht, wenn ihn sein eigener Sohn mit Psychologenvokabular belehren will. Und dann sagt der genervte Psychologe etwas, für das er sich gleich die Zunge abbeißen könnte: „Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ichden Typen sofort erschießen.“
Jetzt schaltet sich Random – von der Rücksitzbank aus nach vorne gebeugt – ins Gespräch ein: „Du hast doch eine Kanone.“
„Halt die Klappe, Randy!“
Hätte er doch Random nichts von der Pistole erzählt, die er aus der Praxis mitgenommen hat. Doch dieser lässt sich von niemandem etwas sagen, sondern schiebt nach: „Brauchst nur ins Handschuhfach zu greifen, wenn du Eier hast.“
„Wie, du hast hier eine …?“ Elias beendet den Satz nicht, sondern öffnet das Handschuhfach und kurzentschlossen auch das Schiebedach. Das ist seine Gelegenheit, dem Haudegen Random, den er bewundert, zu imponieren. Er steht mit der Pistole auf, dreht sich um, stützt sich mit den Ellbogen aufs Autodach und zielt im Halbdunkeln auf die Fahrerseite des Offroaders.
„Elias!“, schreit Erich. Doch dieser zielt unbeirrt weiter, auch nachdem der Hintermann Dutzende Meter auf Abstand gegangen ist (was allerdings blitzschnell geschah), um sich danach – verkehrt rum auf dem Beifahrersitz kauernd – mit einem triumphierenden Lächeln Randy zuzuwenden. Random ist nicht leicht zu verblüffen, aber das ringt ihm jetzt ein Kompliment ab: Mit brachialem Handgriff drückt er Elias die Schulter und lässt, nach kurzem Blickkontakt über den Rückspiegel mit Erich, mit sonorer Stimme verlauten: „Cooler Mann. Endlich mal einer in eurer Familie, der Konflikte pragmatisch löst!“
Dann schaut er Elias in die Augen – einen glasklaren Blick hat Random, wie meistens. „Und jetzt gib mir die Kanone, dein Vater hat nämlich ein Problem mit dem Ding.“
Erich schweigt. Eigentlich passt das Verhalten von Elias zu Erichs unkonventioneller Anschauung über das Bewusstsein. Aber deswegen ist er nicht weniger besorgt darüber, wie sich sein Sohn im letzten Jahr entwickelt hat. Und er möchte ihn jetzt mit seinem Benehmen konfrontieren. Doch Erich spürt, dass er im Moment zu wütend ist, um angemessen zu reagieren. Außerdem soll Randy bei der anstehenden Konfrontation nicht dabei sein.
Random will noch in die Kneipe mit den beiden, Erich lehnt ab und befiehlt Elias: „Du bleibst sitzen, wir fahren nach Hause und reden unter vier Augen miteinander!“
Es kommt zu einer kurzen Diskussion zwischen den dreien, Erich pocht auf seinen Status als Erziehungsberechtigter – setzt sich allerdings erst durch, als er laut wird – und fährt mit Elias nach Hause. An den Verbleib der Waffe denkt er nicht mehr, als Random damit aussteigt.
Randy sitzt an der Bar und bestellt alle zehn Minuten ein Bier. Um 22.51 Uhr tritt er den Fußmarsch nach Hause an. Der Countdown läuft weiter: Zwei Nächte und ein Tag bleiben ihm, um nach seinem überhasteten Sinkflug in ein ziemlich finsteres Tal erotischer Internetbekanntschaften den Absturz zu verhindern. In der Aviatik ein großer Zeitraum, in seinem Fall eher die Zeitspanne eines Wimpernschlags. Denn wie soll ausgerechnet er, der kaum einen Tausender auf der hohen Kante halten kann, bis übermorgen früh die verlangten dreißigtausend Franken auftreiben? Möglicherweise ohnehin nur die erste Anzahlung in einer Erpressungsspirale. Besser gesagt, oder noch besser gefragt: Wie kann er seine Erpresserin enttarnen und den Spieß umdrehen? Erwürgen möchte er sie und falls – wie Random vermutet – Hintermänner existieren, einem nach dem anderen eigenhändig das Genick brechen. (Random weiß, wie man das anstellt.) Doch das Einzige, was er über seine Widersacher weiß, ist, wie seine „Gespielin“ aussieht. Mittags hatte er letztmals per Skype mit ihr Kontakt, und dabei hielt sie ihm plötzlich ein Blatt Papier vor die Kamera: Seine verschiedenen E-Mail-Adressen waren aufgelistet – er hatte aber nur über eine mit ihr kommuniziert – und der Link zur Website der Schule, an der Random unterrichtet. Ferner die Aufforderung, sofort in seine Mailbox zu schauen. Das tat er und fand das Erpresserschreiben in seinen jeweiligen Posteingängen. Und dabei hatte er die Situation vielleicht realistisch eingeschätzt: Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass die Erpresser in der Lage sind, das Intranet seines Arbeitsplatzes zu hacken.
Ein paar Schritte weiter auf dem Heimweg versucht sich Random einzureden, dass die verfänglichen Videoaufzeichnungen gar nicht schlimm seien. Schließlich leben wir in einem pornografischen Zeitalter, und vielleicht drei Viertel aller Männer konsumieren Internetpornografie. Dann sollen die Leute halt sehen, wie er sich einen von der Palme wedelt – so what?
Allerdings sieht Random seinen drohenden Absturz bald wieder ein, trotz der gar schnell hinuntergestürzten zwei Liter Bier: Zwar kennt er kaum Schamgefühle – auch in ganz nüchternem Zustand nicht –, aber er kann sich an fünf Fingern abzählen, wie Schulleitung und Aufsichtsrat des Gymnasiums reagieren würden. Seine Schützlinge behandelt er stets anständig (vor Kindern und Jugendlichen hat Random sehr viel mehr Achtung als vor Erwachsenen), doch im Kollegium gibt er nicht nur sexistische, sondern auch sexualisierte Sprüche zum Besten. Erst kürzlich hat er im Lehrerzimmer eine Kollegin, die Englisch unterrichtet, als „overminded and underfucked“ bezeichnet – nachdem diese in der Zehn-Uhr-Pause etwas ausführlich über Shakespeare gesprochen hatte und nicht gleich auf Randoms Frage „Der langen Rede kurzer Sinn?“ eingegangen war.
Das damalige Nachspiel seiner abschätzigen Bemerkung war, dass er bei einem Gremium vorstellig werden musste, das sich zusammengesetzt hatte aus Vertretern von Aufsichtsrat, Schulleitung und einer schulinternen Arbeitsgruppe zu Genderfragen. Er erhielt eine schriftliche Verwarnung. Die letzte Verwarnung, denn selbst ein unbefristetes Beamtenverhältnis ist nicht erst kündbar, wenn einer Amok läuft. Die zweitletzte bekam Random, nachdem er eine Mathematiklehrerin unaufgefordert darauf hingewiesen hatte, dass er nicht auf Achselhaare stehe und dass ein solch „retrosexueller“ Look statistisch signifikant mit einer anachronistischen Schamhaarfrisur zusammenhänge.
Der potenzielle Verlust seiner Arbeitsstelle erscheint nun dem Alleinstehenden so fatal wie einem Familienvater, denn er ist völlig besessen von Geld und schon jahrelang mit überaus unproduktiven Gedanken beschäftigt, wie er mit möglichst geringem Aufwand viel mehr verdienen könnte. „Kohle gleich Energie“, pflegt er zu sagen, und er ist fast überzeugt, dass ein hoher Quotient von Geld zu Arbeit ihn vollkommen glücklich machen würde. Denn Random liebt es nicht nur, Geld zu besitzen und auszugeben, noch wichtiger ist dem Teilzeitarbeitenden sehr viel aktive Freizeit, in der er meist intensiv Sport betreibt. Stets auf weitaus höherem Niveau als alle gleichaltrigen Freunde – trotz Rauchen, übermäßiger Tendenz, den Durst mit Gerstensaft zu löschen und häufig illegale Substanzen zu konsumieren. Außerdem steckt er in Schwierigkeiten wegen – in von Rauch komplett vernebelten Rotlichtbezirk-Hinterzimmern – entstandener Spielschulden. Random hat einen unstillbaren Erlebnishunger!
Randy stuft sich auch nicht als ganz alleinstehend ein. Eine Lebenspartnerin oder einen Lebenspartner hat er zwar nicht – dafür unzählige sexuelle Abenteuer mit jeweils ihm fast oder ganz unbekannten Frauen. (Zur Abwechslung darf es zwischendurch auch mal ein Mann sein.) Kinder hat Random ebenfalls nicht. Er wollte nie welche, denn er spürte früh instinktiv, dass sie ihn zu sehr an die eigene schreckliche Kindheit erinnern könnten, und er sieht seine Erziehungsaufgabe darin, sich gut um seine jugendlichen Schüler zu kümmern. Aber einen geliebten Zwillingsbruder hat er, schwer verwahrlost, polytoxikoman (er gibt sich so ziemlich alles von Heroin bis Flunis) und auf Randoms regelmäßige Unterstützung angewiesen.
Zu Hause angekommen, legt sich Random gleich aufs Bett. Ohne Zähneputzen und noch in den Kleidern steckend. Für heute hat er genug an seinem Problem herumgegrübelt. Soll ihm doch die Lösung im Traum erscheinen – wie einst Kekulé der Benzolring. Denkt er sich und schläft kurz danach ein.
Auch Erich verschiebt heute Abend, was ihm unangenehm ist: ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch. Seiner Frau Brigitte mag er im Moment nichts von dem Vorfall auf der Überlandstraße erzählen. Sie soll sich nicht noch mehr Sorgen machen wegen Elias, als sie es in der letzten Zeit ohnehin schon tut. Zumindest nicht heute Abend, so kurz vor dem Zubettgehen. Vielleicht schiebt Erich die beiden Gespräche auch hinaus, weil er unter einem Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Syndrom leidet. Sein ADHS hat sich in der Jugendzeit nicht ausgewachsen. Als er ein Jugendlicher war, hieß dieses noch POS und die Fachleute gingen davon aus, dass es beim Übergang ins Erwachsenenalter verschwinden würde. Allerdings hat sich die Aufmerksamkeit gegenüber früher ein bisschen gebessert. Er selbst bezeichnet sein ADHS als „sehr moderat ausgeprägt“. Seine unmittelbare Umgebung erlebt das etwas anders. Zumindest Brigitte entgeht nicht, dass ihr Mann sich immer wieder verzettelt mit seinen vielen Projekten, und sie leidet oft unter seiner Ungeduld. Auch wird sie immer wieder in Mitleidenschaft gezogen von Erichs symptomatischer Tendenz zur Prokrastination (unangenehme Aufgaben hinauszuschieben).
Im Anschluss an das späte Abendessen setzt sich Erich in seinem Arbeitszimmer zu Hause an den PC, um nachzuschauen, ob sich nach der bedauerlichen Absage der jungen Favoritin auf der Dating-Site nun jene Frau nochmals gemeldet hat, deren englische Nachricht er am frühen Abend in der Praxis gelesen hatte, und die mit „Curious, Renee Walker“ endete. Kann sein, dass seine eigene Neugier der eigentliche Grund ist, weshalb er vor dem Essen beschlossen hat, kein familiäres Gespräch anzufangen, das länger dauern könnte.
Ein Klick auf sein Postfach des Onlineportals und Erich findet drei Nachrichten vor. Zunächst: „Hallo, ich bin neu hier und würde gerne etwas über dich erfahren.“ – ein Standardsätzchen, das die Datingagentur im Namen von unwissenden Abonnentinnen an Männer verschickt, um diese zum Schreiben zu ermutigen. Zack, gelöscht. Die zweite Mitteilung bezieht sich auf eine frühere Nachricht von Erich an eine Unbekannte, deren Angaben im Profil ihn angesprochen haben. Aber Fehlanzeige: „Wer bist du uberhaupt mit deine Werbung??? Sicher ein Faki. Lasse mich nicht veaäschen!!!“ Ein bisschen irritiert über die Unterstellung einer gefakten Identität ist Erich für einen Augenblick schon. Dann ist er einen Moment lang geneigt, der Dame zu schreiben, dass dies keine indische Plattform sei und sie deshalb hier kaum einen Fakir finden werde. Dann drückt er aber die Delete-Taste, ohne geantwortet zu haben.
Jetzt landet Erichs Blick bei der erhofften Nachricht. Ja, sie hat geschrieben, die Frau Anfang vierzig, die den gleichen Jahrgang angibt wie seine Ehefrau und vom Typ ähnlich wirkt: Auf dem nun von der Absenderin für ihn freigeschalteten Bild erkennt er dunkle, glatte Haare, braune Augen und sehr weibliche Gesichtszüge. Sie ist von mittlerer Größe und sieht sportlich aus, aber mit Kurven. Das Haar trägt sie auf dem Foto schulterlang – seine Frau hat die Haare unlängst kürzer schneiden lassen. Besonders gefallen Erich die mandelförmigen Augen, die er gerade auf dem Touchscreen vergrößert. Mit Renee Walker aus der amerikanischen Fernsehserie hat sie auf dem Bild wenig Gemeinsamkeiten. Erich findet, dass sie noch wesentlich erotischer aussieht, und möchte sofort ihre Zeilen lesen. Doch er muss einen Moment innehalten.
Erich wendet sich in seinem Drehsessel vom Computer ab, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Was er hier eigentlich tut, fragt er sich in diesem Augenblick. Er ist verheiratet mit einer Frau, die er liebt. Seit zwanzig Jahren schätzt, achtet und begehrt er sie. Sie ihn auch. Wobei begehren? In den letzten Jahren hat die Lust aufeinander bei beiden stark abgenommen – noch mehr abgenommen. Das Jahrzehnt zuvor schliefen sie noch regelmäßig miteinander, im Durchschnitt vielleicht zweimal pro Woche. Das mag den Schätzungen von Masters & Johnson entsprochen haben sowie Empfehlungen, die bereits Hippokrates und Martin Luther abgaben. Darum scherten sich Brigitte und Erich natürlich nicht, vielmehr entsprach das zu jener Zeit meist ihren jeweiligen Bedürfnissen. Über die Möglichkeit von außerehelichem Sex wurde zwar gesprochen, aber sie zogen dies lange nie ernsthaft in Betracht. Auch nicht, wenn sich einer von beiden (selten genug) einmal in jemand anders verguckt hatte. Sie sind praktizierende Psychotherapeuten – Brigitte ursprünglich Scheidungsanwältin, später Quereinsteigerin über eine psychoanalytische und paartherapeutische Ausbildung, heute mitunter als Mediatorin tätig. Zur Genüge haben sie beide gesehen, wie etwas, das möglicherweise bei übermäßigem Zuprosten auf dem Betriebsfest oder in einer anonymen Bar lustvoll begonnen und sich alsbald noch viel lustvoller gestaltet hatte, auf kurz oder lang zu einem großen Scherbenhaufen führte: massive Kränkungen beim Betrogenen, teilweise irreparable Vertrauensbrüche, jahrelange Streitereien mit oder ohne Trennungen, bisweilen auch Suizidalität. Und das alles vereinzelt sogar bei Paaren, die sich vorher abgesprochen und einander Seitensprünge zugestanden hatten. Erich und Brigitte sind sich bewusst, dass die menschliche Sexualität, dieses unberechenbare Mischwesen aus Trieb und Bindung, praktisch alles auf den Kopf stellen kann.
Also gut, sagt sich Erich und wendet sich wieder dem PC zu. Diese Bedenken hat er zigfach durchgespielt und mit Brigitte besprochen. Sie waren nun einmal zu Jahresbeginn zu der Übereinkunft gekommen, dass sie einander versuchsweise Seitensprünge erlauben wollten. Einen bewussten Umgang damit haben sie sich vorgenommen, Transparenz statt Lügen – ohne dabei jemals geschmacklos zu werden. Anders als etwa die sogenannten Polyamoristen, die sich verpflichtet sehen, der Hauptpartnerin oder dem Hauptpartner stets umgehend detailliert von ihren Außenbeziehungen zu berichten, vereinbarten Brigitte und Erich, diesbezüglich nur so viel Information auszutauschen, wie unbedingt nötig sei. Beispielsweise rechtzeitig verlauten zu lassen, wenn Verliebtheit aufkommt, um sich dann bewusst und gemeinsam mit der heiklen Situation auseinandersetzen zu können. Keinem von beiden sollte das Frühstück im Hals stecken bleiben, weil das Gegenüber berichtet, wie es seinen sexuellen Heißhunger in der vergangenen Nacht außerehelich gestillt hat.
Was Erich allerdings in diesem Moment gerade wieder ausblendet: Er wollte die Vereinbarung und seine Ungeduld war – wie so oft in seinem Leben – der Motor für einen Veränderungsprozess. Dieser Übereinkunft mit Brigitte waren viele Gespräche vorausgegangen, praktisch alle von ihm initiiert. Sie stellte sich dem Thema stets gelassen, verstand Erichs Beweggründe und befürchtete auch nicht ernsthaft, dass er sie wegen einer anderen verlassen würde. Brigitte ist eine sehr selbstbewusste Frau, und ihre stoische Art verliert sie nur selten, am ehesten im Umgang mit dem pubertierenden Elias. Ob sie selbst mit einem anderen Mann schlafen will, hat sie noch nicht beschlossen. Ab und zu reizt sie der Gedanke daran, aber bisher sucht sie eine entsprechende Begegnung nicht. Und auch wenn sie ziemlich attraktiv sein mag, ein bisschen suchen müsste sie gegebenenfalls schon, da sie sehr wählerisch ist.
Wählerisch ist auch Erich, aber im Gegensatz zu Brigitte hält er seit dem Tag der Abmachung im Januar Ausschau nach möglichen Sexualpartnerinnen. Nicht ständig – dazu ist er zu viel beschäftigt –, aber er hat schon einige Energie investiert: etwa in Ü-30-Diskobesuche in anderen Städten. (Als verheirateter Psychotherapeut mit gutem Ruf meidet er bewusst die Region Zürich.) Das Aufsuchen von Bordellen und Saunaclubs hat Erich in Erwägung gezogen, ist aber wieder davon abgekommen, denn ein klein bisschen romantisch möchte er es schon haben – und richtig prickelnd. Außerdem hat Erich moralische Bedenken gegenüber der Inanspruchnahme von Leistungen einer Professionellen, weil diese zur Prostitution gezwungen worden sein könnte.
Nachdem also bisher nichts gelingen wollte, hat sich Erich im April bei der Dating-Site angemeldet. Seither ist er am Sortieren von Kontaktvorschlägen und dabei, Frauen anzuschreiben, deren Angaben vielversprechend wirken. Allerdings kommt ihm zunehmend seine Ungeduld in die Quere. So passt ihm beispielsweise nicht mehr, dass er jemandem meist mehrere E-Mails schreiben muss, bis die entsprechende Dame endlich ihr Foto für ihn freischaltet – wenn überhaupt.
Erich ist von Renees Bild sehr angetan und will jetzt ihre Nachricht lesen. Er hatte ihr von der Praxis aus mit einigen englischen Sätzen geantwortet, da er nicht wusste, ob sie kein Deutsch spricht oder vielleicht nur hervorheben wollte, dass sie 24 im Originalton konsumiert. Dabei hatte er ein paar persönliche Eigenschaften, Interessen und Hobbys erwähnt, vor allem aber seine sportliche und initiative Seite hervorgehoben. Schließlich hatte er Renee Komplimente zu ihrem Aussehen gemacht (obwohl ihr Bild am frühen Abend noch nicht freigeschaltet und sie nur verschwommen zu sehen war), um sie gleich ziemlich direkt anzuflirten. Erich liest Renees Antwort:
Mister Bauer,
ich bin entzückt. Welch eine Freude, deine Fährte in den Weiten des Internets aufgenommen zu haben. Ja, ich gebe es zu, ich bin durchaus auch ein optischer Mensch und der erste Eindruck muss stimmen. Das tut er, und wie! Sehr anziehend, sehr cool, sehr männlich. Wie du auf meinem nun enttarnten Foto siehst, hast du mir ein breites Lächeln ins Gesicht gezaubert.
Ja, wir sprechen die gleiche Sprache. Ich meine jetzt nicht Deutsch als Muttersprache, sondern will zum Ausdruck bringen, dass mich dein Humor, Geist und Intellekt genauso anziehen wie deine offensichtlich sinnlich-erotisch-männliche Seite. Ohne Ersteres ist das Zweite nicht so spannend.
Hm, Wasser ist dein Element. Scheint wohl der Ausgleich zum Feuer zu sein.
Mein feuriges Temperament bringe ich mit Yoga in gezügelte Bahnen. Den Geist ein bisschen zur Ruhe bringen und den Körper schön geschmeidig halten – was auch Vorteile für erotische Spielereien mit sich bringt … Und natürlich habe ich auch andere Interessen wie kulinarische, kulturelle, spirituelle. Offenheit und Vielseitigkeit sind mir wichtig.
Ja, streich mir die Haare langsam zur Seite, berühr meinen Hals und zieh mich zu dir, um mir ins Ohr zu flüstern, wonach es dich gelüstet. Ich spüre förmlich die Gänsehaut, die du damit heraufbeschwören wirst.
Ich freu mich auf dich. Du hast mein Feuer entfacht.
Kuss, Renee
Bingo, denkt sich Erich, diese Dame ist ein Volltreffer, und er schaut sich nochmals ihre Schönheit auf dem Foto an. Als er ihre Nachricht ein zweites Mal liest, beschleichen ihn kurz Zweifel: Ein bisschen erstaunt ist er schon über ihren Kommentar zu seinem eigenen, angeblich sehr attraktiven Äußeren, denn als schön oder besonders männlich aussehend ist er bisher wohl noch nirgends durchgegangen. Auch dass sie seine – vor dem Badmintonspiel etwas hastig formulierten – Zeilen – so humorvoll und geistreich fand, kann er nicht ganz nachvollziehen. Aber dann freut sich Erich wieder und haut umgehend in die Tasten:
Hi pretty Renee!
Wie darf ich dich ansprechen? Du bist ja nicht „nur“ hübsch. So eine reizende, vitale Frau mit einem tollen Lachen und wunderschönen, interessanten Augen. Ich bin ebenfalls entzückt! Auch wie du mir schreibst, ist so sympathisch, inspirierend, einfach toll. Und danke für deine schönen Komplimente.
Ja, Wasser und Feuer sind meine Elemente. Ins Nass springe ich fast überall – ob warm oder kalt. Es ist belebend und sinnlich. Wenn ich dein Bild anschaue, muss ich dir gestehen, dass mir jetzt gerade die Fantasie ein bisschen durchgeht. Du siehst so sexy aus, und ich frage mich, ob wir nicht baldmöglichst bei Sonnenuntergang zusammen Tretboot fahren sollten auf dem Zürichsee. Dort schauen wir einander vielleicht erstmals tief in die Augen, ich küsse flüchtig deine Stirn, halte dich dann an den Hüften, drehe dich zu mir. Jetzt sitzt du auf meinem Schoss, und ich streiche dir von hinten die Haare zur Seite, um deinen Nacken zu liebkosen. Du spürst, wie meine Hand deinen linken Oberschenkel von unten nahe der Kniekehle drückt, etwas loslässt, wieder fester drückt. Über deine rechte Wange gleiten meine Finger zu deinen Lippen, spielen mit ihnen, wollen deinen offenen Mund und deine Zunge spüren. In unserem Tun verschmilzt das Erleben immer mehr mit der Welt, und wir lassen uns zusammen ins Wasser fallen. Ich sage jetzt nicht „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“, es ist vielmehr ein gewolltes, wunderschönes Miteinander, alles fließt.
Würde dir das so weit gefallen? Die Fortsetzung wäre noch etwas heftiger, aber ich will nicht zu viel mit Verbalerotik vorwegnehmen …
Last, but not least, dear Renee: Auch deine geistreiche Art macht mich sehr an – bei dir scheinen Eros und Logos eine spannende Koexistenz zu führen, ideale Voraussetzungen, um zusammen das geheimnisvolle Mischwesen Sexualität in beflügelnder Weise zu genießen und zwischendurch vielleicht auch mal über Gott und die Welt zu reden.
Neugierig, in Gedanken mit lustvoll forderndem Kuss auf deine Lippen,
Jack
So beschwingt wie Erich beim Ausformulieren seiner Nachricht ist, siedelt er die Sexualität sogar zwischen Eros und Logos an. Aber ist diese nicht eher eine Chimäre aus Trieb und Liebe, fragt sich Erich nach dem Abschicken seiner Nachricht. Egal, er hat Großes mit dem Mischwesen vor – bei der schönen Renee, die offenbar so schnell Feuer für ihn gefangen hat.
Um 00.18 Uhr fährt Erich den Computer herunter. Danach putzt er sich die Zähne, legt seine Kleider ab und schlüpft ins Bett. Dafür schläft er nicht so schnell ein wie sein Freund Random eine Stunde zuvor. Wachträume von Renee halten ihn davon ab. Dass er dabei neben seiner schlafenden Brigitte liegt, scheint ihn nicht zu stören.
7.30 Uhr: Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Ehefrau und Sohn stellt Erich den PC wieder an. Noch vor dem Handy, wo dringende Nachrichten von Random auf ihn warten. Seine Hoffnung auf ein morgendliches Lebenszeichen von Renee erfüllt sich:
Guten Morgen Jack,
wie könnte der Tag genussvoller anfangen, als deine Nachricht zu lesen. Deine Zeilen beflügeln meine Fantasie, ich danke dir für deine schönen Worte!
Wasser hat auch auf mich eine total erotisierende Wirkung. Und wie es mir gefallen würde, mit dir auf einem Boot in den Sonnenuntergang zu gleiten, so nah, Haut an Haut, deinen Geruch aufsaugend, während ich mit meinen Lippen und meiner Zunge langsam über deinen Hals fahre, dich liebkose, dir ins Ohr hauche, wonach mir gerade der Sinn steht, deinen Mund suche, damit unsere Zungen miteinander spielen können … und bevor es richtig heiß wird, kühlen wir uns im frischen Wasser ein bisschen ab, um die Wollust etwas hinauszuzögern.
Noch lieber tauche ich mit dir in die sinnliche Welt der gegenseitigen Verführung ein, denn dort, so glaube ich, lieber Jack, liegen auch Talente, die du stilvoll ein wenig im Verborgenen hältst. Ich hoffe, ich werde davon kosten dürfen. Wo auch immer, in Zürich oder anderswo, mit oder ohne Wasser.
Fordere mich heraus, ich mag das. Ich glaube, zu spüren, dass du die perfekte Mischung an sanfter, sinnlicher Zärtlichkeit und männlicher, kraftvoller Dominanz mitbringst, die mich total anzieht.
Freudig angeregt und erregt, Renee
Kraftvolle Dominanz – Erich fühlt sich geschmeichelt. Überlegt sich aber auch einen Moment, ob er denn wird einlösen können, was diese Renee in ihm sieht. Durchsetzungsfähig ist er, initiativ zweifelsohne – und verführerisch auftreten kann er auch. Aber ein Kraftprotz ist der Ein-Meter-siebzig-Mann nicht. Mehr als altersgemäße Durchschnittsmuskulatur und einen Bauchansatz hat Erich nicht wirklich vorzuweisen. Oft wünscht er sich mehr physische Kraft. Gerade in letzter Zeit, seit er – in seiner Tendenz, sich zu verzetteln – damit begonnen hat, ein neuartiges Psychotherapiekonzept in die Praxis umzusetzen: Erich versucht sich derzeit in Sportpsychotherapie, indem er insbesondere mit einigen seiner leicht bis mittelschwer depressiven Patienten walken, joggen, schwimmen oder ins Fitnesscenter geht, damit sie wieder mehr in die Gänge kommen. Damit will er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – einerseits dem Rat seiner Hausärztin folgen, gezielt Sport zu treiben, um die Blutfettwerte etwas zu senken (anstatt den ganzen Tag gestresst von einer Aktivität zur anderen herumzuweibeln), und andererseits seinen Berufsalltag noch abwechslungsreicher gestalten. Aber wohl alles hat seinen Preis, und nach vier Sporttherapiestunden am Vortag muss sich der mäßig trainierte Mittvierziger am nächsten Tag darüber ärgern, dass er beim Badmintonspiel gegen seinen Sohn – diesbezüglich beinahe ein Novize – verliert.
Kraftvolle Dominanz, das ist eher etwas, was Erich an seinem Freund Random fasziniert, auch wenn ihn stört, wie diese zuweilen in Rücksichtslosigkeit und Aggression pervertiert. Er antwortet Renee knapp, um anschließend seinen Pflichten nachgehen zu können:
Liebe Renee,
auch ich bin angeregt und erregt. Es ist wunderbar.
Da gerade Eile ohne Weile herrscht, gilt hier Kürze=Würze (Jack Bauer darf das), weil sonst stressig=essig.
Ich werde mich am Abend wieder melden. Wish you a wonderful day. Kisses, Jack
Jetzt stellt Erich sein Handy an und findet bereits mehrere Anrufversuche von Random vor. 6.02 Uhr: „Guten Morgen Eri, ich brauche dringend dein Psycho-Know-how – ruf mich bitte baldmöglichst zurück.“ 6.47 Uhr: „Eri, ich werde von Cyber-Mafiosi erpresst, weil ich mir beim Skypen mit einem Schlämpchen einen runtergehackt habe. Muss die Typen bis morgen kaputtmachen, sonst landet der Dreck im Intranet der Schule. Nur Chloe kann mich aus der Scheiße hauen. Der langen Rede kurzer Sinn: Du musst mir verklickern, wie ich sie rumkriege, mir zu helfen!“
Mit Chloe meint Random – so viel weiß Erich bereits – eine Topinformatikerin, die er auf der Datingplattform kennengelernt hat, auf der sich auch Erich herumtreibt. Randy hatte einige Male Sex mit ihr, sie verliebte sich schnell in ihn und wünscht sich seither eine feste Beziehung. Doch er behandelt die liebenswürdige Frau nicht anständig. Jetzt will Random ausgerechnet Chloe dazu instrumentalisieren, die Spuren seines sexuellen Ausrutschers im virtuellen Raum zu beseitigen. Pikant ist zudem, dass Randy auf der Plattform mit dem Nicknamen David Palmer auftritt. Wie Erich hat er sich eine Figur aus der Actionserie 24 ausgesucht: den kräftig gebauten schwarzen Präsidenten Amerikas, der sich insbesondere durch höchste Integrität auszeichnet – und somit vielleicht durch die Ausstrahlung der 24-Staffeln in den Nullerjahren Barack Obama ein klein bisschen den Weg geebnet hat. Nebst physischer Präsenz und Durchsetzungsfähigkeit – Merkmale, die Random eindeutig auszeichnen – will er als David Palmer vorzügliche Charaktereigenschaften vorgeben. Sei es, um Datingpartnerinnen wie Chloe gezielt hinters Licht zu führen, oder aber – so widersprüchlich das vordergründig erscheinen mag –, weil Random sich in seinem Innersten schon immer gewünscht hat, ein tugendhafter Mensch zu sein.
Chloe – im richtigen Leben Lisa – ist vielleicht die Einzige, die ihrem (ebenfalls aus 24 entlehnten) Nicknamen gerecht wird: Chloe O’Brian ist in der Fernsehserie eine etwas unscheinbare Frau, gleichzeitig aber eine unschlagbare Informatikerin. Das trifft ziemlich gut auf Lisa zu. Und als Random sie vor zwei Monaten anschrieb, war sie begeistert: Ein Typ, stattlich, mächtig und hochanständig wie David Palmer – genau so jemanden hatte sie gesucht für regelmäßige Dates. Für eine feste Beziehung sah sie sich zunächst als beruflich zu sehr engagiert, sonst hätte sie wohl auf Parship gesucht. Aber Lisa verliebte sich schnell in Random – genau genommen in sein Äußeres: Der gezielt selbstsicher auftretende, nahtlos gebräunte Ein-Meter-neunzig-Mann mit den breiten Schultern und langen, sehr muskulösen Gliedmaßen, dem markanten Kinn, den grünen Augen, ausgeprägten schwarzen Brauen und dunkelblond gefärbten schulterlangen Haaren strahlt auch in Körperhaltung und Mimik viel Vitalität und Dominanz aus. Zusätzlich untermalt er seine Maskulinität mit männlichen Attributen wie Pilotenbrille, breitem Gürtel mit riesiger Schnalle und vor allem durch eine eher flache, aber dennoch außerordentlich massige Armbanduhr – Lisa hat noch nie zuvor ein annähernd großes Zifferblatt an einem Handgelenk gesehen. Letzteres mutet schon brachial an, aber die Uhr ragt noch darüber hinaus. Lisa mag sehr, wie direkt Random sie jeweils verführt, meistens gefällt ihr auch, wie hart er beim Koitus zustößt. Das fehlende Vorspiel vermisst sie allerdings zusehends, und sie bedauert immer wieder, dass er sie nach dem Akt schnell links liegen lässt. Heute wird sie ihn nicht als mächtig erleben, sondern vielmehr mit seiner Ohnmacht konfrontiert werden, und Randoms bei Lisa alias Chloe O’Brian ohnehin schon angekratztes David-Palmer-Integritäts-Image dürfte ziemlich brüchig werden.
Der dritte Anrufversuch von Random auf Erichs Handy ist von 7.25 Uhr. „Hey Schnarchzapfen, jetzt melde dich endlich, verdammt noch mal!“ Gefolgt wird diese Voicemail von der SMS: „Ihr Psychofritzen müsst doch erreichbar sein für die Notfallpatienten, und heute bin ich einer!“ Die letzte Nachricht erinnert Erich unangenehm daran, dass er tatsächlich vergessen hat, über Nacht für seine depressive Patientin mit der suizidalen Krise erreichbar zu bleiben. Aber sie hatte glücklicherweise nicht versucht, ihn zu kontaktieren.
Jetzt ruft Erich Random an.
„Randy, ich habe gerade deine Nachrichten gehört. Was ist genau geschehen?“
Random schildert kurz, wie er mit der verkappten Prostituierten im Internet angebandelt hat, auf welche Weise er nun erpresst wird und, dass das Ultimatum morgen Vormittag abläuft. Er kommt schnell auf den Punkt: „Der langen Rede kurzer Sinn: Entweder identifiziert Chloe die Erpresser, damit ich den Spieß umdrehen kann, oder ich muss sofort dreißigtausend Franken abdrücken.“
„Und was willst du jetzt genau von mir?“
„Sag mir, wie ich meine Informatikerin dazu bringe, mir zu helfen.“
„Deine Lisa, die sich Chloe O’Brian nennt? Woher soll ich das wissen? Wenn ich richtig informiert bin, hat sie vorgestern heulend deine Wohnung verlassen, nachdem du ihr gesagt hast, dass du nichts für sie empfindest.“
„Genau. Und sie weiß nicht, dass ich mir auch andere Frauen reinziehe, geschweige denn, was ich vor der Webcam durchgegeben habe.“
„Und?“
„Du bist ein erfahrener Psychologe. Was muss ich tun, damit mir Lisa hilft?“
„Und du bist ein erfahrener Frauenmanipulierer. Da bist du der Experte, nicht ich. Aber ich denke darüber nach. Jetzt muss ich dringend los, sonst komme ich zu spät in die Praxis. Wir können mittags noch mal telefonieren.“
„Okay, aber da ist noch was.“
„Was denn?“, fragt Erich etwas genervt.
„Vielleicht brauche ich die Kohle. Kannst du mir Geld leihen?“
„Du hast vielleicht Nerven. Gestern Abend verrätst du meinem Sohn, dass ich eine Pistole im Wagen habe, und lobst ihn noch für seine leichtsinnige Aktion. Dann willst du, dass ich dir dabei helfe, eine Frau zu manipulieren, die du verletzt hast. Und jetzt bittest du mich noch um einen fünfstelligen Betrag. Selbst wenn ich das Geld hätte, wüsste ich nicht, ob ich es dir leihen würde.“
„Jaja, ist alles ein bisschen dumm gelaufen. Hilfst du mir trotzdem?“
„Nein, Randy, es ist nicht einfach nur dumm gelaufen, du bist ein unmöglicher Kerl. Du Gymnasiallehrer! Ich melde mich mittags wieder bei dir.“ Erich hebt die Stimme an, bevor er das Telefonat abbricht: „Ende der Durchsage!“
Nun soll Erich Random also wieder einmal aus der Patsche helfen. Er hat ihm bereits öfter bei finanziellen Engpässen infolge von Spielschulden ausgeholfen, obwohl er selbst nicht besonders betucht ist. Randy und er teilten vor dem Abitur vor bald dreißig Jahren eine intensive Freundschaft und sind seither stets in Kontakt geblieben. Der Psychologe vermutet übrigens hinter Randoms Geldversessenheit nicht nur psychische Defizite, deren Ursprung in Randys zweifelsohne schwieriger Kindheit zu verorten sind. Eher versteht er Randoms Problem als Perversion einer in allen Menschen veranlagten Sehnsucht – mal schlummernd, mal drängend – nach den unbegrenzten Möglichkeiten eines vollkommen verwirklichten Lebens. In Randys übermäßigem Hang zu Geldspielen sieht Erich quasi den Prototypen einer entgleisten Suche nach maximalen Möglichkeiten. Bekanntlich kann man an den meisten Spieltischen dieser Welt in Sekunden reich werden – oder arm – und eine Joker-Karte steht psychologisch vielleicht als Symbol für völlig unerwartete Lebenswendungen, sprich unbegrenzte Möglichkeiten, die sich längst nicht nur in materiellem Reichtum erschöpfen. Natürlich erkennt Erich auch die Macht der negativen Gewohnheiten und weiß, dass Randoms Glücksspiel – nebst anderem Suchtverhalten wie etwa exzessiven Bordellbesuchen unter Kokaineinfluss – mitunter ein unglücklicher Selbstläufer ist.
Erichs fachliches Steckenpferd sind eben gerade nicht psychologische Defizittheorien. Er interessiert sich persönlich weniger für die Probleme hinter den Problemen: Verdrängte Entbehrungen und Kränkungen in der Kindheit, die das Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter ungünstig beeinflussen können und so weiter und so fort. Sicher, es gibt sie oft, die früh entstandenen verhängnisvollen Muster im Erleben und Verhalten, die sich später immer wiederholen können, wenn sie nicht konstruktiv aufgearbeitet, sondern meist mit wichtigen Bezugspersonen ausagiert werden. Erich hat in seiner Praxis häufig genug damit zu tun, seine Patientinnen und Patienten auf sanfte Weise davon abzuhalten, zu versuchen, eine weitere Ehrenrunde im Strudel frustrierender Beziehungserfahrungen zu durchlaufen. Er stellt ihnen dabei bisweilen Suggestivfragen wie „Was bewegt Sie in Wirklichkeit dazu, sich ihrer Freundin in diesem Ton erklären zu wollen?“ oder „Was, denken Sie, wird dieser Brief bei Ihrem Sohn für eine Reaktion auslösen?“ oder „Ist SMS für Sie wirklich eine Möglichkeit, Ihre Beziehung zu kitten?“. Fraglich erscheint Erich einfach, wie sinnvoll es ist, mehr als hundert Therapiestunden über die Vergangenheit zu sprechen – anstatt das Hier und Jetzt zu reflektieren und die psychischen Ressourcen zu aktivieren, die auch in seelisch erkrankten Menschen schlummern.
Gar nichts abgewinnen kann Erich den „Dampfkesseltheorien“ von Sigmund Freud und altmodischen Verhaltensbiologen, wonach sich im Menschen regelmäßig ein Aggressionstrieb aufstaut, der zu destruktivem Verhalten veranlasst, sofern kein Ventil den bösen Trieb in geordnete – sprich sozialverträgliche, produktive, kreative – Bahnen umlenkt. Einen starken Sexualtrieb hat sein Freund Random und sein eigener droht auch nicht gerade zu verenden. Aber einen Aggressions- und Destruktionstrieb, der sich regelmäßig entladen will, etwa nach drei Tagen Faulenzen in den Strandferien? Was für ein Schwachsinn aber auch, findet Erich. Lust, am nächsten Tag wieder aktiver zu werden, ja. Aufbau der inneren Kampfbereitschaft durch Adrenalinausschüttung, wenn einem der Strandnachbar das iPhone klauen will, ja. Zerstörungstrieb, nein. Und falls jemand im Liegestuhl zu lange am Teint gearbeitet hat, kommt vielleicht Ärger über den Sonnenbrand auf, der allenfalls in Frustrationsaggression umschlagen kann: ein abendlicher Ehestreit im Hotelzimmer – für das Gegenüber ohne erkennbaren Anlass.
Jahrzehntelange psychologische Forschung hat längst einige Bestimmungsfaktoren aggressiven Verhaltens erfahrungswissenschaftlich belegt, und jeder einzelne erscheint Erich plausibler als dieser pandemisch verbreitete Mythos vom Trieb. „Aber was ist denn der Sinn des Bösen?“, wurde Erich schon gefragt. „Gegenfrage: Was ist der Sinn des Lebens?“, konterte er. In Randoms Fall – dieser schätzt gelegentlich auch Schlägereien und verdiente sich das Studium seinerzeit als Türsteher und Rausschmeißer in Nightclubs – sind wohl vorwiegend drei gängige Gründe in Betracht zu ziehen: Frustration, sogenanntes Modelllernen (kopierter Erfolg von aggressiven Vorbildern) und Selbstwirksamkeitserleben. (Randy spürt seine eigene Kraft in der Aggression.)
Stichwort Erlebnis: Vielmehr interessieren, ja faszinieren Erich die psychischen und mentalen Ressourcen des Menschen, die zu verwirklichenden Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten. In letzter Zeit ist der eigensinnige Psychologe zusehends angetan von der Idee, dass die immense Komplexität des Großhirns, mit seinen dynamischen Feuerwerken neuronal vernetzter Rückkoppelungsprozesse, unsere Sehnsucht nach Ganzheit, Dynamik und unbegrenzten Möglichkeiten weitgehend moderiert. Erich will nicht bestreiten, dass wir auch durch unser genetisches Erbe aus entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnregionen gekennzeichnet sind – Fortpflanzungsbedürfnis, Bindungswünsche und Machtstreben wie im Tierreich. Er stellt auch nicht in Abrede, dass wir alle durch die persönlichen Erfahrungen mit unserer Umwelt geprägt werden. Doch die zentralste menschliche Bestrebung, so vermutet Erich, zielt letztlich auf maximale Komplexität und Potenzialität im Bewusstsein ab. Äußern würde sich dies im Wünschen nach Vollkommenheit, Weite und unbegrenzten Möglichkeiten, und befriedigt würde das Bedürfnis jeweils vorübergehend, wenn der Mensch sich als Teil einer größeren Ganzheit erfahre – etwa im intensiven Naturerleben bei einem Sonnenuntergang, durch tiefreligiöses Empfinden oder das völlige Aufgehen in einer anspruchsvollen Tätigkeit.
Auch im Bann eines spannenden Flirts, bei dem der spielerische Tanz zwischen achtsamer Bezogenheit und unverfroren direkten Ansagen die komplette Aufmerksamkeit absorbiert, sieht Erich das Verlangen nach maximaler Komplexität und Potenzialität in Erleben und Verhalten bestätigt: das lustvolle Meistern des künstlerischen Balanceaktes hoch über den Abgründen des Scheiterns – Geschmacklosigkeit oder voreilige Triebbefriedigung auf der einen Seite und Zauderhaftigkeit auf der anderen. Er sagte kürzlich zu seinen Studierenden den vielleicht wissenschaftlich wie ethisch obsolet anmutenden Satz: „Was möglich ist, will verwirklicht werden.“
Nun gut, apropos Flirten, im Moment kann es für Erich nicht darum gehen, die Deutungshoheit zu erlangen über Randoms Abwege auf der Suche nach unbegrenzt verwirklichten Lebensmöglichkeiten. „Hol mich hier raus, ich bin ein Pornostar“, witzelt Random um 11.56 Uhr per SMS. Beim anschließenden Telefongespräch hebt er allerdings bald mit Nachdruck hervor, wie sehr er sich von seinen Erpressern bedroht fühlt: „Also mach hin, Eri! Du kannst mir die Kohle nicht leihen, aber jetzt sag mir, wie ich meine Informatikerin dazu kriege, mich aus der Scheiße zu hauen! Wenn meine Anstellung den Bach runtergeht, blase ich mir das Licht aus.“
Erich kennt seinen Freund lange genug, um die Ernsthaftigkeit dieser Worte einschätzen zu können: Niemals zuvor hat Randy auch nur andeutungsweise mit Suizid gedroht, und es lasten genügend Risikofaktoren auf seinen Schultern – neben der Bedrohung seiner beruflichen Existenz insbesondere allgemein impulsives Verhalten und eine fatalistische Lebenseinstellung –, um Selbstmord als mögliches Szenario einzustufen. Erich ist auch bewusst, vielleicht mehr als es sich Random selbst eingestehen will, dass diesem die Stelle am Gymnasium längst nicht nur Erwerbstätigkeit bedeutet: Sie beheimatet ihn, zumal er früher selbst dort zur Schule ging und als misshandeltes Pflegekind nie ein intaktes Zuhause hatte. Überdies hält Erich Arbeit für hochgradig identitätsstiftend, und er will sich nicht ausmalen, was gegebenenfalls in und mit Randy geschehen könnte – einmal abgesehen vom möglichen Suizid.
„Ich kann nicht zaubern“, konfrontiert Erich Random, „und deine Chloe vielleicht auch nicht, selbst wenn sie eine Top-informatikerin ist.“
Erich stellt dann ein paar Fragen über diese Frau, die er nicht persönlich kennt, und kommt zu dem Schluss: „An deiner Stelle würde ich möglichst wertschätzend und gleichzeitig offen mit ihr sprechen. Spiel ihr jetzt nicht die große Liebe vor, aber sag ihr, dass du sie magst und dass es dir leidtut, was du manchmal für ein Ekel bist. Häng nicht weiterhin den großen Macker raus, sondern teile ihr deine Ängste mit. Steh dazu, dass du durch deine Dummheit verwundbar geworden bist. Und noch etwas: Wenn sie dich beschimpft, hör ihr zu und nimm es klaglos hin. Sie wird frustriert sein über das, was du getan hast, und noch mehr desillusioniert, als sie es ohnehin schon ist. Sie hat bei Bedarf das Recht, dich für dein Verhalten anzugreifen, bevor sie auch nur einen Finger für dich krumm macht. Okay?“
„Ja.“
„Gib mir Bescheid, wenn du mit ihr gesprochen hast. Und das Licht bläst du dir auf gar keinen Fall aus. Hältst du mich auf dem Laufenden?“
„Ja.“
„Versprochen?“
„Yes, Sir.“
„Gut, ich nehme dich beim Wort. Good luck, Randy.“
„Danke Erich. See you.“
An diesem Nachmittag unterrichtet Random zwei Kurse in Chemie und zwei in Physik. Während der Pausen versucht er zunächst vergeblich, Chloe zu kontaktieren. Um 16.23 Uhr kommt dann eine SMS von ihr: „Bin im Vollstress. Erst heute Abend erreichbar. Gruß, Lisa.“
Ungefähr zur gleichen Zeit verabschiedet Erich den dritten Nachmittagspatienten und will in die Kaffeepause. Zunächst hört er die Combox seines Praxisanschlusses ab und findet eine Nachricht der Polizei vor: Es gehe um eine Schusswaffe, und er solle sich melden. Erich zuckt zusammen. Der Fahrer des schwarzen Offroaders, auf den sein Sohn Elias gestern Abend mit der Pistole gezielt hat, muss die Nummer aufgeschrieben oder Erich gar gefilmt und Anzeige erstattet haben! Was ist, wenn dieser einen Zeugen auf dem Beifahrersitz hatte? Aber warum meldet sich die Polizei in der Praxis? Erich will umgehend Klärung und ruft sofort zurück. Als er die Polizeibeamtin fragt, worum es geht, kontert diese, das wüsste sie gerne von ihm, denn schließlich habe er gestern angerufen, weil er ein Problem mit einer Pistole hätte. Erich atmet erleichtert auf. Es handelt sich nicht um den Zwischenfall mit Elias, sondern lediglich um die Waffe, die er gestern seinem Patienten mit den Mordabsichten abgenommen hat. Nach der Sitzung hatte er die Polizei angerufen, um sich zu erkundigen, wie er die Pistole abgeben und gleichzeitig seinen Patienten anonym halten könne. Doch hielt sich dort in jenem Moment niemand für zuständig, und es hieß, man würde ihn zurückrufen.
Um 16.45 Uhr trinkt Erich zusammen mit Brigitte Kaffee. Der Polizeibeamtin hat er zwischenzeitlich erklärt, die Angelegenheit mit der Pistole hätte sich erledigt. Etwas verunsichert erzählt er jetzt Brigitte von seinem Patienten und dass die Waffe unterdessen in Randoms Händen ist.
Erstaunt wendet sie ein: „Wieso nimmst du deinem Patienten eine Pistole ab und gibst sie dann ausgerechnet Randy? Wenn der Patient wirklich ernsthafte Mordabsichten hat, musst du doch eine fürsorgerische Unterbringung über den Notfallpsychiater einleiten, um das potenzielle Opfer zu schützen.“
„Und dann“, kontert Erich, „gibt er sich in der Psychiatrie lammfromm, muss nach Tagen wieder entlassen werden und hasst danach nicht nur seinen Chef, sondern auch mich.“
„Aber es ist doch nicht dein Job, ihm die Waffe abzunehmen.“
Erich schweigt, Brigitte sucht seinen Blick, schaut ihm tief in die Augen und hakt nach: „Warum hast du die Pistole Randy gegeben?“
„Wir haben beide gleich wieder Patienten. Ich erkläre es dir heute Abend.“
Danach steht Erich auf und verschwindet in seinem Praxisraum. Er versucht, zu vergessen, dass er seiner Frau wird erklären müssen, was ihr gemeinsamer Sohn gestern Abend mit der Waffe angestellt hat. Will auch nicht mehr daran denken, dass das Problem mit dem gewaltbereiten Patienten nicht einfach gelöst ist, nur weil die Pistole sich bei Random befindet.
Es ist Donnerstagabend, 20.57 Uhr. Random hat Lisa alias Chloe O’Brian noch nicht erreicht. Brigitte, Erich und Elias sitzen stumm am Esstisch, nachdem der thematisierte Vorfall mit dem schwarzen Offroader und der Pistole zu einem heftigen Streit zwischen allen dreien geführt hat. Um 20.59 Uhr verlässt Elias wortlos den Tisch und das Haus. Die überforderten Eltern hindern ihn nicht daran.