Читать книгу Christine Bernard. Tödliche Intelligenz - Michael E. Vieten - Страница 6
ОглавлениеTote laufen nicht davon
Die Sonne ging auf und es begann einer dieser angenehmen Herbsttage, dessen Hochglanzbilder es bis in die verheißenden Reisemagazine schafften. Die leuchtenden Farben der Fotos und die ungefähre Erinnerung an den Duft des welken Laubs der Bäume weckten Sehnsüchte. Wonach genau wusste der Betrachter meist nicht. Eine diffuse Lust auf Freiheit und Reisen überkam Kommissarin Bernard nach einem langen Blick auf das verlockende Bunt unten auf dem Parkplatz der Kriminaldirektion Trier. Herabgefallene Blätter schimmerten matt in Erdfarben auf dem grellen Weiß des Autolacks ihres Renaults. Die frühe Morgensonne hatte bereits den zarten Reif auf der Windschutzscheibe des Mégane tauen lassen. Die Scheibenwischer würden die verbliebenen Wassertropfen mühelos entfernen. Sie frohlockte, das verhasste Eiskratzen sollte ihr an diesem Morgen erspart bleiben. Sie schaute kurz auf ihre neue Armbanduhr. Ein Geschenk von Torben. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Er wollte sie überraschen. Sie hatte sich riesig darüber gefreut. Nun betrachtete sie das schmale Edelstahlgehäuse, ein Schmuckstück, rechteckig, mit klassischem Ziffernblatt. Der herbe Duft des Lederarmbands stieg ihr in die Nase. Sie umfasste das Gehäuse mit Daumen und Mittelfinger und schob es an ihrem Handgelenk in die korrekte Position.
Etwas mehr als eine Stunde noch, dann endete ihre Schicht. Kriminaldauerdienst mit Polizeimeisterin Tanja Rieger. Jeder war halt mal dran. Schade nur um das freie Wochenende. Christine und Torben liebten den Herbst gleichermaßen. Die kühle, klare Luft zu Tagesbeginn, die sanft wärmenden Sonnenstrahlen am Mittag und das wohlige Frösteln am Abend auf der Terrasse, bevor sie sich eine Strickjacke um die Schultern legte und Torben sie fragte, ob er von dem milden Schwarzriesling nachgießen durfte. Sie schliefen gern bei offenem Fenster und die Heizung blieb aus. Erst Ende November wurde es ihnen dafür zu kalt.
Eine ruhige Nacht lag hinter den beiden Beamtinnen. Zweimal mussten sie ausrücken. Die Kollegen von der Streife hatten sie gleich nach Dienstbeginn zu einer Leiche mit ungeklärter Todesursache angefordert. Verdacht auf Vergiftung. In der Gerichtsmedizin stellte sich jedoch schnell heraus, es war ein Herzinfarkt, der verdächtige Schaum vorm Mund heraufgewürgte Magensäfte. Also kein Gift. Fall abgeschlossen. Etwas länger dauerte ihr Einsatz bei einem Ausbruch von häuslicher Gewalt. Immer wieder das Gleiche. Desillusionierter, betrunkener Mann schlägt auf Frau und Kinder ein. Es fließen Blut und Tränen. Geschrei, Gepolter. Bis die Nachbarn die Polizei rufen. Der Schläger wurde festgenommen und unter Protest und gegrölten Beschimpfungen in Gewahrsam gebracht. Ausnüchterungszelle. Die Kollegen der nächsten Schicht würden sich um ihn kümmern. Meistens mussten sie ihn wieder gehen lassen, weil die Geschädigten keine Anzeige erstatteten. Mehr als eine Strafe wegen nächtlicher Ruhestörung und Beamtenbeleidigung war nicht drin. Ein lächerlich geringer Bußgeldbetrag wurde verhängt. Das war’s. Und dafür schlugen sich die Beamten des KDD die Nächte um die Ohren und kämpften gegen die Müdigkeit an.
Christine gähnte. Sie fühlte sich in diesem Jahr besonders erschöpft. Warum, wusste sie nicht. Lag es an dem zurückliegenden langen und heißen Sommer oder war es das Alter, wie Kollege Kluge sogleich glaubte zu wissen?
Die Sehnsucht nach der Ferne schlich sich wieder an. Reisen. Aber wohin? Vielleicht nach Skandinavien? Torben liebte den europäischen Norden. Dänemark wäre schnell zu erreichen. Ein Strandhaus. Sie spürte schon den Sand unter den Fußsohlen und das kalte Wasser auf der Haut. Jahresurlaub stand ihr noch ausreichend zu. Sie sollte ihn nehmen.
Kommissarin Bernard erhob sich und verließ ihr Büro. Sie lief über den Flur und betrat einen Dienstraum zwei Türen weiter. Tanja Rieger rekelte sich auf ihrem Bürostuhl. War sie eingenickt? Egal. Ihr Dienst war ohnehin gleich zu Ende.
»Lust auf Frühstück?«
Die Polizeimeisterin gähnte ungeniert, nickte stumm und stand auf. Sie schleppten sich die Stufen im Treppenhaus hinauf in die Kantine. Die Motoren der Automaten summten und erwärmten die ohnehin schon stickige Luft in der obersten Etage zusätzlich. Eine Mitarbeiterin vom Catering füllte die Kühlgeräte mit frischen Brötchen auf. Tanja bediente den Kaffeeautomaten. Christine erwarb zwei Sesamstangen mit Mozzarella und Tomatenscheiben. Sogar die Basilikumblätter schmeckten knackig und aromatisch. So musste ein Frühstücksbrötchen sein. Tanja setzte zwei Becher auf dem Tisch ab und schob Christine einen davon entgegen. Die griff danach, nippte aber nur daran und stellte ihn zurück, der Kaffee war noch zu heiß zum Trinken.
Sie kauten mit vollen Backen. Die Kommissarin sah ihrer Kollegin ins Gesicht. Dunkle Ringe hatten sich unter den Augen gebildet. Sie selbst sah bestimmt auch nicht frischer aus. Sie freute sich auf ihr Bett.
Zwanzig Minuten später kehrten sie wieder zu ihren Schreibtischen zurück. Bereits auf dem Flur hörte Kommissarin Bernard das Klingeln des Telefons. Sie beschleunigte ihren Schritt und schaute vorahnungsvoll auf den Becher, den sie in der Hand hielt. Der Kaffee schwappte natürlich über. Warm lief er über ihre Finger und tropfte auf die Fliesen. Eine Angestellte des Reinigungsdienstes bemerkte es, unterbrach ihre Arbeit auf dem Gang und strafte die Schuldige mit einem vorwurfsvollen Blick, bevor sie sich mit dem Wischmopp voran auf die Tropfenspur zubewegte.
Christine betrat ihr Büro, stellte den Becher ab und riss den Telefonhörer vom Gerät.
»KDD. KK Bernard.«
»Polizeihauptmeister Weber. Die Kollegen von der Streife haben einen Todesfall mit Verdacht auf Fremdeinwirkung gemeldet. Ein Roboter soll einen Arbeiter angegriffen und getötet haben.«
Die Kriminalkommissarin runzelte zweifelnd ihre Stirn, hörte aufmerksam zu und notierte sich die Adresse.
»So ein Mist«, dachte sie und legte auf. Ihr Blick streifte die kleine Uhr am Bildschirmrand. Keine dreißig Minuten später hätten sie Dienstschluss gehabt.
Sie trank einen Schluck und trat auf den Gang hinaus. Es roch feucht und nach Putzmittel.
»Tanja! Einsatz!«, rief sie und band sich ihr langes Haar zu einem Zopf zusammen.
»Och, nö«, hörte sie ihre Kollegin maulen und schmunzelte.
Wie ein aufsässiges Kind stampfte Tanja mit den Füßen über den Gang.
»Ich bin müde«, jammerte sie und fügte sich letztlich doch. So war der Job nun mal und sie erinnerte sich an die oft zitierten Worte ihres Kollegen Hauptkommissar Jörg Rottmann.
»Augen auf bei der Berufswahl.«
Sie nahmen die Treppe. Mit flinken Schritten liefen sie hinab, stießen unten angekommen die Glastür vor der Pforte auf und überquerten den Parkplatz. Ein Druck auf die Fernbedienung ließ die Rückleuchten an Kommissarin Bernards Wagen diensteifrig blinken. Sie stiegen ein. Christine startete den Motor und parkte aus. Die Blätter auf der Motorhaube rutschten herunter. Sondersignal und Blaulicht blieben aus. Sie hatten es nicht eilig. Tote liefen schließlich nicht davon.
Vor der ersten roten Ampel ließ sie ihre Seitenscheibe herunterfahren und entfernte ein kunstvoll gesponnenes Netz vom Außenspiegel. Mühsam schüttelte sie sich die anhaftenden Fäden von den Fingern. Tanja schauderte es bei dem Anblick.
»Ich ekele mich vor Spinnen.«
Die Ampel sprang auf Grün. Christine legte den Gang ein und fuhr los.
»Wir leben nun mal auf dem gleichen Planeten. Für irgendwas werden sie gut sein. Sie gehören zum System.«
»Trotzdem ekelig«, erwiderte die Polizeimeisterin trotzig und fügte hinzu: »Wo fahren wir hin?«
»Trier-Euren. Ein Industriebetrieb. Ein Arbeiter soll von einem Roboter tödlich verletzt worden sein.«
»Ein Arbeitsunfall. Wieso fahren wir da hin?«
»Die Kollegen vor Ort glauben, Hinweise auf Fremdverschulden gefunden zu haben.«
»Morden die jetzt auch schon?«
»Wer?«
»Die Roboter.«
Kommissarin Bernard lachte und warf einen Seitenblick auf ihre Kollegin.
»Ganz bestimmt nicht. Du weißt doch, was sich da oft zusammengesponnen wird. Wir fahren dahin, schauen uns das an und das war’s. In zwei Stunden sind wir zuhause.«
Tanja Riegers Gesicht blieb ausdruckslos. Sie schaute aus dem Fenster. Der nächste Mord, der nächste Totschlag. So ging es immer weiter.
»Manchmal vermisse ich das Schöne am Leben«, entfuhr es ihr plötzlich.
Christine wartete darauf, dass die Polizeimeisterin sich erklärte. Aber sie schwieg.
»Du brauchst mal Urlaub. Und einen vernünftigen Mann.«
Ihre Kollegin grinste.
»Du hast echt Glück mit deinem Torben.«
Die Kommissarin lächelte.
»Ich weiß.«
Das Firmengelände war frei zugänglich. Schlichte Produktionshallen und ein mehrstöckiges Verwaltungsgebäude aus aneinandergereihten Büro-Containern erhoben sich weiß in den azurnen Morgenhimmel. »Winkler Automotive« leuchtete ihnen von einem einfachen Schild auf einem kurz gemähten Rasenstück in roten und blauen Buchstaben entgegen.
Die Parkplätze waren alle belegt. Kommissarin Bernard entdeckte den Streifenwagen der Kollegen, einen Rettungswagen und die silberschwarze Kombi-Limousine eines Bestattungsinstituts. Sie stellte den Renault vor dem Haupteingang ab.
Hinter einer Glastür empfing sie gekühlte Luft. Eine Klimaanlage rauschte. Die Dame an der Anmeldung lächelte professionell und pflichtgemäß freundlich. Sie hielten ihr die Dienstausweise entgegen. Das Lächeln erstarb und wich einem Gesichtsausdruck gemischt aus Anteilnahme und Betroffenheit.
»Kripo Trier. Kommissarin Bernard, meine Kollegin Polizeimeisterin Rieger. Es hat einen Unfall gegeben?«
»Ja, schrecklich.«
Die Frau griff zum Telefon und tippte eine Kurzwahltaste.
»Zwei Beamtinnen der Kriminalpolizei sind hier. Holen Sie sie ab?«
Dann legte sie auf.
»Kommt gleich jemand«, versicherte sie und lächelte wieder.
Die Kommissarin wurde ungeduldig.
»Können wir nicht selbst …?«
Bedauerndes Kopfschütteln schnitt ihr das Wort ab.
»Sie brauchen jemanden mit Betriebsausweis, der Sie begleitet, zum Öffnen der Türen und der Tore.«
Christine Bernard nickte ergeben, wandte sich gelangweilt ab und schaute sich um. Sie sah Glasvitrinen mit technischen Bauteilen darin. Produktpräsentationen in Postergröße an den Wänden. Eine Luftaufnahme vom Betriebsgelände. Stühle mit blauem Polster standen darunter in einer Reihe für Besucher bereit, dazwischen Tischchen mit Hochglanzprospekten und Branchenmagazinen. Ein deutlich hörbares Klacken der Entriegelung an einer der Türen hinter ihr unterbrach ihre Beobachtungen. Christine wandte sich um. Kraftvoll wurde die massive Brandschutztür aus Metall aufgezogen und ein Mann in schweren Arbeitsschuhen, Jeanshose, Hemd und Weste steuerte auf sie zu. Grauer Vollbart, auf dem ernsten Gesicht erschien ein gewinnendes Lächeln und entblößte eine Zahnreihe mit schmaler Lücke. Er streckte ihnen seine Hand entgegen.
»Martin Vigeland. Teamassistent.«
Die Kommissarin griff als Erste zu.
»Christin‘ Bernar‘. Das ist meine Kollegin Polizeimeisterin Rieger.«
Der freundliche Mann lächelte höflich.
»Freut mich, sind Sie Französin?«
Christine schüttelte ihren Kopf.
»Meine Eltern stammen aus Luxemburg.«
Sie stellte ihre erste Frage: »Assistent von wem oder was?«
»Montage. In meiner Abteilung werden Komponenten endmontiert. Qualitätssicherung gehört auch zu unseren Aufgaben. Außerdem steht bei uns die …«
Martin Vigeland zögerte, bevor er weitersprach.
»… Beflammungsanlage, in der ein Kollege …, am besten sehen Sie sich das selbst an. Ich nehme an, deswegen sind Sie hier.«
Der Teamassistent ging voraus und zog seine Magnetkarte durch ein Lesegerät. Das Schloss wurde deutlich hörbar freigegeben. Er drückte die Tür auf. Mit langen Schritten lief er los. Christine und Tanja bemühten sich, ihm zu folgen. Vorbei an Büros hinter Glas, darin Menschen vor Computerbildschirmen. Überall Bauteile auf Schreibtischen und in Regalen. Ein Besprechungsraum mit Leinwand, ein Projektor an der Decke. Ein riesiger Kopierer auf dem Gang. Schilder an den Türen. »Qualitätsmanagement«. »Produktionsleitung«. »Bemusterung«.
»Was genau wird hier hergestellt?«, fragte Christine.
Martin Vigeland antwortete.
»Kunststoffteile für die Automobilindustrie.«
»Und das muss man derart absichern?«, fragte Tanja zweifelnd.
Er zuckte mit den Schultern.
»Offenbar.«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich bin nur Leiharbeiter.«
»Trotz Ihrer Position?«
»Drei Viertel des Ladens läuft mit Leiharbeitern. Die meisten aus Osteuropa. Ist billiger. Belegschaft globalisieren, Verantwortung sozialisieren, Gewinne privatisieren. So macht man das heute.«
Kommissarin Bernard verfügte über ein feines Gespür für Zwischentöne. Die kritische Stimme des Mitarbeiters hörte sie sofort heraus. Martin Vigeland konnte in diesem Fall noch ein wertvoller Verbündeter werden, wenn es um Auskünfte ging, die von einem ergebenen Angestellten nicht zu erwarten wären. Wenn es überhaupt einen Fall geben sollte.
Ein fernes Rauschen und Zischen ließ Betriebsamkeit hinter der nächsten Tür des Verwaltungstraktes vermuten. Martin Vigeland öffnete sie und lief zügig voraus. Christine Bernard und Tanja Rieger beeilten sich, ihm zu folgen, bevor die Tür nach ihnen wieder schwer ins Schloss fiel.
Ein Schwall warme, stickige Luft schlug den beiden Beamtinnen entgegen. Es war laut und heiß in der Werkshalle. Kunststoffdämpfe stiegen beißend in ihre Nasen und empfahlen, nicht zu atmen. Doch dieser Empfehlung war kaum Folge zu leisten. Die Halle war riesig. Automatische Produktionsanlagen fauchten und stampften und piepsten und rauschten. Greifarme rückten vor und zurück und folgten den vorprogrammierten Bahnen. Zielsicher griffen sie nach einem soeben produzierten Bauteil und legten es an einer vorbestimmten Stelle ab. Auf ein Laufband oder fein sortiert in Kisten oder Stiegen. Mächtige Anlagen zogen tonnenschwere Metallblöcke zischend und dampfend auseinander. Roboter entnahmen ihnen Gussformteile. Danach schoben diese Maschinen ihr Werkzeug für den nächsten Produktionsschritt wieder zusammen. Zweckmäßig angezogene Arbeiterinnen und Arbeiter standen in langen Arbeitshosen schwitzend an Laufbändern. Schwere Sicherheitsschuhe an den Füßen. Ihr Oberkörper hingegen nur mit einem T-Shirt oder einem leichten Top bekleidet. Anders war die Hitze an ihren Arbeitsplätzen wohl auch nicht auszuhalten. Christine spürte, wie ihr bereits der Schweiß aus den Poren drang.
Martin Vigeland bemerkte das Interesse der beiden Kriminalbeamtinnen.
»Wir befinden uns in der Spritzerei«, rief er gegen den Lärm an und zeigte auf ein Rohrsystem an der Decke. »Spritzgusstechnik. Kunststoffgranulat aus den Silos draußen vor der Halle fließt rund 40 Produktionsanlagen zu. Bei 200 bis 300 Grad wird es geschmolzen und gegossen. Alles computergesteuert. Vollautomatisch.«
»Wozu dann noch Arbeiter?«
»Händische Entnahme der Bauteile aus den Werkzeugen, wenn an der Maschine keine automatischen Greifer installiert sind. Sichtkontrolle auf Gussfehler. Gegebenenfalls manuelle Nachbearbeitung. Für die Lackierereien müssen die Teile absolut fehlerfrei sein.«
Der Teamassistent zeigte sich hilfsbereit und geduldig. Er beantwortete jede Frage, ohne zu zögern. Er kannte die Abläufe in der Fabrik genau und Christines Vermutung, dass dieser Mann über ermittlungsrelevante Kenntnisse verfügen könnte, bekräftigte sich.
Sie wechselten in eine angrenzende Halle. Ein Schnelllauftor öffnete sich nach einem beherzten Zug an einer Leine, die von der Decke herabbaumelte. Dann schloss es sich hinter ihnen wieder wie von Geisterhand. Augenblicklich dämpfte sich die Geräuschkulisse. Auch die Luft in dieser Produktionshalle wirkte frischer. Martin Vigeland senkte seine Stimme.
»Halle II, Montage«, erklärte er und deutete auf einen Bereich, in dem Arbeiter mit Handschuhen sich an Tischen gegenüber saßen und Kleinteile mit Schleifpapier bearbeiteten. Im Gegensatz zur ersten Halle befanden sich hier nur drei Produktionslinien. Eine davon stand still. Monteure arbeiteten daran.
Sie hielten auf einen großen Käfig aus Maschendraht zu, zumindest wirkte der eingezäunte Bereich auf Kommissarin Bernard wie ein Käfig. Eine Polizistin in Uniform löste sich aus einer Gruppe Männer und lief ihnen entgegen.
»Sie brauchen mich nicht mehr«, stellte Martin Vigeland fest und blieb stehen.
Christine bedankte sich und ging mit Tanja weiter.
Die junge Polizeimeisteranwärterin grüßte. Ihre Gesichtshaut schimmerte blass.
»Guten Morgen. PMA Sass. Mein Kollege und ich waren als Erste vor Ort.«
Kommissarin Bernard sah sich um.
»Wo ist Ihr Kollege?«
»Draußen. Dem geht es nicht so gut.«
Christine hob die Augenbrauen.
PMA Sass vollführte eine etwas hilflose Geste. Es sollte wohl eine Einladung sein, ihr zu folgen. Sie lief auf zwei Sanitäter zu. Das war offenbar die Besatzung des Rettungswagens, der vor dem Bürogebäude geparkt stand. Zwei Herren in dunklen Anzügen erkannte die Kommissarin als Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts. Respektvoll wichen die Männer aus, hielten das Absperrband in die Höhe und gaben den Blick auf den Eingangsbereich des Käfigs frei. Die Tür stand offen. Ein Roboterarm verharrte in der anderen Ecke des Gitterverschlags.
Der Anblick war grausam. So etwas hatte Kommissarin Bernard in all den Jahren bei der Polizei noch nie gesehen. In einer unnatürlichen Haltung lag der Körper eines Mannes am Boden. Das Fleisch an den Händen und Unterarmen war verkohlt. Auf dem kahlen Kopf befanden sich nur noch die Aschereste seines Haares. Die Haut war geschmolzen und verdampft. Ein Gesicht gab es nicht mehr. Im ersten Moment war es Christine Bernard gar nicht möglich festzustellen, welche Seite vorn und welche hinten war. Nase, Lippen, Augenbrauen, alles weg. Sie entdeckte Zähne in blutig nassem Gewebe. Dort musste sich also das Gesicht befunden haben. Die Kleidung am Oberkörper des Mannes war versengt, das billige T-Shirt aus Kunstfasern mit dem Körper verschmolzen. Es stank nach verbranntem Fleisch und Plastik. Sie hörte ihre Kollegin hinter sich würgen. Die Polizeimeisterin wandte sich ab und übergab sich auf den Hallenboden. Der Anblick und der Geruch der Leiche waren ihr unerträglich.
Mitfühlend führte PMA Sass Tanja Rieger aus der Halle. Die frische Morgenluft draußen würde der Kollegin bestimmt guttun.
Kommissarin Bernard schluckte trocken und unterdrückte einen Würgereiz. Dann entfernte sie sich einige Schritte und zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Sie forderte ein Team der Spurensicherung und der Kriminaltechnik an. Ohne diese Spezialisten würde sich kaum feststellen lassen, ob sich in der Werkshalle ein Unglück oder ein Verbrechen zugetragen hatte. Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte, ergab sich daraus ein Ermittlungsbedarf. Wenn ein Mensch an seinem Arbeitsplatz getötet und derart zugerichtet wurde, stimmte etwas mit den Sicherheitsvorkehrungen nicht. Und dafür gab es einen Verantwortlichen und der musste ermittelt werden.