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2Grundlagen der Kriminalistik 2.1Eine sehr kurze Geschichte der Verbrechensaufklärung
ОглавлениеEines der Grundprinzipien einer Gesellschaft ist, dass es eine Rechtsordnung gibt, die den Umgang der Gesellschaftsmitglieder untereinander regelt und in der festgeschrieben ist, was erlaubt bzw. was verboten ist und wie diejenigen zu bestrafen sind, die gegen diese Ordnung verstoßen. Diese Regeln heißen Gesetze. Die älteste uns überlieferte Gesetzessammlung stammt aus Mesopotamien, rund 2100 Jahren vor unserer Zeitrechnung. Gesetze sind nichts Naturgegebenes, sondern abhängig von den Werten der jeweiligen Gesellschaft. Auch der Umgang mit vermeintlichen oder tatsächlichen Gesetzesbrechern ist Ausdruck dieser öffentlichen Werte.
Verstöße gegen die Rechtsordnung werden im Allgemeinen als „Verbrechen“ bezeichnet, wobei dieser Begriff aus aktueller juristischer Sicht nur dann korrekt ist, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht. Ein Verstoß gegen ein Gesetz, das mit weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe geahndet wird, wird als „Vergehen“ bezeichnet. Eine „Ordnungswidrigkeit“ ist ein Verstoß, der mit Geldstrafe (oder im Straßenverkehrsrecht mit befristetem Fahrverbot) belegt ist.
Ein Grundprinzip der Rechtsordnung ist, dass diejenigen bestraft werden, die gegen sie verstoßen haben. Dazu gehört, dass der Täter der Tat überführt wird, ihm also nachgewiesen werden kann, dass er die Tat begangen hat. In modernen zivilisierten Gesellschaften ist die Aufklärung einer Tat ebenso Aufgabe des Staates wie die Verurteilung und Bestrafung des Täters, wobei die Gewaltenteilung dabei garantieren soll, dass der Beschuldigte ein gerechtes und unabhängiges Verfahren erhält. Das ist keineswegs selbstverständlich. Die Trennung zwischen Ermittlung, Anklage und Verurteilung ist eine Erfindung der Neuzeit. In deutschen Ländern erfolgte die Aufteilung von Polizei und Justiz ab dem Jahr 1719. Im preußischen allgemeinen Landrecht von 1794 wurde unter anderem die Trennung von Polizeirecht, Strafrecht und Strafvollzugsrecht festgeschrieben. Auch der Aufbau einer Kriminalpolizei und die generelle Trennung von Schutzpolizei und Kriminalpolizei passierte in Deutschland im 19. Jahrhundert zuerst in den preußischen Landen. Im Jahr 1885 wurde in Berlin die erste Mordkommission eingerichtet.
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entwickelte sich die moderne Verbrechensaufklärung. Diese war und ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Sachbeweis (→ Kapitel 2.3) eine immer größere Rolle zukam und man sich von polizeilicher, juristischer und naturwissenschaftlicher Seite um eine objektive und nachvollziehbare Beweisführung bemühte. Zwar wurden auch schon in den Jahrhunderten zuvor beispielsweise Ärzte im Strafverfahren als Sachverständige befragt, wenn es sich um Tötungsdelikte, Körperverletzungen mit Todesfolge, Kindstötungen oder Abtreibungen handelte (1532 Constitutio Criminalis Carolina), die Urteilsfindungen waren aber sehr subjektiv geprägt – und die Äußerungen der gehörten Sachverständigen ebenso. Das Bemühen um eine Objektivierung der Beweisführung und um die Erforschung von Sachbeweisen ging einher mit dem Aufkommen moderner technischer Verfahren und dem explosionsartigen Zuwachs an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Aber auch von juristischer Seite wurde der Verbrechensaufklärung auf der Basis naturwissenschaftlicher und medizinischer Kenntnisse und Verfahren mehr und mehr Aufmerksamkeit zuteil. Als einer der Begründer der modernen Kriminalistik gilt der österreichische Jurist Hans Gross (1847–1915). Das von ihm verfasste „Handbuch für Untersuchungsrichter“, das auch in viele Sprachen übersetzt wurde, ist eine heute noch lesenswerte, zweibändige Systematik der Verbrechensaufklärung mit all ihren Facetten von Ermittlungstaktik über die Durchführung von Vernehmungen und die Spurensicherung am Tatort bis hin zu kriminalpsychologischen Ansätzen.
Die Kriminalwissenschaften werden heutzutage unterteilt in die juristischen und die nichtjuristischen Kriminalwissenschaften, letztere nochmals in die Kriminologie, die forensischen Wissenschaften und die Kriminalistik (Abb. 1).
Während sich die Kriminologie mit den gesellschaftlichen Hintergründen von Verbrechen beschäftigt, also einen sozialwissenschaftlichen Ansatz verfolgt, ist die Kriminalistik eine angewandte Wissenschaft, die die Möglichkeiten der Aufklärung, aber auch der Prävention von Verbrechen zum Ziel hat. Als forensische Wissenschaften werden all jene Wissenschaftszweige bezeichnet, die sich mit der Anwendung der Kenntnisse und Methoden ihrer jeweiligen Mutter-Disziplin für rechtliche Fragestellungen beschäftigen. Als Beispiele seien die forensische Anthropologie, die forensische Biologie und Genetik, die forensische Linguistik, die forensische Physik, die forensische Psychologie oder die forensische Medizin genannt – besser bekannt als „Rechtsmedizin“.
Abb. 1: Kriminalwissenschaften
Die Trennung der forensischen Wissenschaften von der Kriminalistik ist historisch und strukturell begründet: Während die Kriminalistik primär in den Aufgabenbereich der Kriminalpolizei fällt, sind die forensischen Wissenschaften von dieser strukturell meist unabhängig, auch wenn ihre Dienste von Polizei und Staatsanwaltschaft fallbezogen in Anspruch genommen werden. Der Begriff zeigt bereits an, dass Themen und Verfahren systematisch wissenschaftlich erforscht werden – eine Tätigkeit, für die bei der Polizei die Strukturen und die Ressourcen fehlen. Hinzu kommt, dass Wissenschaft etwas ist, das sowohl methodisch als auch hinsichtlich der Erkenntnisse einem stetigen Wandel unterliegt. Die Einbindung der forensischen Zweige in die jeweilige Wissenschaft, also beispielsweise der Rechtsmedizin in die Universitätsmedizin, hat zur Folge, dass die Forensik Anschluss an den wissenschaftlichen Fortschritt hat, sich der aktuellen Methoden und Kenntnisse der jeweiligen Wissenschaft bedienen kann und damit auch Gutachten auf dem neuesten Stand der Wissenschaften erstatten kann.
Die strukturelle Trennung der forensischen Wissenschaften von Polizei und Justiz ist auch heutzutage keineswegs selbstverständlich. So sind in vielen Staaten die rechtsmedizinischen Institute strukturell den Innenministerien (Polizei) oder den Justizministerien unterstellt, aber nicht an eine Universität angeschlossen. In diesen Fällen handelt es sich also um reine kriminalistisch-medizinische Untersuchungseinrichtungen, ohne oder mit allenfalls geringfügigen Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Betätigung.